Ungenützte Kirchen für neue Gemeinschaften

Immer aktueller und brisanter wird die Frage nach der Nutzung und Erhaltung von Kirchengebäuden, die aufgrund dramatischen Gläubigenmangels nicht mehr gebraucht werden. Die enormen finanziellen Lasten zwingen zum Handeln. Diskutiert werden sowohl Umnutzung als auch Abriss der Gebäude. Für gläubige Christen ist dieses Szenarium erschreckend, verbunden mit Wehmut und tiefem Schmerz angesichts der immer häufiger vollzogenen offiziellen Profanierungen von Gotteshäusern. Der nachfolgende Beitrag ist ein Plädoyer für eine freizügige Überlassung betroffener Kirchen an neue Gemeinschaften, die sich mit missionarischem Eifer an das Werk der Neuevangelisierung machen.

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Kardinal Sterzinsky übernimmt Vorreiterrolle

Der Erzbischof von Berlin, Georg Kardinal Sterzinsky, hat ein Zeichen gesetzt. Die katholische Kirche St. Clemens in Berlin-Kreuzberg stand bereits auf der Liste der ungenützten Kirchengebäude, die zur sog. „Umnutzung“ bestimmt wurden. Erbaut hatte das Gotteshaus der inzwischen selig gesprochene Kardinal Clemens August Graf von Galen (1878-1946). Der spätere Papst Pius XII. suchte St. Clemens als damaliger Nuntius in Berlin regelmäßig zur Beichte auf. Nun sollte das gottesdienstliche Leben in dieser Kirche ein Ende finden. Da traf der Berliner Oberhirte die mutige Entscheidung, das Gebäude indischen Patres mit charismatischer Ausrichtung für ihre Mission in Deutschland zur Verfügung zu stellen. Am 3. Juli 2006 weihte er das mit dieser Kirche verbundene neue Exerzitienzentrum ein und übertrug die Leitung einem indischen Vinzentiner-Orden. Die Patres übernahmen damit auch die Verantwortung für St. Clemens. Mit diesem Schritt trat der Kardinal in eine Vorreiterrolle ein. Er wies den Weg für eine Entwicklung, die eine echte Antwort auf das drängende Problem vieler leer stehender Kirchen bedeuten kann. Deutschland ist zu einem Missionsland geworden und dieser neuen Situation möchte der Kardinal mit seiner Entscheidung ausdrücklich Rechnung tragen. Doch geht es ihm nicht nur um den Auftrag der Neuevangelisierung, sondern auch um ein Zeugnis dafür, dass wir als katholische Kirche eine Weltkirche sind. Weitergabe und Erneuerung des christlichen Glaubens lebten immer schon vom missionarischen Austausch zwischen den verschiedenen Völkern.

Empfehlung der Bischofskonferenz

Mit Datum vom 24. September 2003 hat die Deutsche Bischofskonferenz ein eigenes Dokument zur „Umnutzung von Kirchen“ herausgegeben und darin „Beurteilungskriterien und Entscheidungshilfen“ angeboten (Arbeitshilfen Nr. 175). Unter den möglichen Optionen wie Verkauf oder Abriss einer Kirche wird zunächst der Verbleib im kirchlichen Eigentum in Betracht gezogen. Zu einer weiteren liturgischen Nutzung von katholischer Seite heißt es darin lediglich: „Das Kirchengebäude kann als Citykirche, als Kirche für eine katholische muttersprachliche Gemeinde, eine Personalgemeinde, als Ort der Trauer oder als Begräbnisstätte genutzt werden.“ Ein geistliches Zentrum für missionarische Aktivitäten wird dabei nicht angedacht. Natürlich muss, wie im Dokument mehrfach hervorgehoben wird, das „Hausrecht“ der Kirchengemeinde beachtet werden, in deren Besitz sich die Kirche bis dato befindet. Doch wäre es gerade die Aufgabe der Bischöfe, geistliche Gemeinschaften oder Bewegungen zu vermitteln, die nur darauf warten, in Deutschland eine Heimat und ein Wirkungsfeld zu erhalten. Eine Pfarrgemeinde ist dabei überfordert, sich zunächst aus ihrem eigenen Gotteshaus zurückzuziehen und anschließend Gruppen oder Kongregationen einzuladen, die unabhängig von den Pfarrstrukturen wirken. Es bedarf der überpfarrlichen Koordination, um Lösungen herbeizuführen, die auf einer neuen Ebene angesiedelt sind.

700 katholische Kirchen vor Umnutzung

Am 8. September 2006 veröffentlichte die WELT einen Beitrag von Dankwart Guratzsch, der besonders die Situation der evangelischen Kirche in Deutschland beleuchtet. Die Fakten sind in der Tat alarmierend: „Im Zeitraum zwischen 1950 und 2000 ist die Zahl der Kirchenbesucher von zwölf Millionen auf inzwischen vier Millionen zurückgegangen. Fast die Hälfte der mehr als 20.000 evangelischen Kirchen und Kapellen auf dem Gebiet der Bundesrepublik wird in naher Zukunft nicht mehr für Gottesdienste benötigt.“ Aus Kostengründen werden Kirchen abgerissen oder anderen Nutzungen zugeführt: Wohnungen, Büros, Geldinstitute, Restaurants, Tanzschulen oder Kaufhäuser sind bereits in vielen Kirchengebäuden eingerichtet worden.

