Euthanasie: Hat die Todeslobby das letzte Wort?

Zum Artikel „Christliche Sterbehilfe aus ärztlicher Sicht“ von Ch. Probst und G. Fantacci in Kirche heute Nr. 11/2004 sind bei unserer Redaktion einige kritische Anfragen eingegangen. Wie im letzten Heft angekündigt, gehen wir gerne noch einmal darauf ein. Weihbischof Dr. Andreas Laun nimmt in seinen einfühlsamen Antworten die Verunsicherungen ernst, die durch die Ausführungen zur christlichen Sterbehilfe entstanden sind, betont aber gleichzeitig: „Der große Kampf um die Heiligkeit des Lebens verläuft heute nicht zwischen Vertretern und Kritikern der Hirntod-These, auch nicht um die Definition der Basis-Versorgung und das richtige Verhalten mit schwerstbehinderten Neugeborenen.“ Es geht grundsätzlich um die Wahrheit des Fünften Gebotes Gottes.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Bevor ich auf einzelne Punkte des Artikels „Christliche Sterbehilfe aus ärztlicher Sicht“ von Charles Probst und Giovanni Fantacci eingehe, möchte ich den beiden Autoren bescheinigen: Sie stehen in größtmöglicher Treue zur Kirche und ihrer Lehre. Dennoch mögliche Ungenauigkeiten und Irrtümer wären daher menschlicher Unzulänglichkeit und nicht mangelndem Glaubensgehorsam zuzurechnen. Von daher möchte ich die Einwände prüfen:

Passive Sterbehilfe und „Basistherapie“

Der erste Einwand bezieht sich auf „1.1. Passive Sterbehilfe – Verzicht auf medizinisch forcierte Lebensverlängerung in aussichtsloser Lage“, wo es unter anderem heißt: „Die passive Sterbehilfe bedeutet den Verzicht auf eine lebenserhaltende Maßnahme...“ Präzisierend wird erklärt: „Dieser Behandlungsverzicht betrifft aber nicht die Basistherapie“. Dazu gehöre, führen die Autoren aus, unter anderem Flüssigkeitszufuhr; sie nennen aber nicht die Nahrung. Es könnte also der Eindruck entstehen: Verdursten darf man den Patienten nicht lassen, wohl aber verhungern.

Die Antwort: Erstens beschreiben die Autoren die Basistherapie offenkundig nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Zweitens könnte es Fälle geben, bei denen Nahrungszufuhr sinnlos geworden ist und die dann den Sterbenden nur noch belastet. Sollte Nahrung deswegen nicht zugeführt werden, damit der Patient stirbt, also mit Tötungsabsicht, ist sie selbstverständlich unmoralisch und würde den Tatbestand aktiver Euthanasie erfüllen. Aus dem Gesamttext ergibt sich klar, dass die Autoren dies in keiner Weise sagen wollen.

Medizinische „Bewertung“ oder unmoralische „Selektion“?

Der zweite Einwand lautet: „Nachdrücklich wird darauf hingewiesen, dass es nicht nur um Sterbende, sondern auch um ‚andere Zustandsbilder ohne Aussicht auf Besserung‘ geht. Darunter fallen, wie in den Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung der Bundesärztekammer (September 1998), auch Neugeborene mit schweren kongenitalen Missbildungen. Handelt es sich hier nicht um die Bewertung menschlichen Lebens nach Maßstäben der Qualität? In Amerika sind bereits Maßstäbe dafür ermittelt worden.“

Die Antwort: Nicht jede „Bewertung“ ist eine unmoralische Selektion. Sonst müsste man jeden Arzt, der sich über einen Menschen ein Urteil bildet, der unmoralischen „Selektion“ bezichtigen. Die Frage ist vielmehr, welche Folgerungen aus der Bewertung gezogen werden. Solange der Arzt daraus keine Tötungs-Folgerungen zieht, ist nichts dagegen einzuwenden, und es handelt sich nicht um „Selektion“ in dem abzulehnenden Sinn des Begriffes. Was die Neugeborenen betrifft: Natürlich können auch sie in einem Zustand sein, der eine bestimmte Behandlung als nicht mehr angemessen erscheinen lässt. Um ein besonders krasses Beispiel zu wählen: Wer würde es für moralisch zwingend oder auch nur sinnvoll halten, eine aufwendige Therapie für ein anencephales Kind einzuleiten, um ein umnachtetes Leben um einige Monate zu verlängern? Mit anderen Worten: Eine dramatisch schwere Missbildung legitimiert eine gewisse Zurückhaltung bei den lebenserhaltenden Maßnahmen. Dies ist, scheint mir, auch von den Grundsätzen, die das Lehramt der Kirche formuliert, gedeckt und kann nicht als – unmoralische, weil verdeckt eine aktive Tötung beabsichtigende – „Selektion“ bezeichnet werden.

„Hirntod“ und Organspende

Der dritte Einwand betrifft den so genannten „Hirntod“ u. die Organentnahme zwecks Transplantation: Der Kritiker und die Autoren des kritisierten Beitrags sind sich ganz offenkundig einig, dass man niemals einen noch lebenden Menschen durch die Entnahme lebenswichtiger Organe töten darf, auch wenn man damit einem anderen Menschen helfen könnte. Wäre dem nicht so, hätten Euthanasie und tödliche Organentnahme zwecks Transplantation einen gemeinsamen Nenner: Man tötet einen Menschen, im Fall der Euthanasie zur Beendigung des Lebens (und der Pflegekosten), im Fall der Organentnahme, um einem anderen Kranken zu helfen. Es bleiben mehrere Fragen, die alle den Begriff „Hirntod“ betreffen: Worin besteht eigentlich der Hirntod? Und: Wenn der Hirntod wirklich so entscheidend ist für die Frage der Legitimität der Transplantation, wie kann man ihn mit Sicherheit feststellen? Vor allem aber: Ist ein Patient beim Eintreten des „Hirntodes“ wirklich tot? Angesichts der in verschiedenen Ländern verschiedenen Definitionen von „Hirntod“ könnte man sarkastisch weiterfragen: In welchem Land ist man beim Hirntod wirklich tot im Sinne Gottes?

Es ist hier nicht möglich, die äußerst schwierige Debatte über den medizinischen Hirntod und den philosophisch-theologischen Tod wiederzugeben. Ich habe gute katholische Freunde, die überzeugt sind davon, dass die Hirntod-Definition auch in ihrer strengsten Auslegung falsch oder wenigstens zu unsicher sei, und andere, die meinen, man dürfe die Organe bei sicherem Hirntod entnehmen, auch wenn Fehler wie bei allem menschlichen Tun nicht restlos ausgeschlossen werden können.

Ich würde folgendermaßen antworten: Der Papst hat vor nicht langer Zeit daran erinnert, „dass der Tod der Person ... in dem völligen Zerfall jenes ungeteilten und integrierten Ganzen besteht, welches das persönliche Selbst ist. Der Tod resultiert aus der Trennung des Lebensprinzips (oder der Seele) von der körperlichen Wirklichkeit der Person.“

Von dieser Voraussetzung her gilt der Satz: Lebenswichtige Organe darf man einem Menschen nur dann entnehmen, wenn er wirklich tot (im Sinn der kirchlichen Bestimmung des Todes) ist und keine Sekunde früher. Aber auch: Die Annahme, der Mensch als ganzer ist wirklich tot, wenn sein Hirn wirklich tot ist, ist mit der kath. Lehre vereinbar, zumal das Lehramt der Kirche über die medizinischen Sachverhalte, die hier zur Bewertung anstehen, nicht urteilen kann.

Daraus folgt: Es dürfen beide, sowohl die Verfechter der Hirntod-These als auch deren Kritiker, in Anspruch nehmen, rechtgläubige Katholiken zu sein. Dass bei der Bestimmung des „Hirntodes“ im Zweifelsfall sehr strenge Maßstäbe anzulegen sind, ergibt sich aus der oben sarkastisch gestellten Frage nach dem „Tod“ je nach Land – als ob der Tod seinem Wesen nach nicht überall der gleiche wäre!

Der entscheidende Kampf um die „Kultur des Lebens“

Der große Kampf um die Heiligkeit des Lebens verläuft heute nicht zwischen Vertretern und Kritikern der Hirntod-These, auch nicht um die Definition der Basis-Versorgung und das richtige Verhalten mit schwerstbehinderten Neugeborenen. Die „direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen ist immer ein schweres sittliches Vergehen“, heißt es in Evangelium vitae.

Die heute entscheidende Frage ist, ob das Fünfte Gebot Gottes in dem vom Papst umschriebenen Sinn anerkannt wird oder ob man behauptet, der Mensch könne sich „seine“ Normen für das Leben selbst machen und bestimmen. Im zweiten, laizistischen Sinn wären die Gebote, wie sie die Kirche als Gebote Gottes verkündet, in Wirklichkeit doch nur ein Machwerk der Kirche – eine „jüdische Erfindung“, hätte und hat Hitler gesagt. Mit dem Blick auf die weltweiten Abtreibungsgesetze und die sich ausbreitende Bereitschaft zur Euthanasie muss man sagen: Es steht nicht gut um diesen Kampf, aber – wir, die Juden, die Christen, hoffentlich auch andere Gläubige, werden ihn gewinnen. Denn die Todeslobby gleicht dem Standbild in der Vision des Königs im Buch Daniel, das zwar gewaltig ausschaut, aber auf „tönernen Füßen“ steht. Aber ganz von selbst löst sich ein Stein von einem Berg und zertrümmert die „Füße“ des Standbildes, nämlich die Lügen, auf denen es „steht“. Es stürzt in sich zusammen. Der „Stein“, das sind die Zeugen des Lebens und das ist der „Felsen Petri“, der auch die Standbilder der derzeitigen Todeskultur zerschmettern wird.

Freilich, wir wissen nicht, wie breit die Blutspur noch sein wird, die die ideologisch verblendeten Apparatschiks des „Standbildes“ hinter sich herziehen werden. Aber dass das Leben siegt, daran besteht kein Zweifel. Denn das Blut, das am Kreuz aus der durchbohrten Seite Christi fließt „ruft mächtiger“ als das Blut Abels (Evangelium vitae 25).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Wir brauchen eine innere Erneuerung!“

Nicht das erste Mal taucht in unserer Zeitschrift der Name Günter Nenning auf. Durch seine Kommentare in der Kronenzeitung ist er weit bekannt. Weihbischof Dr. Andreas Laun schätzt die Art, wie er sich mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzt. Auch die Überlegungen Nennings zum Islam in Europa führen zu interessanten Ergebnissen. Ein Appell an die westliche Gesellschaft – nicht zuletzt an uns Christen!

Von Günter Nenning

In Finnland gibt es 1,2 Prozent Einwanderer-Kinder in den Schulen. In Österreich bis zu 39 Prozent (in Wiener Volksschulen). Auch das ist PISA: Finnlands Schulwesen ist Spitze, wir sind ziemlich tief unten. Da darf man aber keinen Zusammenhang herstellen, wir stehen unter der Fuchtel der „politischen Korrektheit“.

