„Die Jugend will das Große!“

Papst Benedikt XVI. ist fest entschlossen, den Weg, den sein Vorgänger mit der Jugend der Welt gegangen ist, weiterzuführen. Gleich bei seiner ersten Predigt rief er den Jugendlichen zu: „Heute möchte ich mit großem Nachdruck und großer Überzeugung aus der Erfahrung eines eigenen langen Lebens Euch, liebe junge Menschen, sagen: Habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, der erhält alles hundertfach zurück. Ja, öffnet die Türen weit für Christus – dann findet Ihr das wirkliche Leben.“ Wiederholt bekundete er seine großen Erwartungen für den bevorstehenden Weltjugendtag, zu dem er im August selbst nach Köln reisen wird.

Von Papst Benedikt XVI.

Auszug aus der Ansprache bei der Audienz für seine Landsleute aus Deutschland am 25. April 2005:

Ein Vater, der alle verband

Beim Tod des Papstes ist in aller Trauer die lebendige Kirche erschienen. Und es ist sichtbar geworden, dass die Kirche eine Kraft der Einheit, ein Zeichen für die Menschheit ist. Wenn die großen Nachrichten-Stationen 24 Stunden auf 24 Stunden über den Heimgang des Papstes, über die Trauer der Menschen, über das Wirken des großen Heimgegangenen berichteten, antworteten sie auf eine Teilnahme, die jede Erwartung überstieg. Im Papst war ihnen ein Vater sichtbar geworden, der Vertrauen und Zuversicht schenkte. Der alle irgendwie untereinander verband. Es wurde sichtbar, dass die Kirche nicht in sich verschlossen und nur für sich selber da ist, sondern dass sie ein Lichtpunkt für die Menschen ist.

Die Kirche ist jung!

Es wurde sichtbar: Die Kirche ist gar nicht alt und unbeweglich. Nein, sie ist jung. Und wenn wir auf diese Jugend schauen, die sich um den verstorbenen Papst und letztlich um Christus scharte, für den er eingestanden war, dann wurde etwas nicht minder Tröstliches sichtbar: Es ist gar nicht wahr, dass die Jugend vor allem an Konsum und an Genuss denkt. Es ist nicht wahr, dass sie materialistisch und egoistisch ist. Das Gegenteil ist wahr: Die Jugend will das Große. Sie will, dass dem Unrecht Einhalt geboten ist. Sie will, dass die Ungleichheit überwunden und allen ihr Anteil an den Gütern der Welt wird. Sie will, dass die Unterdrückten ihre Freiheit erhalten. Sie will das Große. Sie will das Gute.

Die Jugend ist ganz  offen für Christus

Und deswegen ist die Jugend – seid Ihr – auch wieder ganz offen für Christus. Christus hat uns nicht das bequeme Leben versprochen. Wer Bequemlichkeit will, der ist bei ihm allerdings an der falschen Adresse. Aber er zeigt uns den Weg zum Großen, zum Guten, zum richtigen Menschenleben. Wenn er vom Kreuz spricht, das wir auf uns nehmen sollen, ist es nicht Lust an der Quälerei oder kleinlicher Moralismus.

Es ist der Impuls der Liebe, die aufbricht aus sich selbst heraus, die nicht umschaut nach sich selber, sondern den Menschen öffnet für den Dienst an der Wahrheit, an der Gerechtigkeit, am Guten. Christus zeigt uns Gott und damit die wahre Größe des Menschen.

Auszug aus der Ansprache an die Teilnehmer der 54. Vollversammlung der italienischen Bischofskonferenz am 30. Mai 2005:

Hoffnung und Sorge der Kirche

Im August werde ich mich nach Köln zum Weltjugendtag begeben. Gerade in Bezug auf die Jugendlichen, auf ihre Formung, auf ihre Beziehung zum Herrn und zur Kirche möchte ich ein Wort anfügen. Sie sind in der Tat, wie es Johannes Paul II. immer wieder betont hat, die Hoffnung der Kirche, aber sie sind in der Welt von heute auch besonders der Gefahr ausgesetzt,  „ein Spiel der Wellen“ zu sein, „hin und her getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen“ (Eph 4,14).

Mit Geduld zum Glauben führen

Deshalb muss man ihnen helfen, im Glauben zu wachsen und zu reifen: Das ist der erste Dienst, den sie von der Kirche und vor allem von den Bischöfen und Priestern empfangen sollen. Wir wissen gut, dass viele von ihnen nicht fähig sind, mit einem Mal die ganze Lehre der Kirche anzunehmen und zu verstehen. Aber es ist äußerst wichtig, in ihnen den Wunsch zu wecken, mit der Kirche zu glauben, in ihnen das Vertrauen zu stärken, dass diese Kirche, die vom Geist beseelt und geleitet wird, wahrhaftig Subjekt des Glaubens ist und dass wir, wenn wir in sie eintreten, in die Gemeinschaft des Glaubens eintreten und an dieser Gemeinschaft teilnehmen.

Im Raum von Freundschaft und Liebe

Um dieses Ziel erreichen zu können, müssen sich die Jugendlichen von der Kirche, ganz konkret von uns Bischöfen und Priestern geliebt fühlen. So werden sie in der Kirche die Freundschaft und die Liebe finden können, die der Herr für sie empfindet. Sie werden verstehen, dass in Christus Wahrheit und Liebe zusammenfallen. Und so werden sie lernen, den Herrn zu lieben und zugleich seinem Leib, der Kirche, Vertrauen zu schenken. Dies ist heute der Hauptpunkt bei der großen Herausforderung, den Glauben an die jungen Generationen weiterzugeben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Musik-CD zum Weltjugendtag

„Wir sind gekommen, ihn anzubeten“ (Mt 2,2) ist das Motto des anstehenden Weltjugendtages. Zu diesem Motto erscheint jetzt eine Musik-CD die es in sich hat: Lieder, die ausschließlich für den Weltjugendtags-Mottolied-Wettbewerb geschrieben worden sind, wurden von der Gruppe „Totus Tuus Neuevangelisierung e.V.“ zusammengefasst.

Die Idee

Vor kurzem fiel die Entscheidung für das Weltjugendtagslied 2005. Das Weltjugendtagslied heißt „Venimus adorare eum“ und stammt von dem bekannten Liedermacher Gregor Linßen. Durch die Entscheidung für genau ein Lied konnten viele weitere Lieder, die für den im Jahre 2004 durchgeführten Mottoliedwettbewerb des Kölner Weltjugendtagsbüros eingereicht wurden, nicht berücksichtigt werden. Für viele gute Kompositionen aus der ganzen Welt war dies sehr schade, aber dadurch entstand aus einer spontanen Idee heraus das CD-Projekt „cologne 2005 – best of hymn-contest“. Der Erlös aus dem Verkauf der CD soll Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur Verfügung gestellt werden, die aus eigenen finanziellen Mitteln an Weltjugendtagen sonst nicht teilnehmen könnten. Mit dem Verkauf dieser CD möchte Totus Tuus e.V. auf keinen Fall in Konkurrenz zu dem offiziellen Mottolied des XX. Weltjugendtages treten. In Abstimmung mit dem Weltjugendtagsbüro konnte das Projekt gestartet werden.

Was ist ein „Mottolied“?

Zur Tradition der Weltjugendtage gehört ein eigenes Mottolied, das auch als Weltjugendtags-Hymne bezeichnet wird. Es ist das Lied des Weltjugendtags, in dem das Thema sich bündelt. Das Motto des XX. Weltjugendtags 2005 in Köln lautet: „Wir sind gekommen, um Ihn anzubeten“ (Mt 2,2b). Das Mottolied ist gewissermaßen eine „Visitenkarte“ des gastgebenden Landes. Zugleich bildet es den Identifikationspunkt für die Teilnehmer des Weltjugendtags, in dem es sie in gemeinsam gesungenen Vollzug miteinander verbindet.