Für die katholische Kirche gab die Deutsche Bischofskonferenz am 20. Dezember 2005 bekannt, dass von den rund 24.500 Kirchengebäuden in Deutschland derzeit nur etwa 1,3 Prozent nicht für die Feier von Gottesdiensten genutzt werden. Zwischen 1990 und 2004 wurde in ca. 1,7 Prozent der Kirchengebäude die liturgische Nutzung beendet. Davon ist der größte Teil (ca. 1,3 Prozent) im Eigentum der Kirche geblieben und steht in kirchlicher oder fremder Nutzung bzw. ist noch ohne Nutzungskonzept. Der Rest (ca. 0,4 Prozent) ist verkauft oder abgerissen worden. Von den verkauften Gebäuden wird etwa die Hälfte kommerziell und ein Drittel durch andere Glaubensgemeinschaften genutzt. Für die kommenden 10 Jahre wird damit gerechnet, dass weniger als 3 Prozent der Kirchengebäude nicht mehr der Feier der Liturgie dienen werden. Es handelt sich bundesweit um etwa 700 Kirchengebäude, deren Bedeutung und Verwendung sich ändern werden.

„Rettet unsere Kirchen!“

Selbst wenn die katholische Kirche in Deutschland sehr behutsam vorgeht und im Vergleich zu den christlichen Kirchen in anderen Ländern wie Großbritannien und den Niederlanden noch gut dasteht, so sind 700 Kirchen in einem Zeitraum von 10 Jahren doch eine gewaltige Zahl. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz hat im Dezember 2004 die bundesweite Kampagne „Rettet unsere Kirchen“ gestartet. In ihrem Aufruf heißt es: „Wer in eine fremde Ortschaft kommt, der lässt meist den Blick über die Häuser gleiten. Bis er das höchste Gebäude sieht: die Kirche. Dort, so weiß man, muss das historische Zentrum sein. Denn Kirchen sind bis heute das Herz unserer Städte und Dörfer. Hierhin zieht es die Menschen seit Jahrhunderten, um neue Kraft zu schöpfen, wichtige Stationen des Lebens zu begehen und innere Einkehr zu halten.“ Eine solche Aussage von Seiten eines „weltlichen“ Vereins muss uns zu denken geben. Welche Verantwortung übernehmen wir, wenn wir dem Sterben von Kirchen zusehen, obwohl es ein gewaltiges Potential an kirchlichem Aufbruch gibt, dem diese Gotteshäuser eine Herberge bieten könnten.

Neue missionarische Gemeinschaften

Ein solches Konzept verlangt einerseits eine grundsätzliche Offenheit gegenüber jungen geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen, andererseits die Bereitschaft, das missionarische Wirken solcher Gruppen an geistlichen Zentren mit der ordentlichen Seelsorge in den Pfarreien konstruktiv zu verknüpfen. Natürlich treten gerade in jungen Bewegungen immer wieder Einseitigkeiten und unausgereifte Erscheinungen auf, ganz abgesehen von der geistigen Angefochtenheit, die alle Neuaufbrüche im Reich Gottes durchzustehen haben. Es ist die Aufgabe und zugleich die Chance der Hirten, neue Entwicklungen aufmerksam zu begleiten und wenn nötig auch zu korrigieren. Fruchtbar kann ein solcher Weg nur werden, wenn sich einerseits die missionarischen Gemeinschaften den örtlichen Gegebenheiten und pastoralen Bedürfnissen anpassen, andererseits die kirchlichen Verantwortlichen auf Bistumsebene ihrer Verantwortung nachkommen und sich aufbauend um die Integration dieses missionarischen Engagements in das kirchliche Leben der Diözese bemühen. In diesem Zusammenhang ermutigt Erzbischof Paul Josef Cordes zur Freimütigkeit und erinnert an die mahnenden Worte des hl. Apostels Paulus: „Löscht den Geist nicht aus!“

Sei es das Neokatechumenat, die Legionäre Christi mit ihren Gliederungen wie dem Regnum Christi, die Herolde des Evangeliums, die Gemeinschaft der Seligpreisungen, die Johannesgemeinschaft, die Christusgemeinschaft, das Werk, die Familie Mariens, die marianische Gemeinschaft Oase des Friedens, Emmanuel, Totus Tuus, JUGEND 2000 oder eine der verschiedenen charismatischen Erneuerungsbewegungen, um nur einige zu nennen. Zu denken ist auch an etablierte Gemeinschaften wie das Opus Dei oder die Fokolar-Bewegung, ebenso an die Organisatoren der Alphakurse und das Evangelisationszentrum von Pater Hans Buob SAC oder das von Pater Mag. Josef A. Herget C.M., dem Seelsorger der katholischen Türken in Österreich, gegründete „Institut St. Justinus – Werk der Erstverkündigung“. Viele von ihnen warten schon lange auf eine offene Türe, auf eine wohlwollende Einladung von Seiten eines Bischofs.

Geistliche Zentren

Leer stehende Kirchen wären eine gute Möglichkeit für Gemeinschaften und Bewegungen, ihr besonderes Charisma zur Entfaltung zu bringen und für die gesamte Kirche fruchtbar zu machen. Was innerhalb der Pfarreien aufgrund spezieller Akzentsetzungen möglicherweise mit Schwierigkeiten verbunden wäre, könnte als offenes Angebot in Form von geistlichen Zentren problemlos wachsen. Es würde sich zeigen, dass solche Seelsorgestätten keine Konkurrenz zu den Gemeinden darstellen oder die noch verbliebenen Gläubigen abziehen, sondern umgekehrt. Aus solchen Oasen kann geistliches Leben hervorgehen, das auch die Sonntagsgottesdienste in den Pfarreien wieder füllt.