Die Holländer waren vorbildlich in Sachen „politischer Korrektheit“. Die Tür war weit offen für Einwanderer, friedlich lebten Einheimische und Eingewanderte nebeneinander. Bis es zu viel wurde. Heute treten in Holland die Gegensätze scharf hervor. Die wunderbare holländische Kultur der kompletten Offenheit, ein Modell für ganz Europa, gerät schrecklich ins Wanken. Sie wird von Krämpfen und Kämpfen geschüttelt bis in ihre so Respekt gebietenden Grundfesten der absoluten Toleranz und Liberalität.

In Frankreich, Spanien, Italien spielen sich ähnliche, sehr ungute Vorgänge ab. Nix Multikulti – kommt diese Zukunft auf uns zu?! Das beständige Gerede von unseren Werten, die wir den Einwanderern zu vermitteln haben und die sie akzeptieren müssen – erweisen sich diese Werte als Luftschlösser?!

Vor allem geht es um den Islam. Er ist eine Weltreligion, mit einer langen, vielfältigen Geschichte und mit Werten, von denen wir uns so manches Positive abschneiden können. Aber der Weg geht derzeit – in Europa und global – vom Islam zum Islamismus.

Einengung, Fanatismus, Gewalt – sind die Antwort auf das westliche, insbesondere amerikanische Streben nach Hegemonie – auf Durchsetzung unserer Werte in allen Bereichen: wirtschaftlich, militärisch, kulturell.

Die Theorie des US-Professors Samuel Huntington vom „Clash of Civilization“ – vom Zusammenstoß der Kulturen als Kennzeichen unseres Weltzeitalters – ist viel bekrittelt worden von ehrenwerten Freunden des Friedens. Aber es ist eine Theorie mit hohem Realitätsgehalt.

Der Islam wehrt sich nicht nur gegen die Vorherrschaft des Westens, er ist auch aktiv und offensiv unterwegs, um – in der Zerrform des Islamismus – seinerseits die Welt zu unterwandern und zu erobern.

Und – was hat der Westen, was hat Amerika dem entgegenzusetzen?! Unsere Wirtschaftsreligion: leisten, leisten, leisten, Geld verdienen um jeden Preis. Unsere Sexreligion: nackt, nackt, nackt, Freizügigkeit um jeden Preis. Unsere Verdrängung und Verspottung der Religion.

Sind das die Werte, die wir der islamischen Gegenwelt vermitteln wollen, die sie von uns übernehmen soll? Also ich wundere mich gar nicht sehr, dass sich Muslime gegen diese Werte wehren, dass sie diese „Werte“ verächtlich finden.

Den Zusammenstoß der Kulturen, der tagtäglich stattfindet, können wir nicht gewinnen mit Werten, die keine sind. Um zu bestehen, um zu gewinnen, brauchen wir eine innere Erneuerung.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Die Christen in Kleinasien

Papst Johannes Paul II., der 1979 Ankara, Istanbul und das kleinasiatische Ephesus selbst besucht hatte, nannte 1994 – also vor gut zehn Jahren – beim Ad-Limina-Besuch der Mitglieder der Türkischen Bischofskonferenz die Türkei ein „Heiliges Land der Urkirche“. Als 1998 der Päpstliche Rat für die Menschen unterwegs zu seinem 5. Internationalen Kongress über Tourismusseelsorge nach Izmir und Ephesus einlud, begründete der Präsident des Rates, Kardinal Giovanni Cheli, die Wahl des Tagungslandes mit den Worten: „Wie Palästina das Land Jesu ist, so ist die Türkei das Land der Kirche.“ Seit die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei entbrannt ist, wird auch viel über die Lage der christlichen Kirchen in diesem Land gesprochen. Während die meisten Touristen nur die Sonnenstrände an Ägäis und Mittelmeer kennen, andere die Ruinenstätten Kleinasiens, erschließt uns Professor Dr. Rudolf Grulich mit seinem äußerst informativen, ja aufrüttelnden Beitrag die geschichtlichen Verbindungen des Christentums mit der Türkei sowie die heutige Situation der Christen in Kleinasien. Über die Lage in der Millionenstadt Istanbul mit ihren noch über 100 Kirchen werden wir später berichten.

Von Rudolf Grulich

Ein Land der Bibel

Kein Land außer Palästina ist mit der Geschichte des Christentums – aber auch der Bibel – so verbunden wie das Gebiet der Türkei. Der Berg Ararat, auf dem nach der Sintflut die Arche Noahs gelandet sein soll, liegt ebenso auf ihrem heutigen Staatsgebiet wie das Städtchen Haran, wo der Stammvater von Juden, Christen und Muslimen, der Patriarch Abraham, den Ruf Gottes erhielt, „weiterzuziehen in das Land, das ich dir zeigen werde“. Bei Urfa, dem alten Edessa, erinnern die Teiche Abrahams daran. In Haran bei Urfa schöpfen noch heute Frauen und Mädchen Wasser am Brunnen wie vor mehr als dreieinhalb tausend Jahren, als Abraham seinen Knecht nach Haran sandte, um Rebekka als Frau für seinen Sohn Isaak zu holen. Jakob diente hier zweimal sieben Jahre bei Laban, um Rachel zu heiraten. Antiochien, die „große Gottesstadt“, das heutige Antakya im Südosten der Türkei, ist der Ort, wo (nach Apostelgeschichte 11,26) die Jünger Jesu zum ersten Mal den Namen „Christen“ erhielten.

Die Reisen des Völkerapostels Paulus liegen zum großen Teil in Kleinasien: Perge in Pamphylien, Antiochia in Pisidien, Ikonium, Derbe und Lystra sind ebenso biblische Stätten des Neuen Testamentes wie Ephesus und das Gebiet der Kolosser und Galater, an die der hl. Paulus Briefe richtete. Die Apokalypse des hl. Johannes gilt sieben Gemeinden im westlichen Kleinasien, deren Leuchter von der Stelle gerückt wurde.

Hier lebten große Kirchenväter wie Basilius, Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz und Johannes Chrysostomus. In Nizäa, Konstantinopel, Ephesus und Chalcedon fanden die ersten Ökumenischen Konzilien statt, auf denen unser Glaubensbekenntnis definiert wurde.

Viele volkstümliche Heilige wie die hl. Barbara oder Margarete, die hll. Blasius, Georg oder Nikolaus stammen aus Anatolien. Zwei Drittel der Vierzehn Nothelfer hätten heute einen türkischen Pass.

Tragödien des 20. Jahrhunderts

Trotz dieser Traditionen hat aber das Christentum im Orient nirgendwo solche Einbußen erlitten wie auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Während man die Zahl der Christen in Syrien, dem Irak oder Ägypten noch in Prozenten angeben kann, ist dies in der Türkei heute nur in Promille möglich. Dabei gab es am Vorabend des Ersten Weltkrieges noch fast 30% Christen, die unter der Herrschaft des Sultans, der auch Kalif, also Stellvertreter Mohammeds, war, in Kleinasien ihren Glauben lebten. Die Osmanische Türkei war nach dem System des „millet“, der Nation organisiert, aber die einzelnen millets waren religiös bestimmt. So gehörten alle Muslime ohne Rücksicht auf Ethnie oder Sprache zum muslimischen millet, während Griechen, Armenier, Katholiken u. a. eigene millets bildeten.

Das Verschwinden der Christen aus diesen Gebieten erfolgte fast vollständig. Aber es waren nicht die Zeit der Spätantike und des verfallenden oströmischen Reiches, nicht nur Perser- und Arabereinfälle und die jahrhundertelange Herrschaft seldschukischer und osmanischer Türken, sondern erst unser 20. Jahrhundert, das die christlichen Völker und Volksgruppen in Kleinasien auslöschte. Heute leben nur 200.000 Christen in der Türkei, bei einer Gesamtbevölkerung von  70 Millionen Menschen.

Anders war die Situation noch vor dem Ersten Weltkrieg, als die Bevölkerung Kleinasiens nur 10 Millionen betrug und dabei die Christen noch nach Millionen zählten. Der Baedeker-Reiseführer von 1914 nennt für Konstantinopel/Istanbul als Bevölkerung 500.000 Türken, aber auch über 200.000 Griechen, 180.000 Armenier und 70.000 andere Christen.

In seinem Buch „Geistliches und Weltliches aus dem Orient“ schrieb damals der protestantische Theologe und Ostkirchenkenner Heinrich Gelzer: „Neben der offiziellen Türkenwelt … existiert noch ein zweites, das christliche Konstantinopel, von dem der gewöhnliche Orientreisende wenig oder gar keine Notiz nimmt. Das Phanar, das Griechenquartier, oder Kum-Kapu, den Sitz der Armenier, betritt der Reisende gar nicht oder durcheilt sie flüchtig, und doch zeigt sich hier neben der offiziellen türkischen Welt eine altchristlich orientalische von kaum minderem Interesse und zweifellos größerer Zukunft.“

Gelzer irrte in seiner Prognose. Die Zukunft brachte wenige Jahre nach seinen Worten nur Vertreibung, Tod und Verderben für Hunderttausende von christlichen Griechen und Armeniern. Solche gab es außerhalb Istanbuls auch in allen Städten Kleinasiens. Die Hafenstadt Smyrna, heute Izmir, hatte bei 250.000 Bewohnern eine deutliche christliche Mehrheit. In den Städten der Paulusreisen und der Apokalypse gab es noch Dutzende von orthodoxen griechischen Bischöfen und in ganz Kleinasien Tausende von griechisch-orthodoxen Pfarreien und Gemeinden.

Im Osten Anatoliens residierte ein armenischer Katholikos in Sis in Kilikien, ein armenischer Patriarch auf der Insel Aghtamar im Vansee. Wichtige armenische Bischofssitze waren Erzerum, Musch, Kayseri, Izmir, Izmit, Sivas, Tokat und Van. Ein syrischer Patriarch hatte seinen Sitz in Mardin und ein nestorianischer Katholikos im Bergland von Hakkari. Syrisch-jakobitische Diözesen waren damals Diyarbakir, Konstantinopel und Harput.

Nestorianische Bistümer gab es noch in Städten wie Amadya, Diyarbakir oder Mardin. Neben den Dutzenden von griechisch-orthodoxen, armenisch-gregorianischen, syrisch-jakobitischen und nestorianischen Bischofssitzen bestanden damals in Anatolien auch viele katholische Bistümer, die noch bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts im Päpstlichen Jahrbuch beim Verzeichnis der Diözesen auftauchten.

Ethnische Säuberung und Umsiedlung

Nirgendwo in der Welt ist das Christentum in diesem Jahrhundert so dezimiert worden wie in der Türkei und besonders in Kleinasien, nicht einmal in den 70 Jahren kommunistischer Herrschaft in Russland. In der Türkei war es aber nicht eine Christenverfolgung, sondern eine ethnische Säuberung im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht umsonst hat sich später auch Hitler bei seiner Endlösung auf das Vorbild der Ausrottung der Armenier berufen. Diese waren seit 1915 davon betroffen, weil die Jungtürken einen Nationalstaat wollten.