CD-Bestellung

Die CD kostet 8,– € und Bestellungen können ab sofort auf der Homepage Cologne-2005-songs.de entgegengenommen werden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Köln wird die Welt positiv verändern

Kann man heute junge Menschen für Christus begeistern? Oder gar für die Eucharistische Anbetung? Der Kölner Kardinal sieht in den Anmeldungen zum Weltjugendtag eine deutliche Sprache, die jeden Zweifel verstummen lässt. Er hält das bevorstehende Jugendtreffen für eine einmalige Chance, Jugendliche mit Glaubensfreude anzustecken, sodass sie morgen die Welt positiv verändern. „Zum Weltjugendtag kommen junge Pilger, die Christus suchen. Manche von ihnen werden aus einer tiefen Glaubensüberzeugung heraus nach Köln kommen, andere sind auf der Suche und brauchen jemanden an ihrer Seite, der sie an die Hand nimmt und mit Jesus bekannt macht.“

Von Joachim Kardinal Meisner, Erzbischof von Köln

Hoffungsvoller Ansturm junger Pilger

Im kommenden August wird die Kölner Kathedrale einen Pilgeransturm erleben, der in der Geschichte des Gotteshauses seinesgleichen sucht. Weit über eine Million junger Menschen aus aller Welt werden den Dom in fünf Tagen durch die drei Westportale betreten, um dann im Ostchor unter dem Schrein der Heiligen Drei Könige hindurchzuziehen und damit die ersten christlichen Pilger zu verehren. Es gibt in der Tat eine große Gemeinsamkeit zwischen den drei Weisen aus dem Morgenland, die einen großen Stern aufgehen sahen, und den jungen Christen aus aller Welt, die für sechs Tage in der Erzdiözese Köln zu Gast sein werden.

Sie folgen der Einladung des Papstes

Wie die Heiligen Drei Könige dem Stern folgten und zum neugeborenen Kind in der Krippe fanden, wie sie es mit ihren Gaben in seinem Königtum, in seiner Gottheit und in seiner Menschheit verehrten und anbeteten, so folgen die Jugendlichen aus allen Ländern der Einladung des Heiligen Vaters, um Christus zu finden und ihn als ihren Herrn und Freund anzubeten.

Eucharistische Anbetung mit neuem Elan

„Wir sind gekommen, um IHN anzubeten“ lautet das Motto des XX. Weltjugendtags, das Papst Johannes Paul II. bereits vor über zwei Jahren festgelegt hat. Die Ausrufung eines „Eucharistischen Jahres“ von Oktober 2004 bis Oktober 2005 macht den Weltjugendtag zusätzlich in unserem Land zu einem integrativen Bestandteil dieses weltweiten Anliegens. An zwei Stellen seines Apostolischen Schreibens „Mane Nobiscum Domine“ erwähnte Johannes Paul II. ausdrücklich dieses Ereignis und lud die Jugend der Welt zur Anbetung des eucharistischen Herrn ein.

Dem lebendigen Christus begegnen

Meine Hoffnung besteht darin, dass die Jugendlichen in diesen intensiven Tagen der Christusbegegnung ihrer von Gott geschenkten Berufung innewerden. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es nicht wenige junge Frauen gibt, die in sich das Profil und die Berufung einer seligen Mutter Teresa tragen, und dass junge Männer nach Köln kommen werden, die in sich das Profil eines heiligen Don Bosco haben, und dass beide auf dem Weltjugendtag ihrer Berufung und Begnadigung innewerden, so dass sie übermorgen positiv die Welt verändern. Glaubenserfahrung wirkt ansteckend, und sie wird von den vielen jungen Christen aus allen Ländern auch auf unsere deutsche Jugend übergehen. Der eigentliche Grund für die Glaubensfreude ist die Begegnung mit dem lebendigen Herrn. ER ist der Gastgeber, zu dessen Opfermahl sich die Weltjugend in den Kirchen und auf den Plätzen des Erzbistums Köln versammeln wird. Hier geschieht Begegnung, die zur Gemeinschaft wird, zur Gemeinschaft der universalen Kirche mit ihrem Herrn Jesus Christus.

Erneuerung der Kirche geschieht auf den Knien

Doch die gemeinschaftliche Feier fröhlicher Gottesdienste bei Weltjugendtagen ist nicht die einzige Form der Christusbegegnung. Der gemeinsame Lobpreis und Dank in der Eucharistiefeier erfährt in der persönlichen Zwiesprache mit dem Herrn in der eucharistischen Anbetung eine Ergänzung, durch die der junge Christ und die junge Christin in den ganz intimen Christusraum treten. Hier erst findet das Motto des Weltjugendtags 2005 seine volle Erfüllung: „Wir sind gekommen, um IHN anzubeten.“ Der Beter, der sich dem im Sakrament anwesenden Herrn aussetzt, darf sich nun ganz von der Liebe Christi beschenken lassen und ihm sein Leben, seine Freuden und Sorgen, seinen Dank und seine Bitten anvertrauen. Die Erneuerung der Kirche kann nur auf den Knien geschehen.

Glaubenskraft der Gäste wird uns beschenken

Deshalb ist es ein providentielles Zeichen, wenn sich im August Tausende junger Menschen auf den Weg machen, um bei uns Jesus Christus zu treffen. „Bei uns“ ist dabei ganz wörtlich zu nehmen. Wir Deutsche als Gastgeber sollten wirklich „christophoroi – Christusträger“ sein, die ihren Glauben im Herzen und auf der Zunge tragen und die gleichzeitig bereit und offen dafür sind, sich von der Glaubenskraft ihrer Gäste beschenken zu lassen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Wunschreligion“ für die tiefste Sehnsucht des Menschen

Einen „ganz anderen Weg“ nennt Weihbischof Dr. Andreas Laun seine Betrachtung über unseren katholischen Glauben. Auf eindrucksvolle Weise arbeitet er heraus, dass jeder Mensch das Christentum als seine „Wunschreligion“ entdecken könnte, würde er die verschiedenen Religionen ehrlich miteinander vergleichen und – natürlich – dabei den christlichen Glauben kennenlernen, wie er tatsächlich ist. Er müsste ausrufen: „Hoffentlich habt ihr Recht! Welches Glück für uns Menschen, wenn Gott wirklich so wäre, wie ihr ihn verkündet!“ Weihbischof Laun möchte nicht in erster Linie Religionen nebeneinander stellen, sondern Impulse zur Neuevangelisierung geben. Ein wunderbarer Beitrag besonders zu den Appellen rund um den bevorstehenden Weltjugendtag.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Welche Religion ist die „Wahre“?

Es ist schon lange nicht mehr üblich, über die Wahrheit der einen oder anderen Religion zu streiten. Daher ist es auch nicht nötig, über Lessings Ring-Parabel zu reden, gemäß derer die wahre Religion unerkennbar sei wie ein echter Ring neben gut gemachten Duplikaten. Dasselbe gilt für jenen Agnostizismus, der die behauptete Nicht-Erkennbarkeit Gottes mit dem Scheitern von Blinden vergleicht, die einen Elefanten durch Abtasten erkennen wollen: Unvermeidlich kommen sie zu verschiedenen Ergebnissen, weil der einzelne Blinde immer nur einen Teil ertasten kann und dann das Tier je anders beschreibt: als Schlauch, als Säule, als spitzen Balken – je nachdem, ob er den Rüssel, ein Bein oder einen der Stoßzähne in Händen hielt. Welche Religion ist die „Wahre“? Dieser Frage gegenüber sind die meisten Menschen heute Agnostiker. Denjenigen, der eine Antwort zu wissen glaubt, hält man für naiv oder anmaßend oder für beides.

Vorauseilende Bewunderung anderer Religionen

Statt einer – vorhersehbar ergebnislosen – Diskussion über eine solche Frage ergeht man sich heute in Ehrerbietung gegenüber „den anderen Religionen“. Dabei muss man diese nicht einmal kennen, es genügt, sich interessiert zu geben und in vorauseilender Bewunderung ihre Vorzüge zu behaupten. Zur korrekten Haltung gehört es, nur Gutes über sie zu sagen und kritische Fragen oder Einwände als Zeichen mangelnder Toleranz abzulehnen – und als „Lieblosigkeit“ natürlich. Die weise Unterscheidung zwischen der Religion als solcher und ihren Anhängern spielt dabei fast keine Rolle. Bei nicht wenigen Christen kommt dazu, dass sie nicht nur die „anderen Religionen“ gerne rühmen, sondern, um deren Glanz zu erhöhen, ihre eigene bereitwillig abwerten. Gerne weisen sie in Eigeninitiative auf die Fehler früherer Christen-Generationen hin und halten das alles auch noch für „Demut“. Dies sei, so sagen sie, eine Frage von Wahrhaftigkeit. Ein Dokument wie „Dominus Jesus“ kann in einer solchen Atmosphäre nur als peinlicher Ausrutscher gesehen werden – ein weiterer Grund, sich bei den anderen zu entschuldigen.

