Das Konzil authentisch leben

Vor 40 Jahren fand das II. Vatikanische Konzil seinen feierlichen Abschluss. Zu diesem Jahrestag hat Bischof Dr. Walter Mixa in einem Interview für Kirche heute die Bedeutung des Konzils herausgearbeitet. Sehr offen geht er auch auf bestehende Bedenken und Sorgen vieler Gläubigen ein. Doch legt er in seiner missionarischen Art ein erfrischendes Zeugnis für seine zutiefst positive Haltung zum Konzil ab, das authentisch gelebt werden will. „Mit der Hilfe Gottes gibt es in der Tat noch sehr viel zu tun“, so lautet seine Quintessenz.

Interview mit Bischof Walter Mixa, Augsburg

Kirche heute: Exzellenz, das II. Vatikanische Konzil fand in Ihrer Jugendzeit statt. Können Sie sich an die Konzilsereignisse erinnern? Wie haben Sie die Ankündigung und Vorbereitung des Konzils sozusagen aus deutscher Sicht erlebt?

Bischof Mixa: 40 Jahre nach Beendigung des II. Vatikanischen Konzils ist mir dieses geistliche Großereignis noch in ganz lebendiger Erinnerung. Als Jugendlicher habe ich die Ankündigung des Konzils durch Papst Johannes XXIII. im Jahr 1960 mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Es gab natürlich auch die Frage: Ist ein solches Konzil überhaupt notwendig? Diese Frage hatte darin eine Berechtigung, dass besonders in Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkriegs mit dem Zusammenbruch der gottlosen und menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus die katholische Kirche der einzige große Hoffnungsträger gewesen ist. Unter der eindrucksvollen Gestalt von Papst Pius XII., der sich im Gegensatz zu den Siegermächten ganz entschieden gegen eine so genannte Kollektivschuld der Deutschen ausgesprochen hat, ist die Kirche in Deutschland in einer Geschlossenheit neu erstarkt. Das Ansehen der katholischen Kirche, auch über ihre Grenzen hinaus, war nicht zuletzt dadurch begründet, dass Bischöfe wie Graf von Galen in Münster, Graf Konrad von Preißing in Berlin, Johannes Baptist Sproll in Rottenburg und andere Bischöfe sowie ein Großteil des Klerus und der Gläubigen ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus deutlich zum Ausdruck gebracht haben und nicht wenige dafür in die Konzentrationslager verschleppt und getötet worden sind. Die sonntäglichen Gottesdienste waren in allen Pfarrgemeinden sehr gut besucht, und der Sakramentenempfang wurde als hilfreiche Tröstung dankbar angenommen. Auch die Integrierung von nahezu 14 Millionen Heimatvertriebenen ist wesentlich dem aufnahmebereiten und befriedenden Wirken der Kirche zu verdanken gewesen! Warum dann die Einberufung eines die ganze Kirche umspannenden Konzils?

Kirche heute: Das II. Vatikanische Konzil stand unter dem Leitwort des „aggiornamento“. Was ist darunter zu verstehen?

Bischof Mixa: Das in Windeseile bekannt gewordene Wort „aggiornamento“ darf nicht leichtfertig mit „Anpassung“ übersetzt werden. Wenn Papst Johannes XXIII. in einem bildhaften Vergleich davon gesprochen hat, dass die Kirche ihre Türen und Fenster öffnen müsse, meinte er damit nicht eine Anpassung der Kirche an die weltlichen Verhältnisse oder gar an den Zeitgeist, der bekanntlich jeden Tag sein „Gewand“ wechselt. Mit dem Bildwort der geöffneten Türen und Fenster und mit dem Begriff „aggiornamento“ wollte der Papst deutlich herausstellen, dass die Kirche nicht für sich in einer Art Getto lebe, sondern dass sie inmitten der Welt eine befreiende und wegweisende Botschaft für den Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft mitzuteilen habe. In den beiden Konzilsdekreten „Gaudium et spes“ – hier geht es um das Verhältnis der Kirche zur Welt – und „Lumen gentium“ – das Selbstverständnis der Kirche – kommt dieses Bemühen klar zum Ausdruck. Nicht die Kirche muss sich der Welt und ihren wandelnden und so genannten zeitgemäßen Anforderungen anpassen, sondern die Kirche muss wie ein „Sauerteig“ hineinwirken in die Welt, um menschliche Werte wie Personwürde des Einzelnen, die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott, seinen Weltauftrag für eine verantwortungsbewusste Mitgestaltung der Welt und seine ewige Bestimmung, nämlich das ewige Leben, überzeugend herauszustellen.

Kirche heute: Das Konzil hat sich intensiv mit der Aufgabe des Bischofs beschäftigt. Welche Akzente hat es dabei gesetzt?

Bischof Mixa: Das Bemühen des Konzils war und ist eindeutig darauf ausgerichtet, die suchenden und fragenden Menschen mit der Gestalt Jesu Christi und mit der befreienden Botschaft seines Evangeliums bekannt zu machen. Für diese Aufgabe haben die Bischöfe einen besonderen Auftrag. In ihren Diözesen, d.h. in ihren Ortskirchen sollen sie zusammen mit den Priestern, Diakonen und Ordensleuten und mit allen Gläubigen bekennend und missionarisch wirken.

Dabei wird das bischöfliche Amt als unverzichtbarer Dienst an der Einheit im Glauben und in der Gemeinschaft der Kirche herausgestellt. Der Bischof muss ein „Brückenbauer“ sein. Er und alle ihm Anvertrauten stehen auf dem Fundament der Lehre der Apostel und der gewachsenen Glaubenstradition der katholischen Kirche. Die Einheit des Bischofs mit seinem Presbyterium und mit den Gläubigen ist eine unaufgebbare Voraussetzung, um die Welt mit der Botschaft Jesu zu durchdringen. Diese Einheit wird auch mit dem Begriff „Communio“ umschrieben, d.h. Gemeinschaft mit dem Mensch gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus und durch ihn Gemeinschaft untereinander. Der Bischof hat von Christus her die Pflicht, die unterschiedlichen Gnadengaben der Gläubigen, der Priester, Diakone und Ordensleute zu fördern und so inmitten der Welt den Aufbau des Reiches Gottes voranzubringen. Ich erinnere an den Römerbrief oder an die Gestalt des hl. Karl Borromäus.

Der Communio-Begriff aber hat für den bischöflichen Dienst noch eine weitere Dimension. In der Einheit mit dem Bischof von Rom, dem Papst, ist jeder Bischof nicht nur eingeladen, sondern auch verpflichtet, über die Grenzen seiner Ortskirche hinaus mit anderen Diözesen in Verbindung zu bleiben und besonders das Missionswerk der Kirche in der ganzen Welt zu fördern und mitzutragen (vgl. Mt 28).

Kirche heute: Sie haben wiederholt den Weltauftrag der Kirche angesprochen. Was meint das Konzil mit diesem Auftrag?

Bischof Mixa: Der Weltauftrag der Kirche kann und soll – nicht zuletzt durch den überzeugenden Hirtendienst des Bischofs – in den einzelnen Lebensbereichen wirksam werden und den Menschen zu einem bewussten und positiven Leben verhelfen. Bei diesem Bemühen müssen immer wieder aufs Neue die drei Grunddienste des kirchlichen Lebens in gewinnender Weise eingesetzt werden: Das „Kerygma“ – die wirksame und unverfälschte Verkündigung des Glaubens, sodann der gefeierte Glaube in der „Liturgie“ und schließlich der in den Werken der Liebe umgesetzte Glaube im täglichen Leben – die „Caritas“. Zweifellos hat gerade der Wirkungsbereich der „Caritas“ in den einzelnen Diözesen und auch weltweit eine gewaltige Ausdehnung erfahren. Sie erreicht in den verschiedensten Lebensbereichen und besonders in Notsituation unzählige Menschen. Die Spendenbereitschaft und sehr viele ehrenamtliche Hilfsdienste für die Caritas haben ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß erreicht. In der säkularen Gesellschaft sind sich viele Mitbürger und Mitbürgerinnen nicht bewusst, wie viele Dienste, angefangen von den Beratungsdiensten, Kindergärten und Kindertagesstätten, bis hin zu Hilfsaktionen für Arbeitslose und, nicht zu vergessen, die Wirksamkeit in Alters- und Pflegeheimen, von der Caritas geleistet werden.

Kirche heute: Betrachten Sie diese Entwicklung als Frucht des Konzils, bzw. als authentische Verwirklichung seiner Impulse?

Bischof Mixa: Selbstverständlich! Aber bei aller Wertschätzung und höchster Anerkennung dieses wirksamen Weltdienstes stellt sich heute die Frage, ob nicht während der vergangenen 25 bis 30 Jahre die beiden anderen Grunddienste des kirchlichen Lebens, nämlich die Verkündigung und die Liturgie, vernachlässigt worden sind. In der Gesellschaft ist eine neue Sehnsucht nach Orientierung für die Lebensgestaltung, nach in sich begründeten und sinnstiftenden Werten für das Leben aufgebrochen. Eine in sich unbestimmte religiöse Sehnsucht ist weltweit zu spüren, verbunden damit ein neu erwachtes religiöses Interesse gerade auch unter Jugendlichen.

Wichtig ist und bleibt daher der unermüdliche Einsatz der Kirche für Friede und Gerechtigkeit, für eine menschenwürdige Lebensgestaltung aller Bewohner dieser Erde. Genauso wichtig ist aber auch die bekennende und missionarische Sendung der Gläubigen durch ihr Zeugnis für Jesus Christus und das Evangelium und durch die Feier würdig gestalteter Gottesdienste, besonders der Eucharistie, als Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens.

Kirche heute: Eine der einschneidendsten Veränderungen, die das Konzil für das Leben der gesamten Kirche gebracht hat, war die sog. „Liturgiereform“. Worauf kommt es Ihrer Meinung nach in Bezug auf die Liturgie heute entscheidend an?

Bischof Mixa: Entscheidend ist, dass wir die Eucharistie als größtmögliche Form der Gottesverehrung und Gottesbegegnung begreifen. Die Liebe Christi muss in der werktätigen Liebe, im dauerhaften Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit gelebt werden, darf aber nicht verkürzt werden auf das allgemein bekannte Motto: „Seid nett zueinander!“ Zweifellos bemühen sich auch Nichtchristen, auch Nichtglaubende sowie humane Atheisten um gute zwischenmenschliche Beziehungen. „Christ sein“ bedeutet aber mehr als den notwendigen Einsatz zur Verbesserung der menschlichen Lebensumstände und der zwischenmenschlichen Beziehungen! „Christ sein“ ist auch mehr, als nur religiös zu sein, da Christentum im eigentlichen Sinn keine Religion ist, sondern der vertrauensvolle Beziehungsglaube zu einem lebendigen Gott und Menschen, zu Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Dieser vertrauensvolle Beziehungsglaube wird immer wieder neu in der Liturgie gefeiert und vertieft. Die Ursache dafür ist aber nicht im menschlichen Tun begründet, sondern im Handeln Jesu Christi. Nicht wir Menschen machen den Gottesdienst, sondern Jesus Christus ist vom Geschehen des letzten Abendmahles her derjenige, der ihn uns aufträgt und uns begrenzten Menschen eine unbegrenzte Liebe und ein dauerhaftes Leben schenkt. In der Feier des letzten Abendmahles macht sich Jesus selber durch die so genannten Einsetzungsworte über Brot und Wein zum Osterlamm bzw. Opferlamm und nimmt auf geistige Weise seine Lebenshingabe im grausamen Leiden und Sterben am Holz des Kreuzes vorweg. Den Auftrag Jesu „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ haben die Apostel und die ersten Jünger erst nach der Begegnung mit dem auferstanden Christus verstanden.