Franz Werfel hat in seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ dazu beigetragen, dass diese Tragödie nicht ganz vergessen wurde. Werfels Roman fußt auf der historischen Grundlage, dass sich 1915 die Bewohner einiger armenischer Dörfer bei Antiochien auf den Musa Dagh (Moses-Berg) zurückzogen und alle Angriffe türkischer Einheiten abwehren konnten, bis sie nach 40 Tagen von einem französischen Kriegsschiff gerettet und nach Alexandrien gebracht wurden. 1997 ist Werfels Roman auch in der Türkei in türkischer Übersetzung erschienen. „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ sind kein antitürkisches Buch, denn Werfel zitiert auch den Türken Nezimi Bey: „An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehen“, und er lässt ihn gegenüber Dr. Johannes Lepsius fragen: „Wissen Sie, dass die wahren Türken die armenischen Verschickungen noch heftiger verwerfen als Sie?“

Durch Nezimis Vermittlung kann Lepsius auch Scheich Ahmed und dessen Derwisch-Orden besuchen. In dem Gespräch wird der „Nationalismus, der heute bei uns herrscht“, als Ursache genannt, „ein fremdes Gift, das aus Europa kam. Vor wenigen Jahrzehnten noch lebten unsere Völker treu unter der Fahne des Propheten: Türken, Araber, Kurden, Lasen und andere mehr. Der Geist des Korans glich die irdischen Unterschiede des Blutes aus.“ Der alte Scheich erklärt Lepsius: „Der Nationalismus füllt die brennendleere Stelle, die Allah im menschlichen Herzen zurücklässt, wenn er daraus vertrieben wird.“

Ein Hauptmann, der Mitglied des Ordens ist, berichtet, dass er mehr als tausend Waisenkinder in türkischen und arabischen Familien unterbrachte. Schließlich bringen Derwische sogar etwas Hilfe für die belagerten Christen auf den Musa Dagh.

Wenig bekannt ist bis heute, dass es 1919 bis 1921 auf Druck der alliierten Siegermächte in Istanbul Kriegsverbrecherprozesse gegen führende türkische Politiker gab, um den Völkermord an den Armeniern zu untersuchen und die Verantwortlichen zu bestrafen. Der türkische Wissenschaftler Taner Akcam hat diesen kaum beachteten Vorläufer der Nürnberger Prozesse auch dem deutschen Leser zugänglich gemacht und in den Zusammenhang des Unterganges der alten Sultansherrschaft und des Aufstiegs der jungtürkischen Bewegung gestellt. Das Engagement der Siegermächte war unehrlich, denn die Hauptangeklagten und Verantwortlichen für die Armeniermassaker wie Enver Pascha und Talat Pascha konnten vor Prozessbeginn fliehen und sich in Berlin frei bewegen wie lange Zeit Karadzic und Mladic in Jugoslawien. Zwar wurden Urteile gefällt und sogar Todesurteile vollstreckt, aber die alliierten Pläne zur Aufteilung Anatoliens und die griechische Besetzung Izmirs 1919 mit den schrecklichen Übergriffen gegen türkische Zivilisten riefen bald türkischen Widerstand gegen die „Siegerjustiz“ hervor. Die „nationale Souveränität“ der Türkei siegte über den Prozess, als die griechische Landung in Smyrna und die Morde an tausend türkischen Zivilisten nicht geahndet wurde. Hatten zunächst sowohl die osmanische Regierung als auch die Nationalbewegung in Anatolien Bereitschaft gezeigt, die Verantwortlichen des Völkermordes zu bestrafen, so verschwand diese Bereitschaft bald. „Das Recht hat jetzt die Seite gewechselt“, sagte Winston Churchill nach der Landung der Griechen in Izmir. „Die Gerechtigkeit, diese ewige Flüchtige aus den Räten der Eroberer, ist in das gegnerische Lager übergelaufen.“

Ein letzter und entscheidender Vernichtungsschlag gegen das Christentum in Kleinasien erfolgte 1921, als sich Griechenland nicht mit Izmir begnügte, sondern von dort aus unter persönlicher Führung des Königs den türkischen Reststaat angriff, um seine „Große Idee“, die „megali idea“ des wiedererstehenden Byzantinischen Reiches, zu verwirklichen.

Diese griechische kleinasiatische Tragödie hat antikes Ausmaß durch die Schuld Athens. Sie lässt sich mit der Mitschuld Deutschlands durch die Verbrechen Hitlers am Untergang des Deutschtums Ostmitteleuropas vergleichen.

Schon am 15. Mai 1919 hatten griechische Truppen begonnen, Izmir zu besetzen, und dabei fürchterlich gemordet. Eine Untersuchungskommission der Delegationen der Pariser Vorortverträge befand Griechenland dafür schuldig. Dieses Vorgehen Griechenlands wird leider bis heute kaum genannt. Griechenland sieht sich nur in der Rolle des Opfers, so wie bis heute auch vereinzelte ostdeutsche Vertriebene den Anteil Hitlers an ihrem Schicksal nicht wahrhaben wollen.

Die griechische Okkupation fügte auch der Durchführung des Istanbuler Kriegsverbrecherprozesses schwersten Schaden zu, denn „erst im Zuge der Okkupation begann die kriegsmüde (türkische) Bevölkerung, die der Nationalbewegung zuerst gleichgültig oder ablehnend gegenüberstand, diese aktiv zu unterstützen“ (Taner Akcam).

Als die Alliierten bei Kriegsende 1918 Istanbul besetzt hatten, erhofften viele Griechen den Anschluss Istanbuls an Griechenland. Vom Ökumenischen Patriarchat und den griechischen Kirchen wehten griechische Flaggen. Der Patriarch entband alle griechischen Untertanen des Sultans vom Treueeid an den Osmanischen Staat. Italienische Truppen standen in Antalya, französische in Kilikien. Der Friedensvertrag von Sèvres sollte die Türkei amputieren. Dies nutzte Griechenland zum Angriff. Doch die Truppen Athens liefen sich in der Steppe Kleinasiens tot. Im Januar 1921 schlug sie Ismet Pascha (der spätere Ismet Inönü) bei Inönü und im März 1921 ein zweites Mal. Nach der mehrtägigen blutigen Entscheidungsschlacht am Sakarya im August 1921 warf sie Kemal Pascha zurück, buchstäblich ins Meer. Alliierte Kriegsschiffe lagen untätig im Hafen von Izmir, während die Türken die Christen der Stadt vernichteten. Pragmatisch zogen sich Italien und Frankreich aus ihren Interessenzonen in Kleinasien zurück, die Christen ihrem Schicksal überlassend.

Durch den Bevölkerungsaustausch aufgrund des Vertrages von Lausanne verschwand das Christentum aus Kleinasien, selbst die turkophonen Karamanli-Christen als Orthodoxe mit türkischer Muttersprache mussten das Land verlassen. Nur in Konstantinopel, auf den vorgelagerten Prinzeninseln und den Inseln Imbros und Tenedos durften Griechen bleiben, als Pfand für die türkische Minderheit im griechischen Ost-Thrazien. Immerhin blieb das Ökumenische Patriarchat in Istanbul als religiöse Institution erhalten, ebenso auch das Armenische Patriarchat. Ganz anders ist die Lage in Anatolien.

Ruinen des 20. Jahrhunderts

Wenn heute Bildungsreisende aus aller Welt Jahr für Jahr vor den vielen Ruinen in Kleinasien stehen, so sind nicht alle Ruinen Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alt. Im Baedeker-Reiseführer von 1914 wird noch die Koimesis-Kirche von Nizäa beschrieben: „Im Narthex Mosaiken, die im XI. Jahrhundert … gestiftet worden sind.“ Erst 1923 wurde die Kirche zur Ruine. Kein türkischer Prospekt verrät, dass die herrliche Kirche von Aghtamar im Van-See erst in unserem Jahrhundert zerstört und somit zur Ruine wurde. Gleiches gilt von den griechischen Kirchen und Klöstern im Hinterland von Trapezunt, den georgischen Kreuzkuppelkirchen im Lasengebiet, von syrischen Bauwerken im Tur-Abdin.

Man kann diese ethnischen Umsiedlungen und Säuberungen in Kleinasien nur mit dem Schicksal der Deutschen aus den Ostgebieten Europas vergleichen. So wie deutsche Kultur in Ost(mittel)- und Südosteuropa bis 1945 Jahrhunderte hindurch heimisch war, existierte griechische Kultur in diesen Gebieten des westlichen Kleinasien, aber auch in anderen Teilen und vor allem im Pontos seit fast 3.000 Jahren. In vielen Städten und Provinzen Kleinasiens stellten die Griechen noch die Mehrheit der Bevölkerung. Man muss aber auch eine weitere Parallele ziehen: So wie Hitler den Krieg begann, so griff Griechenland die Türkei an. Griechische Truppen scheiterten vor Ankara wie die Wehrmacht vor Moskau. Die Ostgriechen bezahlten die Zeche 1923 wie die Ostdeutschen 1945/46. Griechische Bevölkerung verschwand nach 1923 aus Kleinasien ebenso total wie die Deutschen im Sudetenland, in der Batschka und im Banat und anderen Teilen Ostmitteleuropas. Ein Vergleich der Stadtpläne von Izmir mit jenem des alten Smyrna von 1920 entspricht dem Unterschied zwischen dem alten Reichenberg und dem heutigen tschechischen Liberec, dem alten Breslau und dem polnischen Wroclaw. Gleiches gilt von Trapezunt, Ankara und anderen Städten.

Ankara hatte 1920 nur 30.000 Einwohner, war aber griechisch-orthodoxer, armenisch-orthodoxer und armenisch-katholischer Bischofssitz. Heute gibt es bei vier Millionen Einwohnern nur wenige Katholiken.

Die Lage der Christen in Kleinasien heute

Die Tatsache, dass 90 Prozent aller Christen der Türkei heute in Istanbul leben, verdeutlicht die Diasporasituation in Kleinasien. Griechisch-orthodoxe Gläubige gibt es praktisch überhaupt keine mehr, da der Bevölkerungsaustausch des Vertrages von Lausanne alle Griechen Kleinasiens betraf. Nur in Izmir gibt es wieder eine griechische Kirche.

Obgleich die Literatur über den Vertrag von Lausanne von Griechen und Türken spricht, wurden damals orthodoxe Bürger des ehemaligen Osmanischen Reiches gegen muslimische Bürger des griechischen Staates ausgetauscht. Dies führte dazu, dass aus Kleinasien auch die Karamanli umgesiedelt wurden, d. h. turkophone orthodoxe Christen, aus Griechenland auch muslimische Albaner des Südepirus, griechischsprachige Muslime aus Kreta und sogar muslimische Aromunen bzw. Megleno-Rumänen aus einem Dorf südlich von Gevgelja.

