Abtreibung und das sterbende Europa

Weihbischof Dr. Andreas Laun versteht seine aufrüttelnde Mahnung als Beitrag zur „Woche für das Leben“, die auf Initiative der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland jedes Frühjahr begangen wird. Heuer findet sie vom 29. April bis 6. Mai statt und steht unter dem Motto: „Von Anfang an uns anvertraut. Menschsein beginnt vor der Geburt“. Wir dürfen nicht länger schweigen! So erhebt Weihbischof Laun seine Stimme, um die Menschen aufzuwecken und ihnen die Augen zu öffnen. Seine Worte sind nicht Angstmacherei, Diskriminierung oder Rassismus, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und eine leidenschaftliche Verteidigung unserer Freiheit und unserer humanistischen Werte, die ohne das christliche Menschenbild und des Evangelium der Liebe keinen Bestand haben können.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Diskriminierung und Verfolgung der Lebensschützer

„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, sagten seinerzeit die 68er und die „Friedensbewegten“. Inzwischen war schon oft Krieg und „alle“ sind hingegangen. Aber in dem Kampf um Abtreibung scheint mir dieser Satz immer mehr wahr zu sein: Die Lebensschützer reden, schreiben, laden ein – aber die Gegner finden es nicht mehr der Mühe wert „hinzugehen“. Wozu auch, sie haben den Krieg doch längst gewonnen, im Lauf der Jahre ihre Position ausgebaut und fast alle Widerstandsnester geknackt. Hieß es am Anfang, Abtreibung sei verboten und werde „nur nicht bestraft“, halten inzwischen prominente Leute Abtreibung für ein „Menschenrecht“. Ob sie das wirklich glauben, darf man zwar bezweifeln, aber sie sagen es und, was schlimmer ist, sie tun alles, um dieses „Menschenrecht“ zuerst in der öffentlichen Meinung und dann auch durch Strafbestimmungen gegen Abweichler durchzusetzen – gegen die „Fundamentalisten“ eben, die „bekanntlich eine Vorfeldorganisation der Terrorszene sind!“ – das „weiß man doch!“

Perversion – „Amnesty international“ kippt um

Und sie machen Fortschritte: „Amnesty international“ wollte, so hörte ich neulich, Abtreibung als Menschenrecht deklarieren und scheiterte mit dem Vorhaben nur noch am Nein der deutschen Stimme. Wie lange noch, fragt man sich bange? Was für eine Perversion: Eine Organisation, die angetreten ist, die Würde des Menschen weltweit zu verteidigen und die im Lauf der Jahre viele Menschen gerettet hat – ausgerechnet diese Organisation ist mittlerweile so verblendet, dass sie den ungeborenen Kindern das fundamentale Recht auf Leben aberkennen will.

Wenn die Sache nicht zu ernst wäre, könnte man an „Asterix und Obelix“ erinnern und sagen: Nur ein „Dorf“ in der Welt widersteht immer noch, nämlich die römisch-katholische Kirche! Nicht, dass es nicht auch in der Reihe der Katholiken Einbrüche gäbe, aber der „Felsen Petri“ steht, und mit ihm stehen auch all jene, die bei ihm Schutz suchen. Nicht einmal die global agierenden Organisationen der Abtreibungslobby werden ihn, den Felsen, sprengen können. Sie sind ja nur die Söldner jener Verlierer, die seit 2000 Jahren versuchen, ihn zu zerstören, und es bis zum Ende der Welt nicht schaffen werden.

Ist es wirklich nicht so schlimm?

Vielleicht wird Europa noch aufwachen, geweckt vom mächtigen Selbsterhaltungstrieb, dann nämlich, wenn die Folgen der Selbstvernichtung wirklichen Schmerz auslösen:

• ökonomisch durch eine wirtschaftliche Rezession,

• sozial durch den Zusammenbruch der sozialen Netze,

• politisch durch den Machtverlust Europas – und

• menschlich durch den Verlust all jener köstlichen Freiheitsrechte, die auf dem christlichen Menschenbild beruhen und die ein islamisiertes Europa verlieren wird.

Wer dann noch sagt, es ist doch nicht so schlimm, wenn Europa „anders“ wird z.B. im islamischen Sinn, dem fehlt es an Wissen und an Fantasie. Vielleicht sieht er auch zu wenig Nachrichten.

Verteidigung der freien Diskussion

„Islamophobie“? Mitnichten! Erstens sollte man sich der „Phobien-Hysterie“ überhaupt zu entziehen suchen. Jede Kritik an irgendeiner Idee oder Bewegung wird heute als verabscheuungswürdige „Phobie“ bezeichnet: „Homophobie“, „Islamophobie“, „Xenophobie“? Warum nicht auch „A-Bomben-Phobie“, „Vogelgrippen-Phobie“ und „Pädo-Phobie“? Vielleicht auch „Löwen-Phobie“, weil doch der Apostel Petrus vor dem Teufel wie vor einem „brüllenden Löwen“ gewarnt hat? Die Phobien-Rede ist bequem, sie erspart das Denken und verhindert tückisch die freie Diskussion über Probleme und damit auch über ihre Lösung.

Zweitens anerkenne ich die Menschenrechte der Muslime, achte sie und trete dafür ein, dass sie in christlicher Freiheit ihre nicht-christliche Religion leben dürfen. Aber das hindert mich nicht, unseren muslimischen Freunden, Brüdern und Schwestern meine Kritik am Islam, am Koran und an manchen ihrer politischen Vorstellungen vorzutragen. Auch möchte ich mit ihnen über so manches reden, was ihr Prophet Mohammed getan hat und was sie doch für „normativ“ halten, ich hingegen am Evangelium messe und daher mit aller Entschiedenheit ablehne.

Unser selbstmörderisches Verhalten

Aber zurück zu Europa: Was sich vor 50 Jahren – und auch später noch – niemand hätte vorstellen können, ist eingetreten. Es gibt eine reale Gefahr, dass Europa mehrheitlich muslimisch wird. Vor Wien sind die Türken zweimal militärisch gescheitert, aber jetzt könnten sie siegen. Nicht mehr durch ihre Waffen, sondern durch unsere Blindheit und unser selbstmörderisches Verhalten. Es ist, als ob die Wiener seinerzeit unter den Augen des türkischen Heeres die eigenen Soldaten umgebracht und ihre Mauern niedergerissen hätten. Ein gewaltiger Unterschied besteht allerdings: Heute kann man den Türken keine Schuld geben, sie sind ja nur einfach „da“ und arbeiten – und warten. Dass sie sich über eine mögliche, mit jedem ihrer Neugeborenen in die Nähe rückenden Mehrheit in Europa freuen, kann man ihnen nicht verargen. Ich freue mich ja auch, wenn sich die katholische Kirche in anderen Ländern ausbreitet. Ja, ich billige den Muslimen auch das Recht zu, die Christen zu missionieren, so wie ich den Muslimen – gerade weil ich ihr Bestes will – Christus zeigen und sie zum Glauben an Ihn führen möchte. Zerstöre ich damit ihre „kulturelle Identität“? Überhaupt nicht! Das zu behaupten ist so falsch, wie wenn jemand sagte, man dürfe anderen Völkern nicht unser Wissen über die Aufbereitung sauberen Wassers beibringen. „Vergleiche“ ich damit den Islam mit schmutzigem Wasser? Ja, aber nur im Sinne des Propheten Jeremia (2,13) und auch dabei noch abgeändert. Denn er lässt Gott sagen: „Mich hat das Volk verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten.“

Die Gültigkeit der Propheten

Ich wende das Wort sinngemäß auf jede Religion außerhalb der katholischen Kirche an: Alle anderen Religionen und sogar alle nicht-katholischen, aber christlichen Kirchen und Gemeinschaften sind mehr oder weniger „Zisternen mit Rissen“ im Vergleich zur „Quelle des lebendigen Wassers“. Dementsprechend anfällig sind sie mehr oder weniger für die Ideologien des Todes, die Europa in Agonie versetzen. Der Vergleich erlaubt die nötigen Differenzierungen und bietet sie geradezu an: Bei den einen sind es nur „Haarrisse“, die man kaum merkt, bei den anderen sind es Brüche, durch die fast das ganze „Wasser“ versickert.