Kirche heute: Immer wieder wird die Frage gestellt, ob die Liturgiereform zu einer Verflachung der liturgischen Feier geführt habe und ob nicht eine „Reform der Reform“ notwendig sei.

Bischof Mixa: Diese Fragen sind durchaus berechtigt, da im unmittelbaren Anschluss an die Liturgieerneuerung in verschiedenen Lebensbereichen die Meinung entstanden ist: „Das Feld ist freigegeben worden zum Experimentieren“ – Liturgie müsse immer zeitgemäß und ganz auf den Menschen ausgerichtet sein; müsse mit einem religiösen Happening vergleichbar sein. Dieses offenkundige Missverständnis der liturgischen Erneuerung hat nicht nur zu vielen Verunsicherungen bei den Gläubigen geführt, sondern teilweise zu einem stillschweigenden Auszug aus der Kirche, da Gläubige sich nicht mehr mit einer „selbstgezimmerten“ und von Sonntag zu Sonntag überfrachteten Liturgie eigenmächtiger Ausdrucksformen zurechtfinden konnten und wollten. Vielen Verantwortlichen ist das Bewusstsein verloren gegangen, dass gerade die Liturgie „unter die Haut und in das Herz“ gehen muss, dass Liturgie ein überzeugend gefeiertes Maß an Riten und eine regelmäßige Wiederholung derselben Handlungen braucht. Nur so kann Liturgie zu einer geistlichen Beheimatung und zu einer inneren Befreiung führen.

Kirche heute: Es gibt Kritik an der Übersetzung der liturgischen Texte in die deutsche Sprache, z.B. an der Formulierung „für alle“ in den Wandlungsworten. Wie bewerten Sie diese Vorbehalte?

Bischof Mixa: Mit meinen Überlegungen ist sicherlich auch die Frage nach einer sachgerechten Übersetzung der liturgischen Texte verbunden. Hierbei muss aber eingeräumt werden, dass jede Übersetzung ihre Grenzen hat. Gleichzeitig aber muss vor allem darauf geachtet werden, dass eine Übersetzung keinen sinnentstellenden Sachverhalt wiedergibt. Ein oft genanntes Beispiel ist tatsächlich die Übersetzung der Wandlungsworte mit dem auf die Erlösung bezogenen Begriff „für alle“ oder „für viele“. Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich aus dem gesamten Zusammenhang der Evangelien und der neutestamentlichen Schriften und durch die Heilswirksamkeit Jesu. Jesus hat nicht nur uneingeschränkt, ausgenommen die Sünde, unser Menschsein angenommen, sondern hat sich in der letzten Konsequenz seiner Liebe für alle Menschen im Leiden und Sterben am Kreuz hingegeben, um damit ein für alle Mal das Böse und den Tod zu überwinden. In diesem Zusammenhang stellt die Bekenntnisschrift des Jahres 2000 „Dominus Jesus“ zu Recht fest, dass Jesus Christus der Alleinerlöser aller Menschen ist.

Kirche heute: Gegner der Liturgiereform sehen in der neuen Liturgie oft einen Verrat am Opfercharakter der heiligen Messe. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Bischof Mixa: Mögliche Verirrungen in der Gestaltung der Liturgie, auch in Verbindung mit der Leugnung des Opfercharakters der Eucharistie, der hl. Messe, können eindeutig festgestellt werden. Jesus Christus ist der in seinem Wort zu uns gültig Sprechende; er ist durch seine Hingabe die Opfergabe und der Opferpriester und gibt sich uns zur Opferspeise. Das „Hochgebet“, beginnend mit der Präfation, ist das große Lob- und Dank-, Bitt- und Sühnopfer unseres Herrn Jesus Christus, die Eucharistie, mit der sich die ganze weltweite katholische Kirche und alle mitfeiernden Gläubigen durch den Herrn verbunden wissen. Mit den Worten des letzten Buches des Neuen Testamentes, der Apokalypse, öffnete sich der „Vorhang des Himmels“. Die himmlische Liturgie, die Verherrlichung Gottes bricht herein in unser gottesdienstliches Geschehen. Die irdische Liturgie wird hineingewandelt in die himmlische Liturgie, so dass Himmel und Erde eine untrennbare Einheit bilden (vgl. Offb 4., 5. und 19. Kapitel). Die so verstandene Feier des Abendmahles Jesu ist und bleibt das wichtigste und den Menschen mit Gott verbindende Geschehen zwischen Himmel und Erde. In diesem Geschehen wird die Zeit gewissermaßen ausgesetzt, da sich die Vergangenheit (Abendmahl, Kreuzesberg Golgotha) und das Kommende im Hier und Jetzt treffen. Deshalb auch das große Bekenntnis nach der heiligen Wandlung „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“

Kirche heute: Manche wünschen sich anstelle der Vielfalt von Hochgebeten wieder einen einheitlichen Kanon. Was meinen Sie dazu?

Bischof Mixa: Die Wandlungsworte sind und bleiben immer dieselben, wobei aber auch immer wieder die Frage gestellt wird, ob bei der jetzigen Vielfalt der Hochgebete sinnvollerweise nicht nur auf eines zurückgegriffen werden sollte. Die Frage hat eine Berechtigung, da allzu viele Abwechslungen in der Feier der Liturgie eine geistliche Gewöhnung stören könnte. Andererseits muss aber auch gesagt werden, dass der die Liturgie feiernde Priester auf die Weise herausgefordert ist, dass er die Liturgie glaubwürdig und überzeugend feiert, als Werkzeug Jesu Christi spricht und handelt und dadurch Jesus Christus als den eigentlich Sprechenden und Handelnden repräsentiert. Wenn dies in der rechten Weise geschieht, können auch andere von der Kirche approbierte Hochgebete beispielsweise für eine angemessene Gestaltung von Kinder- und Jugendgottesdiensten verwendet werden. Entscheidend ist und muss bleiben, dass Jesus Christus im Mittelpunkt steht, wir um ihn versammelt sind und zu unserem Heil seinen Tod als Hingabe aus Liebe, seine Auferstehung und seinen Sieg in der Wiederkunft feiern. Durch die erneuerte Liturgie ist nicht nur der Priester, sondern sind wir alle zu einem aufgeschlossenen und würdigen gottesdienstlichen Vollzug der heiligen Geheimnisse herausgefordert, so dass wir dann auch durch die Gnade Gottes spüren können, dass sich bei dieser Feier unwiderruflich Himmel und Erde berühren.

Kirche heute: Das Bistum Augsburg hat im Zug der konziliaren Erneuerung eine Diözesansynode abgehalten. Sie selbst haben daran teilgenommen. Welche Bedeutung hat diese Synode für das kirchliche Leben in Ihrer Diözese?

Bischof Mixa: Die Frage nach der Bedeutung der Augsburger Diözesansynode kann dahingehend beantwortet werden, dass es sich auch heute noch lohnt, die Beschlüsse dieser Synode in dem dazu veröffentlichten Dokument, dem Synodenbuch, nachzulesen. Viele glaubensvermittelnde und seelsorgliche Anregungen haben bis auf den heutigen Tag ihre Gültigkeit, müssten allerdings neu aufgegriffen und dann auch im Leben der Pfarrgemeinden in die Tat umgesetzt werden.

Kirche heute: Was für Anregungen sind in dem Synodenbuch zu finden?

Bischof Mixa: Die Glaubensbegeisterung, die sich gerade durch hunderttausende junger Christen beim XX. Weltjugendtag in Köln erwiesen hat, kann und muss durch unterschiedliche Aktionen wie Katechesen und damit verbundene Aussprachen, wie Bibelkreise, und durch die Möglichkeit zur Anbetung in unsere Pfarrgemeinden hineingetragen werden.

Viele unterschiedliche Wege zur Erneuerung des Glaubens und zur Erneuerung eines aus dem Glauben gelingenden christlichen Lebens, auch in der Gemeinschaft der Pfarrei, sind im Synodenbuch als praktikabel vorgeschlagen. Eine Wiederentdeckung dieses Synodenbuchs mit den unterschiedlichen Anregungen wäre sehr wünschenswert.

Kirche heute: Häufig ist die Rede von einem Reformstau. Bräuchte die Kirche Ihrer Meinung nach ein neues Konzil?

Bischof Mixa: Immer wieder ist der Ruf nach einem neuen Konzil, nach einem so genannten III. Vatikanum zu hören. Hand aufs Herz! Wer von den vielen Rufern hat die Lehrschreiben und verschiedenen Dokumente des II. Vatikanischen Konzils gelesen und sich bemüht, diese auch zu verinnerlichen? Ein neues Konzil ist absolut nicht notwendig, da wir immer noch vor der großen Herausforderung stehen, die vom II. Vatikanischen Konzil angeregte Glaubenserneuerung in Richtung einer bekennenden und missionarischen Kirche in die Tat umzusetzen. Mit der Hilfe Gottes gibt es in der Tat noch sehr viel zu tun!

Kirche heute: Exzellenz, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2005
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Brauchen wir eine „Reform der Reform“ in der Liturgie?

Für Weihbischof Dr. Andreas Laun kann vor allem der unverkürzte Glaube in Fragen der Liturgie Orientierung geben. Die Kirche muss verstehen, dass sie in der Eucharistie den „Kern“ ihres eigenen Wesens feiert. Je tiefer alle Beteiligten in dieses Geheimnis einzudringen versuchen, umso klarer erkennen sie die Erfordernisse einer angemessenen Liturgie. Weihbischof Laun sieht an erster Stelle die Notwendigkeit, zur liturgischen Ordnung zurückzukehren. Dies ist für ihn der Weg, um den Sinn der Liturgie wieder zum Leuchten zu bringen und zu Christus selbst zurückzufinden.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Die „heilige Messe ist das Wichtigste, was wir haben. Ihr könnt es noch nicht verstehen, aber später werdet ihr es begreifen.“ So lehrte eine alte Ursuline die ihr anvertrauten Kinder vor knapp 100 Jahren. Meine Mutter war eines dieser Kinder und sie hat diese Lehre ihrer Katechetin noch im hohen Alter befolgt, indem sie täglich zur heiligen Messe ging, solange sie noch konnte.

Ich bin kein wissenschaftlicher Liturge, aber ich feiere seit 1967 täglich die heilige Messe. Was das Verstehen dessen betrifft, was ich da tue, bin und bleibe ich ein Pilger. Noch immer stehe ich „am Anfang“ und mein Weg ins Geheimnis hinein wird nie zu Ende sein.

Was ist die heilige Messe?