Sachlichkeit wie bei einer Kaufentscheidung

Ich möchte einen ganz anderen Weg gehen und stelle mir nicht einmal Vertreter anderer Religionen vor, sondern wahllos eine Gruppe von Menschen, mit oder ohne religiösen Glauben, mit denen ich auf der Grundlage natürlicher Empfindungen über Religion reden könnte wie ein Touristenmanager, der über verschiedene Urlaubsorte referiert und vergleichend das jeweilige Klima, die Qualität der Unterbringung, des Essens und der Freizeitangebote erläutert. Oder auch: Es müsste sein wie beim Aussuchen eines Autos, dessen Vorzüge, Ausstattung und Schwachpunkte man in Hinblick auf eine Kaufentscheidung überlegt. Dabei träume ich von der Sachlichkeit, wie sie zwischen Kunden und Geschäftsleuten üblich ist. In diesem Sinne, wünsche ich mir, könnte man auch über Religion sprechen. Die Vertreter verschiedener Glaubensbekenntnisse sollten über ihren Gott und ihre Religion sprechen und die Veranstaltung sollte in der Frage gipfeln: Welche Religion würden wir uns wünschen, wenn wir wählen könnten? Welche wäre uns die liebste, unabhängig davon, ob sie die Wahre ist oder nicht?

Frage nach dem tiefsten Geheimnis unserer Existenz

Ich höre den Einwand: Ist es nicht leichtfertig, so „undifferenziert“ von „den Religionen“ zu sprechen? Als Grundlage für eine Studie in vergleichender Religionswissenschaft wäre der Vorwurf berechtigt, für den hier verfolgten Zweck genügt die Fragestellung. Ich berufe mich auf die indirekte Religions-Definition, die das Zweite Vatikanische Konzil (NA 1) gegeben hat: Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?

Was bietet die katholische Kirche ihren „Kunden“?

Mit diesen Fragen geben uns die Konzilsväter eine Möglichkeit, die Religionen wie mit einem Punktesystem vergleichbar zu machen. Nun will ich nicht versuchen, diese Fragen an irgendwie ausgewählte Religionen zu richten und an Stelle ihrer eigenen, authentischen Vertreter zu beantworten. Das ginge wohl leicht daneben! Einfacher und dennoch zielführend ist es, in großen Zügen zu sagen, was die katholische Kirche – und mit ihr auch andere christliche Kirchen und Gemeinschaften – „anzubieten“ hat – womit sie ihre „Kunden“ motivieren könnte, bei ihr zu „buchen“:

1. Die Schöpfung: Liebe und Treue eines Vaters

Gott schuf die Welt. Aus großer, zärtlicher, väterlicher Liebe, sagt der christliche Glaube. Obwohl es gleich am Anfang, vom Menschen ausgehend, zu einer schweren Beziehungsstörung kam („Sündenfall“ genannt), hörte Gott nicht auf, sein ihm so teueres Geschöpf Mensch mit seiner liebenden Vorsehung zu begleiten. Schon früh begann er damit, trotz aller sich wiederholenden Treulosigkeiten von Seiten der Menschen mit eben diesen Treulosen einen Bund zu schließen. War schon die Schöpfung selbst eine Art Bund, so knüpfte Gott dieses Band im Lauf der Geschichte doch immer deutlicher und inniger. Seinem ersten Bund nach dem Strafgericht der Sintflut gab Gott das so liebenswürdige Zeichen des Regenbogens mit.

2. Nicht Zuschauer: Gott kommt zu uns

Später wählte sich Gott „sein“ Volk „zum Eigentum“ und zeigte sich ihm gegenüber als „Derjenige, der bei euch ist“ („Jahwe“). Und das meinte Er ganz im Ernst: Er blieb bei Seinem Volk. Konkret hieß das: Er befreite es aus dem „Sklavenhaus“ in Ägypten und begleitete es auf seiner Flucht durch die Wüste. Schon damals zeigte sich ein überraschender, ganz und gar unerwarteter „Charakterzug“ dieses Gottes, an den wir Christen zusammen mit den Juden glauben: Er wollte und will nicht Zuschauer „vom Himmel herab“ sein, sondern er will auf die Bühne der menschlichen Geschichte herunter kommen und, sozusagen, „mitspielen“. Aber eben nicht „spielen“, sondern mitleben mit seinen geliebten Menschen, und zwar zu ihrem Heil! Also gerade nicht wie mythische Götterfiguren, die auf Erden Ehebruch treiben oder parteiisch in irgendwelchen Schlachten mitmischen, wie man das etwa bei Homer nachlesen kann! Nicht so und nicht so lächerlich! Nein, unser Gott bleibt der Heilige Israels, er ist unser „Herr und Meister“, er lässt sich nicht demokratisch abwählen und ist nicht der „Kollege“ von nebenan.

3. Gottes Bund mit seinem Volk

Es war dann am Berg Sinai. Gott rief seinen Propheten Mose zu sich und übergab ihm die Tafeln des Gesetzes als Grundlage jenes besonderen Bundes, den er mit seinem Volk schließen wollte: „Heute, an diesem Tag, verpflichtet dich der Herr, dein Gott, diese Gesetze und die Rechtsvorschriften zu halten. Du sollst auf sie achten und sie halten mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Heute hast du der Erklärung des Herrn zugestimmt. Er hat dir erklärt: Er will dein Gott werden, und du sollst auf seinen Wegen gehen, auf seine Gesetze, Gebote und Rechtsvorschriften achten und auf seine Stimme hören. Und der Herr hat heute deiner Erklärung zugestimmt. Du hast ihm erklärt: Du möchtest das Volk werden, das ihm persönlich gehört, wie er es dir zugesagt hat. Du willst auf alle seine Gebote achten; er soll dich über alle Völker, die er geschaffen hat, erheben – zum Lob, zum Ruhm, zur Zierde –; und du möchtest ein Volk werden, das ihm, dem Herrn, deinem Gott, heilig ist, wie er es zugesagt hat“ (Deut 26,16-19).

4. Vergebung: Sehnsucht eines Bräutigams

Nach diesem Bund sehnte sich Gott, wie der Bräutigam sich sehnt nach dem Tag der Hochzeit. Aber – Mose war noch nicht am Fuß des Berges angekommen, da hatte das Volk seinen Gott schon wieder verraten! Und Gott? Er strafte sein Volk, aber am Bund hielt er fest. Und so ging es weiter und weiter: Das Volk schwankte, immer wieder benahm es sich wie eine „Dirne“ (sagen die Propheten). Liest man die Anklagerede des Propheten Ezechiel, es könnte einem den Magen umdrehen bei so viel Gemeinheit. Aber was macht Gott? Er tut, was er schon so oft getan hat. Seine lange Anklage des Volkes endet nicht mit einem vernichtenden Strafgericht, sondern: „Ich selbst gehe einen Bund mit dir ein, damit du erkennst, dass ich der Herr bin. Dann sollst du dich erinnern, sollst dich schämen und vor Scham nicht mehr wagen, den Mund zu öffnen, weil ich dir alles vergebe, was du getan hast – Spruch Gottes, des Herrn“ (Ez 62-63).

5. Gott wird Mensch: Hingabe an alle Völker

Man könnte meinen, Gott hätte irgendwann genug haben müssen von diesem seinem treulosen Volk und er würde sich aus der Geschichte der Welt wieder zurückziehen. Im Gegenteil, Gott machte einen Schritt, der die kühnsten Erwartungen übertraf: Er sandte seinen Sohn, sein Sohn wurde Mensch, wohnte unter den Menschen und es bereitete ihm sogar Freude, bei den Menschen zu sein! Nahmen sie ihn freudig auf? Mitnichten, nein, das schon wieder nicht, denn sie liebten die Finsternis ihrer Sünden mehr als das Licht. Und Gottes Sohn? Er ging unbeirrt, den Blick des Herzens auf das Heil der Menschen gerichtet, seinen Weg durch sein irdisches Leben und „vollbrachte“, was ihm sein Vater aufgetragen hatte: Der Mensch gewordene Gott ließ sich quälen und hinrichten am Kreuz. Mit einem seiner letzten Worte unmittelbar vor seinem Tod sagte er: Es ist „vollbracht“. „Vollbracht“ – ja, aber was vollbracht? Der Schlüssel zum Verstehen des Unverstehbaren liegt weit zurück in der Geschichte. Wieder stößt man auf den „Bund“: Jesus stiftete in seinem Blut den „neuen Bund“. Damit schaffte er den alten Bund nicht ab, wohl aber vollendete er ihn und dehnte ihn zugleich über die Grenzen der ersten Liebe Gottes – der Liebe zum jüdischen Volk – aus auf alle Völker und Menschen: Jetzt sollten alle, wirklich alle Zugang haben zum Vater, im „Geist und in der Wahrheit“, ohne irgendwelche räumliche oder nationale Begrenzungen.