Darum, weil ich allen Menschen das reine Wasser gönne, und zwar in Fülle, möchte ich, dass alle katholisch werden. Will das Gott? Ja, aber sicher nicht mit Gewalt und offenbar, das zeigt die Geschichte, zu einer Zeit, die nur Er weiß und nur Er herbeiführen kann. Er hat Seiner Kirche das „Geheimnis Seines Willens kundgetan“ (Eph 1,9), aber ihr nicht den Auftrag gegeben, es in eigener Regie und mit den Mitteln der Macht in kürzest möglicher Zeit durchzusetzen. Darum lege ich diese Mission – wie alles – in Seine Hände.

Der Prophet Hosea (13,12-15) kennt noch eine andere passende Bildrede von der „Quelle“. Er lässt Gott sagen: Die Schuld des Volkes „wird gebündelt verwahrt, seine Sünden werden gespeichert... Aus der Gewalt der Unterwelt sollte ich sie befreien? Vom Tod sollte ich sie erlösen?“ Nein, so nicht, sondern: „Meine Augen kennen kein Mitleid.“ Der Schein trügt: Auch wenn das Volk noch „prächtig gedeiht, es kommt ein Ostwind, ein Sturm des Herrn; er steigt aus der Wüste auf und lässt die Brunnen versiegen und seine Quellen vertrocknen.“ Ein grausamer Gott? Nein, es ist derselbe Gott, dessen Wesen Papst Benedikt XVI. als „Caritas!“ beschreibt! Aber die europäischen Völker haben mit ihrer Schuld zugleich ihr Unglück besorgt: Sie haben die „Quellen des Lebens“ mit Kondomen verstopft, sie mit Pillen vergiftet und das übrige Wasser, statt es in ihre Häuser zu leiten, in die Wüste des Todes hinaus abgepumpt und „abgetrieben“, wo es unfruchtbar versickerte. Noch scheint Europa zu gedeihen, aber seine Quellen und Brunnen sind im Begriff zu vertrocknen.

Erkennt Europa „die Zeit der Gnade“?

Das Unglück eingebrockt haben uns die Laizisten mit ihrem aggressiven Atheismus. Sie sagen: „Stell dir vor, Gott kommt, und keiner geht hin.“ Als ob man die Wirklichkeit verändern könnte, weil man nicht hingeht, nicht hinschaut, sie anders benennt und so tut, als ob sie nicht wäre, wie sie ist! Als ob Gott nicht „da“ wäre, weil die Damen und Herren ihre „Termine“ haben und für Gott keine Zeit! Und was macht Gott? Er kommt so, dass sie nicht mehr „hingehen“ müssen, denn Er kommt zu ihnen, und sie bräuchten nur noch die „Tür aufzumachen“, wenn Er klopft. Aber er kommt auch im Sturmwind, der ihre Quellen austrocknen lässt. Hören sie es noch immer nicht? Hören sie nicht wenigstens den Sturm des Herrn, dessen erste Böen doch schon durch ihre Straßen fegen?

Ein Kind versteht, dass Europa ohne Kinder stirbt; und ein noch kleineres Kind begreift, dass es Kinder, die man verhütet, und Kinder, die man tötet, einfach nicht gibt; und dass sie fehlen werden.

Europa wird nicht wieder genügend Kinder haben, solange alle Diskussionen von der Prämisse ausgehen: „Kinder sind eine Last mit wenig Freude. Sie müssen mit unserer Selbstsucht kompatibel sein oder wir verhüten sie und treiben sie ab.“ Europa muss lernen, umgekehrt zu denken: „Kinder sind ein Segen Gottes, sie sind eine süße Last und wir nehmen sie gerne an – und wenn wir sie uns früher leisten konnten, dann heute erst recht.“ Dann würde der Ausgangspunkt aller Diskussionen lauten: „Kinder ja, was ist für sie gut?“ Und erst im Nachsatz: „Und was lässt sich sonst noch mit ihnen vereinen?“ Aber an den Kindern, ihrem Wert und ihrem Lebensrecht wäre dann nicht mehr zu rütteln.

Die Folge wäre: Das christliche Europa könnte wieder erstehen. Mit den Muslimen würden die Christen „auf Augenhöhe“ sprechen und könnten mit ihnen in einen wohlwollenden, freien Dialog über Gott eintreten. Wenn es gelänge, die Muslime zum wirklichen Zuhören zu bringen, würden sich viele von ihnen bekehren. Vorausgesetzt, wir Christen erzählen ihnen die Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen so, wie sie wirklich verlaufen ist: Überwältigend, geradezu unglaublich, aber eben doch des Glaubens höchst würdig: Gott liebt uns Menschen, und die stärksten uns bekannten Formen der Liebe beschreiben am besten Seine Liebe.

Als Jesus Jerusalem sah, weinte er über die Stadt ... Vielleicht weint Jesus heute über Europa: „Wenn doch auch du, Europa, erkannt hättest, was dir wieder das Leben bringt. Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen. Es wird eine Zeit für dich kommen, in der andere Völker dein Land und deinen Besitz übernehmen und deine restliche Bevölkerung zu Bürgern zweiter Klasse machen werden. Deine Kinder müssen sie nicht zerschmettern, du selbst hast sie längst schon vernichtet. Sie werden in deiner Gesellschaft mit ihren Vorzügen und Freiheiten keinen Stein auf dem andern lassen; denn du hast die Zeit der Gnade nicht erkannt.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Fundamentalismus als Kampfbegriff

Dr. Gudrun Kugler-Lang, geboren 1976, parteilose ÖVP-Kandidatin in der Wiener Gemeinderatswahl im Oktober 2005, ist Mutter einer Tochter, die in den kommenden Wochen zur Welt kommen wird. Sie antwortete in einem Gastkommentar in der „Wiener Zeitung“ vom 14.02.2006 der österreichischen Ex-Frauenministerin Johanna Dohnal, die die These vertritt, dass Abtreibungsgegner Fundamentalisten seien und deshalb politisch keinesfalls mitreden dürften. Der Text wurde leicht abgewandelt.

Von Gudrun Kugler-Lang

Niemand mag Fundamentalisten. Radikale Abtreibungsbefürworter diskutieren, als ob die Diskussion der vergangenen 30 Jahre spurlos an ihnen vorbeigegangen wäre: Fast alle Klischees der Abtreibungslobby finden sich hier wieder, auch der Kampfbegriff „fundamentalistisch“. Um mir und anderen Lebensrechtsbefürwortern jegliche Mitsprache zu verbieten, genügt ihr dieses „F-Wort“. Mir nicht.

Was bedeutet also „fundamentalistisch“?

„Fundamentalistisch“ könnte heißen, keine anderen Meinungen gelten zu lassen. Lebensschützer greifen ihre Gegner nicht persönlich an. Das rot-grüne Lager hat mich allerdings während der vergangenen Wiener Wahlen gröbst diffamiert.

„Fundamentalistisch“ könnte heißen, blind Parolen zu schreien. Wir schreien nicht. Von Abtreibungsbefürwortern hört man aber: „Schaut euch die Pro-Lifer an, schlimmer als die Taliban“ oder: „Hätte Maria Jesus abgetrieben, wär‘ uns viel erspart geblieben“. Es wird (immer noch) mit Tomaten geworfen und das Modell eines Embryos geköpft und als Fußball verwendet.

„Fundamentalistisch“ könnte auch heißen, vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen. Machen wir also die Augen auf: Unbestritten ist, dass es sich beim Ungeborenen um einen einzigartigen kleinen Menschen handelt.

Und was ist eigentlich so sozial daran, einer Frau die Tötung des Kindes in ihrem Bauch als angebliche Lösung ihrer Probleme anzubieten? Studien zeigen, dass fast die Hälfte der Betroffenen nach einer Abtreibung an schweren Depressionen leiden. Oft finden hilfesuchende Frauen keine engagierte Anlaufstelle. Werdende Väter können sich zu leicht aus der Affäre ziehen und jene, die Verantwortung übernehmen wollen, haben keine Chance auf Mitentscheidung.

Es wäre absurd zu behaupten, bei den 40.000 bis 60.000 Kindern, die jährlich allein in Österreich abgetrieben werden, handle es sich nur um „Notlagen“. Diese fünf Schulklassen pro Tag fehlen uns: Man denke auch an die Überalterung, die beginnenden Schulschließungen, etc.