Außerhalb Istanbuls und der Prinzeninseln leben seit dem Vertrag von Lausanne nur noch auf den Inseln Imbros (türkisch Gökceada) und Tenedos (türkisch Bozcaada) Griechen. Die beiden den Dardanellen vorgelagerten Inseln bilden eine eigene Metropolie. Der derzeitige Metropolit Photios hat seinen Sitz auf Imbros.

Die Kathedralkirche der Entschlafung Mariens liegt in Cinarli-Merkez. Auf Imbros gibt es noch 27 Kirchen und zahlreiche Kapellen in sieben Gemeinden wie Cinarli-Merkez, Zeytinliköy, Dereköy, Tepeköy und Eskibademli. Auf der kleinen Insel Tenedos gibt es zwei Kirchen und einen christlichen Friedhof.

Die Katholiken Kleinasiens unterstehen drei Jurisdiktionen: dem Apostolischen Vikariat Istanbul, dem Erzbistum Izmir und dem Apostolischen Vikariat Anatolien in Mersin, das seinen Sitz  nach Iskenderun verlegte. In Ankara, das zum Apostolischen Vikariat Istanbul gehört, ist auch der Sitz der Apostolischen Nuntiatur im Stadtteil Cankaya, wo Assumptionisten eine Pfarrei führen. Neben einem deutschen Gemeindezentrum finden wir noch eine Kapelle bei der Botschaft Italiens und Klöster der Assumptionisten und Jesuiten.

Der Westteil Anatoliens gehört zum Erzbistum Izmir, das bereits 1322 gegründet und 1818 wieder errichtet wurde. Die nur 1300 Gläubigen werden heute von sieben Priestern in sieben Pfarreien betreut. Daneben arbeiten auch Schwestern. Die Pfarrkirchen sind alle im Bereich der Millionenstadt Izmir. Am bekanntesten ist die Kirche des hl. Polykarp, die heute auch als Bischofskirche dient. Die eigentliche kath. Kathedralkirche des hl. Johannes wurde den Anglikanern und Protestanten zur Verfügung gestellt, wo die evangelischen Soldaten der NATO seelsorgerlich betreut werden. Außerdem gibt es regelmäßige Gottesdienste im Marienheiligtum „Haus Mariens“ bei Ephesus, wo Kapuziner und Franziskus-Schwestern tätig sind. Hier soll die Mutter Jesu ihre letzten Erdentage verbracht haben. Im Landesinneren existiert eine Seelsorgestelle in Konya. Izmir zählt noch die katholischen Kirchen St. Polykorp, St. Marien (Franziskaner), Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz (Dominikaner), St. Helena (Minoriten), St. Antonius (Kapuziner), Johannes der Täufer und Unsere Liebe Frau von Lourdes. Die Christlichen Schulbrüder führen eine französische, italienische Schwestern eine italienische Schule.

Das übrige Anatolien bildet das Gebiet des Apostolischen Vikariates Anatolien, das lange vom Erzbischof in Izmir mitverwaltet wurde, nun aber wieder einen italienischen Kapuziner als Oberhirten hat und mit der Mission sui iuris Trapezunt (Trabzon) vereinigt wurde. Neben dem Bischofssitz in Mersin, der nach Iskenderun verlegt wurde, gibt es Kirchen in Adana, Antakya (dem alten Antiochien) und Iskenderun, wo in einem katholischen Gästehaus ebenso Übernachtungsmöglichkeit für Gruppen besteht wie in Antakya.

In Antakya steht die kleine Kirche der Katholiken in der Altstadt. Die Touristen besuchen meist nur die Petrusgrotte und erinnern sich daran, dass hier die Jünger Jesu zum ersten Male Christen genannt wurden und es Spannungen zwischen Judenchristen und Heidenchristen gab, verkörpert in der Person der Apostel Petrus und Paulus. Aber in der Altstadt weist ein Schild „Katolik kilisesi“ – „Katholische Kirche“ auch auf die heutige Präsenz Roms hin. In der Nähe der großen orthodoxen Kirche und einer kleinen Synagoge begrüßt der Kapuzinerpater Domenico die Gäste. Die Kirche ist aus zwei Wohnhäusern entstanden, ist mit Ikonen geschmückt und hat Teppiche auf dem Boden wie eine Moschee. Nur ein Dutzend katholische Familien sind am Ort, so dass Ökumene mit den arabisch-sprachigen Orthodoxen groß geschrieben wird. Das Osterfest wir mit den Orthodoxen am gleichen Tag gefeiert. Man kann sich in der Diaspora keine unnötigen Zerwürfnisse erlauben.

Im Inneren Anatoliens existiert eine kleine katholische Kommunität italienischer Ordensleute aus Trient in Nevsehir, am Schwarzen Meer gibt es Kirchen in Trabzon und Sinop. In der Geburtsstadt des hl. Paulus, in Tarsus, haben die „Figlie della Chiesa“ ein kleines Kloster. Die Gläubigenzahl des Vikariates betrug nur wenige Tausend, steigt heute aber in den Städten am Schwarzen Meer durch zugewanderte Russen und Georgier.

Die orthodoxen Armenier haben noch Kirchen in den Städten Kayseri, Diyarbakir, Iskenderun und Mardin sowie im Dorf Vakifliköyü im Gebiet des legendären Musa Dagh in der Provinz Hatay. Die Orthodoxen des Patriarchates von Damaskus verfügen über Kirchen in Iskenderun und Antakya.

Durch Auswanderung steht das alte syrische Christentum Südostanatoliens fast vor dem Ende. Sein Hauptsiedlungsgebiet war das Gebirgsland des „Berges der Knechte Gottes“, des Tur-Abdin. In Midyat residiert im heute renovierten Kloster St. Gabriel noch ein syrisch-orthodoxer Erzbischof Mor Timotheos. Die Zahl der Gläubigen sank auf einige Tausend. Viele sind nach Europa und Übersee ausgewandert, wo es heute Bischöfe in Holland, Deutschland (Warburg), Schweden, den USA und Australien gibt. Bestehende Klöster sind außer Mor Gabriel noch: Deir Zafaran, das lange Zeit (1293-1932) Patriarchensitz war, und Mor Melki. Andere Klöster wie Mar Augen, Mar Yausef oder Mar Bobo stehen leer. Kirchen gibt es noch sieben in der Stadt Midyat sowie weitere in Mardin (40 Märtyrer) und Nusaybin (Mar Jakub), außerdem in verschiedenen Dörfern der Umgebung. Hier hat sich die Lage seit dem Bemühen der Türkei um den EU-Beitritt spürbar gebessert. Derzeit kehren sogar einzelne christliche Familien aus Schweden und Deutschland zurück und besiedeln die Dörfer neu. Sie sollten von uns nicht vergessen werden. Reisen nach Kleinasien sollten nicht nur Ruinen in ihr Programm einbeziehen, sondern vor allem auch die verbliebenen christlichen Gemeinden. 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2005
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Das christliche Europa: zwischen Sendung und Bedeutungslosigkeit

Der bekannte Moraltheologe Professor Dr. Joachim Piegsa ist überzeugt, dass unter allen Religionen nur das Christentum den Weg zu einer menschenwürdigen Gesellschaft und zum wahren Frieden aufzeigen kann. Auch der Islam bietet keinen gleichwertigen Ersatz für das christliche Wertesystem. Dabei ist es gerade Europa, das die Sendung empfangen hat, den Geist des Christentums in die Völkerfamilie hineinzutragen: den Geist der praktischen Nächstenliebe, die ohne Unterschied in jedem Menschen Christus selbst erblickt, sowie die Feindesliebe, die den Teufelskreis der Gewalt und des Hasses durch Verzeihen zu durchbrechen vermag. Mit Johannes Paul II. appelliert Professor Piegsa an alle Gläubigen, für ein christliches Europa zu kämpfen, damit es nicht „auf seine Berufung und seine Rolle in der Geschichte verzichtet“ und „der Bedeutungslosigkeit erliegt“.

Von Joachim Piegsa

1. Das christliche Europa muss erkämpft werden

In der Europäischen Grundrechtecharta[1] sind „die christlichen Wurzeln unseres Kontinents leider nur unzureichend“ berücksichtigt worden (Ratzinger). Es fehlt vor allem der Gottesbezug. Dazu sprach Papst Johannes Paul II. die mahnenden Worte: „Man darf nicht vergessen, dass die Ablehnung Gottes und seiner Gebote im vergangenen Jahrhundert zur Tyrannei der Götzen geführt hat. Eine Rasse, eine Klasse, der Staat, die Nation, die Partei wurden verherrlicht und traten an die Stelle des wahren und lebendigen Gottes. Aus den unglücklichen Ereignissen, die über das zwanzigste Jahrhundert hereinbrachen, kann man schließen: Die Rechte Gottes und des Menschen stehen oder fallen gemeinsam."[2]

Besondere Beachtung sollte vor allem die Würdigung von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta finden. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hieß es noch dazu: „Die Familie ist die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat“ (Art. 16). Kein Wort davon in der Europäischen Grundrechtecharta (Art. 9).[3] Hier und in einigen anderen Schwerpunkten haben wir es mit einem „stillen Abschied vom ,alten Europa‘“ zu tun.[4]

Trotz alledem meinte Otto von Habsburg, der Präsident der Internationalen Paneuropa-Union: „Heute von einem christlichen Europa zu sprechen, heißt auch, einen Akt des Glaubens an das Leben und die Zukunft zu setzen, den weitverbreiteten Kulturpessimismen christliche Hoffnung entgegenzusetzen und für eine bessere Zukunft zu arbeiten und zu kämpfen. Denn die Zukunft wird uns nicht geschenkt – sie will erkämpft werden."[5]

2. Es wird von uns allen abhängen, ob Europa seine „christliche Seele“ wiederfindet

Zu demselben mutigen Ringen forderte Papst Johannes Paul II. bereits 1982 den Rat der Europäischen Bischofskonferenz auf, mit den Worten: „Es wird auch von uns abhängen, ob Europa sich in seine kleinen zeitlichen Bestrebungen, in seine Egoismen einschließt und der Angst und Bedeutungslosigkeit erliegt, weil es auf seine Berufung und seine Rolle in der Geschichte verzichtet, oder ob es in der Kultur des Lebens, der Liebe und der Hoffnung seine Seele wiederfindet."[6]

Als das Europäische Parlament 1984 gewählt werden sollte, haben die europäischen Bischöfe in Glaubensüberzeugung verkündet: „Das Evangelium ist Quelle der Hoffnung für Europa."[7] Otto von Habsburg betonte 1997 nochmals: „Ein vereintes Europa muss eine Seele haben. Die Seele ist das Christentum."[8]

3. Ein menschenwürdiges Europa gewährleistet nur das Christentum

Seit Jahrzehnten vollzieht sich die Einheit Europas auf wirtschaftlicher und politischer Basis. Doch das allein garantiert nicht, dass es ein friedliches und humanes Europa bleibt. Die Rückbesinnung auf die christliche Kultur und Werteordnung, auf die „christliche Seele“ Europas, ist unabdingbar notwendig, denn nur das Christentum kann Frieden und Humanität in Europa gewährleisten. Die Überzeugung dafür muss wachgerufen werden.[9] Für die christliche Werteordnung gibt es keinen gleichwertigen Ersatz in anderen Religionen, weder im Buddhismus noch im Hinduismus oder im Islam. Folgende Gründe sprechen dafür:

Erstens, laut Konzilsaussage über die nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ (1965, Art. 2-4), findet man zwar auch im Hinduismus und Buddhismus „nicht selten einen Strahl jener Wahrheit, die alle Menschen erleuchtet“, aber nur „Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Die Moslems – so das Konzil weiter – beten zwar „den alleinigen Gott an“, aber durch Christus, den sie nur „als Propheten“ anerkennen, den wir aber als Sohn Gottes verehren, kam die Fülle der Offenbarung. Schließlich glaubt die Kirche, „dass Christus, unser Friede, Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und beide in sich vereinigt hat“ (vgl. Eph 2,14-16).