6. Der Auferstandene: Gott gibt sich zur „Speise“

Wie die Geschichte beweist, das neue Volk war, was die Treue betrifft, nicht wirklich besser als das alte. Gott hingegen blieb, was er immer war: treu seinem Plan, treu seinem Volk, treu seiner Liebe. Der Sohn Gottes starb. Aber dann erschien er den Seinen als lebendig: Der Jubelruf „Er ist auferstanden!“ ging durch die Reihen seiner zunächst ebenso ungläubigen wie deprimierten Anhänger. Und doch, es erwies sich als wahr, er lebte wieder. Allerdings, man hätte meinen können, jetzt sei die Geschichte Gottes auf Erden zu Ende, denn Jesus kehrte in den Himmel zurück. Alles vorbei und aus? Weit gefehlt, durch „seine“ Kirche, sein Volk, sichtbar strukturiert in dieser Welt, schaffte sich Gott eine geheimnisvolle, bleibende Gegenwart unter den Menschen, eine, die bis ans Ende irdischer Zeiten bleiben wird. Kein Hitler, kein Stalin, kein anderer „Fürst dieser Welt“ wird sie auslöschen können. Denn der Mensch gewordene Gott, der Sohn Gottes, bildet mit seinem neuen Volk, der Kirche, eine Einheit, die mit der Einheit eines Lebewesens in seinem Leib zu vergleichen ist: Er das Haupt, die Menschen sein „Leib“. Nur ein Bild? Viel mehr! Durch Umformung des alten jüdischen Paschafestes schuf sich Jesus eine einzigartige, von keinem Menschen „erfindbare“ Gegenwart: Er selbst gibt sich zur „Speise“ den Seinen, und diese Speise wird nicht verdaut zu Gunsten des Essenden, sondern umgekehrt, sie ist es, die verwandelt, und zwar den, der sie genießt – Wunder über Wunder.

7. Gott stellt seine Kirche auf felsenfesten Grund

In dieser Lebensgemeinschaft mit seinen Menschen bleibt Gott in alle Ewigkeit. Während ihres irdischen Lebens „besorgt“ er alle Hilfen, deren die Menschen bedürfen: Er „baut“ mitten in seiner Kirche sieben Kraftquellen (die Sakramente) – wie Brunnenhäuser in der Wüste – für alle wichtigen Abschnitte des Lebens. Fürsorglich weist er jedem Menschen einen besonderen Engel zu als Helfer und Beschützer, buchstäblich einen „Freund fürs Leben“, unsichtbar zwar, aber mächtig. Zu seinen wichtigsten und erstaunlichsten Gaben gehört seine Gabe an die Kirche, die Wahrheit über Gott, über den Menschen und über den Weg zu Gott mit Sicherheit zu erkennen – mit einer unzerstörbaren, „felsenfesten“ Gewissheit, an der sich die Lügen und Irrtümer der raffiniertesten Ideologien immer noch die Zähne ausgebissen haben.

8. Ewiges Hochzeitsmahl – endgültige Gerechtigkeit

Und dann? Dann kommt die Vollendung: Am Ende unseres Lebens erwartet uns Gott. Ist das die Zeit des Gerichtes? Ja, er stellt die Gerechtigkeit – endlich!  – her. Aber man darf hinzufügen: Er, der die Menschen richten wird, tut vorher alles Erdenkliche, um die, die er richten wird, „durchzubringen“, und sei es in der letzten Sekunde des Lebens. Der spätere Richter der Menschen ist zugleich ihr glühendster Verteidiger. Was erwartet diejenigen, die an ihn geglaubt oder sich in letzter Sekunde – wie der rechte Schächer am Kreuz – bekehrt haben? Gott brennt darauf, ihnen zu sagen: „Kommt, ihr Gesegneten, nehmt das Reich in Besitz...“ Er hat das „Hochzeitsmahl“ bereitet und wartet voll Sehnsucht auf seine Gäste. Nicht, um sie kurz zu bewirten und dann zu verabschieden, sondern um sie ewig, wirklich für immer, bei sich zu haben – uns kleine Menschen bei ihm, dem allmächtigen, ewigen Gott!

„Hoffentlich habt ihr Recht: Ein unvergleichbarer Gott!“

So ist unser Gott, der Gott der Juden und der Gott der Christen, der zugleich immer schon der Gott aller Menschen war. Wenn es mir gelänge, meinen Gott und das, was er getan hat und tut, wahrheitsgemäß und mit leidenschaftlicher, begeisterter Liebe darzustellen, dann könnte es keine Diskussion geben, wer nun wirklich die „beste“ Religion sei. Dann hätten alle Zuhörer feuchte Augen und würden mit tiefster Überzeugung sagen: „Liebe Christen, wie schön wäre es, wenn ihr Recht hättet, mein Gott, wie schön wäre das! Denn was Ihr über ihn erzählt, stellt alles, was wir geglaubt haben, bei weitem, unvergleichbar, in den Schatten! Hoffentlich habt ihr Recht!“

Aber halt, müssen sich dann die Menschen mit den anderen Religionen nicht unendlich gedemütigt fühlen? Überhaupt nicht, und zwar aus drei Gründen: Erstens, weil aus all dem Gesagten klar hervorgeht, dass alles Gabe Gottes ist. Wenn Christen (und Juden) von „ihrem“ Gott reden, beschämen sie sich mit jedem Wort auch selbst, weil ihre ständige Untreue der dunkle Hintergrund der Liebe Gottes ist. Die anderen können mit Recht sagen: Ihr kanntet diesen Gott und dennoch habt ihr ihm nicht die Treue gehalten? Zweites haben die Christen ihre Erkenntnis nicht durch „Fleisch und Blut“ ihrer Intelligenz gewonnen, sondern es ist der Vater, der es ihnen geoffenbart hat. Und drittens anerkennen Christen voll und ganz das Wahre, das die anderen entdeckt haben, ohne jeden Dünkel, weil es lächerlich wäre zu behaupten, „wir Christen wären ohne Offenbarung weitergekommen als ihr.“ So schauen sie auf die anderen Religionen mit dem brüderlichen Blick der Liebe: „Von den ältesten Zeiten bis zu unseren Tagen findet sich bei den verschiedenen Völkern eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Macht, die dem Lauf der Welt und den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist, und nicht selten findet sich auch die Anerkenntnis einer höchsten Gottheit oder sogar eines Vaters. Diese Wahrnehmung und Anerkenntnis durchtränkt ihr Leben mit einem tiefen religiösen Sinn. Im Zusammenhang mit dem Fortschreiten der Kultur suchen die Religionen mit genaueren Begriffen und in einer mehr durchgebildeten Sprache Antwort auf die gleichen Fragen“ (so das Konzil in NA 2).

„Hättet ihr doch Recht, ihr Christen!“ So würden die anderen seufzen! Wenn ich sie dann einlüde zu einem Gespräch darüber, ob die Wunschreligion aller Menschen auch die wahre Religion sei, gäbe es keinen Widerstand mehr. Dann würden nämlich alle mit Eifer suchen nach Gründen, nicht, um Abstand halten zu können, sondern im Gegenteil, sie würden suchen, um glauben zu können, sie wären glücklich, katholisch werden zu dürfen, und sie würden sich dabei an das unscheinbarste Argument „Pro-Kirche“ klammern in der Hoffnung, dass sie glauben können an Jesus Christus und seine Kirche – als den Zugang zum Vater aller Menschen im Himmel.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Ja zur EU-Verfassung mit Gottesbezug

Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick hat zum Ergebnis der Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden über den Europäischen Verfassungsentwurf eine klare Stellungnahme abgegeben. Nach seiner Ansicht fordern die Neins zur EU-Verfassung ein neues Nachdenken über die geistigen Grundlagen des vereinten Europas und bieten auch die Chance, den Gottesbezug doch noch in die EU-Verfassung aufzunehmen.