Hier ist auch an die besondere liturgische Form des tridentinischen Ritus zu denken. Anstatt zu betonen, viele Anhänger des alten Ritus würden an der Gültigkeit der neuen Messe zweifeln oder im Grunde bestehe überhaupt keine Nachfrage, sollte man die Wünsche auch dieser Gläubigen ernst nehmen und durch vollkommene Offenheit integrativ wirken. Dies könnte viele Spannungen zwischen den unterschiedlichen Richtungen innerhalb der Kirche auflösen und verunsicherte Gläubige wieder in die Mitte der Kirche zurückführen. Je angstfreier die kirchlichen Verantwortlichen in den Diözesen solche Gottesdienste auf überpfarrlicher Ebene ermöglichen würden, umso versöhnter und harmonischer könnten die verschiedenen Formen der Liturgie einander ergänzen. Warum sollte man ungenützte Kirchen nicht einer Priesterbruderschaft St. Petrus zur Verfügung stellen? Sollte unter den Gläubigen ein Bedarf bestehen, so ist es die ausdrückliche Verantwortung der Bischöfe, diesem Bedürfnis entgegenzukommen. In diesem Sinn wäre es sogar ein Gewinn für das kirchliche Leben, wenn Personalpfarreien entstünden, die sich dem alten Ritus verbunden fühlen. Insbesondere in Städten bieten leer stehende Kirchen eine problemlose Möglichkeit, ein solches Angebot zu schaffen.

Das Ringen um St. Afra in Berlin

Ein Beispiel für die Entstehung einer Personalpfarrei von Gläubigen, die den tridentinischen Ritus lieben, ist St. Afra in Berlin. Es handelt sich um ein herrliches Kirchlein, das 1897-98 von Karl Moritz erbaut wurde und sogar unter Denkmalschutz steht. Früher war es die Hauskapelle eines Frauenwohnheims, dann eines Stifts. Zuletzt wurde es vom Bistum Berlin unterhalten, jetzt wird es jedoch nicht mehr gebraucht. So beschloss die „Katholische Wohltätigkeitsanstalt zur hl. Elisabeth“, der es eigentlich gehört, das Gebäude zu verkaufen. Ein Vertrag wurde mit dem Institut des hl. Philipp Neri abgeschlossen, einer jungen Einrichtung päpstlichen Rechts, die sich dem tridentinischen Ritus verpflichtet fühlt. Vor etwa zwei Jahren begann das Institut mit seiner seelsorglichen Tätigkeit. Die Gläubigen werden immer zahlreicher, unter ihnen sind viele kinderreiche Familien. Leider gibt es seit einigen Monaten Spannungen. Obwohl die Gemeindemitglieder sehr großzügig spenden und schon fast die Hälfte der geforderten Summe von 450.000 Euro aufgebracht haben, wollten die Rechtsanwälte der Schwestern den Kauf rückgängig machen und drohten bereits mit einer Räumungsklage. Es wäre im Grunde genommen absurd, wenn katholische Schwestern eine Kirche lieber in weltliche Hände veräußern würden, weil ihnen angeblich das Geld nicht schnell genug kommt, als traditionsverbundenen Katholiken ein gemeinschaftliches Leben zu ermöglichen, das sich auf höchster kultureller Ebene entwickelt.

Flucht oder Vertreibung?

Dankwart Guratzsch gibt im genannten Artikel zu bedenken, dass die leeren Gotteshäuser „einmal mehr das Scheitern der Seelsorge“ signalisieren könnten. „Viele Pfarrer wollen es nicht wahrhaben: Die Flucht aus den Kirchen, sie ist oft eher eine ‚Vertreibung‘. Viele Kirchenmänner beider Konfessionen wissen mit dem Auftrag des Gottesdienstes nichts mehr anzufangen. Sie predigen ohne Feuer, ohne Seele, ohne Hingabe. Sie stimmen Lieder an, die die Gemeinde nicht mitsingen kann. Sie vermögen nicht mehr, die Feier unter dem Kreuz als Ereignis zu gestalten. Nur bei den ganz hohen Festen, zu Ostern, zu Weihnachten, ist Gottesdienst noch Verkündigung und entfaltet seine alte Ausstrahlung, die die Gemeinde baut und bindet.“ Seiner Meinung nach führe nun „der voreilige Rückzug aus den Gotteshäusern nicht zu einer Sammlung, sondern zu Auflösung, Zersplitterung und weiterer Dezimierung der Gemeinden.“

Die Krise des Christentums in der westlichen Welt ist gewiss nicht einfach die Schuld der Seelsorger, die sich meist ehrlich mühen und aufopfern. Angesichts des zunehmenden Materialismus und der fortschreitenden Säkularisierung gibt es keine einfachen Antworten oder Rezepte. Doch wäre es ebenso fatal, wenn Kirchengemeinden und Seelsorger ihre Kirchengebäude lieber abreißen ließen, als zuzugestehen, dass beispielsweise indische oder afrikanische Missionare und Ordensgemeinschaften mit genügend Priesterberufungen neuen Schwung bringen können.