Die Eucharistie ist – sagt die Kirche – „Quelle und Höhepunkt“ all ihres Tuns, das Größte, was sie besitzt, etwas Einzigartiges, der „Kern“ ihres eigenen Geheimnisses (Johannes Paul II. in Ecclesia de eucharistia Nr.1). Mit Blick auf die anderen Religionen könnte man sagen: Der Unterschied zwischen ihnen und der katholischen Kirche (zusammen mit der Orthodoxie) ist: Die Kirche ist die Religion mit der heiligen Messe; keine andere Religion hat etwas, was sich damit vergleichen ließe. Nur das Judentum nimmt mit seinem Pascha-Fest eine Sonderstellung ein und ist als Wurzel, aus der die Kirche hervorging, nicht einfach eine „andere Religion“.

Warum ist die Messe „Quelle und Höhepunkt“? Deswegen, weil in ihr jene Ereignisse gegenwärtig werden, von denen die Erneuerung und Rettung der Welt ausgeht. Das Geheimnis ist: Auch die „gewöhnlichste“ stille Eucharistiefeier ist das schlechthin Außergewöhnlichste, das sich denken lässt, sie ist die Öffnung des Himmels, in den die Mitfeiernden – zwar noch verborgen, aber dennoch wirklich – eintreten, es ist Gemeinschaft mit Gott selbst und mit Seinen Heiligen. Die heilige Messe ist Hochzeitsfeier, die niemals endet. In ihr wird über Gott nicht nur nachgedacht, sondern Gott ist der Jahwe, der, der „da“ ist, der Emmanuel, der „Gott mit uns“. Zu sagen, Eucharistie sei Erinnerung an das, was geschah, wäre zu wenig, denn in ihr dauert das Wunder aller Wunder geheimnisvoll weiter: Das Wort ist Fleisch geworden und hört nicht auf, in der Gestalt des Brotes unter uns gegenwärtig zu sein – das Wort selbst, buchstäblich „leibhaftig“ und keineswegs nur als Gedanke. Das ist der Kern der Liturgie und darum ist sie das „Höchste“, was sich denken lässt, darum ist sie uns so heilig, und darum fällt auch dem Papst auf seinen Reisen „auch nichts Besseres ein“, als eine Messe zu feiern – weil es nichts Besseres auf Erden gibt und auch nicht geben kann.

Liturgie – Ausdruck des größten Geheimnisses

Gefeiert wird die heilige Eucharistie wie durch ein heiliges „Spiel“ mit Worten und Gesten. Die Gläubigen wollen so reden und sich so benehmen, wie es sich in Gottes Gegenwart geziemt – nicht „so, wie wenn Er gegenwärtig wäre“, sondern wir benehmen uns „so, weil Gott Gegenwart ist, Wirklichkeit mitten unter uns.“ Messe feiern ist „Hochzeit des Lammes“, wir sind die Festgäste und zugleich die „Braut“, weil wir Kirche sind.

Wie soll also Liturgie gefeiert werden? So, dass sie diesem Geheimnis entspricht, so gut wie irgend möglich: Darum die Gewänder, darum die Kelche in Gold und Silber, darum der Weihrauch und die Kerzen, darum all die Schönheit der Kirchen, der Gesang, und darum vor allem auch die liturgische Körpersprache mit all ihren Zeichen und Gebärden. Dem Heiligsten gebührt die Liturgie, die ihm, dem Heiligsten, entspricht.

Wenn wir nachdenken darüber, wie unsere Liturgie zu gestalten ist, müssen wir uns verhalten wie ein Ikonenmaler, der betet, während er malt: Unser Reden und Denken über Liturgie kann nur richtig sein in einem Blick, der unverwandt auf das Mysterium gerichtet ist.

Die „Hochzeit des Lammes“ verlangt unser Bestes

Wenn die rechte Feier der Liturgie solche Ansprüche stellt, kann dann Liturgie nicht nur im Himmel gefeiert werden, weil alle irdische Liturgie niemals entsprechen kann? Nein, denn Gott ist Mensch geworden, Er ist hineingestiegen in die menschliche und allzu menschliche Geschichte. Er hat gewusst, wer wir Menschen sind, und dennoch hat Er zu uns gesagt: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Er hat die heilige Messe uns, Seinen geliebten Sündern, anvertraut, wohl wissend, wie fehlerhaft unser Umgang auch mit diesem Seinem Leib und Blut sein wird.

So ist es! Aber diese Erkenntnis darf kein Freibrief für liturgische Schlamperei oder Willkür sein, sondern umgekehrt: sie spornt uns an, in der Feier der Liturgie unser Bestes zu geben, um die „Hochzeit des Lammes würdig zu feiern, angetan mit „hochzeitlichen Gewändern“ und „brennenden Kerzen“.

Notwendigkeit einer „Reform der Reform“

Weil das so ist, bedarf die Liturgie, besonders die Liturgie der heiligen Messe, dringend einer Reform. Ich denke jetzt nicht an jene Reform, durch die der Ritus von der Kirche selbst wieder verändert wird, obwohl ich auch von dem Sinn, ja der Notwendigkeit einer „Reform der Reform“ (Joseph Ratzinger) überzeugt bin. An dieser Stelle will ich auch nur wenig über die schweren liturgischen Missbräuche sprechen, angesichts derer man sagen muss: Der Rauch des Satans, den Paul VI. im Inneren der Kirche zu „riechen“ begann, hat sich da und dort auch mit dem Weihrauch im Allerheiligsten der Kirche zu vermischen begonnen, er verwirrt und berauscht wie alles beim „Vater der Lüge“. Thema dieser Überlegungen sollen vielmehr jene vielen „kleineren“ Missstände sein, denen ich in den letzten Jahren immer häufiger begegne oder von denen ich von verlässlichen Zeugen höre.

Schwere liturgische Missbräuche

Was sind „schwere liturgische Missbräuche“? Solche liegen vor, wenn das Heiligste und das Innerste der heiligen Messe angegriffen wird oder, was heute besonders häufig geschieht, sich Laien priesterliche Funktionen anmaßen. Als ob die eigentliche priesterliche Würde aller Christen nicht das Geschenk der Taufe wäre und vor allem in der Mitfeier der Eucharistie bestünde, nicht darin, den priesterlichen Dienst zu tun! „Schwerer Missbrauch“ ist es,

• wenn die heilige Kommunion auch an Buddhisten und andere Nicht-Christen ausgeteilt wird;

• wenn Pastoralassistenten oder evangelische Amtsträger, also auf jeden Fall „Laien“, „konzelebrieren“, indem sie z.B. das Hochgebet mitbeten, Teile davon vortragen oder sogar die Wandlungsworte mitsprechen;

• wenn der Priester statt des Evangeliums eine profane Geschichte vorliest;

• wenn die Messe als „Event“, mit Rockmusik und Lichtorgeln, „gestaltet“ wird;

• wenn man „Tiermessen“ mit möglichst vielen Tieren in der Kirche „feiert“;

• wenn die Gemeinde in der Messe nicht mehr Tod und Auferstehung Jesu Christi feiert, sondern „sich selbst“. Dieser Missbrauch unterläuft besonders leicht die Wahrnehmung des Gewissens und ist dennoch schwerwiegend;

• wenn der Mesner beschließt, falls der Priester nicht kommen sollte, werde er selbst die Palmsonntag-Liturgie halten, wenigstens bis kurz vor der Wandlung;

• wenn der Pfarrer hinter dem Rücken des Bischofs während der heiligen Kommunion Brotstücke an jene Kinder verteilt, die noch nicht bei der ersten heiligen Kommunion waren.

Schädliche Abweichungen und Eigenmächtigkeiten

Alle diese Missbräuche geben Grund zur Besorgnis. Dennoch sind auch die kleineren Abweichungen und Eigenmächtigkeiten nicht ungefährlich, sie bereiten der großen liturgischen Verwirrung den Weg und schläfern das liturgische Gewissen ein. Auch wenn manche Abweichungen in sich betrachtet harmlos sind, in Summe tragen auch sie zu der schlechten Entwicklung bei. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich Verhaltensweisen und Dinge, die ich selbst erlebt habe oder die mir von verlässlichen Zeugen berichtet wurden:

• Wer hat angeordnet, eine liturgische Farbe abzuschaffen? Schwarze Messgewänder sind mittlerweile aus vielen Sakristei-Schränken verschwunden, auf Nachfrage hin holt sie der Mesner, wenn es gut geht, vom Dachboden oder er teilt mit, dass er sie nicht mehr finden könne. Zur ideologischen Begründung heißt es, man wolle auf die Gefühle der trauernden Angehörigen Rücksicht nehmen, denen man das „düstere Schwarz“ nicht zumuten wolle. Eigenartig, die Leute selbst tragen zum Zeichen der Trauer nach wie vor Schwarz und nicht Violett.

• Unverständlich ist auch die Allergie vieler Priester gegenüber den schönen alten Messgewändern. Lieber tragen sie irgendeine unschöne Mantelalbe (mit den meist halb ausgerissenen Druckknöpfen), als dass sie eine „Bassgeige“, wie sie verächtlich anmerken, nehmen würden.

• Nicht nur bei den Gewändern, auch bei den liturgischen Geräten und Büchern scheint die Frage der Schönheit kein Kriterium mehr zu sein. Bücher sind oft abgenützt und verschmuddelt, und in den meisten Kirchen stehen neben herrlichen alten Kelchen billige, notdürftig vergoldete Hostienschalen. Natürlich, wirklich schöne Schalen kosten auch mehr, aber ist es wirklich nur das fehlende Geld, das die Gemeinde an der Anschaffung würdiger oder gar ebenbürtiger Schalen hindert?

• Zum Thema Schönheit gehört auch die Kraft der Sprache, der Bilder und Gesten. Wie man in den 70er Jahren des 20. Jahrhundert gemeint hat, vor allem nüchtern, farblos, eintönig bauen zu müssen, so denken auch heute noch manche Leute bezüglich der Liturgie. Ein Beispiel für das Gemeinte: „Gedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst.“ Dieser Satz berührt die Menschen in ihren Gefühlen, in ihrer Fantasie, in ihrer Erinnerung an die Toten und den Tod. Ihn mit dem sprachlich viel blasseren Aufruf zur Bekehrung zu ersetzen, ist „dogmatisch“ möglich, aber pastoral gesehen ein Unglück. Ein Beispiel für die Gestik: Am Beginn der Karfreitags-Liturgie streckt sich der Priester auf dem Boden aus und verharrt eine kurze Zeit wortlos in dieser Stellung. Manche wollen diese große Geste durch bloßes Knien ersetzen. Aber das Prinzip: „So einfach, grau und unauffällig wie möglich“, ist kein guter Berater für eine kraftvolle, katholische Liturgie.

• Auch die Musik ist ein wichtiges Thema. Natürlich ist es schön und gut, wenn z.B. Jugendliche auf ihre Weise singen und spielen. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere lautet: Nicht jede Musik passt für jedwedes Ereignis. Auch in der profanen Welt unterscheidet man zwischen Unterhaltungsmusik, Ballmusik oder Trauermusik. Aber es gibt auch Musik, die für die Liturgie geeignet ist, und solche, die es nicht ist.

• Manche Priester tragen bei der heiligen Messe demonstrativ keine Stola, um so ihre „Solidarität“ mit den Pastoralassistenten zum Ausdruck zu bringen. Wenn diese selbst mit einer Albe bekleidet auftreten, trifft man sich sozusagen „in der Mitte“: Wenigstens dem Erscheinungsbild nach, so lässt sich die Botschaft lesen, sind Priester und Laien damit „gleich“ und „dasselbe“ – und sind es eben doch nicht!