Von Erzbischof Ludwig Schick, Bamberg

Die Welt braucht ein vereintes Europa

Europa muss vorankommen. Ein starkes vereintes Europa ist für die Zukunft der Europäer, aber auch für die weltweite Völker- und Staatengemeinschaft notwendig. Die europäischen Staaten sollen sich vor allem zum Zweck des Gemeinwohls aller ihrer Bürgerinnen und Bürger in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zusammenschließen. Gleichzeitig darf das vereinte Europa kein egoistischer Selbstzweck für die Europäer sein, sondern muss eine Quelle der Versöhnung, der Einheit und des Wohlergehens für alle Völker und Nationen auf der ganzen Welt werden.

Ohne religiöse Wurzeln zum Scheitern verurteilt

Damit Europa das sein kann, muss es seinen religiösen Wurzeln treu bleiben. Der jüdisch-christliche Gottesglaube stand an der Wiege aller europäischen Staaten und hat sie geprägt. Er muss erhalten und gefördert werden. Die Europäische Union darf keine reine Wirtschafts- und Finanz-Union sein. Sie braucht eine Verfassung, die der Geschichte seiner Staaten gerecht wird und so der Zukunft dienen kann. Dazu gehört der Bezug zu Gott, der in der Europäischen Verfassung verankert werden muss.

„Räuberbande“ oder Völkergemeinschaft

Gerade die Regierungen der Staaten, deren Bürgerinnen und Bürger jetzt die EU-Verfassung ablehnten, wie Frankreich und Niederlande, haben Nein zum Gottesbezug in der Europäischen Verfassung gesagt. Das muss die Politiker über den Gottesbezug in der Europäischen Verfassung und über Gott in Europa neu nachdenken lassen.

In diesem Zusammenhang verweise ich auf das Buch „Werte in Zeiten des Umbruchs“ von Papst Benedikt XVI., in dem er schreibt, dass der Staat „ein Mindestmaß an Wahrheit, an Erkenntnis des Guten, die nicht manipulierbar ist“, braucht. „Andernfalls wird er, wie Augustinus sagt, auf die Stufe einer gut funktionierenden Räuberbande herabsinken“. Der Gott der Bibel garantiert Wahrheit und Erkenntnis des Guten. Die Neins zur EU-Verfassung fordern eine Revision des Neins zum Gottesbezug in der EU-Verfassung. Europa ohne Bezug zum jüdisch-christlichen Gottesglauben ist ohne Wurzeln und deshalb nicht lebensfähig.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Eine Verfassung ohne Segen

Auszug aus einem Kommentar von Dr. Uwe Siemon-Netto, einem Theologen und Journalisten aus Washington, der z. Zt. in Frankreich tätig ist:

Frankreich bestand bei der EU-Verfassung darauf, dass Gott nicht erwähnt wird, und ausgerechnet dieses Land beschert uns allen nun ein „Nein“, das viele Christen genau deshalb wollten. Man muss einen ausgeprägten Sinn für Ironie haben, um die Kunde aus Frankreich voll auskosten zu können: Ausgerechnet die Bürger dieses Landes, dessen Machthaber ganz Europa eine gottlose Verfassung aufzwingen wollen, verwarfen nun dieses Dokument.

Gleich, wer aus welchen Gründen wie stimmte, so wurde am Sonntag doch deutlich, dass kein Segen auf dieser Verfassung liegt. Wie auch, da die Väter dieser Charta nicht einmal die Größe besitzen, sich vor den christlichen Wurzeln unserer gemeinsamen Zivilisation zu verneigen, geschweige denn auf Gott zu verweisen, wie dies das deutsche Grundgesetz tut.

Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Die Befreiung des Menschen (von Gott) als absolutes Ideal führt zur Selbstzerstörung des Menschen.“ Wir Christen können gleichwohl dem törichten Treiben unserer Widersacher gelassen zusehen. Während die Heiden toben, erweisen sich diese Worte aus dem Psalter als wunderbar zeitgemäß: „Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer“ (Psalm 2,4). In meinem schlichten Glauben halte ich das Wahlergebnis in Frankreich für eine wohlverdiente Ohrfeige von oben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Neuevangelisierung in der Kraft des Heiligen Geistes

Dr. Hansmartin Lochner verschließt nicht die Augen vor der Krise der Kirche, die uns immer brennender berührt. Während Seelsorger angesichts ihrer leeren Gotteshäuser den Mut verlieren und die Verantwortlichen über Verkauf oder Abriss diskutieren, blickt Dr. Lochner voller Zuversicht auf die positiven Aufbrüche der Neuevangelisierung. Wo echte Bekehrungen stattfinden und sich Menschen in großer Zahl angezogen fühlen, ob in neuen geistlichen Bewegungen oder durch katholische Medien, überall ist ein gemeinsamer Kern zu beobachten: die gläubige Offenheit für den Heiligen Geist und das Wirken seiner Gaben. Mit seinem feurigen Plädoyer verbindet Dr. Lochner die Hoffnung auf eine neue Blüte des katholischen Glaubens in Deutschland.

Von Hansmartin Lochner

Ratlosigkeit in Deutschland

Wiederholt und mit großem Nachdruck ging der verstorbene Papst Johannes Paul II. auf das Thema „Neuevangelisierung“ ein. Die deutsche Bischofskonferenz hat dazu zwei Papiere herausgegeben: „Zeit der Aussaat“ und den Hirtenbrief zum Missionssonntag 2004. Doch davon abgesehen sieht es so aus, als wisse man in Deutschland mit diesem Thema nicht viel anzufangen bzw. als sehe man keinen konkreten Weg, wie man hier tätig werden könne. Dabei wäre eine Neuevangelisation gerade in Deutschland heute dringend erforderlich. Papst Benedikt XVI. hat kürzlich selbst darauf hingewiesen, dass schon über die Hälfte der Deutschen nicht mehr getauft ist. Besonders die neuen Länder sind stark entchristlicht. Und auch im Westen erleben wir schon jahrelang einen Auszug aus der Kirche. Dieser macht sich inzwischen bekanntlich auch finanziell bemerkbar. Schlimmer aber ist, dass die jahrhundertelange Glaubensweitergabe von einer Generation zur anderen inzwischen nach Null tendiert. Die leeren Kinderbänke in den Kirchen und die weithin fehlenden jungen Familien sprechen eine deutliche Sprache. Neuerdings überlegt man ja schon, was man mit den nicht mehr benötigten Gotteshäusern anfangen soll – ob man sie besser verkauft oder abreißt.

Aufbruch in den USA und in Indien

Wie viel anders sieht es dagegen in den  meisten außereuropäischen Ländern aus! In den USA gibt es zwar auch schrumpfende Gemeinden. Aber das Erwachsenen-Katechumenat ist dort flächendeckend ausgebaut, so dass jährlich Tausende von Erwachsenen getauft werden. Auch in der Dritten Welt wachsen die Gemeinden ständig. In Indien etwa werden in vielen Bildungshäusern laufend einwöchige Exerzitien abgehalten. An ihnen nehmen auch viele Hindus, Mohammedaner und Buddhisten teil. Die „kleinen“ Häuser haben jeweils bis zu 1000 Teilnehmer, das größte in Poona bis zu 20.000. Manche der Patres, die dort wirken, sind inzwischen auch zu uns nach Deutschland gekommen, um ähnliche Exerzitien zu geben. Da sie stark von der charismatischen Erneuerung geprägt sind und es bei diesen Treffen auch oft zu Heilungen kommt, ist die Anziehungskraft dieser Veranstaltungen groß. Gerade bei den von den Patres gründlich vorbereiteten Beichten kommt es immer wieder zu tiefgreifenden Bekehrungen von Menschen, die Jahre lang keine Kirche mehr von innen gesehen haben.

Erfolg der bibeltreuen Freikirchen

Ähnliches ist bei vielen in Deutschland tätigen pfingstlerischen Freikirchen zu beobachten. Sie sind ausgesprochen bibeltreu. Weil sie sich von den Tendenzen einer übertriebenen historisch-kritischen Exegese fernhalten, ist ihr Glaube an das Wirken des Hl. Geistes auch in unserer Zeit ungebrochen. Und obwohl sie sich in sexualethischen Fragen streng an die Bibel halten, haben sie gerade unter jungen Menschen starken Zulauf.