Das Zeugnis „stillgelegter“ Kirchen

Für die evangelische Kirche zitiert Guratsch das Maulbronner Mandat des 25. Evangelischen Kirchenbautages Stuttgart im Jahr 2005: „Auch ‚stillgelegte‘ Kirchen legen Zeugnis davon ab, dass die Geschichte Gottes mit der Welt auf eine gute Zukunft aus ist.“

Der französische Bischof Claude Dagens von Angoulême meinte in einem Interview mit der FAZ zur Entwicklung in Deutschland: „In der Charente gibt es viele alte romanische Kirchen, aber auch eine ganze Reihe jüngerer Kirchengebäude. Ich habe mich allen Versuchen widersetzt, eine Kirche zu schließen oder ein Kirchengebäude aufzugeben. Wie die Sakramente, so sind auch die Kirchengebäude Zeichen Gottes unter den Menschen. Auch sie haben eine soziale Dimension. Für die Gläubigen sind die Kirchen Orte des Gebets oder der Besinnung, aber eben nicht nur für sie. Wir setzen alles daran, dass sie so oft wie möglich offen stehen und zum Besuch einladen.“

Auch in Italien können die Gläubigen kaum verstehen, wie schnell wir in Deutschland die Abrissbirne oder die Vermarktung als vermeintliche Lösung sehen, so heißt es in Echo Romeo. Dort geben Kulturexperten den Rat: Stehen lassen und notfalls auch verfallen lassen. Ähnlich formuliert es der Hamburger Hauptpastor und Präsident des Evangelischen Kirchentages, Helge Adolphsen: Besser als eine „imageschädigende Fremdnutzung“ oder ein Abriss von Kirchen sei, sie einfach „auf Zeit stillzulegen“. Das bedeute, dass nur noch „zum Erhalt unbedingt erforderliche Maßnahmen getroffen“ und dennoch „gelegentlich noch Gottesdienste gehalten“ würden, „um die fortdauernde Präsenz der Kirche und ihre Hoffnung zum Ausdruck zu bringen“.

Vision der Hoffnung

Mancherorts werden die Maßnahmen zur Umnutzung von kirchlichen Gebäuden mit einer verblüffenden Zielstrebigkeit getroffen. Als könnte es gar nicht schnell genug gehen, werden nicht nur Kirchen veräußert, sondern auch Jugendheime abgegeben oder Pfarrhöfe verkauft. In dem einen oder anderen Fall sind solche Entscheidungen sicher berechtigt. Man denke z. B. an Kirchengebäude aus jüngerer Zeit, die eher an ein Schwimmbad als an einen Sakralbau erinnern. Doch fragt man sich: Warum sind manche so sehr daran interessiert, Fakten zu schaffen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können? Sind wir denn so sicher, dass es in Zukunft keine Priester mehr geben wird, die Pfarrhöfe bewohnen? Warum kann man diese Gebäude nicht einfach auf Zeit vermieten?

Haben nicht die Ereignisse der vergangenen Jahre gezeigt, wie schnell sich die Atmosphäre ändern kann? Der Abschied von Papst Johannes Paul II. und die Begeisterung für Papst Benedikt XVI. sind nur einige Beispiele, an denen ein Neuaufbruch sichtbar wird. Gerade der Umgang mit unseren kirchlichen Kulturgütern, die oft auf eine reiche Geschichte zurückblicken können, sollte unsere Vision der Hoffnung zum Ausdruck bringen. Rudolf Zewell schrieb in einem Beitrag vom 17. August für den Rheinischen Merkur zu Recht: „Grotesk ist die Tatsache, dass so manches Gotteshaus nur durch den Eingriff der Denkmalpfleger vom Abriss verschont wird.“ Die Rettung für unsere Kirchen müsste vielmehr unsere Hoffnung sein, die Papst Johannes Paul II. in die prophetischen Worte gekleidet hat: „Ich sehe ein neues Missionszeitalter heraufdämmern.“ Ein Plädoyer für eine missionarische Kirche auch in Deutschland!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Charismatisches Exerzitienzentrum St. Clemens in Berlin

Georg Kardinal Sterzinsky hat einen Versuch gestartet: Er stellte die Kirche St. Clemens, die bereits zum Verkauf bestimmt war, indischen Volksmissionaren zur Verfügung. Allerdings wurde das Experiment zunächst bis Ende 2007 befristet. Trotz der erfreulichen pastoralen Entwicklung drängen die Verantwortlichen der Dompfarrei, in deren Besitz sich der Gebäudekomplex befindet, weiterhin zur bald möglichen Veräußerung. Darauf spielte Kardinal Sterzinsky in seiner Rede anlässlich der Einweihung des Exerzitienzentrums mit dem Hinweis an, wer diese Kirche verkaufen oder schließen wolle, solle sich einmal hier herein setzen und Jesus sagen, dass wir diese Kirche nicht mehr bräuchten. Nachfolgend ein Zeugnis von Christian von Jagwitz-Biegnitz, einem engagierten Förderer der indischen Missionare.

Von Christian von Jagwitz-Biegnitz

Am 3. Juli 2006 weihte Georg Kardinal Sterzinsky, der Erzbischof von Berlin, das erste charismatische Exerzitienzentrum eines indischen Vinzentiner-Ordens in Europa ein. Die Feier fand bezeichnenderweise am Fest des hl. Apostels Thomas statt, der nach der Überlieferung Indien evangelisiert hat und dort als Martyrer gestorben ist.