Zweitens, in keiner der genannten Religionen wird die praktische Nächstenliebe so dringend und überzeugend gefordert, wie durch die Worte Jesu: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Die als Hauptgebot geforderte Nächstenliebe wird in diesen Worten Jesu mit der Gottesliebe untrennbar verbunden. Zudem hat Jesus in seiner Schilderung des letzten Gerichts klargestellt, dass sich die geforderte Liebe nicht in schönen Worten erschöpfen darf. Sie muss sich im Alltag bewähren, vor allem in schwierigen Situationen, wenn unsere Bequemlichkeit und Eigenliebe Ausflüchte sucht.

Sich mit unseren hilfsbedürftigen Mitmenschen identifizierend, sagt uns Christus: „Ich war hungrig, ... durstig, ... obdachlos, ... nackt, ... krank, ... im Gefängnis“ (Mt 25,35-36), und ihr habt mir geholfen oder nicht geholfen. Aus dieser Glaubensüberzeugung haben erst christliche Ärzte auch unheilbar Kranke behandelt, die von heidnischen Ärzten gemieden wurden, und christliche Ärzte taten das auch dann, wenn die unheilbar Kranken kein Geld besaßen, um Behandlung und Medizin zu bezahlen. Christen waren es ebenfalls, welche die ersten Krankenhäuser – Hospize genannt – erbauten. Daran anknüpfend, ist in unserer Zeit die Hospizbewegung entstanden, um todkranken Menschen ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Vor allem Christen sind es heute, die gegen Abtreibung, Euthanasie und Experimente mit menschlichen Embryonen auftreten.

Aus deutscher Sicht kommt noch ein wichtiger Hinweis hinzu: Die Juden Thomas Mann und Max Horkheimer führten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Untersuchung darüber durch, „welche Bevölkerungsgruppe in Deutschland den vom Nazismus Verfolgten am meisten geholfen hat. Das Ergebnis überraschte Mann wie Horkheimer. Es stellte sich nämlich heraus, dass gläubige Katholiken die größte Bereitschaft zeigten, den Verfolgten zu helfen."[10]

Schließlich, drittens, hat Jesus durch das Beispiel vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25-37) klargestellt, dass sich die christliche Nächstenliebe nicht auf Familienangehörige, auf Volksgenossen oder Mitchristen beschränken darf. Dem verwundeten Juden half ein Samariter (heute würden wir sagen: ein Araber), obwohl beide durch Volkszugehörigkeit und Religion getrennt waren. Jesus forderte sogar: „Ihr aber sollt eure Feinde lieben!“ (Lk 6,35). Ein sehr schwieriges Gebot, aber nur dadurch kann der Teufelskreis des Hasses und der Vergeltung durchbrochen werden. Der Wille zur Versöhnung mit dem Feind ist die Bedingung dafür, dass statt Hass, Krieg und Terror der Dialog und der Friede gesucht wird. Daher ruft der Hl. Vater immer wieder zum Dialog auf. Jedoch diese Aufgabe obliegt nicht nur der Kirche als Institution, sondern ebenfalls jedem einzelnen Christen. Aufgrund der Taufe wurden alle zu Zeugen Jesu Christi, gemäß seinen Worten: „Ihr seid Zeugen dafür!“ (Lk 24,48; vgl. Joh 15,27).

Ein Beweis dafür, dass die Feindesliebe kein schönes Wort geblieben ist, sondern durch Christen in die Tat umgesetzt wurde, ist die „Charta der Deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950.[11] Fünf Jahre nach der Vertreibung und erlittenem Unrecht in vielerlei Gestalt, haben die Vertriebenen „im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen“, sowie „ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis“, offiziell „auf Rache und Vergeltung“ verzichtet und gelobt, „jedes Beginnen mit allen Kräften zu unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“. Um dieses gemeinsame Ziel zu erreichen, sollen die Völker handeln, „wie es ihren christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht“.[12]

Diese Selbstüberwindung und Weitsichtigkeit kam aus dem christlichen Glauben. Und es blieben nicht nur schöne Worte. Man hat kein einziges Mal gehört, dass die Vertriebenen gewaltsam vorgegangen wären, um ihre Rechte durchzusetzen. Aus demselben Geist handelte die westdeutsche Bevölkerung, der es trotz allgemeiner Zerstörung und Not gelungen ist, von „mehr als 10 Millionen Ostdeutschen“ die größte Zahl aufzunehmen und einzugliedern.[13]

4. Jeder von uns muss seinen eigenen Beitrag leisten!

Was kann jeder einzelne von uns dazu beitragen, dass Europa christlich bleibt? So können wir fragen, da wir keine politische Macht besitzen und auch keinen großen Reichtum. Die Antwort gaben uns die mitteleuropäischen Bischöfe am Wallfahrtsort Mariazell, am 22. Mai 2004, in sieben Bitten und Forderungen zugleich,[14] in denen jeder von uns seinen möglichen Beitrag für ein christliches Europa findet:

(1) „Den Menschen Christus zeigen!“, das heißt missionarisch Christ sein, im Alltag den Glauben bekennen in Wort und Tat.

(2) „Beten lernen und Beten lehren“, vor allem in Ehe und Familie.

(3) „Das Glaubenswissen vermehren“, durch christliche Literatur und den Katechismus.

(4) „Zeichen setzen“, vor allem durch das Kreuz in der Wohnung und im Arbeitsbereich, durch das Tischgebet und das religiöse Gespräch pflegen.

(5) „Die Sonntagskultur bewahren“, das heißt den Tag des Herrn als Tag des Dankes gegenüber Gott und zugleich als Tag der Familie feiern.

(6) „Leben schützen und entfalten“, gegen künstliche Befruchtung und Laborexperimente mit Embryonen, gegen Abtreibung und Euthanasie.

(7) „Die Solidarität in Europa und weltweit fördern“, das heißt eintreten für ein Miteinander und Füreinander in allen Lebensbereichen, angefangen in Familie und Nachbarschaft.

5. Der päpstliche Traum von Europa

Die sieben Forderungen für ein christliches Europa decken sich weitgehend mit dem „Traum von Europa“, den der Hl. Vater in vier Punkten vortrug, als ihm am 24. März vergangenen Jahres der Karlspreis verliehen wurde:

(1) Solidarität als Faktor des Friedens in der Welt.

(2) Einheit in wahrer Freiheit.

(3) Erfahrung selbstloser Liebe in der Familie, damit junge Menschen sich für ein geeintes Europa einsetzen.

(4) Ein Europa in politischer, mehr noch in geistiger Einheit, von Menschen gestaltet, die aus dem christlichen Glauben ihre Kraft u. Orientierung schöpfen.

Kurz: Es ist der Traum von einem Europa, über dem das „Angesicht Gottes“ leuchtet.[15]

6. Maria – Zeichen der Hoffnung für Europa

Am 15. August 2004 wurde im Marienwallfahrtsort Lourdes in Anwesenheit Papst Johannes Paul II. der 150. Jahrestag des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariens gefeiert, das 1854 vom sel. Papst Pius IX. verkündet worden war. Vier Jahre danach hatte sich die Muttergottes den Seherkindern in Lourdes als Unbefleckte Empfängnis vorgestellt und vor dem Abfall von Christus gewarnt, der über ganz Europa Unglück bringen würde. Nur das Gebet könne diesen Verfall aufhalten und die notwendige Bekehrung einleiten. Diese mahnende Botschaft der Muttergottes hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Durch Maria zu Christus! In diesem Sinn gilt es, Maria die Zukunft Europas anzuvertrauen: Durch Maria möge Europa seine „christliche Seele“ wiederfinden! In ihre gütigen Mutterhände legen wir die große Bitte: Dass unsere Ehen und Familien, unser Vaterland und ganz Europa christlich bleiben. Denn wir sind überzeugt: Europa braucht Christus! Möge Maria uns helfen, unsere Aufgabe klar zu erkennen und mit der Kraft von oben dazu beizutragen, dass über Europa das „Angesicht Gottes“ leuchte.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2005
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[1] Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: F.A.Z., 07.08.2000, 12.
[2] Papst Johannes Paul II.: Ansprache beim Kongress über die Kaiserkrönung des Frankenherrschers Karl des Großen vor 1200 Jahren, zit. nach: Kirche heute, Januar 2001, 12.
[3] Vg. Entwurf der Charta, zitiert nach: F.A.Z., 07.08.2000, 12, Art. 9.
[4] M. Wiegel: Ein stiller Abschied vom ,alten Europa‘?, in: F.A.Z., 28.02.2001, 8.
[5] Ebd., 14.
[6] Zit. nach: Die kollegiale Verantwortung der Bischöfe und Bischofskonferenzen Europas in der Evangelisierung des Kontinents (Stimmen der Weltkirche, Nr. 16), 08.10.1982, 9.
[7] Zit. nach: Pressedienst des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz, Dokumentation 3/84, 12.04.1984, 3.
[8] Otto von Habsburg: Pessimismus ist unberechtigt, in: Paneuropa 20 (1997) 14-17, hier 14.
[9] Joseph Ratzinger: Christlicher Glaube und Europa, München, 2. Aufl. 1982, 13.
[10] Max Horkheimer: Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen (ein Interview), Hamburg 1970, 28.
[11] Zit. nach: Joachim Piegsa: Die „Charta der Deutschen Heimatvertriebenen“. Verständigung aus christlichem Antrieb der Deutschen mit ihren östlichen Nachbarn, Münster 2000.
[12] Ebd., 4-5.
[13] Kanzelverkündigung der westdeutschen Bischöfe zur Vertreibung (30.01.1946), in: F. Lorenz (Hg.): Schicksal Vertreibung. Aufbruch aus dem Glauben, Köln 1980, 61.
[14] Kirche heute, Juni 2004, 4f.
[15] Ebd., 11.