Eine ähnliche Wirksamkeit entfalten derartige Gruppen auch in Süd- und Mittelamerika. Da viele Katholiken dort nicht wirklich bekehrt sind, sondern oft nur äußerlich und gewohnheitsmäßig der Kirche angehören, gewinnen diese stark charismatisch-freikirchlich geprägten Gruppen viele Menschen. Man rechnet damit, dass in manchen Ländern schon die Hälfte aller Bewohner nicht mehr katholisch ist. Wie anders könnte diese Situation sein, wenn z.B. die Kirche in Brasilien oder in Guatemala sich frühzeitig auf die Kraft des Hl. Geistes besonnen hätte, so wie es etwa in Indien heute der Fall ist.

Evangelisierung „mit der Kraft aus der Höhe“

Wenn man aus diesen Beobachtungen einen Schluss ziehen will, so muss man sagen: Entscheidend für eine erfolgreiche missionarische Tätigkeit ist, dass sie in der Kraft des Hl. Geistes geschieht. Das geht schon eindeutig aus der Hl. Schrift hervor. So erteilt Jesus den Aposteln zwar nach der Auferstehung den Missionsbefehl, sagt aber ausdrücklich: „Bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet!“ (Lk 24,49) Erst mit der Geistausgießung an Pfingsten erhalten die Jünger jene Zurüstung, mit der sie erfolgreich an die Mission herangehen können. Zuvor hatte ihnen der Herr bereits den Auftrag gegeben: „Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“ (Mt 10,8) Ähnlich heißt es auch im 16. Kapitel des Markusevangeliums von den gläubig gewordenen Christen: „In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden… und Kranken, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden“ (Mk 16,17 f.). Wenig später berichtet Markus: „Sie aber zogen aus und predigten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte die Verkündigung durch Zeichen, die er geschehen ließ“ (Mk 16,20). Mit anderen Worten: Ihre vom Geist erfüllte Predigt wurde durch geistgewirkte Zeichen und Wunder bestätigt – genau so, wie es seinerzeit bei der Verkündigung Jesu nach seiner Taufe im Jordan geschehen ist. Später bestätigt die Apostelgeschichte, dass der Herr in der Kraft des Geistes mit den Aposteln war, sie lenkte und leitete, so dass die Gemeinden immer stärker wuchsen.

„Historisch-kritische Hürde“ für das Übernatürliche

Wenn man sich nun fragt, warum Gleiches nicht heute bei uns passiert, so kann man wohl mit Fug und Recht sagen: Wir haben heute in Deutschland weithin auf den Heiligen Geist vergessen. Das zeigt sich z.B. schon bei der Art, wie die Apostelgeschichte heute ausgelegt wird. Man sagt da etwa: „Lukas zeichnet hier ein Idealbild von Kirche. In Wirklichkeit hat es sich seinerzeit nicht so zugetragen, wie es hier geschildert wird. Oder wer sieht heute etwa bei uns, dass Lahme gehen, Blinden die Augen aufgetan werden oder Tauben die Ohren. Was wir heute nicht erleben, kann auch früher so nicht stattgefunden haben.“

Interessant ist in dieser Hinsicht eine Beobachtung: Vor einigen Jahren besuchte Pater Tardif Deutschland. Bei seinen Predigten kamen gehäuft ähnliche „Zeichen und Wunder“ vor wie in der Apostelgeschichte. In manchen Gegenden Deutschlands wurde er aber keineswegs freundlich aufgenommen. Vielmehr hieß es: „So etwas passt nicht zu uns. Der darf nicht wieder zu uns kommen.“ Mancherorts wurde sein Auftreten auch von vornherein abgelehnt.

Mir scheint, dass wir in Deutschland mit dem Hl. Geist, mit seinem Wirken und seinen Geistesgaben nicht viel anfangen können. Beeinflusst von der historisch-kritischen Exegese, z.B. von Bultmann und seinen Nachfolgern, ist die ganze Welt des Übernatürlichen weitgehend aus unserem Bewusstsein geschwunden. In den Predigten hören die Gläubigen stattdessen, dass die Wunder, wie sie in den Evangelien stehen, so nicht geschehen sein können bzw. dass sie nur symbolisch verstanden werden können dürfen. Alles Derartige, was die Evangelien berichten, einschließlich der Jungfrauengeburt, der Auferstehung, der Geistausgießung an Pfingsten und der Menschwerdung Gottes sei nicht wörtlich zu verstehen, sondern nur in einem „gleichnishaften“, „übertragenen“ Sinn. Was dann an kirchlichem Leben noch übrig bleibt, ist letztlich menschliches, sicher oft auch karitatives Tun, zweifellos gut gemeint, aber nicht mehr eindeutig aus jener göttlichen Quelle gespeist, die hinter allem christlichen Wirken stehen sollte.

Anzeichen für die „Geistvergessenheit“

Die für unsere Zeit typische „Geistvergessenheit“ zeigt sich auf vielfache Weise: So ist z.B. kaum noch von der „Inspiration“ der Hl. Schrift die Rede. Weiterhin betrachten viele die Kirche und ihr Tun als reines „Menschenwerk“, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Sie wissen nichts mehr davon, dass der Hl. Geist die Kirche geleitet hat und nur er sie leiten kann. Deshalb erheben sich auch immer wieder die vielen, vom Zeitgeist beeinflussten Änderungswünsche, wie sie etwa vor dem jüngsten Konklave in vielen Medien geäußert wurden.

Ferner ist das Thema „Heiligkeit“ und „Heiligung“ weitgehend aus dem Bewusstsein entschwunden, ja selbst bei der Priesterausbildung scheint es kaum noch eine Rolle zu spielen. Damit hängt auch zusammen, dass das Thema „Sünde“ kaum noch erörtert wird und die Beichte weitgehend dem Vergessen anheimgefallen ist.

Das deutlichste Anzeichen für die heutige „Geistvergessenheit“ aber dürfte die mangelnde Einheit im Glauben sein, die man heute leider auch bei uns beobachten kann. So weit ich mich erinnere, hat Papst Benedikt XVI. selbst davon gesprochen, dass die katholische Kirche in Deutschland heute praktisch gespalten ist.

Wie können wir den Heiligen Geist erfahren?

Was also kann und muss geschehen, damit eine „Neuevangelisation in der Kraft des Heiligen Geistes“ auch in Deutschland wieder möglich wird? Es braucht zunächst so etwas wie eine Wiederentdeckung des Hl. Geistes als einer tatsächlich erfahrbaren Wirklichkeit. Wenn der Hl. Geist nicht erfahrbar wäre, dann hätte Paulus die Johannesjünger in Ephesus (Apg 19,2) nicht fragen können, ob sie denn den Hl. Geist empfangen hätten, als sie gläubig wurden. Und auch Petrus hätte nach der Geistausgießung im Haus des Hauptmanns Cornelius nicht feststellen können, dass die unbeschnittenen Heiden genauso überraschend den Hl. Geist empfangen haben wie die Jünger am Anfang, also an Pfingsten (Apg 10,45; 11,15 und 15,8). Und noch etwas wird an diesen Stellen deutlich: Wo der Hl. Geist neu erfahren wird, werden auch jene Charismen sichtbar, über die Paulus im 1. Korintherbrief (1 Kor 12,8–10 und Kap. 14) spricht und die in der katholischen Kirche Deutschlands gegenwärtig leider kaum Beachtung finden.

1. Beseitigung der Hindernisse

Wenn man nun fragt: Wie kann ich hier und heute diese erneute Hinwendung zum Hl. Geist vollziehen, so ist als erstes auf die radikale Umkehr zu verweisen, zu der auch Jesus am Beginn seiner Verkündigung aufruft. Es ist also nötig, sich in einer gründlich vorbereiteten Beichte von aller Sünde und allem Bösen eindeutig abzuwenden. Hindernisse für den Hl. Geist sind außer den Sünden und sündhaften Gewohnheiten besonders alles Nicht-Vergeben, ferner alle Bindungen und Praktiken im Bereich des Okkulten, des Aberglaubens und des Esoterischen.