• In den Gebeten und sonstigen Texten für die Verstorbenen tauchen bestimmte Begriffe nicht mehr auf: Man hört nichts mehr von den „Seelen“ der Verstorbenen, die Gefahr der Hölle scheint es nicht zu geben und auch vom Fegefeuer wissen diese Texte nichts mehr. Folgerichtig feiert man „Auferstehungs-Gottesdienste“ und singt Osterlieder. Der Glaube an die Auferstehung gehört dazu, natürlich, aber nicht die Heiligsprechung der Verstorbenen. Und wozu eigentlich für Verstorbene beten, wenn es den Ort der Reinigung nicht gibt?

• Bei der Doxologie am Ende der Gebete sagen viele Priester statt „durch unseren Herrn“ lieber „durch unseren Bruder“ oder „durch unseren Herrn und Bruder“. Nicht ganz falsch, aber doch auch nur die halbe Wahrheit, die Schrift spricht vor allem von unserem „Herrn“, „Meister“ und „Lehrer“.

• Immer wieder predigen Laien. Andere, die sich noch in der Ausbildung befinden, werden gezwungen, ebenfalls in der heiligen Messe zu predigen. Um zu lernen, was sie nie brauchen sollten? Oder sollen sie sich an den Ungehorsam von Anfang an gewöhnen?

• Auch zu den Predigten der Priester und Diakone ist ein Wort zu sagen: Nicht immer scheint es klar zu sein, was ihre Aufgabe ist. Sie sollen nämlich das Wort Gottes und die Lehre der Kirche verkünden, sogar wenn sie selbst eine Schwierigkeit damit haben, und nicht im Namen einer missbrauchten „Ehrlichkeit“ ihre eigenen Ideen, sogar dann nicht, wenn diese der Wahrheit entsprechen sollten.

• Eine andere Einfallspforte für falsche Ideologien sind die Fürbitten, die man ja „selbst schreiben darf“. Um was da nicht alles gebetet werden soll! Ein Beispiel nur: Während vorne jemand die Gläubigen einlädt, um die Verwirklichung ihrer „Kirchenträume“ zu beten, übersehen die Beter sehr leicht die massive Kritik, die der so „Träumende“ gerade durch seine Wachträume an der Kirche übt. Einmal erlebte ich eine Fürbitte, in der wir alle um die Einsicht der römischen Behörden in irgendeinem Streitfall beten sollten, von dem keiner der Betenden etwas Genaues wissen konnte – klar war nur, dass Rom im Unrecht ist.

• In vielen Kirchen ist das Kelchvelum verschwunden, ohne dass jemand sagen könnte, wer es abgeschafft habe und warum. Man hört nur, es sei ohnehin unnütz und so sei alles praktischer. Auf die Idee, dass das Kelchvelum auch in der lateinischen Liturgie ähnlich der östlichen einen spirituellen Sinn haben könnte, kommt niemand, so scheint es; abgesehen davon, dass die Kelche ohne Velum wie mangelhaft bekleidet ausschauen.

• Immer wieder glauben Priester, ein „spontan“ erfundenes Hochgebet sei besser, wärmer, menschlicher, ansprechender als eines der im Messbuch vorgegebenen. Jeder, der das erlebt hat, weiß: Die „spontanen“ Texte werden dabei immer länger, und ihr theologisches und sprachliches Niveau sinkt und sinkt. Außerdem fallen auch solche Priester nur allzu schnell in die Wiederholung dessen, was sie schon oft „frei formuliert“ haben. Warum hält man sich nicht einfach „im Gehorsam“ an die Liturgie der Kirche (Bischof Walter Mixa)? Das Schlimmste ist: Priester, die das machen, zwingen allen anderen Gläubigen und Konzelebranten ihre allzu subjektive Theologie und ihren Geschmack auf. Die liturgische „Freiheit“, die sich der eine nimmt, ist die Unterdrückung aller anderen. Es ist wie mit einem schlecht passenden Schuh: Damit geht man nicht weit, weil es mit der Zeit immer mehr und mehr weh tut!

• In vielen Kirchen wird die große Doxologie am Ende des Kanons von allen mitgebetet, und Priester, die das wieder richtig stellen wollen, beißen auf Granit. Das ist unsere besondere liturgische Ordnung, heißt es dann, mit dem Unterton: Wenn du bei uns zelebrieren willst, hast du dich an unsere Ordnung zu halten.

• Manche Priester beten aus unerfindlichen Gründen das „Vater unser“ mit gefalteten Händen, aber nicht in der schönen liturgischen Oranten-Haltung der ausgebreiteten Arme. Das halten sie, so hört man, für modern. Aber ist Modernität eigentlich eine Kategorie der Liturgie?

• Die biblisch bezeugte Kniebeuge vor dem Allerheiligsten wird immer seltener. Wenn zum Beispiel der Priester zum Ambo geht: Warum macht er nicht vor dem Allerheiligsten – das sich in den meisten Kirchen am Hochaltar befindet – eine Kniebeuge? Oder: Während etwa der Diakon das Allerheiligste zurückstellt, könnte der Priester und seine Assistenz stehend zum Tabernakel gewandt verharren und vor dem Schließen der Tabernakeltüren gleichzeitig mit dem Diakon eine Kniebeuge machen.

• Der Friedensgruß wird gegen seinen tiefen Sinn so ausufernd und so „herzlich“ gegeben, als ob es sich um den Beginn eines Klassentreffens handelte. Natürlich ist es im Anschluss daran schwer, sofort wieder in die Haltung der Andacht und Anbetung zurückzufinden. Erzbischof Georg Eder empfahl, man sollte immer nur dem unmittelbaren Nachbarn den Friedensgruß geben. Noch besser wäre es wohl, den Friedensgruß an einen anderen Ort der Eucharistiefeier zu verlegen, wie dies ja auch von manchen gefordert wird, um die Sammlung vor der heiligen Kommunion nicht zu unterbrechen. Und unter den Konzelebranten wäre es wünschenswert, sie blieben bei der liturgischen Umarmung statt des liturgisch wenig passenden Händedrucks.

• Beim Austeilen der heiligen Kommunion bleiben sogar bei Festmessen mehr und mehr Bischöfe, Priester und Diakone sitzen, während Laien die heilige Kommunion aus dem Tabernakel holen und auch austeilen. Das widerspricht eindeutig der kirchlichen Ordnung. Zudem: Abmachungen sind einzuhalten, und abgemacht war, dass Laien in Notfällen zur Hilfe zugezogen werden können. Vom Ersetzen des Priesters oder Diakons war nie die Rede.

• Wird die heilige Kommunion unter beiden Gestalten ausgeteilt, erlebt man immer wieder: Die Gläubigen nehmen den Leib des Herrn und tauchen ihn in den Kelch ein. Dazu zwei kritische Fragen: Warum darf sich der Diakon den Kelch nicht selbst nehmen, wenn der Laie sich das Blut Christi selbst nehmen darf? Und: Wie will man vermeiden, dass ab und zu der Ungeübte die Finger in das Blut des Herrn taucht und zudem auf dem Weg zwischen Kelch und Mund Tropfen von der Hostie zur Erde fallen lässt? Warum dieses Risiko eingehen, wenn der Priester es viel besser kann? Oder gilt bei bestimmten Leuten das „Empfangen“ des Leibes Christi statt des „Nehmens“ als Beeinträchtigung ihrer Mündigkeit?

• Eine evangelische Christin erzählte mir, wie sie entsetzt aus der Kirche floh, weil der evangelische Pastor beim Abendmahl normales Brot vom Bäcker nebenan verwendete. Ähnliche Vorkommnisse gibt es leider bei den Katholiken auch. Erst kürzlich hörte ich von einem Priester, der einen Brotlaib auf den Altar legte, ihn vor der Wandlung noch in Stücke brach und diese dann an die umstehenden Gläubigen verteilte. Am Ende der Messe blieb der Altar mit Bröseln übersät.

• Bei der Entlassung am Ende der Messe hört man verschiedene Formeln: „Geht hin und bringt den Frieden“, zum Beispiel. Ohne Zweifel, ein schöner Wunsch. Nur – richtig ist es nicht. Denn die im Messbuch vorgesehene Formulierung lautet nicht nur anders, sie meint auch etwas anderes. Liturgische Formulierungen sind genau zu nehmen, weil sie genau auf das Geheimnis zielen. Es genügen kleine Veränderungen, um es zu verfehlen.

Den Sinn der Liturgie lebendig halten

Zum Umgang mit der Liturgie passt das Sprichwort: „Bevor man eine Mauer abreißt, sollte man wissen, wozu sie gebaut wurde.“ Ich möchte es ergänzen: Die Entscheidung, welche Mauer man versetzen kann und welche nicht, können nur die Architekten fällen, im Gespräch mit allen Bewohnern des „liturgischen Hauses“, das jemand „umbauen“ will.

Mich beunruhigt auch zu sehen, wer die liturgische Ordnung nicht mehr ernst nimmt: Oft sind es Gläubige, die zu den katholischen „Kernschichten“ gehören, und ihre Priester „gestalten“ zusammen mit ihnen „ihre“ Liturgie. Manche Bischöfe schweigen lieber, als sich sagen zu lassen, sie seien kleinlich; oder sie resignieren und lassen den liturgischen Ungehorsam mehr oder weniger laufen. Ihre Aufgabe ist auch deswegen in vielen Fällen geradezu unlösbar, weil die Betroffenen schon lange keine Vorstellung mehr davon haben, was mit dem Gehorsam gemeint war, den sie bei ihrer Weihe dem Bischof versprochen haben.

Unverkürzter Glaube gibt Orientierung

Ohne Zweifel haben die Missbräuche auch mit einem Mangel an Glauben zu tun. Wie sonst könnte man manche Streitigkeiten um die Mund- oder Handkommunion verstehen? Stünde im Hintergrund der unverkürzte Glaube der Kirche, würde die Auseinandersetzung anders verlaufen: Wie kann derjenige, der weiß, wen er hier empfängt, die Frage, wie er Ihn empfangen darf, zum großen Streitpunkt machen? Wie ist es möglich, dass ein „engagierter Laie“ behauptet, es sei ein Skandal, weil der Priester, treu zu den Regeln der Kirche, ihm nicht erlaubte, die Hostie selbst in den Kelch zu tauchen? Wie ist es zu begreifen, dass man ein Dorf lieber ganz ohne Priester und Messe belässt, als einem frommen, aber ängstlichen Priester zu erlauben, die Kommunion nur in der Form der Mundkommunion auszuteilen?