Und es ist ein Schlag ins Gesicht unserer beeinträchtigten Mitmenschen, dass Ungeborene mit Behinderungen bis zur Geburt abgetrieben werden dürfen.

Trotzdem verbieten Abtreibungsbefürworter jegliches In-Frage-Stellen der Fristenregelung. Dieses Denk- und Diskussionsverbot nenne ich „fundamentalistisch“. Ebenso die verbale Gewalt, mit der sie auf Übertretungen dieses „Verbotes“ reagieren: z.B. mit der Forderung eines Kandidatur-Verbots für mich, einer jungen Frau, der der Schutz des Menschen in jeder Entwicklungsphase ein Anliegen ist. Ich frage: Wieso sollte ich nicht mitreden dürfen? Habe ich da im Verfassungsrecht zur Meinungsfreiheit etwas missverstanden? – Die Fundamentalisten sind also Johanna Dohnal und die radikalen Abtreibungsbefürworter selbst. Aber von mir aus: Lassen wir das „F-Wort“ mit dem langen Bart endlich beiseite und kommen wir zur Sache. Es besteht genug Handlungsbedarf.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
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Fehlt uns die Liebe?

Mit der Abtreibung hat sich unsere moderne Gesellschaft in eine globale Lüge hineinmanövriert. Gleichzeitig wird die Wahrheit durch eine Schweigemauer aus dem öffentlichen Leben verbannt. Doch immer deutlicher zeigen sich das Ausmaß und die Dramatik der Folgen von Abtreibungen. Mechthild Löhr, die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), ruft im Blick auf die bevorstehende „Woche für das Leben“ dazu auf, in unseren Pfarrgemeinden über diese „Todes- und Schweigespirale“ zu sprechen und ihre Wurzeln offen zu legen. „Nur im Licht einer nicht länger zu verdeckenden Wahrheit können wir den Mut finden, eine klare Neuorientierung zu beginnen.“

Von Mechthild Löhr

Der „Selbstmord Europas“ lautete der Titel eines Essays des US-Amerikaners Mark Steyn, den „Die Welt“ Anfang Februar veröffentlichte. Er stellt darin lapidar fest, dass den „postchristlichen Wohlfahrtsstaaten“ Kinder und Mut fehlen. Er konstatiert: „Wir machen uns um die falschen Dinge Sorgen.“ In seiner bahnbrechenden Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972 erklärte der Club of Rome, dass uns bis 1993 Gold, Quecksilber, Blech, Zink, Erdöl, Kupfer, Blei und Gas ausgegangen wären. Nichts trat davon ein. Genau genommen schwimmen wir in Ressourcen, aber die Menschen gehen uns aus – die eine wirklich unersetzliche Ressource.“ In Deutschland und anderen westlichen Ländern entwickelt sich – mit wenigen Ausnahmen – eine „Todesspirale“, so Steyn, d.h. es sterben deutlich mehr Menschen, als geboren werden. Erst langsam dämmert es vielen, dass die Analyse des verstorbenen Papstes Johannes Paul II., die vor einer „Kultur der Todes“ warnte, nicht metaphorisch zu verstehen war und ist, sondern die Realität unmissverständlich beschreibt. Dennoch bleibt eine offene Diskussion über die Ursache meist in ökonomischen Motiven gewissermaßen hängen. 30 Prozent des Geburtsjahrgangs 1965 sind gänzlich kinderlos und dies wohl auf Dauer ihres Lebens. Materielle Rahmenbedingungen, die sicher wichtig sind, werden derzeitig von fast allen Familienpolitikern herangezogen, um die mangelnde Bereitschaft und Liebe zu Kindern bei jungen Menschen zu erklären. Doch wenn wir als Christen den Menschen nicht primär zum „Homo Oeconomicus“ degradieren wollen, müssen wir nach tieferen Gründen fragen. Denn in vielen unterentwickelten Gesellschaften oder auch im islamischen Kulturraum ist der Kinderwunsch ungebrochen und weiterhin eine Selbstverständlichkeit.

Kinder als Schadensfall?

 Unsere westliche, postchristlich geprägte Gesellschaft hat sich über 30 Jahre lang dahin entwickelt, Kinder inzwischen als „Schadensfall“ zu definieren, für den ggf. sogar Schadensersatz gezahlt werden muss. Wenn, wie gerade vom Oberlandesgericht Karlsruhe entschieden wurde (AZ: 13 U 134/04) eine junge Frau von 21 Jahren schwanger wird, obwohl sie ein langwirkendes Verhütungsmittel eingesetzt hat, muss der Frauenarzt ihr und dem (unverheirateten) Vater Unterhalt für das (gesunde) Kind zahlen. Und dies ist kein Einzelfall. In Informationsmaterialien wie z.B. von Pro Familia lässt sich nachlesen, wie Embryonen zu „Schwangerschaftsgewebe“, das entfernt werden kann, mutieren. Überhaupt scheinen die großen Aufklärungsbemühungen im öffentlich finanzierten Raum oder auch in den Familien meist nur ein einziges wesentliches Ziel zu verfolgen: erfolgreich Kinder zu verhüten, ihre hohen Kosten und Belastungen herauszustellen und, falls das nicht genügt, wenigstens optimale, staatlich vollfinanzierte Bedingungen für eine schnelle, „problemlose“ Abtreibung zu schaffen. Die dramatisch hohen Abtreibungszahlen in Deutschland belegen den durchschlagenden Erfolg dieser sexualpädagogisch verfehlten Erziehung gegen das Kind. „Weltmeister“ besonderer Art sind wir gerade mit der weltweit höchsten Zahl kinderlos lebender Paare geworden. Rund 690.000 Geburten und (statistisch erfasst) rund 130.000 Abtreibungen in 2005, dazu kommen noch zusätzliche rund 100.000, die nicht oder falsch erfasst werden. Fast die Hälfte aller Frauen, die abtreiben, sind verheiratet. Auch wenn die Sorge um die demographische Entwicklung inzwischen Politik und Gesellschaft deutlicher erfasst haben, gibt es doch zu wenige, die, wie jüngst dankenswerterweise Bundespräsident Köhler, den Mut haben, die immer selbstverständlicher werdende Akzeptanz von Abtreibungen als allgemeines Mittel der Familienplanung zu beklagen und eine deutliche Kehrtwende einzufordern.

Schweigespiralen durchbrechen

Hinter dieser Schweigemauer verbirgt sich eine Wahrheit, die die Kirche seit vielen Jahren immer wieder herausstellt: Wer den Schöpfer nicht achtet und anerkennt, wird auch gleichgültig gegen das Schicksal seiner Geschöpfe. Wer im Ungeborenen nicht den Menschen erkennt und schätzt, der den gleichen Wert wie wir selbst verkörpert und dessen Lebensrecht durch nichts und niemanden zur Disposition gestellt werden darf, der wird auch sprachlos und stumm bleiben, wenn dieses junge Leben willkürlich, oft aus materiellen Motiven und Ängsten heraus, getötet wird. Oft aber haben gerade junge Menschen heute gar keine wirkliche Chance gehabt, durch verantwortungsbewusste Pädagogen, Eltern oder gar Medien, tatsächlich zu erfahren, wie kostbar und wertvoll jedes menschliche Leben eigentlich ist. Dass es sogar das größte Geschenk eines liebenden Schöpfers ist und jeder von uns für die Ewigkeit geschaffen ist, verschweigen meist sogar die, deren natürlicher Auftrag und Aufgabe es wäre, für ein Leben mit Kindern aktiv einzutreten. Dankbarkeit und Freude über die Einmaligkeit jedes Menschen und der tiefe Respekt davor in jeder Lebensphase scheinen deshalb mehr und mehr zu schwinden. Es fällt auf, dass die Lebensrechtsbewegung weltweit vor allem von überzeugten und begeisterten Christen beider Konfessionen getragen wird. Wer an die ursächliche Liebe Gottes zur Welt und zu den Menschen glaubt, die in der Menschwerdung und im Leiden seines Sohnes ihren unüberbietbaren Ausdruck gefunden hat, wird wie Maria zu jedem Menschen in der ersten Stunde seiner Existenz sagen wollen: „Fiat!“ Auch wenn es oft widrige Umstände sind: „Kinder sind Gottes schönstes Geschenk. Jedes Kind hat das Recht auf die Welt zu kommen, ob es erwünscht ist oder nicht“, sagte Mutter Teresa im mehr als armen Kalkutta.