Drei indische Priester für Deutschland freigestellt

Der Orden wurde vor hundert Jahren im südindischen Bundesstaat Kerala gegründet und folgt den Regeln des Heiligen Vinzenz von Paul. Bereits in den siebziger Jahren, als die charismatische Erneuerung auch die katholische Kirche erfasste, gab es einige Vinzentiner-Patres, die besondere Charismen empfingen. Inzwischen führt der Vinzentiner-Orden in Potta, Kerala, das größte katholische charismatische Exerzitienzentrum der Welt. Dort finden jede Woche, also 52 Mal im Jahr, sechstägige Exerzitien statt, an denen jeweils zwischen 10.000 und 20.000 Menschen teilnehmen. Bei besonderen Anlässen und in Ferienzeiten gibt es Einkehrtage mit bis zu 500.000 Teilnehmern. Viele von ihnen, besonders an den wöchentlichen Einkehrtagen, sind Ungetaufte, oftmals Hindus, Buddhisten oder Moslems.

Nachdem das Erzbistum Berlin vor ein paar Jahren in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, wurden zahlreiche Kirchgemeinden zusammengelegt und einige Kirchen einer neuen Nutzung zugeführt. Diese Entwicklung wurde nicht nur durch die finanziellen Schwierigkeiten beschleunigt, sondern auch durch den zunehmenden Priestermangel. Da der Vinzentiner-Orden als wichtigstes Ziel die Evangelisation verfolgt und sich eines sehr hohen Zulaufs an Seminaristen erfreut – die St. Josephs-Provinz mit 100 Priestern hat allein 150 Seminaristen –, scheint es geradezu ein Fügung des Heiligen Geistes zu sein, dass dieser Orden den Weg nach Berlin gefunden hat, um in einer der leer stehenden Kirchen ein Exerzitienzentrum zu betreiben. Die Provinzleitung hat drei Priester nach Berlin gesandt, die nun im selben Gebäudekomplex wie die St. Clemens-Kirche wohnen. Von morgens 7 Uhr bis um Mitternacht steht damit immer ein Priester zur Verfügung. Die Vinzentiner-Patres leben ihr Priestertum auf ganz besondere Weise als ihre Berufung und nicht nur als Beruf. 17 Stunden täglich und sieben Tage wöchentlich erfüllen sie ihren priesterlichen Dienst.

Berlin und die neuen Bundesländer sind Missionsland

Wenn man bedenkt, dass in vielen Berliner Schulklassen weniger als 10 Prozent der Kinder getauft sind und davon wiederum nur ein kleiner Teil katholisch ist, so kann man Berlin und die neuen Bundesländer sicherlich als Missionsland bezeichnen. Dies stellte auch Kardinal Sterzinsky in seiner Predigt anlässlich der Einweihung des Exerzitienzentrums nachdrücklich fest und hieß daher den Vinzentiner-Orden umso freudiger willkommen. Der Kardinal ist überzeugt, dass die großen Erfahrungen aus der Mission in Indien für die Evangelisation hierzulande sehr hilfreich sein können. Die Kirche in Deutschland, die auf ein jahrhundertealtes christliches Erbe zurückblicken kann, muss das Missionieren neu lernen.

In Deutschland ist die Voraussetzung für eine wirksame Evangelisation wesentlich schwieriger als in Indien. Dort glauben die Menschen in der Regel an etwas Übernatürliches und dieser Glaube an irgendeinen Gott braucht „nur“ durch den Glauben an Jesus Christus ersetzt werden. Hierzulande aber fehlt diese religiöse Offenheit. Auf einem rein atheistischen Hintergrund spielt es eine umso wichtigere Rolle, dass Gottes Wirken durch Zeichen und Wunder sichtbar wird. Kardinal Sterzinsky erkennt die Missionare an, denen der Herr den Drang zur Evangelisierung direkt ins Herz gelegt und denen er für diesen Dienst besondere Charismen geschenkt hat. Sterzinsky nannte die Charismatiker die „Propheten unserer Zeit“, von denen auch das Amt in der Kirche lernen könne. Gleichzeitig ermahnte er sie zur Treue gegenüber der kirchlichen Hierarchie.

Geschichte der St. Clemens-Kirche

Die Kirche St. Clemens befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Potsdamer Platz. Vom Deutschen Bundesrat und dem Berliner Landtag liegt sie in Luftlinie nur einen Kilometer entfernt. Aber nicht nur die zentrale geographische Lage nur wenige Meter von der früheren Berliner Mauer entfernt, genau in der Mitte zwischen den ehemaligen Zentren Ost- und Westberlins, ist an dieser Kirche einzigartig, sondern auch ihre Entstehung. Die Kirche wurde von Clemens August Graf von Galen während seiner Zeit als Pfarrer in Berlin 1910/1911 gebaut und mit seinem väterlichen Erbe bezahlt. Der Erbauer der Kirche war also der inzwischen bereits selig gesprochene Kardinal, so dass die Kirche in gewisser Weise eine Sekundärreliquie darstellt.