Wir brauchen dringend eine Reform der Liturgie, zuerst einmal die Reform der Rückkehr zur liturgischen Ordnung. Denn wenn die heilige Messe das „Höchste“ ist, kommt der liturgischen Erneuerung die höchste Dringlichkeit für die Neuevangelisierung Europas zu. Und was bräuchte unser liebes Europa mehr als eben dies: die Rückkehr zu Christus? Wer soll diese Reform einleiten? Natürlich die Bischöfe, dazu gibt es sie.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Freude am Weg des Herrn“

Buchbesprechung von Werner Schiederer

Vor kurzem erhielten Weihbischof Laun und seine Mitarbeiter folgende E-Mail: „Mein Name ist S. und ich studiere Theologie in Ljubljana, Slowenien. Ich bin auch Katechistin, aber in unserer Pfarre haben die Kinder keine Bücher für Religionsunterricht, sie schreiben nur, was der Katechist oder die Katechistin sagen. Natürlich haben wir in Slowenien auch unsere eigenen Bücher, aber ich finde die nicht so gut. Gestern machte meine Theologische Fakultät eine Studienfahrt nach Salzburg und ich ging auch in eine Buchhandlung, um ein Buch zu kaufen. Ich suchte einen Theologen und später sah ich Ihre Bücher für Religionsunterricht. Auf den ersten Blick fand ich das Buch gut, ich kaufte den 4. Band. Als ich nach Hause kam und genauer das Buch durchblätterte, machte ich Schluss – dieses Buch wird mein Buch für Religionsunterricht sein. Ich habe noch nie ein so gutes Stück gehabt und ich muss Ihnen nur gratulieren für Ihr Werk. Danke für ein so gutes Buch. Ich werde bestimmt noch die anderen Bände kaufen, wenn ich noch nach Österreich fahre – oder beim Internet. Ich gratuliere Ihnen noch einmal. Mit freundlichen Grüßen S.“

Bewusst haben wir an diesem Brief – außer der Abkürzung für den Namen – nichts verändert. Er spricht für sich und ist ein echter Ausdruck dafür, was viele pastoralen Mitarbeiter und Gläubige empfinden, die sich mit der Reihe „Glaube und Leben“ beschäftigen. „Glaube und Leben“ ist eine 8-teilige Reihe zur Weitergabe des Glaubens: eine umfassende Darstellung des katholischen Glaubens im Dienst des Lebens, verfasst auf der Grundlage der Hl. Schrift und der Lehre der Kirche. Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche von 6 bis 14 Jahren, deren Eltern und Katecheten. Eigentlich aber ist „Glaube und Leben“ für alle geeignet, die den katholischen Glauben wieder, besser oder neu kennen lernen wollen.

Inzwischen ist der 6. Band erschienen.[1] Sein Thema sind die Zehn Gebote. Das Buch verbindet auf sehr gelungene Art die fundamentalen Weisungen des Evangeliums für ein Leben aus dem Glauben mit den aktuellen Fragen unserer Zeit. Es ist prägnant und verständlich geschrieben. In seiner Anschaulichkeit kann es den Leser geradezu fesseln. Weihbischof Laun meinte bei einer Vorstellung: „Ich bin überzeugt, der 6. Band wird seinen Weg machen, wie die anderen Bände bisher auch.“ Gewiss ist das Buch eine glänzende Idee für Weihnachten – wer weiß, wem damit geholfen wäre?

Jeder der bisher sechs (von zus. acht) erschienenen Bände umfasst je Schulstufe drei Bücher: (1) ein Textbuch – die eigentliche Grundlage, 12,80 Euro; (2) ein Arbeitsbuch: es ermöglicht eine kreative Beschäftigung mit dem Inhalt und fördert ein besseres Verstehen, welches die Umsetzung der Lehre Christi ins Leben unterstützt, 7,80 Euro; (3) ein Handbuch für Eltern und Katecheten: es bietet pädagogische Mittel und Wege, um den Inhalt dynamisch, interessant und überzeugend weitergeben zu können, 9,80 Euro (jeweils zzgl. Porto).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] In der Reihe „Glaube und Leben“ von Weihbischof Dr. Andreas Laun ist nun Band 6: „Freude am Weg des Herrn“ erschienen. Zu beziehen ist das Buch beim Referat für Ehe und Familie, Erzdiözese Salzburg, Dreifaltigkeitsgasse 12, A-5020 Salzburg; Fax: 0043(0)662-875449-4; E-Mail: info@glaube-und-leben.at

Die Empfängnis Mariens im Licht der Ökumene

Als Abschlusstermin für das II. Vatikanische Konzil wurde vor 40 Jahren bewusst der 8. Dezember, das Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, gewählt. Papst Paul VI. hatte im Rahmen des Konzils die Gottesmutter feierlich als „Mutter der Kirche“ ausgerufen. In die Hände Mariens, dem „Anfang der neuen Schöpfung“, wollte er nun ganz bewusst die vom Konzil aufgegebene Erneuerung der Kirche legen. Prof. Dr. René Laurentin zeigt auf, dass die Wahrheit von der „Unbefleckten Empfängnis“ Mariens im Einklang mit dem Grunddogma von der allumfassenden Erlösung durch Jesus Christus steht und tief in der biblischen Offenbarung verankert ist. Sie dürfte eigentlich für die Ökumene kein Hindernis sein, sondern könnte den Weg zum gemeinsamen Verständnis der Kirche als „Braut des Herrn“ ebnen.[1]

Von René Laurentin

Am 8. Dezember 1854 verkündete Papst Pius IX. das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens. Damit beendete er eine der längsten und tiefsten Kontroversen, die die Kirche je entzweit hatte.

Der heilige Bernhard von Clairvaux (1090/91-1153) war von Maria fasziniert. Dennoch tadelte er das Domkapitel von Lyon heftig, als es das Fest der Empfängnis Mariens approbierte. Denn dieses Fest, das im christlichen Osten seinen Ursprung hatte, war dem Glauben und der Tradition des Westens fremd. Die großen Lehrer des Mittelalters blieben dem Mysterium gegenüber misstrauisch oder lehnten es ab, und zwar alle bis zu Duns Scotus (gest. 1308 im Alter von 42 Jahren). Er wagte jedoch nur auf das theologische Problem einzugehen, ohne direkt zu sagen, dass Maria ohne Erbsünde war. Denn hätte er diese These vertreten, wäre er von der Sorbonne verurteilt worden. So stellte er lediglich fest: 1. Gott konnte es tun, 2. es war opportun. Aber er zog daraus nicht den Schluss, dass es Gott auch wirklich getan hat.

Die geniale Lösung des Duns Scotus

Warum gilt Duns Scotus trotzdem als „der Lehrer der Unbefleckten Empfängnis“? Er ging auf den wichtigsten Einwand ein, welcher der Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens – scheinbar – entgegenstand. Nach dem Evangelium und der Tradition der Kirche muss Jesus tatsächlich als der Erlöser aller Menschen betrachtet werden. Wenn aber Maria ohne Erbsünde ist und – scheinbar – nicht erlöst werden brauchte, so wäre Jesus nicht der Erlöser aller Menschen. Eine Ausnahme für Maria wäre ein Angriff auf das Grunddogma von der allumfassenden Erlösung durch Jesus Christus.

Scotus bekräftigte, dass Christus der vollkommene Erlöser aller ist. Er fügte aber hinzu, dass die Erlösung die Sünde nicht nur abwaschen, sondern ihr auch zuvorkommen kann. Die Vollkommenheit der Erlösung muss gleichsam als höchste Form auch diese Möglichkeit einschließen. Eine gute Mutter tröstet und wascht ihr Kind, wenn es in einen Graben gefallen ist. Sie kann aber auch aufpassen, dass es gar nicht in den Graben fällt. Christus, so Scotus, musste Maria vor der Sünde bewahren, damit seine Menschwerdung nicht befleckt werde. Es ist das Verdienst dieses großen Theologen, jenen Schlüsselbegriff gefunden zu haben, der 1854 auch in die dogmatische Definition Eingang gefunden hat: Maria wurde von der Erbsünde nicht gereinigt, sondern vor ihr bewahrt.

Im Glaubenssatz ist der abstrakte Ausdruck „Unbefleckte Empfängnis“ nicht zu finden. Der Sachverhalt wird ausführlicher beschrieben. Es heißt „… dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch eine einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Jesu Christi, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jeder Makel der Erbsünde unversehrt bewahrt wurde…“ (vgl. Denzinger-Hünermann, 2803).

Papst Pius IX. definierte in dieser Aussage zunächst die fundamentale Wahrheit, dass auch Maria durch Jesus Christus erlöst wurde. Damit entkräftete er den Einwand, der den Glaubenssatz 19 Jahrhunderte lang blockiert hatte. Gleichzeitig ergänzte er diese Definition durch die Feststellung, dass ihre Erlösung keine Reinigung war, sondern eine Bewahrung (pre-servazione). Diese aber geschah im Hinblick (pre-visione) auf die Verdienste des Erlösers aller Menschen. Beide Präfixe (pre = vor, voraus) verweisen auf die „vorauseilende“ Erlösungstat Jesu Christi an Maria, der für seine Mutter eine Ausnahme gemacht hatte. Damit wurde das Dekret des Heiligen Offiziums aufgehoben, das seit der Zeit Papst Alexanders VII. gegolten hatte. Es stellte damals all jene Autoren auf den Index, die Maria den Titel „Unbefleckte Empfängnis“ zuerkannten. Zuweilen wurden solche Autoren sogar eingekerkert, wie es Mitte des 17. Jahrhunderts beispielsweise Ippolito Maracci (1604-1675) widerfuhr.

Ein ökumenisches Problem

Es ist merkwürdig, dass dieses Dogma von der Ostkirche nicht akzeptiert wird. Verschiedene orthodoxe Synoden haben es verurteilt. Denn eigentlich stammt dieses Fest aus dem Osten. Dort wurde das Fest von der „Empfängnis Mariens“ im 7. bzw. 8. Jahrhundert eingeführt. Die Ostkirche feierte diese Empfängnis mit einer großen Fülle von ausschmückenden Worten, wie sie der griechischen Sprache zur Verfügung stehen: die heilige, die reine, die unbefleckte Empfängnis …

Es kommt einer Umkehr der Geschichte gleich, dass sich die Orthodoxie gegen eine Wahrheit ausspricht, die sie selbst überliefert hat. Hingegen stellte sich der Westen eindeutig hinter diesen Glaubenssatz, den er zunächst abgelehnt hatte.

Bis heute ist die Diskussion mit Orthodoxen oft schwieriger als mit Protestanten. Die Orthodoxen bringen unzählige Einwände vor: man entferne Maria von uns, man verringere ihre Verdienste usw. Die Protestanten sind zwar aus Prinzip gegen dieses Dogma. Doch findet man einen Anknüpfungspunkt, wenn man im Dialog von ihrem eigenen Prinzip ausgeht: nämlich „sola gratia – allein die Gnade“ (Luthers Leitmotiv). Maria ist das beste Beispiel für dieses Prinzip.

Die biblische Offenbarung

Der generelle Einwand von orthodoxer wie von protestantischer Seite lautet, dieser Glaubenssatz stehe nicht in der Bibel – ebenso wenig wie das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Als Antwort können wir bereits auf das erste Wort bei der Verkündigung an Maria verweisen: „Gegrüßet seist du, voll der Gnade (griechisch: kecharitomene, κεχαριτωμευη“ (Lk 1,28). Dieser Ausdruck ist sehr stark. Er steht für die außerordentliche Begnadung Mariens und drückt die Fülle der Liebe Gottes an sie aus. Diese implizite Aussage erschließt sich auf das Geheimnis der „Unbefleckten Empfängnis“ hin, wenn wir die Bibel als Ganzheit in ihrer aufsteigenden Linie betrachten.