„Vom Schlechten zum Schlechteren“

„Die Lage hat sich vom Schlechten zum Schlechteren gewendet“, beschreibt Bartholomaios I., der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, die Lage der Kirche in der Türkei. Das oberste türkische Gericht hat vor kurzem die Enteignung eines Waisenhauses, das dem Ökumenischen Patriarchat gehört, für rechtens erklärt. Ein gemeinnütziges kirchliches Krankenhaus soll auf einmal rückwirkend Körperschaftssteuer zahlen, was diese Einrichtung praktisch zerstören würde. Außerdem versucht der Patriarch trotz mündlicher Zusagen von Regierungsvertretern ohne jeden Erfolg das alte orthodoxe Seminar Chalki auf der Insel Heybeli bei Istanbul wieder zu eröffnen, damit er in seinem Jurisdiktionsbereich Priester ausbilden lassen kann. Das Seminar war vor über 30 Jahren von der türkischen Regierung geschlossen worden. Grund für die Probleme ist eine türkische Gesetzgebung, die Kirchen nicht als eigenständige Rechtspersönlichkeiten anerkennt; deswegen ist es für sie schwer, Eigentum zu erwerben und zu besitzen. Seine ganze Hoffnung setzt der Patriarch auf einen EU-Beitritt der Türkei. Auszüge aus Interviews mit dem Ökumenischen Patriarchen.

Von Patriarch Bartholomaios I.

Für einen EU-Beitritt der Türkei

Die Türkei ist eine Brücke zwischen Ost und West, zwischen Islam und Christentum, zwischen Asien und Europa. Die große Mehrheit der türkischen Bevölkerung strebt nach den europäischen Ideen und ihrem Lebensstil. Ich bin kein Politiker. Unser Patriarchat hält sich von der Politik fern. Aber als Bürger, der sich für die politische Entwicklung in der Türkei interessiert, kann ich offen meine Meinung sagen: Ich bin optimistisch, was die Öffnung der Türkei in Richtung Europäische Union angeht. Wir lieben unser Land und wollen, dass es ein europäisches Land wird.

Dialog mit dem Islam

Wir gehen keinem Dialog aus dem Wege, um die Versöhnung der Kulturen, Religionen, Menschen und Nationen zu fördern. Dialoge sind eine gegenseitige Bereicherung, nicht gegen unseren Glauben. Wir sind es auch unseren Kindern und Kindeskindern schuldig. Das gilt gleichermaßen für die Dialoge mit den Muslimen. Die Ereignisse vom 11. September haben uns noch weiter angetrieben, unsere Bemühungen zu vertriefen. Seit 20 Jahren, nicht etwa erst seit dem 11. September, führen wir einen intensiven Dialog mit dem Islam. Ich selbst habe muslimische Länder besucht, um den interreligiösen Dialog zu fördern, wie Bahrain, Iran und Katar.

Nichts ist unmöglich

Ein religiöses Konzert aller Konfessionen in der Hagia Sophia mit jüdischen, muslimischen, armenischen, griechisch-orthodoxen und katholischen Musikstücken ist vielleicht nur ein kleiner Schritt, doch in dieser Welt ist nichts unmöglich oder ausgeschlossen. Auch der plötzliche Kollaps des Kommunismus, ein Wunder in unserer Ära, ist nicht vorausgesehen worden. Wenn jemand in den 80er Jahren vorausgesagt hätte, dass das kommunistische Regime in zehn Jahren zusammenbricht, hätte ihm das niemand geglaubt. Doch siehe: Es geschah.

Wahl des Ökumenischen Patriarchen

 Nach dem türkischen Recht z. B. muss ein Ökumen. Patriarch Bürger der Türkei sein. Das können wir nur ändern, wenn die Regierung mehr Freiheit u. Entscheidungsmöglichkeiten im Blick auf die Wahl zulässt. Bisher führen die Metropoliten und Erzbischöfe, die in der Türkei wohnen, die Wahl durch. Wenn die Türkei ein Mitglied der EU wird, dann werden diese Begrenzungen nicht mehr gelten. Jeder Bürger eines EU-Mitgliedslandes wird dann Patriarch werden können.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2005
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Die Heilige Messe – Austausch zwischen Gott und Mensch

Papst Johannes Paul II. fordert die Gläubigen auf, im Jahr der Eucharistie die Vielfalt dieses Geheimnisses neu zu entdecken und im persönlichen wie gemeinschaftlichen religiösen Leben tiefer zu verwirklichen. Der Beitrag von Direktor Thomas Maria Rimmel bietet dazu eine wertvolle Hilfe. Seine Betrachtung über den Austausch zwischen Gott und Mensch ist einerseits aus dem Gedankengut Papst Johannes Pauls II., andererseits aus dem Geist der Gebetsstätte Wigratzbad gespeist, die er im Namen des Bischofs von Augsburg verantwortlich leitet. Es gelingt ihm, die hohe Theologie mit anschaulichen Beispielen aus dem Leben der Kirche und der Heiligen zu verbinden.

Von Thomas Maria Rimmel

Wir stehen im Jahr der Eucharistie, das Papst Johannes Paul II. für die Zeit von Oktober 2004 bis Oktober 2005 ausgerufen hat. Den Auftakt bildete im Oktober 2004 der Eucharistische Kongress in Mexiko. Abgeschlossen wird dieses „Eucharistische Jahr“ im Oktober 2005 mit einer Ordentlichen Versammlung der Bischofssynode zum Thema: „Die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt des Lebens und der Sendung der Kirche“. In diesen Zeitraum fällt auch der XX. Weltjugendtag in Köln vom 16. bis zum 20. August 2005. Dazu schrieb der Papst: „Die Eucharistie wird dabei der lebendige Mittelpunkt sein, um den herum – so wünsche ich es – sich die Jugendlichen sammeln, um ihren Glauben und ihren Enthusiasmus zu nähren“ (Mane nobiscum Domine, Nr. 4). Wie können wir unseren Glauben und unseren Enthusiasmus durch die Begegnung mit der Eucharistie nähren?

Staunen über die Eucharistie

Pater Johannes Schmid, der Mitbegründer der Gebetsstätte Wigratzbad, sagte einmal: „Wenn es mir als Priester von der Kirche her erlaubt wäre, würde ich den ganzen Tag nichts anderes machen, als eine Messe nach der anderen zu feiern.“ So fremd uns diese Worte auch anmuten, sie bringen doch ein tiefes Ergriffensein vom Geheimnis der Eucharistie zum Ausdruck.

Ähnlich hat Sebaldus Rimmel (1892-1969), ein Salvatorianer-Bruder,[1] in seinen Aufzeichnungen ein bewegendes Zeugnis über seinen Ordensgründer, Pater Franziskus vom Kreuze Jordan, hinterlassen. Er beschreibt, wie Pater Jordan, der wahrscheinlich bald selig gesprochen wird, 1911 zu einer Visitation nach Lochau kam: Dieser „Ehrwürdige Vater war eine große, starke Figur“. „Das Erscheinen, der Gang und das ganze Benehmen flößten ... Respekt ein, ganz besonders, wenn er die heilige Messe feierte. Bei der Wandlung zeigte er sich sehr nervös und wiederholte ein paar Mal die angefangenen Konsekrationsworte, wobei der ganze Körper zitterte“ (Band I, S. 61). Auch hier geht es um ein Erzittern im Angesicht des Geheimnisses, das sich in der Heiligen Messe auf dem Altar vollzieht.

Ein anderes Beispiel stammt von Professor Dr. Tadeusz Styczen über Papst Johannes Paul II. Als ehemaliger Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Karol Wojtyla ist er immer wieder bei ihm zu Besuch in Rom. Wenn der Papst in seiner Privatkapelle die Heilige Messe feiere, so berichtet Styczen, dann halte er bei den Worten „Geheimnis des Glaubens“ oft inne und wiederhole sie mehrere Male ganz intensiv und voller Staunen.

Das ganze Leben des hl. Pater Pio war auf die Heilige Messe ausgerichtet. Er war so ergriffen von der Anwesenheit des Herrn in der Eucharistie, dass sich sein Gesicht schon an den Stufen des Altars verklärte. Kaum jemand, der an einer Heiligen Messe mit ihm teilnahm, blieb unbeeindruckt. Viele bezeugten hinterher, sie hätten erst jetzt das göttliche Opfer begriffen. Spätestens beim Aussprechen der Wandlungsworte erlebten die Pilger, wie stark der stigmatisierte Priester die Passion Christi selbst durchlitt. Furchtbare Krämpfe durchzuckten seinen Leib, so dass er fast nicht mehr weiterzelebrieren konnte.

Einmal wurde er gefragt: „Pater, was bedeutet Ihre heilige Messe für Sie?“ Pater Pio habe geantwortet: „Eine vollständige Vereinigung zwischen Jesus und mir."[2]

Zur häufigen Mitfeier der Heiligen Messe und zum täglichen Kommunionempfang gab der hl. Pater Pio den Rat: „Versäumt um nichts auf der Welt die tägliche Kommunion! Misstraut allen Zweifeln, die euch diesbezüglich ankommen. Ich nehme das auf mein Gewissen. Solange man nicht sicher ist, eine schwere Sünde begangen zu haben, soll man der heiligen Kommunion nicht fernbleiben."[3]

Das Staunen in Anbetracht des Geheimnisses der Eucharistie darf uns jedoch nicht vor der Begegnung mit Christus im Sakrament abhalten. Im Gegenteil, hier muss die Aussage des hl. Augustinus über das Geheimnis Gottes konkret zur Geltung kommen: Es ist „tremendum et fascinosum“ – „schaudererregend und anziehend“ zugleich. Die Heilige Kommunion ist keine Belohnung für denjenigen, der bereits heilig ist, gleichsam als Verzierung seiner Glorie. Vielmehr ist sie die notwendige Speise des sich um Heiligkeit mühenden Sünders. Der schwache Pilger, der kämpft und um seine Berufung ringt, braucht den Leib Christi, damit er gestärkt wird und seine Sendung leben kann.

Mit Christus zum Vater

Die Eucharistie als Opfer erschließt sich auch vom Geheimnis des Menschen her. Was ist der Mensch? Das II. Vatikanische Konzil stellt fest, „dass der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte Kreatur ist, sich nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst finden kann“ (GS 24). Es ist ein Paradoxon, dass sich der Mensch dadurch verwirklicht, dass er sich verschenkt. Es löst sich jedoch schon auf der Ebene der Erfahrung. Denn jeder Mensch spürt, dass er nicht alleine leben kann. Er ist auf ein Du hin angelegt. Sobald er sich auf den Anderen einlässt, beginnt ein Austausch, der ihn bereichert. So wird durch das Sich-Verschenken das eigene Ich nicht ärmer, sondern reicher. Im Austausch mit den Anderen erfährt der Mensch seine Erfüllung. In dem Maß, als sich der Mensch verschenkt, wächst er.