Aufgrund ihrer zentralen Lage spielte St. Clemens auch in der Zeit der Weimarer Republik eine besondere Rolle. Einige katholische Politiker wie beispielsweise Brüning besuchten dort regelmäßig die Werktagsmesse. Von 1916 bis Mitte der siebziger Jahre war St. Clemens die Kirche der Jesuiten. Der frühere Nuntius und spätere Papst Pius XII. soll dort regelmäßig seinen Beichtvater in dessen Wohnung aufgesucht haben.

Nun stellte Georg Kardinal Sterzinsky die Kirche den indischen Volksmissionaren zur Verfügung. Da der Eigentümer, die Pfarrei der St. Hedwigs-Kathedrale, St. Clemens zum Verkauf gestellt hat und der Nutzungsvertrag mit dem erzbischöflichen Ordinariat Ende 2007 ausläuft, ist die Probezeit bis Ende 2007 befristet, bzw. nur bis zu dem Zeitpunkt, da ein neuer Eigentümer die Räumung wünscht. Sofern die Spiritualität der Missionare aus Indien von den Gläubigen im Erzbistum Berlin angenommen wird, möchte die Diözesanleitung für den Orden gegebenenfalls eine neue Bleibe suchen.

Das tägliche Programm[1]

Exerzitienzentrum der Göttlichen Barmherzigkeit für die Reevangelisation – so lautet die offizielle Bezeichnung des neuen Zentrums. Der Name vermittelt bereits seine pastoralen Schwerpunkte. Entsprechend ist auch das tägliche Programm in St. Clemens ausgerichtet. Es ist an 365 Tagen im Jahr im Grunde genommen immer gleich gestaltet:

Heilige Messe: Mittags um 13.00 Uhr und abends um 19.30 Uhr.

Anbetung: 15.00 bis 24.00 Uhr und nach Bedarf.

Heilungsgebet: Abends 20.30 bis 21.00 Uhr.

Beichtgelegenheit: Täglich bis 24.00 Uhr.

Außerdem wird täglich von 15.00 bis 16.00 Uhr eine Andacht zur Göttlichen Barmherzigkeit gehalten, wie es Jesus durch die hl. Schwester Faustina gewünscht hat. Zwischen 15.00 und 24.00 Uhr wird während der Anbetung zudem stündlich der Barmherzigkeitsrosenkranz gebetet, also täglich eine Novene. Wie es der Name zum Ausdruck bringt, sind Spiritualität sowie tägliches Gebetsprogramm des Exerzitienzentrums ganz vom Geheimnis der Göttlichen Barmherzigkeit geprägt.

Auch der Marienverehrung kommt eine herausragende Bedeutung zu. Vor Beginn des Abendprogramms wird um ca. 18.30 Uhr täglich der Rosenkranz gebetet, in den Marienmonaten Mai und Oktober zusätzlich nach dem Abendprogramm um ca. 21.00 Uhr. Auch die Marienfeste werden in besonderer Form gefeiert, beispielsweise mit einer kleinen Prozession.

Da die Re-Evangelisation untrennbar mit der Verkündigung des Wortes Gottes verbunden ist, wird täglich von 19.00 bis 19.30 Uhr gepredigt. Während der Abendmesse gibt es außerdem eine lange Ansprache zu den Tageslesungen, so dass die hl. Messe erst gegen 20.30 Uhr endet. Vor dem Heilungsgebet wird wiederum das Wort Gottes verkündet; denn das Wort Gottes hat heilende Kraft.

Wie überall in der charismatischen Erneuerung wird besonders großer Wert auf den Lobpreis gelegt, insbesondere während der hl. Messe. Gerade durch den Lobpreis wird die Macht des Bösen überwunden und der Heilige Geist herabgerufen. Als Liederbuch wurde eine Zusammenstellung mit den Liedern der Weltjugendtage gewählt.

Am Ende des täglichen Heilungsgebets hat jeder Anwesende die Möglichkeit, für sich persönlich durch die Priester und durch Laien, die vom Heiligen Geist mit dem Heilungscharisma beschenkt worden sind, beten zu lassen. Dabei kommt es immer wieder zu Heilungen und Befreiungen. Auch durch das sog. „Ruhen im Heiligen Geist“, das sich nach dem Gebet immer wieder bei einzelnen Personen einstellt, wird das Wirken Gottes äußerlich sichtbar. Im Zentrum des Heilungsgebets steht Jesus Christus, der die Heilung schenkt und der im Allerheiligsten besonders gegenwärtig ist.

Nicht jeder erfährt Heilung und nur Gott weiß, warum der eine geheilt wird und der andere nicht. Die meisten Heilungen erfolgen schrittweise über einen längeren Zeitraum hinweg. Oft hängt die Heilung davon ab, wie konsequent sich die betreffende Person immer wieder von neuem um ihre Bekehrung bemüht. Damit der Heilige Geist, der die Heilung schenkt, frei wirken kann, ist es erforderlich, dass die Betreffenden die Hindernisse, die zwischen ihnen und Gott stehen, beseitigen. Dadurch öffnen sie gleichsam dem Heiligen Geist die Tür. Der wichtigste Schritt dafür ist der häufige Empfang des Bußsakraments.

Für Berlin ist dieses Programm einzigartig, da es bisher in der ganzen Stadt werktags keine Mittagsmesse gab und das Angebot für die Beichte sehr eingeschränkt ist (wochentags täglich nur in der Kathedrale, jedoch weniger als 30 Minuten). Auch gab es bisher nur in einer einzigen Kirche jeden Tag eucharistische Anbetung, die jedoch am späten Nachmittag schließt und weit vom Zentrum entfernt im westlichen Teil der Stadt gelegen ist. Auch eine tägliche Abendmesse um 19.30 Uhr wurde bisher nicht angeboten.