Die Offenbarung dieser Wahrheit deutet sich zum ersten Mal im zweiten Kapitel des Propheten Hosea (8. Jahrhundert v. Chr.) an. Es ist zunächst eine schreckliche Anklage Jahwes gegen sein eigenes Volk – „die treulose Braut“ (Hos 2,4), „die zur Dirne geworden ist“ (1,2; 2,5; 3,3; vgl. die Kapitel 2, 4 und 6), nämlich wegen der Verehrung falscher Götter, für die Salomon sogar Tempel erbauen ließ und zwar für seine götzendienerischen Nebenfrauen. Aber nach diesen Scheltreden, die aus verwundeter Liebe heraus erfolgt sind, verspricht Jahwe, der treue Bräutigam, wieder von neuem zu beginnen: „Darum will ich selbst sie verlocken. Ich will sie in die Wüste (den Ort des Bundes) hinausführen und sie umwerben“ (2,16). „Ich traue dich mir an auf ewig; ich traue dich mir an um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht … ich traue dich mir an um den Brautpreis meiner Treue“ (2,21.22).

Gott, der Bräutigam, der voll Leidenschaft für sein Volk ist – für die Tochter Zion, für dieses verlorene Kind, das er aufgelesen hatte, als es im eigenen Blut lag, das er adoptierte und in der Blüte seiner Jahre zur Ehe nahm (Ez 16), er vergisst auf die Sünden des Volkes, getreu der wunderbaren Fähigkeit der Selbstvergessenheit, die der unendlichen Barmherzigkeit Gottes eigen ist und die in der Bibel gerühmt wird.

Das Hohelied offenbart seinen eigentlichen Sinn, wenn man es nach der biblischen Tradition selbst deutet, indem man den Bräutigam mit Jahwe und die Frau mit dem Volk, der Stadt identifiziert: „Wie der Turm Davids ist dein Hals…“ (Hld 4,4; vgl. 7,5). Und die Verlobte, die Tochter Sion sagt: „Ich bin eine Mauer (die Stadtmauern Jerusalems), meine Brüste gleichen Türmen“ (8,10ff.). Und schließlich sagt Gott zu seiner Verlobten: „Alles an dir ist schön, meine Freundin, kein Makel haftet dir an“ (Hld 4,7; vgl. 1,15.16; 4,1; 5,9; Kap. 6).

Die Prostitutionen, die Hosea erwähnt, gibt es im Hohenlied nicht mehr: sie sind nur Träume (Angstträume) der schönen Braut. Der Text wiederholt es: „Stört die Liebe nicht auf, weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt“ (Hld 2,7; 3,5; 8,4).

Diese Aussage ist nicht bloß implizit, sie ist klar. Aber sie bleibt virtuell, wenn man sie nicht in die Gesamtheit der biblischen Texte einordnet, in die aufsteigende Linie von Eva bis Maria, die die letzte Erbin und die Vollendung des auserwählten Volkes ist: die Braut Jahwes.

Wo, wann und wie konnte die treulose Braut zur Verlobten ohne Makel werden? In Maria, der Mutter des Herrn, die von der Liebe Gottes erfüllt war! Gerade diese zuvorkommende, selbstlose und volle Liebe wird vom unübersetzbaren griechischen Wort kecharitomene, κεχαριτωμευη bezeichnet. Es ist ein starkes Wort (gebildet vom Stamm charis, χαριξ: Gnade), welches der Engel sofort erklärt: „Du hast bei Gott Gnade gefunden“ (Lk, 1,30).

Maria wurde auf den Gipfel der Gnade und Liebe getragen. So konnte sie den Heiland als Mensch und in der Geschichte der Menschen gebären. Sie wurde getragen zum Gipfelpunkt des Volkes Gottes. Sie hat Jesus nicht nur als Mensch empfangen und geboren. Dank ihrer vollkommenen Übereinstimmung mit dem Willen Gottes wurde Jesus ihr Sohn – durch sie allein. Sie war auch das erste Glied des geheimnisvollen Leibes, den sie selbst – gebärend – gebildet hat. Als „Gründungsmitglied“ der Kirche war sie zunächst als Einzige die ganze Kirche – durch die Gnade des Heiligen Geistes (vgl. Lk 1,35). Und als sie ihre Base Elisabeth besuchte, da wollte der Heilige Geist sein Wirken ausweiten: auf Elisabeth und ihr Kind, Johannes den Täufer, und auf den Vater Zacharias. Alle drei wurden vom Heiligen Geist erfüllt (Lk 1,42.67).

Ich habe lange Zeit gebraucht, um zu entdecken, dass die Wahrheit von der „Unbefleckten Empfängnis“ Mariens schon in die Offenbarung klar eingeschrieben ist. Wenn man die Bibel in ihrer aufsteigenden Linie liest, so erkennt man in den einzelnen Stellen oft implizite Nuancen, die bedeutungsvoller sind, als ihre expliziten Aussagen.

Selbst wenn die Bibel auch aus der heidnischen kulturellen Tradition geschöpft hat, so lässt sich aufzuzeigen, wie die Inspiration des Heiligen Geistes zunehmend die besten von diesen edlen kulturellen Traditionen gereinigt, vollendet und übertroffen hat. Der Heilige Geist hat sich ihrer bedient, um sie zum Honig der biblischen Offenbarung zu machen.

Die „neue Eva“

Maria ist nicht nur das einzige Gründungsmitglied der Kirche, sondern auch das einzige Glied, das von jeder Sünde frei ist. Denn alle anderen Glieder sind Sünder: „Der Gerechte sündigt siebenmal am Tag“ (vgl. Spr 24,16). Die heilige Kirche besteht aus Sündern. Und gleichzeitig ist es die Liebe, die in jedem von ihnen die Sünde zurückdrängt – mit Hilfe der Gnade Gottes. Die Grenzlinie der Sünde geht mitten durch unsere Herzen. Nur Maria ist in diesen Morast nicht hineingeraten: sie ist frei „von jedem Makel der Sünde“, wie es Papst Pius IX. klar definiert hat. Sie ist frei von jener Disharmonie der widerstrebenden Wünsche, die die Tradition als „Konkupiszenz“ bezeichnet.

So ist Maria der Anfang der „neuen Schöpfung“, die die Propheten verheißen. Sie ist die „neue Eva“, wie es die Kirchenväter formulieren.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Bei diesem Beitrag von Prof. Dr. René Laurentin handelt es sich um den ersten Teil eines Artikels zum Thema „Maria – die Erste der Erlösten“ – allerdings in einer neu bearbeiteten Fassung. Den zweiten Teil über die Mutterschaft Mariens veröffentlichen wir in der Januar-Nummer 2006.

Seelsorge in Russland:

Bethlehem ist überall

Erich Maria Fink berichtet von seinem bewegten Leben als Pfarrer in Beresniki, einer mittelgroßen russischen Industriestadt an der Grenze zwischen Europa und Asien. Zuständig ist er für das ganze nördliche Permer Gebiet, das im Durchmesser mehrere hundert Kilometer umfasst. Er darf außerordentliche Erfahrungen machen, die ihm die notwendige innere Einheit von pastoralem und sozialem Einsatz erkennen lassen. Seelsorge heißt, Werkzeug der Liebe Gottes sein, welche auf verschiedene Weise zu den Menschen gelangen möchte. „Bethlehem ist überall“, wo sich Menschen nach Liebe sehnen und wo sie angenommen werden. An Weihnachten hat Gott gezeigt, dass er auf der Seite der Bedürftigen steht. Pfarrer Fink versteht seinen Bericht auch als Ausdruck des Dankes an die Wohltäter, ohne die seine Pfarrei die vielfältige Hilfe nicht leisten könnte.

Von Erich Maria Fink

Typisches Familiendrama

Mitte November erschien eine Frau aus unserer Gemeinde zur Aussprache, die ich seit meiner Ankunft hier in Beresniki kenne. Über fünf Jahre lang habe ich an ihrem Weg Anteil genommen. Er ist ein typisches Beispiel für die unzähligen Schicksale und Familientragödien in diesem Land. Sie selbst ist Russin und mit einem katholisch getauften Russlanddeutschen verheiratet. Wie schon sein Vater ist der Mann sehr stark alkoholabhängig. Bis heute kann er sich nicht eingestehen, dass er krank ist. Deswegen ist jeder Versuch, den Alkoholismus unter Kontrolle zu bringen, zum Scheitern verurteilt. Monat für Monat erlebe ich den Kampf der Familie mit, wie sie nach Enttäuschungen immer wieder Kräfte sammelt und Hoffnung auf ein mögliches Fortbestehen der Familie schöpft. Die beiden Kinder, die sich am Übergang vom Jugendalter zum Erwachsensein befinden, machen sich inzwischen keine Illusionen mehr. Und auch die Frau, die vor einigen Jahren in die katholische Kirche eingetreten ist und anschließend auch ihre sozialistisch geprägte Mutter zur Taufe geführt hat, konnte die Erniedrigungen nicht mehr aushalten und gab in ihrer Verzweiflung innerlich auf. Ihr Mann nämlich, der seine Arbeit aufgegeben hat, hält sich zwar meist bei seiner Mutter auf. Erscheint er aber zuhause, wird es für alle unerträglich.

Kampf um die Würde des Lebens

Nun eröffnete mir die Frau, dass sie von einem anderen Mann, den sie von ihrer Schulzeit her kennt, ein Kind erwartet. Auch er hat Probleme mit dem Alkohohl und sie will sich ein gemeinsames Leben mit ihm erst gar nicht vorstellen. Das Gespräch drehte sich jetzt um die Frage, wie kann sie in ihrer völlig ausweglosen Lage das Kind annehmen. Obwohl sie einen echten Glauben hat, sah sie in der Abtreibung die einzige Lösung; denn auch der Vater des Kindes verlangt von ihr mit ganzer Gewalt einen solchen Schritt. Im Rahmen der gesetzlichen Fristenlösung, so hob sie immer wieder hervor, blieben ihr nur noch wenige Tage. Um sie zu ermutigen, trotz aller Schwierigkeiten zum Kind „Ja“ zu sagen, appellierte ich nicht nur an ihr Gewissen. Ich versuchte, ihr jede nur denkbare Unterstützung anzubieten. Schließlich stellte ich ihr sogar in Aussicht, dass sie bei uns in der Kirche ein Zimmer bekommen könnte. Unser neues Gotteshaus ist mit einem Sozial- und Pfarrzentrum verbunden, in dem ich schon seit einem Jahr zusammen mit einer Gruppe von ehrenamtlichen Mitarbeitern der Pfarrei wohne.

Herbergssuche

Am darauf folgenden Sonntag kam die Frau nach dem Gottesdienst zu mir und verriet mir mit sichtbarer Erregung: „Ich möchte das Kind behalten, aber ich muss in die Kirche umziehen.“ Sie habe nach unserem Gespräch erstmals den Mut aufgebracht, sich auch anderen Freunden gegenüber zu öffnen. So hätte sie ihr Problem unserer Chorleiterin geschildert und am Telefon einfach lange gemeinsam mit ihr geweint. Auch das hätte sie für unsere Ermahnungen empfänglich gemacht. Wenige Tage später zog sie tatsächlich bei uns in die Kirche ein und es war mir, als dürften wir die Jungfrau Maria mit ihrem Jesuskind selbst aufnehmen. Ich empfand eine tiefe Freude und dankte Gott, dass er uns mit unserem Zentrum eine solche Möglichkeit gegeben hat, Menschen zu helfen und seine Liebe zu bezeugen. Selbst wenn die Frau nur für kurze Zeit bei uns wohnen sollte, so war unser Angebot wohl entscheidend, um ein Menschenleben zu retten.