Von Anfang an uns anvertraut

Benedikt XVI. fordert uns unermüdlich, wie sein großer Vorgänger, auf, Liebende und Werbende für eine neue „Kultur des Lebens“ zu werden. Auch die ökumenische „Woche für das Leben“ beginnt jetzt am 29. April und endet am 5. Mai 2006. Diesmal steht erfreulicherweise das so bedrohte ungeborene Leben im Mittelpunkt. Gesellschaften, die das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ nicht achten, verlieren auf Dauer auch die Achtung vor sich selbst. Das Unrecht von 46 Millionen Abtreibungen (UN-Statistik), die jährlich aktuell durchgeführt werden, schreit auch dann zum Himmel, wenn wir schweigen. Wer ein Kind zurückweist, lehnt gewissermaßen darin auch die Liebe des Schöpfers ab, der dieses Leben schenken will. Die „Woche für das Leben“ bietet uns eine Chance, die wir ergreifen sollten, in unseren Pfarrgemeinden über diese „Todes- und Schweigespirale“ zu sprechen und ihre Wurzeln offenzulegen. Nur im Licht einer nicht länger zu verdeckenden Wahrheit können wir den Mut finden, eine klare Neuorientierung zu beginnen. Wir dürfen dabei darauf vertrauen, dass Gott nicht nur die Liebe, sondern auch grenzenlose Barmherzigkeit ist. Dies kann und muss uns davor schützen, selbst Richter zu sein. Beten wir immer wieder gemeinsam dafür, dass die Liebe in den Familien und Ehen wieder wächst und neu an Kraft und Vertrauen gewinnt. Unsere Aufgabe ist es, für das Leben mehr und besser zu werben, damit auch junge Menschen erkennen, dass das Ja zum Kind gleichzeitig ein dankbares und erfüllendes Ja zum eigenen Leben ist und ihm Sinn und Glück verleiht. Wenn wir das Ausmaß und die Dramatik der Folgen von Abtreibungen, sowohl im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben, verschweigen, machen wir uns indirekt mitschuldig am wachsenden Gefühl von Pessimismus und Ängsten bei vielen Menschen unserer Zeit. Wir sollten alle Gelegenheiten ergreifen, für den Wert und den Schutz jedes menschlichen Lebens einzutreten. Denn es gilt: Deus Caritas est!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
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Bischof Mixa widerspricht Bundespräsident

Im Januar dieses Jahres vertrat Bundespräsident Horst Köhler in einer Grundsatzrede vor der Evangelischen Akademie Tutzing die Ansicht: „Kinder auf das Leben vorzubereiten, partnerschaftliche Lebensentwürfe zu verwirklichen, das kann in ganz unterschiedlichen Strukturen gelingen: in der Ehe, in nicht-ehelichen und auch gleichgeschlechtlichen Familien, in Patchwork- oder Einelternfamilien.“ Dagegen erhob der Augsburger Bischof Dr. Walter Mixa in aller Deutlichkeit seine Stimme. Er bezeichnete es als höchst problematisch, wenn in Staat oder Kirche die Familie im Vollsinn immer stärker relativiert werde, indem sie mit anderen Formen menschlichen Zusammenlebens und zwischenmenschlicher Solidarität politisch auf eine Stufe gestellt oder in einem Atemzug genannt werde. Ausschließlich die Familie als Lebensgemeinschaft von Eheleuten mit ihren Kindern stehe auch unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes, weil sie der am besten geeignete Rahmen für das Aufwachsen und die Erziehung von Kindern sei.

Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familien oder allein erziehende Väter und Mütter seien zwar eine gesellschaftliche Realität, aber kein gesellschaftlich erstrebenswertes Ziel. Kirchliche Einrichtungen nähmen sich in besonderer Weise allein erziehenden Müttern und Vätern an. Doch müsse vorrangiges Ziel kirchlicher und politischer Familienarbeit in Zukunft wieder sein, jungen Vätern und jungen Müttern Lust auf Ehe, Familie und gemeinsame Kinder als verbindliche und zukunftsorientierte Form des Zusammenlebens zu machen. Treue, Selbstdisziplin, Zuverlässigkeit, Verantwortung und Solidarität seien die tragenden Werte einer christlichen Ehe und Familie, die keinen Raum für Beliebigkeit lasse, sondern in ihrer Verlässlichkeit für alle Beteiligten befreiend wirke.

„Homosexuelle Partnerschaften oder zeitlich befristete Wohngemeinschaften können nach christlichem Menschenbild niemals Ehen oder Familien sein“, so Mixa. Kritisch bewertete er auch die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung zur Familienförderung. Staatliche Hilfen für Familien müssten junge Mütter wirtschaftlich in die Lage versetzen, gleichrangig zwischen Familienberuf und einer Berufstätigkeit außerhalb der Familie zu entscheiden. Die Berufung zur Mutter und zur Elternschaft müsse gesellschaftlich wieder eine konsequente Aufwertung erfahren. Die Pläne der Bundesregierung seien demgegenüber auf die Interessen der Industrie und die schnelle Wiedereingliederung von jungen Müttern in eine Berufstätigkeit außerhalb der Familie und auf die Fremdbetreuung der Kinder durch Dritte gerichtet.

Angesichts aktueller Forderungen von Mitgliedern des CSU-Parteivorstandes nach einer Ausweitung des Familienbegriffs und einer „Öffnung der Partei für neue Lebenswirklichkeiten“ warnte Mixa auch die CSU davor, im Bereich der Familienpolitik vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu kapitulieren. Wer im Zusammenhang mit dem vom Grundgesetz geschützten Begriff von Ehe und Familie von einem „moralisierenden und starren Weltbild“ spreche, habe immer noch nicht begriffen, dass die zunehmende Kinderlosigkeit als das größte gesellschaftliche Problem Deutschlands nicht durch die Anerkennung und weitere rechtliche Förderung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, sondern nur durch eine aktive Unterstützung junger Eheleute und Familien mit Kindern gelöst werde. „Die Ehe von Mann und Frau und der Wille zu gemeinsamen Kindern ist keine religiöse Phantasie, sondern ein Grundbedürfnis der menschlichen Natur“, so Mixa. Mit der Anerkennung eines Adoptionsrechts für homosexuelle Lebensgemeinschaften würde sich die CSU von der Mehrheit ihrer katholischen Stammwähler entfernen und oberflächlichen modischen Trends nachgehen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
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Aktualität der hl. Gertrud von Helfta

Die Kirche feiert heuer das 750-jährige Jubiläum der Geburt der hl. Gertrud. Sie kam am 6.1.1256 in Thüringen zur Welt und fand bereits mit fünf Jahren im Kloster St. Marien zu Helfta ihr Zuhause. Dort entwickelte sie eine einzigartige mystische Liebesbeziehung mit Gott, die sich in ihrem Hauptwerk „Gesandter der göttlichen Liebe"[1] widerspiegelt. Sr. M. Assumpta Schenkl OCist., die Äbtissin des Klosters Helfta, zeigt die Aktualität dieses fesselnden Buches auf. Nachfolgend eine gekürzte Fassung ihres Vorworts.

Von Äbtissin M. Assumpta Schenkl OCist

Trümmer, Ruinen, Schutt, Morast – dies war der Anblick, der sich dem Besucher bot, der 1990 nach dem ehemaligen Kloster Helfta forschte; ein trostloses Bild. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts war das einst so berühmte Kloster – „Krone der deutschen Frauenklöster“ nannte man es – kein Kloster mehr, sondern ein landwirtschaftlicher Betrieb, dessen Gebäude man im letzten Jahrhundert mehr und mehr dem Verfall überließ. Nichts, gar nichts mehr war zu sehen oder zu spüren von dem lieblichen Garten der „Wunderblume von Helfta“, wie man die hl. Gertrud, die im 13. Jahrhundert hier gelebt hatte, liebevoll bezeichnete. Schutt und Asche!