Obwohl das Programm noch nicht sehr intensiv publik gemacht worden ist, kommen zu den täglichen Abendmessen immerhin schon zwischen 25 und 60 Personen. Immer wieder tauchen neue Menschen auf, weil sie von dem Zentrum gehört haben.

Regelmäßige Einkehrtage

Zusätzlich bietet das Exerzitienzentrum an vielen Wochenenden Einkehrtage an, die meistens von Freitag 14.30 Uhr bis Sonntag 18.00 Uhr dauern. Dafür werden immer wieder bekannte Prediger als Leiter eingeladen, die meist auch mit Charismen ausgestattet sind. Im Monat November wurden beispielsweise an allen vier Wochenenden Einkehrtage unter der Leitung von Pater Augustine Mundeckattu abgehalten, dem stellvertretenden Ordensprovinzial der Vinzentiner.

Bei den Einkehrtagen am ersten Wochenende im November, an denen mehr als 170 Personen nahezu ausschließlich aus dem Raum Berlin teilgenommen haben, kam es bereits zu zahlreichen körperlichen und inneren Heilungen. Pater Augustine erkennt durch ein Wort der Erkenntnis die Art der Heilung und kündigt sie nach dem Heilungsgebet an. Beispielsweise sprach er am Samstagabend davon, dass eine Person am Auge geheilt werde. Später meldete sich eine Afrikanerin, die trotz vierfacher Operation schon seit vielen Jahren fast nichts sieht. Nach dem Gebet konnte sie plötzlich schemenhaft wahrnehmen und bereits gewisse Bilder erkennen. Eine Frau von 93 Jahren, die seit über zwanzig Jahren an Krücken ging, konnte nach dem Heilungsgebet ihre Krücken weglegen und sich ohne Hilfe fortbewegen.

Frau Rosa Ivanda aus Berlin litt unter starken Schmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich, weshalb sie sich in medizinischer Behandlung befand. Nach dem Heilungsgebet hatte sie keine Rückschmerzen mehr und wurde von einer tiefen Freude erfüllt.

Spirituelle Chance für Berlin, Deutschland und Europa

In unmittelbarer Nachbarschaft des Exerzitienzentrums liegen wichtige Regierungsgebäude (Deutscher Bundesrat, Berliner Abgeordnetenhaus bzw. Berliner Landtag, Finanzministerium, etwas weiter entfernt Deutscher Bundestag, Abgeordnetenbüros, Kanzleramt, Auswärtiges Amt etc.). Das intensive Gebet gilt besonders auch den deutschen Politikern, so dass sie vom Heiligen Geist berührt werden und bei der Gesetzgebung bzw. im täglichen Regierungsgeschäft die christlichen Werte respektieren. Jeder, der die politische Entwicklung Berlins oder Deutschlands positiv beeinflussen möchte, kann ins Exerzitienzentrum kommen und das Gebet verstärken.

Betrachtet man die geographische Lage Berlins zwischen Sizilien und Nordskandinavien einerseits und London und Moskau andrerseits, so liegt die Stadt genau in der Mitte Europas. Die Deutschen stellen nicht nur die größte Bevölkerungsgruppe in der EU dar, sondern befinden sich auch geographisch im Herzen Europas. Die geistige Erneuerung des Kontinents und seine Rückkehr zum Christentum sollten nicht zuletzt von diesem Herzen ausgehen.

Berlin besitzt drei Flughäfen, alle Billigfluglinien fliegen die Stadt an. Aus allen Teilen Deutschlands und aus vielen Gegenden Europas kann man sehr preiswert nach Berlin kommen. Das Exerzitienzentrum liegt sieben Autominuten vom neuen Hauptbahnhof und fünf Minuten zu Fuß vom Anhalterbahnhof entfernt. Auf dem Grundstück des Exerzitienzentrums gibt es eine preiswerte Unterkunft und im Umkreis von fünf Minuten zu Fuß gibt es Hotels aller Preisklassen.

Programmausblick

Für die Weihnachtsfeiertage ist ein besonderes Programm für diejenigen geplant, die Weihnachten nicht in der Familie feiern können oder wollen. Vom 28. Dezember bis 1. Januar werden Einkehrtage angeboten, um das Neue Jahr auf besondere Weise mit Jesus zu beginnen. Vom 3. bis 7. Januar werden Einkehrtage durchgeführt, die besonders Jugendliche ansprechen sollen.

An allen vier Februarwochenenden finden Einkehrtage jeweils von Freitag 14.30 Uhr bis Sonntag 18.00 Uhr unter Leitung von Pater Jose Vettiyankal, dem Ordensprovinzial der Vinzentiner, statt. Pater Jose hat zahlreiche Charismen wie die Gabe der Heilung und die der Prophetie. Seine Einkehrtage sind mit denen von Pater Tardif vergleichbar.

Vom 4. Februar abends bis 8. Februar mittags sind Priesterexerzitien unter Leitung von Pater Jose Vettiyankal geplant.