2. Bewusste Lebensübergabe

Ein zweiter Schritt ist, dass ich Gott mein Leben von neuem übereigne: Gott soll an erster Stelle in meinem Leben stehen. Nicht mein Wille, sondern der seine soll geschehen. Man kann dies auch als eine bewusste Tauferneuerung verstehen: der alte Mensch soll sterben, damit der neue Mensch „von oben“ her wiedergeboren werden kann. Hilfreich mag hier auch sein, dass andere einem die Hände auflegen und um eine erneute Geisterfüllung beten.

3. Lobpreis Gottes aus Freude an der Berufung

Ein Zeichen dieses neuen Lebens im Hl. Geist ist häufig eine neue Freude am Glauben, eine neue Liebe zum (Lobpreis-) Gebet und ebenso zur Hl. Schrift, die jetzt in der Regel tiefer und besser verstanden wird. Oft stellt sich auch die Erfahrung ein, von Gott geführt zu werden, was ja im Zusammenhang mit der Gabe der Unterscheidung der Geister steht. Gerade für Priester ist diese lebendige Erfahrung des Hl. Geistes heute ganz besonders wichtig. Dies bezeugen u.a. elf Priester in der Broschüre „Die erste Liebe. Vom Glück, ein Priester zu sein“ (hrg. von Gertraud Rességuir, ISBN 3-87868-420-7). Manche von ihnen, die schon an eine Aufgabe ihres Priestertums dachten, haben nach einer neuen, intensiven Gotteserfahrung wieder große Freude an ihrem Dienst gefunden.

4. Verkündigung mit brennendem Herzen

Für unser Thema ist besonders wichtig, dass nach einer derartigen Erfahrung häufig das Herz zu brennen beginnt und die Verkündigung des Betreffenden eine völlig neue Qualität erhält. Es heißt ja schon bei der Pfingstpredigt des hl. Petrus: „Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz“ (Apg 2,37). Wenn die Predigt – in der Kraft des Hl. Geistes und seiner Gaben – auch noch durch Zeichen und Wunder bestätigt wird, können oft auch hartgesottene Sünder und Kirchengegner zur Umkehr bewegt werden. Viele Berichte zeigen, dass dies tatsächlich auch heute geschieht.

Hoffnung auf eine neue Blüte des Glaubens

Warum soll das, was in der frühen Kirche selbstverständlich war, heute nicht mehr möglich sein. Die gegenwärtige Situation der Gläubigen heute als einer Minderheit, die weithin einem massiven Unglauben gegenübersteht, ist ja der Situation der Kirche der Frühzeit außerordentlich ähnlich. Deshalb wird ohne die Hilfe „von oben“, wie sie die junge Kirche erfuhr, eine Neuevangelisierung in Zukunft schwerlich möglich sein. Eine rein auf der menschlichen Ebene angesiedelte Mission wird trotz allem Scharfsinn, allen ausgeklügelten Methoden und Planungen nicht zum Erfolg führen. Und weil dies viele Verantwortliche in der Kirche spüren, wird von „Neuevangelisation“ zwar manchmal gesprochen – aber in der Praxis ist davon wenig zu sehen. Lediglich die neuen geistlichen Bewegungen haben dieses Anliegen aufgegriffen, ebenso die katholischen Radio- und Fernsehstationen. Deswegen sollte alles nur Erdenkliche geschehen, um diese Initiativen nach Kräften zu fördern und zu stützen, damit der katholische Glaube in Deutschland auch in Zukunft nicht ausstirbt, sondern zu neuer Blüte gelangt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Beglaubigt Gott seine Offenbarung durch Wunder?

„Santo subito“ – „Heilig sofort“ hieß es in Sprechchören und auf Transparenten beim Begräbnis Johannes Pauls II. am 8. April. Einer solchen Heiligsprechung durch spontane Akklamation steht das seit Jahrhunderten geltende Kirchenrecht entgegen, das für die Seligsprechung von Nichtmärtyrern wenigstens ein nach ihrem Tod auf ihre Anrufung hin erfolgtes Wunder verlangt und für alle Heiligsprechungen wenigstens ein ebenso nach der Seligsprechung erfolgtes Wunder. Nun hat der verstorbene Papst weit mehr Menschen selig und heilig gesprochen als irgendeiner seiner Vorgänger – ein Zeichen dafür, dass die mit dem entsprechenden Verfahren betraute vatikanische Behörde eine Menge von Wundern aus unserer Zeit geprüft und für echt befunden hat. Andererseits werden Wunder seit Jahrzehnten sogar von Theologen in Frage gestellt oder geleugnet. Was ist davon zu halten? Über die Frage der Wunder sprach Vera Novelli mit Dr. François Reckinger, der zu diesem Thema 1995 ein Buch veröffentlichte.[1]

Vera Novelli im Gespräch mit François Reckinger

Warum ist Ihnen das Thema Wunder wichtig?

Reckinger: Schon als Kind lernte ich das Wunder als Glaubenshilfe kennen. Ich verstand, dass die Wunder eine Beglaubigung von Seiten Gottes für die Wahrheit der Botschaft Jesu sind, vor allem dafür, dass er der Sohn Gottes ist. Je mehr ich heranwuchs, umso deutlicher wurde mir die Logik, die dahinter steht. Gott will nicht, dass wir, um zu glauben, unseren Verstand ausschalten. Wieso sollte er das wollen? Wenn wir aber mittels des Verstandes die Möglichkeit haben sollen, zu erkennen, dass Gott es ist, der da spricht, dann gibt es dafür letztlich nur ein einziges entscheidendes Zeichen: dass etwas geschieht, was nur der Schöpfer der Welt bewirken kann. Und das ist eine sinnvolle Veränderung des Ablaufs der Naturereignisse.

Werden also durch Wunder Naturgesetze aufgehoben?

Reckinger: Man kann das so benennen. Richtiger aber ist es zu sagen, dass sich eine neue Ursache in den Ablauf einschaltet und dass dementsprechend dann alles naturgemäß erfolgt: ähnlich wie wenn Menschen etwa einen Staudamm und eine Wasserleitung bauen. Dann läuft das Wasser auf einmal auch bergauf: dorthin, wo es Menschen dienlich ist. Aber ohne einen Eingriff von Wesen mit Verstand und Willen geschieht ein sinnvoll geordnetes Bergauffließen nicht.

Manchmal hört oder liest man, dass Theologen sagen: Wenn Gott Wunder wirken würde, dann wäre das eine nachträgliche Korrektur seiner Schöpfung; es wäre daher eines allmächtigen Schöpfers unwürdig.

Ja, leider wird das mitunter gesagt und geschrieben. Es würde jedoch nur dann zutreffen, wenn Gott nachträglich eingreifen müsste, um den normalen Ablauf der Welt zu gewährleisten, nicht aber, wenn er es tut, um sicher erkennbar zu machen, dass eine bestimmte Mitteilung von ihm selbst kommt, und um gleichzeitig zu offenbaren, wie er ist: liebend, sich dem Menschen zuwendend, heilend, befreiend und beglückend.

Ist die Frage nach dem Wunder Ihrer Meinung nach heute aktuell?

Sie ist zunächst einmal immer aktuell, weil etwa die Hälfte der Evangelienabschnitte, die uns bei der Sonntagsmesse vorgelesen werden, Wunder zum Inhalt haben. Zudem hat sich unsere Kirche im Ersten Vatikanischen Konzil 1870 auf die Erklärung festgelegt, dass der göttliche Ursprung der christlichen Religion durch Wunder gültig bewiesen werden kann.[2]

Das ist die Aussage der Liturgie und der Lehre auf allerhöchster Ebene. Aber wie sieht es an der Basis aus – bzw. auf der mittleren Ebene, bei den Theologen, Seelsorgern und Predigern, die die Bibel auslegen, oder im Religionsunterricht?

Die Frage ist gut – und die Antwort kann nur besagen, dass hier ein entsetzliches Chaos herrscht. Ein Teil der Basis ist leichtgläubig und wundersüchtig, läuft jedem Visionär hinterher und bringt kaum Verständnis für das kritische Prüfungssystem auf, das die Kirche im Lauf der Jahrhunderte entwickelt hat, um in diesem Bereich das Echte vom Falschen und vom Zweifelhaften zu unterscheiden. Auf der anderen Seite gibt es einen breiten Strom der Wunderleugnung, die seit etwa einem halben Jahrhundert fortschreitend nahezu alle Bereiche der kirchlichen Glaubensvermittlung infiziert hat.