Und doch fanden sich Menschen, die, trotz des spöttischen Lachens der Skeptiker, sich mit aller Kraft und Begeisterung dafür einsetzten, dass gerade dieses Kloster wieder ins Leben gerufen werden sollte – und dies, so unmöglich es schien, auch tatsächlich erreichten. Warum? Weil, allem Anschein zum Trotz, etwas vom Duft der Wunderblume von Helfta in diesen zerbröckelnden Mauern hängengeblieben war, weil ihr Geist hier noch immer lebendig war; und, letzten Endes, weil Gott wollte, dass durch die Wiedererrichtung dieses Klosters das geistliche Erbe dieser von Ihm so sehr geliebten Tochter, Freundin und Braut für die Menschen wieder sichtbar, spürbar, ja fast greifbar werden konnte.

Hat denn der Geist, haben die Gedanken einer im 13. Jahrhundert lebenden Nonne, die, eingeschlossen in ihr Kloster, ein ganz verborgenes Leben führte, uns heute noch etwas zu sagen? Uns Menschen des 21. Jahrhunderts, die wir in einer völlig veränderten Welt leben? Warum jetzt ihr Werk gleichsam wieder ausgraben und neu veröffentlichen? Die Antwort ist ganz einfach: Die Botschaft der hl. Gertrud, der Kern ihrer Aussage, gehört zum zeitlos Gültigen. Und was ist dies?

Zuallererst wohl die Erfahrung, die sie bei ihrer ersten Vision und dann immer und immer wieder machen durfte: Gott liebt uns, ER geht uns nach, ER sucht uns, ja, ER hat Sehnsucht nach uns, Sehnsucht danach, uns zu „berühren“, uns „zu tränken mit dem Strom seiner Wonnen“, wie ER es Gertrud ausdrücklich sagt. Und ER sagt dies ja nicht nur ihr, ER meint damit uns alle. Und wonach hat das Menschenherz, heute wie damals, mehr Verlangen als danach: geliebt, ersehnt, angenommen, umfangen und geborgen zu sein? Gertrud zeigt uns den Weg, wie wir zu solcher Geborgenheit gelangen können: Indem wir CHRISTUS immer mehr zur Mitte unseres Lebens machen, uns an IHM festmachen, an IHM orientieren. Und wiederum an ihr können wir erkennen, wie dadurch unser Herz zur Ruhe kommt, Frieden und Freude findet.

Drei Früchte, die uns aus einer solch innigen und tiefen Beziehung erwachsen, können wir an Gertrud ablesen:

Da ist vor allem ihr unbedingtes Vertrauen auf Gottes vorausschauende und vorsorgende Güte und seine unbedingte Vergebungsbereitschaft. Wie weit sind wir heute von einer solchen Haltung entfernt! Nach allen Seiten hin wollen wir uns absichern, leben aber dennoch ständig in Unsicherheit, Angst und Misstrauen gegen Gott und die Welt. Wie viel hat uns Gertrud in ihrer unbedingt vertrauenden Sorglosigkeit gerade in dieser Hinsicht zu sagen!

Aus ihrer Erfahrung der Liebe und Fürsorge Gottes entspringt bei Gertrud eine große Dankbarkeit. Wie sehr neigen wir alle dazu, die ungezählten Wohltaten Gottes, von denen wir täglich leben, als ganz selbstverständlich anzunehmen, ohne dass uns je der Gedanke käme, auch einmal zu danken, Gott für seine unerschöpfliche Güte zu loben.

Ein Letztes möchte ich anführen. Was mich immer wieder berührt und auch in Erstaunen setzt, ist die große Weltoffenheit dieser in Klausur lebenden Nonne. Sie ist offen für jeden Menschen, der bei ihr Rat, Trost und Hilfe sucht. Gerne opfert sie dafür auch die kostbare Gebetszeit und das stille Verweilen bei dem geliebten Herrn. Diese Bereitschaft, für die Menschen da zu sein, gleichsam Gott mit ihnen zu teilen, scheint mir der beste Beweis für die Echtheit ihrer Gottesliebe. Das 1. und das 2. Gebot durchdringen sich in ihr gegenseitig, so wie der Herr es wünscht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
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[1] Gertrud die Große von Helfta: Gesandter der göttlichen Liebe, Stein am Rhein, 507 S., 26 Abb., Hardcover, ISBN 978-3-7171-1093-4.

Exerzitien der Priesterbewegung „Corpus Christi“

Vom 2. bis 8. Januar 2006 nahm Direktor Thomas Maria Rimmel in Mexiko an den Exerzitien der Priesterbewegung teil, die von der sel. Mutter Teresa ins Leben gerufen wurde. Er ist begeistert von der frohen und zuversichtlichen Atmosphäre, die unter den Priestern herrschte. Diese zutiefst marianisch ausgerichtete Gemeinschaft, so Rimmel, kann eine positive Einstellung zum priesterlichen Dienst vermitteln und der Berufung neuen Schwung verleihen.

Von Thomas Maria Rimmel

Herzlich willkommen im Haus der Gottesmutter!“ Mit diesen Worten begrüßte der Direktor des größten Wallfahrtsortes der katholischen Kirche, Bischofsvikar Diego Monroy Ponce, die knapp 50 Geistlichen der Priesterbewegung „Corpus Christi“. Dort nämlich, im Marienheiligtum Guadalupe in Mexiko-City, fanden dieses Jahr die internationalen Exerzitien der Bewegung statt. Gekommen waren die Priester aus 18 Nationen. Die sel. Mutter Teresa hatte diese Bewegung für Diözesanpriester 1997 wenige Monate vor ihrem Tod in Rom gegründet – gleichsam ihre letzte „Amtshandlung“.

Allein dem Leib Christi dienen

Schon Anfang der 80er Jahre wollten einige Priester den Geist und das Charisma von Mutter Teresa für ihre pastoralen Aufgaben fruchtbar machen, allen voran der Amerikaner P. Joseph Langford MC, der auch nun die Vorträge in Mexiko hielt. Damals noch Mitglied der Patres der Oblaten der Unbefleckten Empfängnis wollte er mit seiner Ordensgemeinschaft die Missionarinnen der Nächstenliebe seelsorglich betreuen. Mutter Teresa wehrte ab. Freilich waren Priester willkommen, die der Schwesterngemeinschaft nahe stehen wollten, doch sollten sie allein dem Leib Christi („Corpus Christi“) dienen. Mit „Corpus Christi“ war erst einmal ein Sammelbegriff für all jene Priester geboren, die sich irgendwie dem Werk der Missionarinnen der Nächstenliebe verpflichtet fühlten und es unterstützen wollten. Aus dieser losen Verbindung gründeten sich 1992 die Patres der Missionare der Nächstenliebe. Doch eine ganze Reihe von Priestern wollte im Diözesandienst verbleiben. Eben für sie wurde 1997 die Priestergemeinschaft „Corpus Christi“ mit heute weltweit 700 Mitgliedern kirchenrechtlich errichtet. Mutter Teresa selbst bestimmte noch den verantwortlichen Koordinator. Es ist Father Pasqual Cervera, der 15 Jahre lang Pfarrer in den Bronx war und heute Spiritual am erzbischöflichen Priesterseminar in New York ist. Er weiß, welche große Wertschätzung der „Engel aus Kalkutta“ für die Priester hegte: „Gerade in der Zeit vor ihrem Sterben galt die Sorge der Seligen der Stärkung der Priesterberufungen. Denn für sie stand fest: Wenn es keine Priester gibt, gibt es keine Eucharistie. Und ohne Eucharistie gibt es kein Leben in der Kirche.“

„Diese Exerzitien haben mein Leben verändert“

Father Pasqual brachte gleich zu Beginn der Exerzitien seine Überzeugung zum Ausdruck, dass nicht er diese Tage organisiere, sondern die Gottesmutter. Er sei sich sicher, im Heiligtum von Guadalupe würden besondere Gnaden fließen, für die sich die Teilnehmer im Gebet nur zu öffnen bräuchten. Tatsächlich resümierte ein Pfarrer aus der Schweiz: „Diese Exerzitien haben mein Leben verändert. Ich durfte ganz neu erfahren, dass das Gebet kein zusätzlicher Dienst ist, sondern wirklich die Kraftquelle meines Lebens. Im Gebet wurden mir hier echte Tröstungen geschenkt.“

Überhaupt muss die Atmosphäre während der Exerzitien als ein besonderes Gnadengeschenk bezeichnet werden. Father Joseph Illo aus Kalifornien: „Wir waren alle ein Herz!“ Ein Seelsorger aus Glasgow (Schottland) versuchte eine Erklärung: „Es wurde keine schmutzige Wäsche gewaschen.“ Statt vom üblichen Kirchenfrust waren die Tage gekennzeichnet von einem echten Geist des mitbrüderlichen Austausches, der Liebe zur Kirche und des Gebets, insbesondere der gemeinsamen Anbetung. „Jeden Tag eine Stunde Anbetung, und alles andere ergibt sich von selbst“, hatte Mutter Teresa gesagt. Wie wahr in diesen Tagen!