„Das habt ihr mir getan“

Diese Begebenheit wirft ein Licht auf unsere tägliche Arbeit. Von morgens bis abends kommen Menschen mit den verschiedensten Problemen zu uns. Die erste Aufgabe ist es, zuzuhören und mit den Betroffenen zu überlegen, wie es weitergehen kann und welchen Beitrag wir als Pfarrei leisten können. Nur ein Viertel derer, die bei uns das erste Mal anklopfen, möchte beichten oder sucht einen Rat bzw. eine moralische Unterstützung in einem rein seelsorglichen Gespräch. Etwa ein weiteres Viertel meldet sich oder Angehörige zum Empfang eines Sakraments wie Taufe oder Erstkommunion an bzw. nimmt einfach Kontakt mit der Pfarrei auf oder bittet um das Begräbnis eines Familienmitglieds. Rund die Hälfte befindet sich in einer sozialen Notlage, aus der sie keinen Ausweg mehr weiß. Unsere Hilfe reicht vom regelmäßigen Besorgen von Lebensmitteln und Kleidung, über die Erledigung von Formalitäten bei den Behörden und der Vermittlung von Arbeit, bis hin zur Renovierung und Beschaffung von Wohnungen. Wir können nicht auf alle Bedürfnisse eingehen, aber wir versuchen, hinter jeder Anfrage einen Ruf des Herrn zu erkennen, der uns sagt: „Das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40).

Verschmelzung von sozialem und pastoralem Dienst

Meistens fängt damit ein längerer Prozess der Hilfe zur Selbsthilfe an. Da wir kein Geld aus der Hand geben, versuchen wir für jeden Notleidenden und seine Familie jeweils einen Gläubigen aus der Pfarrei zu finden. Dieser erhält von uns die Mittel, mit denen er eigenverantwortlich dem Bedürftigen die jeweils notwendige Unterstützung zukommen lässt. So beginnt er in Abstimmung mit der Pfarrei, den Betroffenen regelrecht zu betreuen. Diese persönlichen Verbindungen leiten meist eine seelsorgliche Entwicklung ein, die dem Hilfesuchenden die Augen für den Sinn des Lebens öffnen kann. Aber auch umgekehrt formt und stärkt ein solcher Dienst die meist jungen Leute, die sich dabei engagieren, in ihrem Glauben und in ihrer Bindung an die Pfarrei.

Familienpatenschaften

Aus Deutschland wurde uns vor etwa einem Jahr angeboten, Familienpatenschaften zwischen Russland und dem Westen aufzubauen. Dadurch erhielt unser soziales Engagement einen zusätzlichen Impuls. Ein ganzes Team ist zur Zeit damit beschäftigt, den sozialen Hintergrund der Betroffenen zu erheben, schriftlich festzuhalten und mit Fotos zu dokumentieren. Die einzelnen Betreuer sozial Bedürftiger stehen in Kontakt mit einer Verantwortlichen unserer Pfarrei, die auch die Übersetzung der Informationen ins Deutsche veranlasst. So können wir nun den Familien im Westen, die an einer konkreten Patenschaft interessiert sind, Kinder oder Familien aus Russland zuteilen und sie über deren Entwicklung auf dem Laufenden halten. Die Patenschaften werden auf deutscher Seite von Roland Weber organisiert, der ohne jegliche Verwaltungskosten sowohl die Spenden an uns vermittelt als auch unsere Angaben und Berichte an die Wohltäter weitergibt. Es ist durch diese Entwicklung ein Reifungsprozess in Gang gekommen, der unserer sozialen Hilfe ein persönliches Gesicht verleiht und allen Beteiligten ihre Verantwortung ganz neu erleben lässt.

Die zwölf Schritte

Sehr häufig liegt die Ursache für soziale und menschliche Nöte in der Abhängigkeit vom Alkohol. Dieses Problem hat vor allem in den ärmeren Teilen Russlands die Ausmaße einer nationalen Katastrophe angenommen. Wie ein winziger Tropfen auf den heißen Stein muten die Versuche an, dem Problem mit der Bildung von Gruppen nach dem Prinzip der „Anonymen Alkoholiker“ zu begegnen. Und doch besteht darin ein echter Lichtblick, vor allem im Sinn einer Hilfe zur Selbsthilfe. Wir haben uns in unserer Pfarrei für diese Methode entschieden und bauen das Angebot solcher Gruppen systematisch aus. Geholfen werden kann nur demjenigen, der selbst wirklich geheilt werden will. Auf dem Weg von zwölf Schritten wird der Abhängige zunächst dazu befähigt, seine Situation ehrlich zu erkennen. Die entscheidende Hilfe ist dazu der vertrauliche und offene Austausch in einer festen Gruppe von „Leidensgenossen“. Sobald es dem Abhängigen gelingt, vor sich und den anderen zuzugeben, dass er aus eigener Kraft seiner Krankheit nicht gewachsen ist, kann er sich für die rettende Macht Gottes öffnen. Darauf setzen wir unseren Hauptakzent. Ohne dass konfessionelle Unterschiede ins Gewicht fallen, haben unsere Gruppen eindeutig religiösen Charakter und in gewisser Weise die Gestalt von Gebetskreisen. Alkoholismus ist rein medizinisch nicht heilbar. Möglich ist allerdings eine Stabilisierung der Persönlichkeit, die dem Abhängigen ein Leben ohne Alkohol erlaubt. Dies ist nur zu erreichen, wenn zusätzlich zur Gnade die Geborgenheit in einer Gruppe das innere Gleichgewicht beständig aufrechterhält.

Solides Fundament

Inzwischen stehen uns die notwendigen Räume zur Verfügung, in denen täglich solche Gruppentreffen stattfinden. Wir haben drei Bereiche eingerichtet, die jeweils von einem Verantwortlichen geleitet werden. Für diese drei Leiter finanzieren wir regelmäßig die Teilnahme an Fortbildungskursen, welche von kirchlichen oder weltlichen Fachleuten abgehalten werden. Einer von ihnen ist Peter, ein ehemaliger Alkoholiker. Bereits sieben Jahre lebt er vollkommen „trocken“. Zunächst hatte er sich 23 Mal einer medizinischen Behandlung in Krankenhäusern unterzogen, die jeweils ein bis drei Monate gedauert hat, jedoch ohne jeden Erfolg. Schließlich wurde er durch eine katholisch geführte Gruppe von „Anonymen Alkoholikern“ in Weißrussland geheilt. Nun betreut er unsere Gruppen von Alkoholikern, die ihre Abhängigkeit überwinden wollen. Den zweiten Bereich leitet Olga, eine Mutter von zwei Kindern, die sich leider von ihrem abhängigen Mann getrennt hat. Bei ihr treffen sich die sog. „Mitabhängigen“, das heißt insbesondere Familienmitglieder, die unter einem Alkoholiker leiden und einer Unterstützung bzw. selbst einer seelischen Heilung bedürfen. Aussprache und Austausch mit anderen Betroffenen ermöglichen oft schon ein neues Leben. Der dritte Bereich wird von Dima, einem Arzt und Psychotherapeuten geleitet, der früher ebenfalls Alkoholiker war. Mit ihm treffen sich in Einzelbehandlung oder in der Gruppe solche Abhängige, die bereits erhebliche psychische Störungen aufweisen. Bislang haben diese drei Verantwortlichen ehrenamtlich gearbeitet. Nun haben wir uns darauf verständigt, dass sie für ihre Treffen 1,50 Euro in der Stunde erhalten – eine Investition, die sich wahrlich auszahlt.

Zentrum der Russlanddeutschen

Nicht nur arme Menschen klopfen bei uns an. Nun hat sich auch das Zentrum der Russlanddeutschen bei uns gemeldet. Die Fördermittel aus Deutschland werden immer geringer, so dass unsere russlanddeutsche Vereinigung die Mittel für die Miete ihrer Räumlichkeiten nicht mehr aufbringen kann. Wir haben dort mit unserer katholischen Gemeinde fast fünf Jahre lang alle unsere Veranstaltungen abgehalten. Und unsere „Babuschkas“ – so bezeichnet man unsere alten Frauen – trafen sich dort bereits seit 1996 jeden Sonntag. Außerdem stand uns diese Vereinigung mit ihrem Vorsitzenden zur Seite, als es darum ging, den Bauplatz für unsere Kirche und alle damit verbundenen Genehmigungen zu erhalten. Es ist selbstverständlich, dass wir nun auch für diese Einrichtung unsere Türen öffnen. Noch vor Jahresende wird die Gesellschaft der Russlanddeutschen komplett in unser Zentrum umziehen, d.h. mit Büro, Bibliothek, Unterrichtsräumen für die deutsche Sprache und nicht zuletzt mit der ganzen Gemeinde der Lutheraner. Für uns ist dieser Dienst, der auch eine ökumenische Dimension hat, eine Ehre und Freude. Jedenfalls wird unser Zentrum auf diese Weise mit zusätzlichem Leben erfüllt. Gott sei Dank haben wir bereits vor einem Jahr angefangen, das ganze Kellergeschoss auszubauen. Ansonsten könnten wir jetzt nicht so freizügig Räume zur Verfügung stellen. Auch von Seiten der Stadtverwaltung wird unsere Gemeinde mit deutscher Kultur in Verbindung gebracht. Zum Tag der „Einheit der Völker“ am 4. November, der das frühere Fest der Revolution ablöste, wurde als Beitrag der deutschen Nationalität unser Kirchenchor eingeladen, deutsche Lieder zu singen. Dazu wurde ich – als einziger Vertreter der Religionen – gebeten, eine geistliche Ansprache zum Thema Völkerverständigung zu halten.

Interreligiöses Komitee zu Besuch

Unsere Kirche ist allein schon durch ihr äußeres Erscheinungsbild ein wirksames Zeugnis. Viele werden dadurch angezogen. Immer wieder kommen Gruppen zu uns, die um eine Führung bitten. Sehr häufig sind es Schulklassen, denen wir jedes Mal eine ganze Stunde lang Religionsunterricht erteilen können. Es erscheinen aber auch andere Interessierte zur Besichtigung unserer Kirche: Einmal war es die Akademie für Architektur mit ihren Studenten, einmal die Angestellten unserer größten Bank, ein anderes Mal die Mitarbeiter des städtischen Büros für Bauplanung oder eine Privatschule für Deutsch und Englisch aus der Nachbarstadt Solikamsk. Vor kurzem bat eine Yogagruppe, bestehend aus 15 gesellschaftlich hochgestellten Personen, um eine Führung und eine Glaubensinformation. Daraus wurde eine dreistündige Katechese, die die Gruppe nun regelmäßig fortführen möchte. Der höchste Besuch war letzte Woche das interreligiöse Komitee unserer Gebietshauptstadt Perm. Es handelte sich um eine 18-köpfige Gruppe, darunter die höchsten Vertreter verschiedener religiöser Gemeinschaften und Konfessionen in unserem Gebiet, z.B. des Judentums, des Islams, der Lutheraner und der altgläubigen Orthodoxen. Der russisch-orthodoxe Bischof war durch seinen Sekretär vertreten und ließ mir mitteilen, dass der Bischof auf einen Besuch von mir warte – eine große Überraschung, da ich trotz vieler Anfragen von ihm bislang noch nie empfangen wurde.