Dabei macht der Mensch jedoch die Erfahrung, dass der Austausch mit anderen Menschen immer beschränkt bleibt. Er sehnt sich nach dem Absoluten. Nur im Austausch mit Gott findet das Herz des Menschen seine Ruhe. Doch wie kann dieser Austausch gelingen, wenn die Hingabe des Menschen an Gott immer begrenzt bleibt?

Hier gibt uns die Feier der Heiligen Messe eine Antwort. Jesus Christus hat durch seinen vollkommenen Gehorsam im Tod am Kreuz die vollkommene Hingabe an den Vater verwirklicht. Dieser Akt der Hingabe wird in jedem Messopfer vergegenwärtigt. Als getaufte und mit Christus vereinte Gläubige aber sind wir eingeladen, uns diesen Akt der Hingabe zu Eigen zu machen. Die Teilnahme am Geschehen der Heiligen Messe gibt uns also die Möglichkeit, uns in die Bewegung des Sohnes auf den Vater hin „einzuklinken“. Zusammen mit Christus erscheinen wir vor Gott so, als wäre es unsere eigene Hingabe an den Vater, die er nach dem Maß der Hingabe des Sohnes mit seiner Hingabe an uns beantworten kann.

So schreibt Johannes Paul II. zum Eucharistischen Jahr: In der Eucharistiefeier legt uns Christus „das Opfer wieder vor, das er ein für allemal auf Golgota dargebracht hat."[4] In diesem Opfer, das immer wieder neu vergegenwärtigt wird, wendet sich Christus in vollkommenem Gehorsam dem Vater zu. Ohne den Blick auf den Vater ist die Heilige Messe nicht zu verstehen.

Damit dieses Opfer Christi für die Mitfeiernden fruchtbar werden kann, sind sie eingeladen, dieses „Ja“, das Christus gesprochen hat, mitzuvollziehen und bewusst an der aufopferungsvollen Hinwendung Christi an den Vater im Himmel teilzunehmen. Dies kann etwa mit den Gedanken geschehen: „Jesus, Du stirbst jetzt für mich! Ich möchte bei Dir bleiben und nicht weglaufen wie die Apostel, die damals noch nichts verstanden haben.“

Das Sich-Einklinken lässt sich auch von der Tatsache her verstehen, dass es sich bei Christus, der in der Eucharistie gegenwärtig ist, um den gekreuzigten und auferstandenen Herrn handelt. „Jenen Jesus aus dem Abendmahlsaal gibt es nicht mehr!“, so formuliert es einmal Pater Cantalamessa.[5] Es gibt nur mehr den Christus, der das Haupt des geheimnisvollen Leibes der Kirche bildet, dessen Glieder die Gläubigen sind. Zwar hat Christus mit seinem Kreuzesopfer alle Menschen ein für allemal erlöst, doch hängt die Fruchtbarkeit dieses Opfers davon ab, wie sich der Einzelne bewusst in diese Hingabe „einklinkt“. Dadurch tritt der Mensch an die Seite Jesu und bewegt sich mit Christus als seinem Gefährten zum Vater.[6] Der Gottmensch ist der Einzige, der die Hingabe an den Vater im Himmel vollkommen gelebt hat, und auch der Einzige, der die Antwort des Vaters auch vollkommen empfangen hat. So kann sich der Vater dem Geschöpf auch nur dann ganz schenken, wenn es an der Seite Christi erscheint. Ohne Christus als meinem göttlichen Gefährten hat meine Hinwendung zum Vater nur begrenzten Wert.

An der Gebetsstätte Wigratzbad beten die Gläubigen nach den Fürbitten, also unmittelbar vor der Gabenbereitung folgendes gemeinsames Gebet, das bereits P. Johannes Schmid eingeführt hat:

„Himmlischer Vater, durch das unbefleckte Herz Mariens opfern wir dir Jesus, deinen vielgeliebten Sohn, auf und uns selbst in ihm und mit ihm und durch ihn nach allen seinen Meinungen und im Namen aller Geschöpfe. Amen.“

Mit diesem Gebet wird zum Ausdruck gebracht, dass wir uns zusammen mit der Gottesmutter an die Seite Jesu begeben, um mit ihr umso intensiver an der Hingabe Jesu an den Vater teilzunehmen, die sich in der heiligen Liturgie nun vollzieht. Maria ist diejenige, die sich als Geschöpf mit ihrem „Fiat“ bei Christus ganz „eingeklinkt“ und durch die vollkommene Einheit mit ihm die Fülle Gottes ohne Einschränkung empfangen hat. Auch in diesem Sinn ist uns „Maria, die ‚eucharistische Frau‘, zum Vorbild“ gegeben.[7]

Dienst Gottes am Menschen

Die Liturgie – der offizielle Gottesdienst der Kirche – stellt also keine Einbahnstraße dar. Sicherlich ist der „Gottes-Dienst“ ein Dienst des Menschen an Gott, indem er versucht, seinem Schöpfer und Herrn die ihm gebührende Verehrung entgegenzubringen. Doch ist das heilige Geschehen in erster Linie ein Dienst Gottes am Menschen. Er wendet sich dem Menschen zu und schenkt ihm sein göttliches Leben, ohne dass es sich der Mensch je „verdient“ hätte. „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mt 20,28), das gilt insbesondere auch für die Gegenwart und das Wirken Jesu Christi in der hl. Eucharistie. Als Hauptakzent der Liturgie muss diese zweite Bewegung betrachtet werden: Durch seinen Sohn verschenkt sich der Vater selbst an die Menschen.

Zunächst schenkt sich Gott jedem einzelnen Mitfeiernden. Es wäre aber zu wenig, würde man die Heilige Messe nur deshalb mitfeiern, weil man für sich selbst Gnaden erlangen möchte. Das Geheimnis der Erlösung und damit der christlichen Liebe besteht in der Stellvertretung! Niemand empfängt das Leben Gottes nur für sich. Der Leib Christi, die Kirche, ist in der Hand Gottes das entscheidende Werkzeug, um durch sie der ganzen Menschheit seinen „Segen“ zukommen zu lassen. Gott bedient sich insbesondere der Getauften, um sich durch sie allen Menschen zuzuwenden. Das Zweite Vatikanische Konzil formuliert: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Auf ganz besondere Weise nimmt Gott die zur Eucharistie versammelte Gemeinde in Dienst, um durch sie hindurch der Welt entgegenzugehen und über sie seine Gnaden – wie auch immer! – auszugießen.

In Wigratzbad beten wir zur Danksagung nach der hl. Kommunion das Ignatianische Gebet „Seele Christi, heilige mich“. Während des Eucharistischen Jahres fügen wir diesem Ausdruck der persönlichen Beziehung zu den Schätzen, die wir im heiligsten Sakrament empfangen, dreimal das Aufopferungsgebet hinzu, das Jesus der hl. Schwester Faustine als Teil des Barmherzigkeitsrosenkranzes gelehrt hat:

„Ewiger Vater, ich opfere Dir auf den Leib und das Blut, die Seele und die Gottheit Deines über alles geliebten Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus, um Verzeihung zu erlangen für unsere Sünden und für die Sünden der ganzen Welt.“

Es ist der Wunsch Jesu selbst, dass wir diese Worte sprechen. Die Betonung dieses Gebetes liegt darauf, dass wir nicht nur selbst in den Austausch mit Gott eintreten möchten, sondern die Gnade Gottes für die ganze Welt erbitten: „um Verzeihung zu erlangen ... für die Sünden der ganzen Welt“. So werden wir vor der Haltung eines Heilsegoismus bewahrt und begreifen uns als Werkzeug zur Rettung aller. Der Einladung, dem Vater im Himmel den Leib, das Blut, die Seele und die Gottheit seines Sohnes aufzuopfern, können wir in keinem Augenblick besser folgen als unmittelbar nach der hl. Kommunion, da wir eben diese Wirklichkeiten Gottes in uns tragen. Schon der „Engel des Friedens“ in Fatima hat die Seherkinder in diesem Sinn vor dem Allerheiligsten beten gelehrt: „Heiligste Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, ich opfere Euch auf den kostbaren Leib, das Blut, die Seele und die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus ..."[8]

Indem wir nicht nur auf den Leib und das Blut bzw. mit dem Begriff der Seele auf die menschliche Natur Jesu Christi Bezug nehmen, sondern auch auf seine Gottheit, treten wir nicht nur in den Austausch zwischen Schöpfung und Schöpfer ein, sondern in den innertrinitarischen Austausch Gottes selbst. Dies ist der Höhepunkt, wie der Mensch sein eigenes Geheimnis verwirklichen kann und im Himmel ewig und vollkommen verwirklichen wird.

Darüber hinaus hat die Feier der Eucharistie immer eine missionarische Dimension. In lateinischer Sprache endet die Heilige Messe mit den Worten: „Ite missa est!“ Man könnte es mit der Formulierung übersetzen: „Geht! Jetzt ist Messe!“ Unsere Aufgabe ist es, die Eucharistie nicht nur mitzufeiern, sondern selber Eucharistie zu werden. Dies beinhaltet die Bereitschaft, sich jetzt selber zur eucharistischen Speise zu machen, sich brechen und verzehren lassen, sich ganz zu verschenken und die liebevolle Hingabe jetzt jenen Menschen zu bezeugen, die mir anvertraut sind.

Die Zelebrationsrichtung – Hochaltar bzw. Volksaltar – kann sehr gut im Kontext des Austausches zwischen Gott und Mensch verstanden werden. Die Hingabe Jesu an den Vater, in die wir uns einklinken, wird ohne Zweifel durch die Zelebration am Hochaltar auf besondere Weise zum Ausdruck gebracht. Diese Bewegung bildet das Fundament. Denn nur in dem Maß, als sich eine Person der anderen hingibt, kann das Gegenüber antworten und sich zurückschenken bzw. umgekehrt. Gott bietet uns die Fülle seines göttlichen Lebens an, schon bevor wir auf ihn zugehen. Aber nur nach dem Maß unserer Hingabe an den Vater können wir an diesem Angebot Anteil erlangen. Deshalb ist die Bewegung hin zum Vater – Seite an Seite mit seinem Sohn Jesus Christus – die Grundvoraussetzung für die fruchtbare Mitfeier der hl. Eucharistie. Die Fruchtbarkeit selbst aber, die Bewegung des Vaters auf die Menschheit zu, das entscheidende Moment der hl. Eucharistie, findet seinen Ausdruck in der Zelebration zum Volk. Der Volksaltar ist wesentlich mehr als nur die Betonung des Mahlcharakters. Er zeigt auf, dass die anwesenden Gläubigen die Eucharistie nicht nur für sich persönlich mitfeiern, sondern als Braut Christi Werkzeug des Heils für die Welt sind. Die Stellvertretung für andere anzunehmen, ist die höchste Form der Hingabe, der Lebensnerv christlichen Lebens und christlicher Liebe.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Sebaldus Rimmel ist ein Verwandter von mir, geboren in Obergünzburg, aufgewachsen in Frauenzell und Beuren bei Isny.
[2] Vgl. A. Decorte: Pater Pio aus Pietrelcina. Erinnerungen an einen bevorzugten Zeugen Christi, Hauteville 2001, 70.
[3] Ebd., 79.
[4] Apostolisches Schreiben Mane nobiscum Domine, Nr. 15.
[5] R. Cantalamessa: Die Eucharistie – unsere Heilung, 34.
[6] Mane nobiscum Domine, Nr. 2.
[7] Mane nobiscum Domine, Nr. 10.
[8] G. Hierzenberger/O. Nedomansky: Erscheinungen und Botschaften der Gottesmutter Maria, Augsburg 1997, 252.