Die sel. Mutter Teresa betonte immer wieder, die Corpus-Christi-Bewegung komme direkt aus dem Herzen Jesu und sei für Priester „der kleine Weg zur Heiligkeit“, ganz gleich, wo sie ihr „Kalkutta“ als Arbeitsfeld hätten. „So rein und demütig wie Maria sein, um mit Jesus heilig zu werden“, beschrieb sie diesen Weg. „Man spürte bei den Exerzitien einfach diesen Geist und die Freude, die Mutter Teresa ausstrahlte“, meinte Thierry Francois Devregille, der Wallfahrtsseelsorger von St. Marie sur la Mère in Frankreich, ein ehemaliger Weggefährte der Seligen und Autor eines neuen Buchs über Mutter Teresa.

Juni 2006 in Wigratzbad

Das Charisma von Mutter Teresa wurzelt in einer mystischen Erfahrung aus dem Jahr 1947, „Tag der Inspiration“ genannt. Auf einer Zugfahrt von Kalkutta nach Darjeeling vernimmt sie den Ruf Jesu: „Sei mein Licht!“ Umgeben von den Ärmsten der Armen sah sie sich unter dem Kreuz. Maria stand hinter ihr. Dabei hatte die Gottesmutter ihre linke Hand auf die linke Schulter von Mutter Teresa gelegt, gleichzeitig führte sie den rechten Arm der Seligen zum Kreuz empor. Diese symbolische Geste deutete Mutter Teresa von Anfang an dahingehend, dass sie nicht nur Christ sein sollte, sondern auch als Christ handeln müsse. An diesem Tag verstand sie den Durst Jesu nach Liebe und nach Seelen. Das Geheimnis ihrer Berufung war der lebenslange Wunsch, mit Maria diesen Durst Jesu zu stillen.

„Ein Durst, der v.a. auch uns Priester angeht“, unterstrich P. Joseph. Und soll der priesterliche Dienst fruchtbar sein, dann wiederum nur in dem Maß, wie er mit Maria bzw. im Geheimnis Mariens unter dem Kreuz gelebt wird. Denn sie hat als Geschöpf unter dem Kreuz die maximale Antwort gegeben. Auf dieser Linie wird die Präsenz Mariens auch im priesterlichen Leben die Begegnung mit Gott und den Dienst an den Menschen nicht beeinträchtigen, sondern maximieren. Nicht zufällig war der Höhepunkt der Exerzitien die gemeinsame Weihe an die Gottesmutter Maria.

Dass die nächsten deutschsprachigen Exerzitien der „Corpus Christi“-Priesterbewegung vom 11. bis 14. Juni 2006 mit Father Pasqual und P. Thomas Kleinschmidt als Referenten auf Fronleichnam hin im diözesanen Heiligtum Wigratzbad stattfinden, unterstreicht diesen Weg.  Möge auch in der Gebetstätte Wigratzbad die Gottesmutter diese Tage organisieren: „Willkommen im Haus der Unbefleckt empfangenen Mutter vom Sieg!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
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Sorge eines Bischofs um seine Priester

Bei den Exerzitien der Priestergemeinschaft „Corpus Christi“ Anfang dieses Jahres in Mexiko hielt Msgr. Emilio Carlos Berlie Belaunzarán, der Erzbischof von Yucatán, einen offenherzigen Vortrag. Unter anderem brachte er seine Sorge um die Situation der Priester in unserer Zeit zum Ausdruck. Nachfolgend ein Auszug dieser Ansprache, die eine ganze Reihe wertvoller Impulse für den priesterlichen Dienst und den Einsatz für geistliche Berufe enthält.

Von Emilio Carlos Berlie, Erzbischof von Yucatan

Einsatz für Berufungen

Priesterberufungen haben für die Kirche Priorität. Denn die Kirche baut sich um die Eucharistie und das sakramentale Leben auf. Es ist unsere vorrangige Aufgabe, uns für Berufungen einzusetzen. Wenn mich Journalisten nach der Zielsetzung der Kirche fragen, antworte ich: „Evangelisation!“ Aber um zu evangelisieren, brauchen wir neue, junge Berufungen. Nur dann kann sich die Jugend mit der Kirche identifizieren. Zwischen 1978, als Johannes Paul II. zum Papst gewählt worden ist, und 2005 haben wir weltweit einen Zuwachs von 350 Millionen Katholiken erfahren. Doch es fehlt an Priestern, um eine kontinuierliche Arbeit zu gewährleisten. Weltweit gibt es nur etwa 405.000 katholische Priester. Was können wir für Berufungen tun?

Mutter Teresa: „Komm und sieh!“

Ich fragte einmal Mutter Teresa: „Habt Ihr irgendwelche Vorschläge, wie wir die Jugend für das Reich Gottes begeistern können?“ Sie sagte: „Komm und sieh!“ Das war ihre einzige Werbung. Könnten wir als Priester auch in dieser Weise auf die Jugendlichen zugehen? Können wir sie einladen, zu kommen und einmal unter die Lupe zu nehmen, wie und was wir leben? Eines Tages wollte eine Frau den Pfarrer sprechen, der ein ziemlich komfortables Leben führte. Sie wusste nicht, dass er bereits verstorben war. Die Leute antworteten ihr: „Er ist nicht da – er ging in ein besseres Leben.“ Erstaunt fragte die Frau: „Ein noch besseres Leben, als er es im Pfarrhaus hatte?“ Da müssen wir uns fragen: Inspiriert mein Lebensstil Jugendliche dazu, gute Hirten zu werden?

Priester mit Zölibatsproblemen

Bei unseren Jungpriestern gibt es viele Probleme – nicht wegen mangelhafter Bildung. Wir hatten in unseren Seminaren noch nie einen so hohen Bildungsstandard wie heute. In unserem Hauptseminar haben wir zur Zeit 120 Studenten. Ihnen stehen 50 Lehrkräfte zur Verfügung. Elf Priester widmen sich ihnen vollzeitlich. Sie haben die Chance, im Ausland zu studieren. Doch das Problem liegt nicht im Wissen, sondern in der inneren Struktur, im Herzen. Ein Priester steckte in Beziehungsschwierigkeiten. Ich fragte ihn: „Wie oft betest du? Nimmst du dir für das Gebet ebensoviel Zeit wie für diese junge Frau?“ Intellektuelle Bildung war bei ihm reichlich vorhanden, doch die geistliche Formung war armselig. Es gab fast keine gelebte Spiritualität. In der Gemeinschaft von Mutter Teresa gab es die ersten Jahre hindurch nur eine Anbetungsstunde pro Woche, später zwei und bald täglich eine. Wir könnten es ähnlich machen und unser Gebetsleben verbessern. Ohne Gebet verarmt unser geistliches Leben: Wir leben als Funktionäre, aber nicht als Hirten.

Fernsehen behindert geistliches Leben

Unser Regens ist Präsident der lateinamerikanischen Priesterseminare. Es sind über 1000 Häuser. Bei allen Ausbildungsbemühungen ist die spirituelle Verfassung der Priester brüchig, vor allem bei den jungen. Wir forderten von allen Mitgliedern der letzten fünf Weihejahrgänge, dass sie einen guten geistlichen Führer haben und sich zusätzlich jeden Monat mit einem anderen, ihnen persönlich zugeordneten Priester treffen, der sie begleiten soll. Wir haben – Gott sei dank – viele Berufungen. Letzten September gab es in unserem Seminar 32 Eintritte. Aber trotz der äußeren Strukturen mangelt es häufig an innerer Stabilität. Hier kann die Corpus-Christi-Bewegung einen wertvollen Beitrag leisten. Sie ist ein Ruf zum Wesentlichen. Sehr oft werden junge Priester von Zweitrangigem angezogen, besonders vom Fernsehen. Dieses ist zu einer großen Herausforderung für unser geistliches Leben geworden, die uns mit Sorge erfüllt. Mein großes Anliegen, das ich als Hirte habe, ist es, die praktizierte Spiritualität zu vertiefen.