Zeugnis im städtischen Fernsehen

Da unsere Armenküche bereits seit einigen Monaten in Betrieb ist, konnten wir die genannten Ehrengäste nach einer ausführlichen Kirchenbesichtigung in unserem Speisesaal bewirten. Angeführt wurde die Gruppe vom zweithöchsten politischen Vertreter unseres Permer Gebiets, der für kulturelle Fragen zuständig ist. Am Ende der Begegnung fand er vor allen Teilnehmern Worte der höchsten Anerkennung für unsere katholische Gemeinde und für alles, was bislang durch sie zustande kam. Er übermittelte einen Gruß unseres Bürgermeisters, mit dem er sich kurz zuvor getroffen hatte. Dieser habe den Wunsch geäußert, unsere Gemeinde sollte jede Woche in unserem städtischen Fernsehen präsent sein. Wir bräuchten uns nur zu melden. Die zuständigen Leute seien informiert. Ähnlich verlief eine Begegnung vor etwa zwei Monaten. Der technische Leiter unseres Fernsehens lud mich zu einem Gespräch ein. Er erklärte mir, dass bislang über den städtischen Fernsehturm sechs Programme ausgestrahlt würden. Sie hätten den Wunsch, dass unsere Gemeinde einen eigenen Kanal aufbaue und ein zusätzliches Programm anbiete. Mit dem zuständigen Direktor für das Permer Gebiet hätten sie eine entsprechende Übereinkunft getroffen. Wir bräuchten lediglich die technischen Anlagen finanzieren und könnten Sendungen liefern, wann und was wir wollten. Nach der Einrichtung der Grundausstattung, die auf etwa 50.000,- Euro käme, würde eine Stunde Sendezeit für uns jeweils 6,- Euro kosten. Unser Pfarrgemeinderat war sofort begeistert. Abgesehen davon, dass wir nicht wissen, wie wir eine Sendeanlage finanzieren könnten, müssten wir jedoch eine solche Initiative zunächst auf allen Ebenen abklären, vor allem mit der russisch-orthodoxen Kirche. Wir könnten uns mit ihr auch eine direkte Zusammenarbeit vorstellen. Allerdings ist vollkommen offen, wie sie auf solche Ideen reagieren würde. Wir jedenfalls legen dieses Projekt ganz in Gottes Hände, damit wir keine Fehler machen, sondern nur seinen Willen erfüllen.

Gesamtrussisches Jugendtreffen

Nachdem wir mit 140 Jugendlichen am Weltjugendtag in Köln teilgenommen hatten, trat unser Erzbischof mit einem unerwarteten Vorschlag an uns heran. Zum Abschluss des eucharistischen Jahres verkündete er im Rahmen eines eucharistischen Kongresses in Moskau, dass er das nächste gesamtrussische Jugendtreffen gerne in Beresniki durchführen möchte. Dies wäre eine Auszeichnung, aber zugleich auch eine enorme Herausforderung. Vielleicht findet dieses Treffen mit etwa 500 Jugendlichen aus ganz Russland bereits im Juli 2006 statt. Sollten wir die laufenden Baumaßnahmen abschließen, so wären wir dafür tatsächlich gewappnet. Derzeit erstellen wir ein einstöckiges Nebengebäude mit 300 qm Grundfläche – unter anderem für Garagen, Werkstätten und eine Gasheizung. Es ist so konzipiert, dass es später bei Bedarf leicht aufgestockt werden kann. Allein im Dachboden dieses Nebengebäudes könnte schon ein Großteil dieser Jugendlichen unterkommen. Außerdem hat unsere Gemeinde bereits Erfahrung, was die Aufnahme von Gästen betrifft. Anlässlich der Einweihung unserer Kirche vor eineinhalb Jahren war es kein Problem, die 120 Gäste aus Deutschland in Familien unterzubringen. So wäre das geplante Jugendtreffen ein großer Gewinn für unsere Pfarrei und alle Beteiligten, auch um den Geist des Weltjugendtags von Köln lebendig zu erhalten. Besonders schön wäre es, wenn dabei eine Delegation aus Deutschland zu uns stoßen würde.

Das verwundete Herz der Straßenkinder

Nachdem ich vor vier Jahren die ersten Kinder aufgenommen hatte, baten mich immer wieder Mädchen oder Jungen auf der Straße, ob sie nicht auch zu mir kommen dürften. Doch meine Hände waren gebunden. Sowohl unsere Kinder, die auf zwei Wohnungen verteilt waren, als auch unsere drei Betreuer, auf die ich vollkommen angewiesen war, lehnten eine Vergrößerung unserer Familie kategorisch ab. Einmal kam sogar die Leiterin unserer Erziehungsbehörde auf uns zu. Sie sagte: „Meine Kinder, bisher haben wir euch geholfen. Seid nun auch ihr bereit, uns zu helfen? Es gibt acht Jungen, mit denen niemand zurechtkommt und die niemand haben möchte. Wollt ihr nicht versuchen, sie bei euch aufzunehmen?“ Doch unsere Kinder blieben bei ihrem Nein. Ich schwieg. Denn einerseits musste ich mich in dieser Situation für unsere Kinder regelrecht schämen. Andererseits aber konnte ich sie in dieser Haltung immer schon verstehen. Nach dem jahrelangen Gefühl, von ihren Eltern verlassen oder verstoßen zu sein, klammerten sie sich geradezu krankhaft an die neue Geborgenheit. Zusätzliche Kinder betrachteten sie als Gefahr, in Zukunft von unserer Seite weniger Aufmerksamkeit zu erfahren. Deshalb reagierten sie auf jede Anfrage voller Eifersucht. Es ist der Aufschrei ihrer verwundeten Herzen, die nur durch persönliche Zuwendung geheilt werden können.

Durchbruch zum Geist der Solidarität

Vor etwa zwei Jahren kam es zum Durchbruch. Immer wieder wartete im Treppenaufgang zu meiner Wohnung eine Horde von Buben. Unter ihnen waren schon richtig erwachsene Kerle. Alle erschienen schwarz, von oben bis unten voller Dreck. Die ersten Male hatte ich richtig Angst. Bis nach Mitternacht wartete ich im Gebüsch, bis sie endlich abzogen. Denn es ist für eine solche Gruppe ein Leichtes, mir meine Schlüssel abzunehmen und die Wohnung auszurauben. Schließlich stellte ich mich ihnen doch und hörte ihnen zu. Am Anfang wollten sie einfach etwas zu essen haben. Immer häufiger trafen wir uns auch tagsüber, bis sie mir schließlich den Wunsch vortrugen, mit mir ein neues Leben anzufangen. Als unsere Kinder merkten, dass ich mich mit diesen Jungen beschäftige, blieb die Reaktion nicht aus. Es war in einer Winternacht, als ich die Buben in unserem VW-Bus bei laufendem Motor und eingeschalteter Heizung schlafen ließ. Denn bei der Eiseskälte waren schon alle erkrankt. Um 2.00 Uhr nachts erhielt ich aus einer unserer Wohnungen einen Anruf. Vier unserer Kinder teilten mir mit, sie und ihre Betreuerin seien schon fertig angezogen. Wenn ich die Buben nicht sofort wegschicke, würden sie für immer von mir gehen. Es erinnerte an den älteren Sohn im Gleichnis vom Barmherzigen Vater. Ich erklärte ihnen, was ich über ein solches Verhalten denke. Sie sollen ruhig gehen, sagte ich, aber den Buben werde ich helfen. Solche Worte hatten sie von mir noch nie gehört. Tatsächlich ging eines unserer Mädchen trotzig weg und übernachtete draußen. Aber insgesamt war meine strenge Antwort heilsam. Als die Kinder merkten, dass sie mich nicht erpressen können, drehten sie den Spieß um. Sie zeigten sich für die neuen Buben verantwortlich und halfen mir, so weit es nur ging. Gemeinsam räumten wir unsere dritte Wohnung frei, die wir bislang als Lagerraum für unsere Caritas verwendet hatten. Und schneller, als ich gedacht hätte, waren unsere Neuen mit den bisherigen Kindern zu einem echten Freundeskreis zusammengewachsen. Inzwischen sind viele unserer Kinder volljährig geworden. Nun gilt es, sie auf dem Weg zum selbständigen Arbeiten und Wohnen zu begleiten. Leider kam einer unserer Buben wegen Diebstahls ins Gefängnis. Gleichzeitig sind wir gerade dabei, mit jüngeren Kindern und zusätzlichen Betreuern drei neue Aufnahmefamilien einzurichten.

Kampf mit den Waffen der Liebe

Nachdem uns Gott verschiedene Zeichen gegeben hatte, begannen wir vor einigen Monaten zur Heilung von Drogenabhängigen mit dem Projekt „Schule des Lebens“. Dazu konnten wir in der Nachbarstadt Jajwa direkt neben unserem Pfarreihaus, in dem sich auch unsere Kapelle befindet, ein großes Gebäude erwerben. Obwohl es zunächst für 75.000,- Euro angeboten wurde, brauchten wir am Ende nur ein Drittel davon bezahlen. Nach einem strengen Programm bauen dort die Drogenabhängigen ein gemeinsames Leben auf, das vor allem auf drei Säulen ruht: menschliche Gemeinschaft, Arbeit und Sinn des Lebens durch eine persönliche Gottesbeziehung. Es orientiert sich an der Bewegung „Cenacolo“, die wir vergeblich als Träger für unser Projekt zu gewinnen versuchten. Aber unsere Eigenständigkeit scheint ebenfalls zum Plan Gottes zu gehören. Wir können unser religiöses Leben freier gestalten und unseren Heilungsweg mit den zwölf Schritten für Drogenabhängige ähnlich dem Konzept der „Anonymen Alkoholiker“ verbinden. Dadurch legen wir den Schwerpunkt mehr auf die Selbsterziehung als auf die Isolation. Die Sorge um die Straßenkinder erscheint im Vergleich zu dieser Arbeit nur wie ein Vorspiel oder eine Phase der Einübung. Hier geht es tatsächlich um den Kampf zwischen Leben und Tod. Ohne Sakramente, ohne Rosenkranz, ohne Gott brauchen wir überhaupt nicht beginnen. Vor kurzem erlebten wir einen gnadenhaften Eingriff Gottes. Im bisher kritischsten Augenblick zeigte die Gottesmutter unserem Verantwortlichen in einem prophetischen Traum die Wirklichkeit auf. Nachdem alle menschlichen Versuche fehlgeschlagen waren, führte dieser Traum die rettende Entscheidung herbei. Die Arbeit mit Straßenkindern und Drogenabhängigen aber hat absolut nichts mit Romantik zu tun. Es ist jeden Tag ein Kampf, der nur mit den Waffen der Liebe gewonnen werden kann. Enttäuschungen müssen mit unendlicher Geduld überwunden werden. Die Liebe darf nie zurückgezogen werden; denn sie ist das Einzige, was unseren gestrauchelten jungen Menschen Halt gibt.

Ein tausendfaches Vergelt’s Gott gilt unseren Wohltätern; denn sie ermöglichen uns das Zeugnis für die bedingungslose Liebe Gottes.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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