„Als Mann und Frau schuf Er sie!“

Univ.-Professor Dr. Reinhold Ortner, Psychologe und Pädagoge, hat zum Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre „Die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt“ einen leidenschaftlichen Kurz-Kommentar geschrieben. Nur Ignoranz könne behaupten, so Ortner, die Aussagen dieses Schreibens trügen zur Unterdrückung der Frau bei und missachteten ihre Würde. Vielmehr stelle die Kirche verhängnisvolle Irrtümmer unserer Zeit richtig, welche das menschliche Zusammenleben mehr und mehr in Chaos und Kälte stürzten. Unter dem Titel „Zum Schutz der Liebe“ nahm der Christiana-Verlag den Kommentar in eine Broschüre auf, in der er das Schreiben der Glaubenkongregation ansprechend veröffentlichte.[1] Joachim Kardinal Meisner verfasste dazu ein engagiertes Vorwort mit der Feststellung: Hier sprengt die Glaubenskongregation die Mauern klassischer Vorurteile gegen die Kirche!

Von Reinhold Ortner

Verschiedenheit der Geschlechter – Quelle der Liebe

Gott ist die Liebe. Liebe ist Eintracht und Ordnung, von Anfang an tragender Grund und schützende Lebensdynamik der Schöpfung. „Gott schuf den Menschen nach Seinem Bilde. Als Mann und Frau schuf Er sie“ (Gen 1,27).

Gleichklang und Verschiedenheit ihrer geschlechtsspezifischen Sexualität ermöglichen Mann und Frau wechselseitig geistige, psychische und physische Ergänzung und Einswerdung. Es ist ein Geschenk des Schöpfers und alle harmonisierende Kraft entströmt Seiner Liebe. Gottes Schöpfungssinn bestimmte die zweigeschlechtliche Zuordnung und Ergänzung im Mannsein und Frausein als wesenskonstitutiv. Dies wird heute oft als fortschrittshemmende Vorstellung einer „überkommenen Rollenfestschreibung“ abgelehnt. Vielmehr sei es höchste Zeit umzudenken und sich zu „emanzipieren“. Tatsächlich aber kann nur in der Sinnerfüllung nach dem Schöpfungsplan Gottes das Glück von Mann und Frau liegen.

Verzweckung der Sexualität – Zersetzung der Familie

Doch gerade dies stößt im heutigen „Kampf der Geschlechter“ auf Empörung. Stattdessen arbeitet eine gezielt geplante und bewährte Zersetzungstaktik gegen die Kernsubstanz einer gesunden Familie. Wer „modern“ sein will, schwimmt auf der als „wissenschaftlich“ getarnten „Aufklärungswelle“ mit: Zunächst wird die menschliche Sexualität ihres Sinnes entleert. Deren Urkraft, die Liebe, wird zum spaßorientierten Selbstzweck sexueller Lustbefriedigung umfunktioniert. Man tut, was man will, ohne zu lieben.

Diese Angriffsstrategie macht die wahre Liebe zur „Ware“ Liebe. Dabei bedient sie sich subtiler perverser Infiltrationsmöglichkeiten, wie der sukzessiven Entschämung, frech-obszöner Szenen als mediengesteuerter Verhaltensmuster mit der Intention, dass sexuelles Benützen normal ist.

Gleichmacherei der Geschlechter – Rebellion gegen Gott

Eine versteckte ideologische Gehirnwäsche forciert stetig die Rebellion gegen Gottes Schöpfungsprinzip. Familien scheinen bei diesem Vorhaben zu stören, bilden sie doch Räume gesunder und lebendiger Entfaltung für die Verwirklichung echter Liebe und Geborgenheit zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen Eltern und Kindern sowie Kindern untereinander.

Sinn und Wirkkraft der intakten Familie zu deformieren, erleichtert eine als „emanzipatorisch“ deklarierte Gleichmacherei der Geschlechter für eine Libertinage sexistisch-ideologischen Denkens. Auf diese Weise wird nebenbei auch die Zerstörung des christlichen Glaubens erhofft. Man bedient sich der Abtötung des Gewissens und damit des Sündenbewusstseins. Zweifellos demaskiert sich der Böse, der schon immer versucht hat, den Menschen in seiner Hybris anzustacheln zum Ungehorsam gegen Gott. Er instrumentalisiert die Menschen mit einem falschen Freiheitswahn, um das Geschöpf in Feindschaft zu seinem Schöpfer zu bringen.

Enthemmung in der Sexualität – „Produktion“ der Kinder

Mit Entschämung, Enthemmung und Tabu-Bruch in der Sexualität geht ein soziologisch begründetes Selbstverständnis einher, dass Kinder fast immer zu „verhütende“ und zu „entsorgende“ Störfaktoren sind. Sollte es innerhalb einer von vielen Prämissen abhängig gemachten Lebensplanung zum so genannten „Wunschkind“ kommen, dann hat man „seine Ansprüche“. „Produktion“ und „Selektion“ kleinster Menschenkinder beginnen nicht selten mit rein wissenschaftlichen Techniken. Mann und Frau müssen sich nicht einmal mehr kennen, wenn man heute ein Kind „macht“. Wo ist die Liebe geblieben?

Angesichts einer zunehmend stickiger werdenden „Verwirrung in der Anthropologie“ lässt einen das Schreiben „Über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt“ mit seiner geradezu erfrischenden Klarstellung direkt aufatmen: Es rückt die Schöpfungsordnung Gottes wieder in den Mittelpunkt unseres Denkens, präzisiert sie und warnt unmissverständlich vor den verschiedenen Gesichtern heutiger Zerstörungstendenzen und Pervertierungen.

Familie: notwendige Grundausstattung für das Leben

Auf die Missachtung der Naturgesetze Gottes folgte schon immer Verderben. Sehen wir die seit geraumer Zeit sich ausbreitenden Verzerrungen des männlichen und weiblichen Selbstverständnisses an, den Lebensstil voller Verstöße gegen die sexuelle Schöpfungsordnung und die rücksichtslose Gegnerschaft von Frau und Mann beim emanzipatorischen Karrierekampf sowie die eskalierende Hysterie in der Durchsetzung eigener Ziele. Das alles geht auf Kosten von Gesundheit und Lebensglück, vor allem aber wird die Freude und Lebenskraft unserer Kinder vernichtet. Wie Blumen die Sonne, so benötigen Kinder das Aufwachsen in der „Nestwärme“ des Urvertrauens, die ihnen Liebe, Geborgenheit und existenzielle Sicherheit schenkt. Nach Gottes Schöpfungsplan soll die Familie diese Aufgabe erfüllen – sie ist das Zuhause der Herzen und die notwendige Grundausstattung für das Leben.

In unserem Lebensumfeld und in psychotherapeutischen Praxen lässt sich das bedrohliche Potential der Missachtung dieses Auftrags der Familie bereits deutlich erkennen: Immer mehr Menschen erkranken an erdrückenden Schuldkomplexen, sie leiden an Entschämung, ekelerfüllter Selbstverachtung, Verlassenheit, Depressionen, Selbstvorwürfen, schwerem Geborgenheitsverlust, zerbrochenem Vertrauen, dauerhaften Verhaltensstörungen und existenziellen Ängsten. Manche dadurch zustande gekommene Ausweglosigkeit endet in Mord, Totschlag und Suizid.

Sexuelle Befreiung: schwarze Schatten der Zerstörung

Was unter „sexueller Selbstbestimmung“ als „befreiend“ gilt und angeblich einem neuen Menschenbild entsprechen soll, sind in Wirklichkeit schwarze Schatten der Zerstörung, bittere Tränen, Demütigungen, sich ungeliebt und entwurzelt fühlen, Verlassensein, tiefe Enttäuschungen… Millionen Kinder haben schon die Folgen eines Verhaltens der älteren Generation zu tragen, die sich anmaßt, Gottes Schöpfungsordnung ignorieren und die von Gottes Liebe gewollte ergänzende Gemeinsamkeit von Mann und Frau in egozentrischer Überheblichkeit und nach eigenem Erlebensgeschmack auslegen zu können.

Nur allzu leicht lassen wir uns in ein Chaos des Gegeneinander der Geschlechter „hineinprovozieren“. Wir sollten aufwachen: Es sind biblisch wohlbekannte Anstachelungen, die dabei in Szene gesetzt werden: Stolz, Egozentrik, Macht, Neid, Ungehorsam... Eine ebenso heimtückische wie überhebliche Kampfansage an Gott eroberte bereits weite Teile des gesellschaftlichen Lebens. Die Schlange schnellt immer unverhohlener vor und weiß, dass sie vor allem die Liebe als Schutzraum der Sexualität und der Familie zerstören muss. Dort nämlich, wo eben diese Liebe glücklich machen sollte…

Appell der Kirche: Rückkehr zur Schöpfungsordnung Gottes

Nur Ignoranz kann behaupten, die Aussagen des vorliegenden Schreibens trügen zur Unterdrückung der Frau bei und missachteten ihre Würde. Nein – die eigentliche Missachtung, Unterdrückung, Entwürdigung der Frau (aber auch von Mann und Kindern) ereignet sich vielmehr bei allen Menschen dort, wo verfrühte und enthemmte Sexualität, die Degradierung des Menschen zum Objekt, die Zerstörung der psychologisch so wichtigen weiblichen und männlichen Identität Einzug hält und bereits im Kindesalter eine Schlammflut entschämender Bild-Provokationen und Nachahmungs-Verführungen zugelassen werden.

Die Kirche stellt in diesem Schreiben gesellschaftlich eingerissene Missstände richtig, warnt vor verhängnisvollen anthropologischen Irrtümern und mahnt die zeitlose Gültigkeit der von Gottes Schöpfung ausgehenden Weitorientierungen an. Das ist ihre Pflicht. Und das ist gut so.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Kongregation für die Glaubenslehre: Die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt. Die Kirche ist für eine aktive Zusammenarbeit von Mann und Frau bei voller Anerkennung ihrer Verschiedenheit. Das Dokument betont die Wichtigkeit der Bemühungen zur Förderung der Rechte, welche die Frauen in der Gesellschaft und in der Familie anstreben. Die Beziehung zwischen Mann und Frau kann ihre gerechte Ordnung nicht in einer Art misstrauischer, defensiver Gegnerschaft finden. Es ist notwendig, dass diese Beziehung im Frieden und im Glück der ungeteilten Liebe gelebt wird. A5, 40 S., ISBN 3-7171-1125-6.

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