Mitbrüderlichkeit pflegen

Mutter Teresa betonte im Blick auf die Corpus-Christi-Bewegung die Wichtigkeit von Mitbrüderlichkeit und gegenseitiger Begleitung. Etliche Priester, die sich bereits entschlossen hatten auszusteigen, sind uns erhalten geblieben, weil wir ihnen einfach Freundschaft und Anteilnahme erwiesen haben. Freunde luden sie ein – zum Essen, ins Kino, zu gemeinsamen Aktivitäten. Und diese Priester, die sich in der Krise befanden, entdeckten plötzlich die alte Verbindung wieder, die sie einmal hatten. Als Diözesanpriester waren sie in der Pfarrei allein, als Einzelkämpfer fehlte ihnen eine solche Freundschaft. Deshalb rate ich den Priestern, Freundschaften untereinander zu pflegen und sich besonders um die eigenen Kurskollegen zu kümmern. Ein Priester unter Freunden verspürt Beistand. Nehmen wir andere in die Mitbrüderlichkeit hinein, anstatt einfach zu sagen: „Schade, dass er aufhört.“

Im Geist von Mutter Teresa

Mutter Teresa kann uns Priestern ein Vorbild sein. Ihr Glaube, ihr Vertrauen, ihre Liebe zur Kirche, ihre Einfachheit waren großartig. Wie eine richtige Mutter sorgte sie für ihre Kinder – sehr einfach und aufmerksam. Immer wollte sie das „Mich dürstet!“ neben dem Kreuz haben.

Dabei war sie von einer großen Liebe zur Eucharistie erfüllt. So sollte auch unser eigener Dienst sein. Als Priester brauchen wir dieses Beispiel: Glaube mit Zutrauen, Liebe zur Kirche trotz derer offensichtlichen Fehler, Entschlossenheit und Einfachheit – und Liebe zur Eucharistie.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
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Weihegebet

der Priesterbewegung „Corpus Christi“ an Unsere Liebe Frau, die allerseligste Jungfrau Maria:


Mutter Gottes und meine Mutter,

ich, N., weihe Dir heute meinen priesterlichen Dienst.

Ich will mich Dir anvertrauen, damit Du mein Herz

nach Deinem unbefleckten Herzen formen kannst,

um Gott und den Nächsten zu lieben

mit Deiner gleichen Demut und Deinem Großmut.

Im Geist des liebenden Vertrauens und mit ganzem Herzen

übergebe ich Dir mein Leben, um Gott zu dienen

durch Reinheit, Gehorsam, Einfachheit des Lebens

und durch eine Verfügbarkeit für die Nöte jener,

denen zu dienen ich gerufen wurde.

Leite mich an, den Durst Jesu nach Liebe und Seelen zu stillen

durch ein Leben des Gebets und der apostolischen Arbeit.

Ich will Jesus, dem guten Hirten, stets mit Frohmut nachfolgen:

Den Preis meiner Opfer will ich nie aufrechnen und auch die

kleinen Dinge des Alltags will ich immer mit großer Liebe tun.

Erfülle mein Herz mit Dankbarkeit über das Geschenk

meiner kostbaren Berufung und mit Staunen über die

Großtaten Gottes, der durch mich wirkt: besonders wenn Er

in Liebe auf den Altar herabsteigt durch meine Hände.

Gib mir vor allem die Sehnsucht, heilig zu werden, und den Eifer,

jene in den Himmel zu führen, die meiner Sorge anvertraut sind.

Hilf mir, als ein „zweiter Christus“ in unserer heutigen Welt

zu leben; und gib, dass ich das Licht Seiner Liebe ausstrahle,

wo immer ich hingehe. Ich will ganz und gar nur für

Jesus da sein – durch Dich, o Maria. Amen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Bekennerbischof Boleslaus Sloskans

Zum 25. Todestag des lettischen Bekennerbischofs Boleslaus Sloskans am 11. April dieses Jahres hat Prof. Dr. Rudolf Grulich einen aufschlussreichen Beitrag verfasst, der uns viele geschichtliche Zusammenhänge neu verstehen lässt. Bischof Sloskans starb 1981 im belgischen Exil und ruht heute in der Basilika von Aglona in seiner lettischen Heimat. Vor 20 Jahren, als Lettland noch unter sowjetischer Herrschaft stand, konnten nur die Letten im Exil den 800. Jahrestag des Beginns ihrer Christianisierung feiern. Sie taten dies in Rom mit Papst Johannes Paul II., der damals die Hoffnung aussprach, bald Lettland und das Marienheiligtum in Aglona zu besuchen. Erst 1993 war ihm dies möglich.

Von Rudolf Grulich

Anfänge des Christentums in Lettland

Im Jahre 1186 hatte Erzbischof Hartwig II. von Bremen den Augustiner-Chorherren Meinhard aus Segeberg in Holstein zum Bischof der Liven geweiht. 1184 hatte Meinhard bereits in Üxküll am rechten Düna-Ufer eine Kirche erbaut. Ihm waren nach seiner Bischofsweihe noch zehn Jahre der Wirksamkeit vergönnt, ehe er am 14. August 1196 starb. Sein Fest wird an seinem Todestag begangen, also einen Tag vor dem marianischen Hochfest der Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel.

Obwohl sich in der Reformation der größte Teil des heutigen Lettlands von der katholischen Kirche trennte, ist Lettland immer ein marianisches Land geblieben. Das Gnadenbild der Schmerzhaften Muttergottes in Riga blieb erhalten. Zahlreich sind die Mariengedichte und Lieder lettischer evangelischer Dichter. Das gilt noch mehr von dem Teil Lettlands, der unter polnischer Herrschaft katholisch blieb und erst bei den polnischen Teilungen an Russland kam. Hier waren im 16. und 17. Jahrhundert Jesuitenmissionare tätig und es entstanden Wallfahrtsorte wie Skaistkalne (Schönberg) oder Izvolta, dessen Kirche und Gnadenbild aber 1941 von den Bolschewiki zerstört wurde.

Algona – Herz des Katholizismus

Bis heute erhalten und auch in kommunistischer Zeit von zahlreichen Gläubigen besucht ist Aglona im Osten Lettlands, in Latgalien. Das 1699 gegründete Dominikanerkloster beherbergt in der 1780 gebauten Kirche ein Gnadenbild, das eine Nachbildung der Muttergottes von Trakai in Litauen ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg, als Lettland wie Litauen und Estland unabhängige Staaten waren, besuchten jährlich bis zu 200.000 Pilger diesen Gnadenort. Nach der Besetzung durch die Russen wurde 1940/41 auch hier das Kloster samt der wertvollen Klosterbibliothek völlig zerstört. Das Gnadenbild jedoch ist erhalten geblieben und wurde trotz der bolschewistischen Okkupation weiter verehrt und von zahlreichen Pilgern besucht. Heute ist Aglona das Herz des Katholizismus in Lettland, wo auch der polnische Papst bei seinem Besuch zur Muttergottes betete.

Dem marianischen Geist der Versöhnung geweiht hatte sein ganzes Leben auch der lettische Bekennerbischof Boleslaus Sloskans.

Als er 1981 im belgischen Exil seine Augen für immer schloss, hatte sein langjähriger Freund, der Gründer der „Ostpriesterhilfe“ Pater Werenfried van Straaten, in seinem Rundbrief „Echo der Liebe“ seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, Bischof Sloskans möge bald selig gesprochen werden. Die Heiligsprechung P. Maximilian Kolbes hatte uns daran erinnert, dass es viele Zeugen des Glaubens und der Nächstenliebe in den Ländern Osteuropas gibt und dass der Westen und die Kirche auch den Mut haben müssen, den Opfern des Kommunismus unsere Ehre zu erweisen.