Sie sprechen von Visionären. Ihr Buch trägt als Titelbild ein Foto der Grotte von Lourdes. Mögen Sie Visionäre also doch?

Natürlich mag ich sie, wenn sie echt sind – und bei Bernadette leuchten die Zeichen der Glaubwürdigkeit so hell, dass selbst Blinde sie sehen können.

Wie sieht es mit der Leugnung der Wunder aus? Hat sie die große Mehrheit der praktizierenden Christen erfasst?

Gott sei Dank, wohl nicht ganz. Und das aus zwei Gründen: Einmal, weil es doch auch Geistliche, Theologen, Religionslehrer und pastorale Mitarbeiter gibt, die dem vorherrschenden Trend widerstehen; und andererseits, weil ein Großteil derer, die die Wunder in Frage stellen, dafür sehr gelehrte oder auch verschleiernde Formulierungen gebraucht, die von vielen nicht im gemeinten Sinn verstanden werden. So etwa hörte ich vor kurzem eine Predigt zum Evangelium von der Brotvermehrung, in der viel vom „Teilen“ des Brotes die Rede war und bei der Eingeweihte leicht erkennen konnten, dass der Prediger den Vorgang lediglich als ein Teilen von mitgebrachtem Proviant deutete. Als Jesus den Jungen veranlasst habe, seine Brote und Fische herzugeben, hätten viele andere, die auch etwas dabei gehabt hätten, es jedoch bis dahin versteckt gehalten hätten, um es nicht teilen zu müssen, diese ihre Vorräte hervorgeholt und sie nun doch geteilt – und allein darin hätte das Wunder bestanden. Diese Umdeutung, die auf einen rationalistischen evangelischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts zurückgeht, ist heute in der wissenschaftlichen Exegese auch von den Wunderleugnern längst aufgegeben. Dennoch spukt er seit Jahrzehnten in katholischen Schulbüchern und katechetischen Materialien herum.

Hat dieses Wunder der Brotvermehrung eine besondere Bedeutung?

Ja, denn es ist das bestbezeugte aller Wunder Jesu: Alle vier Evangelisten berichten darüber in wenigstens zum Teil voneinander unabhängigen Formulierungen. Wer dieses Wunder bestreitet, leugnet wahrscheinlich alle wirklichen Wunder, entsprechend dem verbreiteten rationalistischen System, das besagt: Krankenheilungen, ja; Dämonenaustreibungen, ja – jedoch gedeutet als Heilungen psychischer Krankheiten; beides nur insofern, als Heilung durch psychische Beeinflussung denkbar erscheint; alles dagegen, was sich einer solchen Erklärung entzieht, kann nicht vorgekommen sein.

Was halten Sie dem in Ihrem Buch entgegen?

Einmal die erwähnten Lourdes-Heilungen, dann aber auch eine Fülle von Heilungen, die bei Selig- und Heiligsprechungsverfahren untersucht wurden: Heilungen, von denen immer dann, wenn nicht von Wundern die Rede ist, allgemein geurteilt wird, dass sie ganz sicher nicht durch bloße psychische Beeinflussung herbeigeführt werden können. Darüber hinaus gibt es aber auch eine ganze Reihe von sog. Naturwundern, vor allem gerade Vermehrungen von Lebensmitteln im 19. und 20. Jahrhundert.

Der Titel Ihres Buches lautet „Wenn Tote wieder leben“. Sprechen Sie auch von Totenerweckungen?

Ja, aber ich habe in veröffentlichten Heiligsprechungsakten nur solche aus dem 13. und 17. Jahrhundert gefunden.

Welche Resonanz hat Ihr Buch gefunden?

Es hat eine positive Rezension in „Forum Katholische Theologie“ gegeben und eine ebensolche in der „Nouvelle Revue Théologique“.

Haben sich denn die Bestreiter von Wundern nicht geäußert?

Soweit ich weiß, nein – oder kaum. Erwähnenswert ist lediglich Pierre Delooz, ein Soziologe, der mich dreimal in seinem Buch „Les miracles – un défi pour la science?"[3] von 1997 und danach noch einmal 1998 in der „Revue Théologique de Louvain"[4] zitiert hat. Er ordnet meine Position der „traditionellen Apologetik“ zu, entgegen der Ausrichtung der übrigen von ihm zitierten Theologen. Genau wie diese führt er jedoch gegen die von mir vertretene Sicht kein anderes Argument an, als dass Gott innerhalb der Welt nicht unmittelbar wirken könne.

Wieso meint er und meinen seine theologischen Vordenker das?

Sie argumentieren so: Wenn Gott unmittelbar innerhalb der Welt wirken würde, dann wäre sein Wirken eine bloße Energie, ähnlich den Energieströmen, aus denen die Welt besteht. Doch diese Behauptung ist leicht zu widerlegen. Denn bereits der ordnende Eingriff des Menschen, etwa in dem schon erwähnten Beispiel der Errichtung eines Staudamms, ist etwas ganz anderes als die unabhängig von menschlichem Zutun wirkenden Kräfte. Hier werden „Energieströme“ in eine neue Beziehung zueinander gebracht, die ausmacht, dass ihr Wirken eine völlig neue Qualität erlangt, indem es im Hinblick auf das Leben des Menschen sinnvoll wird. Der Mensch selbst wird dadurch, dass er auf diese Weise in die Schöpfung eingreift, nicht auch seinerseits zu einem „Energiestrom“ unter anderen, sondern erlangt im Gegenteil Herrschaft über die vorhandenen Energien und Wirkursachen. Um so weniger wird Gott durch sein Eingreifen in den Ablauf der Welt zu einem Stück der Welt, sondern er verleiht der Welt mit allen Vorgängen in ihr eine neue Qualität: insgesamt sinnvoll zu sein, indem sie sich auf ihn hin ausrichtet und dadurch in ihm das Heil findet. Alle „Energieströme“ der Welt sind offenbar nur dazu da, um in dieser Weise auf Sinn hin, d.h. auf die ewige Glückseligkeit des Menschen hin, von Gott in Dienst genommen zu werden.

Haben Sie nach dem Buch über die Wunder noch andere Schriften veröffentlicht?

1999 zusammen mit dem heutigen Kardinal Scheffczyk noch eine kleine Broschüre zur Gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre,[5] und 2002 ein Buch zu dem so unbeliebten Thema ewige Verwerfung oder, bildhaft gesprochen, die Hölle.[6]

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Thema Wunder und dem Thema Hölle?

Ja – und zwar dass beide verpönt sind und man beide wegzudeuten versucht, weil sich aus beidem zusammengenommen die unausweichliche Verbindlichkeit der Offenbarung Gottes ergibt. Wer die Wirklichkeit von beidem erkannt hat, kann sich seine Religion nicht mehr nach individuellem Geschmack zusammenstellen. Jesus selbst machte dies gegenüber denen, die ihn und seine Botschaft ablehnten, hinreichend deutlich, besonders bei Matthäus 11,20-24: „Dann begann er den Städten, in denen er die meisten Wunder getan hatte, Vorwürfe zu machen, weil sie sich nicht bekehrt hatten...“ Ganz ähnlich lautet dem Sinn nach sein Wort bei Johannes 15,22-24. Doch möchte ich dem Gedanken gerne eine positive Wendung geben, wie es derselbe Evangelist am Ende seines Evangeliums tut: „Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger gewirkt. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“ (20,30f).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] François Reckinger: Wenn Tote wieder leben. Wunder: Zeichen Gottes oder PSI?, Verlag Ursula Zöller,1995.
[2] Denzinger-Hünermann, Nr. 3034 (Übersetzung leicht geändert).
[3] Pierre Delooz: Les miracles – un défi pour la science?, Bruxelles 1997.
[4] Revue Théologique de Louvain 29, 1998, 179.
[5] François Reckinger/Leo Scheffczyk: Teilkonsens mit vielen Fragezeichen, St. Ottilien 1999.
[6] Alle, alle in den Himmel? Die sperrige Wahrheit im Evangelium, Altenberge 2002.

Neuen Kommentar schreiben

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder! Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare gegebenenfalls nicht für die Veröffentlichung freizugeben oder in Abstimmung mit den jeweiligen Autoren zu kürzen.