Boleslaus Sloskans Weg zum Priestertum

Boleslaus Sloskans wurde am 31. August 1893 im damals vom Zaren beherrschten Lettland geboren und ist dort aufgewachsen. Als 18-jähriger trat er 1911 in das Priesterseminar von St. Petersburg ein, wo er am 21. Januar 1917 von Erzbischof Johann Cieplaks zum Priester geweiht wurde.

Man muss heute die Öffentlichkeit erst wieder daran erinnern, wie die Situation der römisch-katholischen Kirche in Russland vor der bolschewistischen Machtergreifung aussah. Das Päpstliche Jahrbuch nannte immer die damals bestehenden Diözesen: Im eigentlichen Russland gab es die Kirchenprovinz Mohilev mit den Suffraganbistümern Kamienec, Minsk, Schitomir und Tiraspol, wobei letztere meist wolgadeutsche Gläubige hatte. Neben dem Priesterseminar und der Theologischen Akademie in St. Petersburg gab es auch ein deutsches Priesterseminar in Saratow an der Wolga. Schon 1920 wurde der Erzbischof von Mohilev, Eduard von Ropp, und 1923 auch Bischof Johann Cieplaks von den Kommunisten ausgewiesen. In dieser Zeit der Verfolgung schickte Papst Pius XI. den Jesuiten Michel d’Herbigny nach Moskau. Pater d’Herbigny verhandelte offiziell wegen Hilfsmaßnahmen für die notleidende Bevölkerung, hauptsächlich für die hungernden Kinder, er hatte aber auch von Nuntius Eugenio Pacelli in Berlin die Bischosweihe erhalten und hatte Vollmacht und Auftrag des Papstes, Bischöfe für die Kirche in Russland geheim zu weihen.

Geheime Bischofsweihe und Verfolgungen

Hinter den verschlossenen Türen der St. Ludwigskirche in Moskau legte er vor 80 Jahren am 10. Mai 1926 dem jungen Priester Boleslaus Sloskans – er war nicht einmal 33 Jahre alt – die Hände zur Bischofsweihe auf und ernannte ihn zum Apostolischen Visitator für Mohilev und Minsk. Der geheim Geweihte kehrte in seine nun Leningrad genannte Pfarrei zurück, wo er als einfacher Priester lebte, aber seine Diözese zu bereisen versuchte, um heimlich zu firmen. Schon nach einem Jahr wurde Sloskans am 11. Mai 1927 verhaftet. Sechs Jahre lang wurde er gefoltert und gequält, darunter auch auf der berüchtigten KZ-Insel Solowki im Weißen Meer. Der Speckpater Werenfried, der ihn gut kannte, schrieb über dieses Schicksal:

„In 17 Sowjetgefängnissen hat er um des Glaubens willen gelitten. In dem Moskauer Lubjanka-Gefängnis wurde er, nackt auf einen Tisch gebunden, bis aufs Blut gegeißelt. Er wurde aufrecht stehend in einen schmalen Käfig gepresst, worin ihm keine einzige Bewegung möglich war und Tag und Nacht eiskaltes Wasser auf seinen Kopf tropfte.

Wochenlang lag er unter dem blendenden Licht eines Scheinwerfers platt auf dem Rücken an den Boden gekettet. Drei Monate wartete er in der stockfinsteren Todeszelle auf seine Hinrichtung. Seine einzige Nahrung war eine faule Suppe, und die Zeit konnte er nur an den Schritten der Gefangenen abschätzen, die aus den Nachbarzellen zum Erschießen abgeführt wurden. Trotz all dieser Marterung blieb sein Geist ungebrochen.

Ohne Nachlassen meditierte er betend den Kreuzweg und die Mysterien des Rosenkranzes. Als ein Wärter sein Lächeln sah und erstaunt ausrief: ‚Du bist glücklich?!‘ antwortete der Bischof: ‚Ja, denn ich bin völlig frei, während Sie es nicht sind.‘“

Zeuge der vatikanischen Ostpolitik

Später hat der Bischof darüber seine Erinnerungen niedergeschrieben, die vom Münchner Büro von „Kirche in Not“ herausgegeben wurden. Noch mehr hat Sloskans seinem Freund P. Werenfried mitgeteilt, auch über die Umstände seiner Freilassung, worüber P. Werenfried schreibt:

Im Jahre 1933 erwirkte die Regierung von Lettland im Tausch gegen einen russischen Spion seine Freilassung. Der Bischof weigerte sich, die Sowjetunion zu verlassen, weil er sich dazu verpflichtet fühlte, als Hirte bei seiner Herde zu bleiben. Als ein kirchlicher Diplomat ihm wahrheitswidrig mitteilte, der Papst habe ihn nach Rom gerufen, gehorchte er mit blutendem Herzen. In Rom musste er erleben, dass Papst Pius XI. die Erklärung seines Nuntius Lügen strafte und den Grundsatz bestätigte, dass ein Bischof bei seiner Herde zu bleiben hat. Als viele Jahre später diesem Prinzip von neuem zuwider gehandelt wurde, hat mir Bischof Sloskans sein Geheimnis anvertraut mit der Erlaubnis, es nach seinem Tode bekannt zu geben. Das tue ich jetzt aus Liebe zur Kirche, in der die Diplomaten keine führende, sondern eine untergeordnete Rolle spielen müssen.“

Von Rom kehrte Sloskans nach Lettland zurück, wo er an der Theologischen Fakultät in Riga Moral und Aszetik lehrte. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges brachten ihn die Nationalsozialisten nach Deutschland. Einige Zeit verbrachte er in Bayern, in Eichstätt. 1947 ging er nach Belgien, wo er bei Brüssel ein Seminar für lettischen Priesternachwuchs gründete. Im Jahre 1952 ernannte ihn Pius XII. zum Apostolischen Visitator für die Russen und Weißrussen, 1955 auch zum Moderator für Letten und Esten im Exil.

In dieser Zeit bis 1979 wohnte Sloskans in der Abtei Keyserberg in Löwen. Er nahm regelmäßig an den Internationalen Kongressen „Kirche in Not“ in Königstein teil, wo ihm der Leiter der Königsteiner Anstalten, Prälat (und seit 1966 Bischof) Kindermann die Eröffnung des Kongresses anvertraute, weil er ihn als lebendes Symbol der verfolgten Kirche betrachtete. Bis zu seinem Tode 1981 blieb Bischof Sloskans ein Mann der Innerlichkeit und des Gebetes. Er war der letzte Zeuge der frühen vatikanischen Ostpolitik der 20er Jahre.

Die Sowjets ermordeten seine ganze Familie. Kein Leid konnte ihn verbittern. Von seiner Mutter hatte er gelernt, mehr für die Mörder als für die Ermordeten zu beten. So betete er täglich den Rosenkranz zur Mutter Maria, der Herrin seiner geliebten Heimat Lettland, die er nicht mehr wieder sehen durfte.

Rückkehr nach dem Tod

Als die Sowjetunion 1991 zerfiel und Lettland wieder seine Freiheit erhielt, konnte der tote Bischof in seine Heimat zurückkehren und ruht heute in der Krypta der Basilika von Aglona.

Mit 400.000 Gläubigen unter über zwei Millionen Einwohnern machen die Katholiken zwar weniger als 20% der Gesamtbevölkerung aus, sie sind aber die stärkste und aktivste Glaubensgemeinschaft, da unter Protestanten und Orthodoxen die Atheisierungskampagnen der Moskauer Machthaber größeren Schaden anrichteten. Als nach 1918 bis 1940 Lettland selbständig war, wirkten auch bayerische Kapuziner in Riga und anderen Orten. Sie mussten 1939 das Land verlassen. Einige von ihnen ruhen auf dem Kapuzinerfriedhof in Altötting. In Lettland traf ich immer wieder alte Gläubige, die sich voller Dankbarkeit dieser Patres und Brüder erinnerten. Bis zur Kirchenverfolgung unter den Sowjets hatte es ein lettisches Kommissariat der Bayerischen Kapuzinerprovinz gegeben.

Wer einmal am 14. und 15. August in Aglona erlebt hat, wie über 100.000 Pilger aus dem ganzen Land zusammenkommen, kann ahnen, dass der Bekennermut eines Bischof Sloskans segensreich war und der Glaube bei seinem Volke noch lebendig ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2006
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