Zu den Veranstaltungen sind Mitglieder aller Konfessionen, aber auch Ungetaufte herzlich eingeladen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Kontakt/Informationen: Vinzentinerordenshaus in St. Clemens, Stresemannstr. 66, 10963 Berlin (Mitte/Kreuzberg), Tel. 030-26367698, E-Mail: vinzentiner@yahoo.com – Internet: www.vinzentinerberlin.com

Schule des Betens – Grundaufgabe der Pastoral

Die Menschen brauchen Gebetskreise, das legt Papst Benedikt XVI. den Bischöfen ans Herz. Die Grundaufgabe der Pastoral bestehe darin, die Menschen beten zu lehren. Denn Gott komme in unserem Leben nur in dem Maß vor, als wir zu beten vermögen. Gebetskreise aber stellen, so betont der Papst, vorzügliche Schulen dar, in denen die Gläubigen das persönliche Gebet in all seinen Dimensionen lernen können. Es ist keine Kirchenpolitik, sondern der eindringliche Aufruf, „die persönliche Beziehung zu Gott“ wieder als das fundamentale Anliegen der Kirche zu begreifen. Nachfolgend ein Auszug aus der von Papst Benedikt XVI. am 9. November dieses Jahres vollkommen frei gehaltenen Schlussansprache an die Schweizer Bischöfe im Rahmen ihres Ad-Limina-Besuchs.

Von Papst Benedikt XVI.

Die Größe unseres Glaubens

Ein Wort des hl. Ignatius lautet: „Christentum ist nicht eine Sache der Überredung, sondern der Größe“ (Brief an die Römer 3,3). Diese Größe unseres Glaubens immer wieder herauszustellen, ist etwas ganz Grundlegendes. Unter diesem Aspekt möchte ich betonen: Wichtig ist vor allem, die persönliche Beziehung zu Gott zu pflegen, zu dem Gott, der sich uns in Christus gezeigt hat.

Augustinus hat wiederholt die zwei Seiten des christlichen Gottesbegriffes unterstrichen: Gott ist Logos, und Gott ist Amor – bis dahin, dass er ganz klein wird, einen menschlichen Leib annimmt und sich schließlich als Brot in unsere Hände gibt.

Und diese beiden Seiten des christlichen Gottesbegriffes sollten wir immer gegenwärtig halten und gegenwärtig machen. Gott ist Spiritus Creator, ist Logos, ist Vernunft. Und daher ist unser Glaube etwas, das mit Vernunft zu tun hat und durch Vernunft weitergegeben werden kann und sich nicht vor der Vernunft auch dieser unserer Zeit zu verstecken braucht. Aber diese ewige, unermessliche Vernunft ist eben nicht nur Mathematik des Alls und noch weniger irgendeine prima causa, die den Big Bang ausgelöst und sich dann zurückgezogen hat, sondern diese Vernunft hat ein Herz, so sehr, dass sie auf ihre Unermesslichkeit verzichten kann und Fleisch annimmt. Und erst darin, meine ich, liegt die letzte und eigentliche Größe unseres Gottesbegriffs.

Persönliches Beten lernen

Wir wissen: Gott ist nicht eine philosophische Hypothese, nicht etwas, das es vielleicht gibt, sondern wir kennen ihn, und er kennt uns. Und wir können ihn immer genauer kennen, wenn wir im Gespräch mit ihm stehen.

Deshalb ist es eine Grundaufgabe der Pastoral, beten zu lehren und es selber immer mehr zu lernen. Schulen des Gebets, Gebetskreise, gibt es heutzutage; man sieht, dass Menschen das wollen. Viele suchen Meditation irgendwo anders, weil sie die spirituelle Dimension im Christentum nicht zu finden glauben. Wir müssen ihnen wieder zeigen, dass es diese spirituelle Dimension nicht nur gibt, sondern dass sie die Quelle von allem ist.

Dazu müssen wir vermehrt solche Schulen des Gebetes, des Miteinander-Betens, bilden, wo man das persönliche Beten in all seinen Dimensionen lernen kann: als schweigendes Hinhören auf Gott, als Hineinhören in sein Wort, in sein Schweigen, in sein Tun in der Geschichte und an mir; auch seine Sprache in meinem Leben verstehen und dann antworten lernen im Mitbeten mit den großen Gebeten der Psalmen des Alten und des Neuen Testaments.

Erfahren der Gegenwart Gottes

Wir haben selber nicht die Worte für Gott, aber Worte sind uns geschenkt: Der Heilige Geist hat selber für uns schon Gebetsworte geformt; wir können hineintreten, mitbeten und darin dann auch das persönliche Beten lernen, Gott immer mehr „erlernen“ und so Gottes gewiss werden, auch wenn er schweigt – Gottes froh werden. Dieses innere Sein bei Gott und dadurch Erfahren der Gegenwart Gottes ist das, was sozusagen immer wieder die Größe des Christentums spüren lässt und uns dann auch durch all das Kleine hindurchhilft, in dem es freilich gelebt und Tag um Tag leidend und liebend, in Freude und Trauer, Wirklichkeit werden muss.

Liturgie: Der Herr lehrt uns beten!

Und von da aus – denke ich – ist dann die Bedeutung der Liturgie zu sehen, eben auch als Schule des Betens, in der der Herr selbst uns beten lehrt, in der wir mit der Kirche beten, sowohl in der einfachen, demütigen Feier, in der nur ein paar Gläubige sind, als auch im Fest des Glaubens. Ich habe das gerade jetzt in den verschiedenen Gesprächen wieder wahrgenommen, wie sehr für die Gläubigen einerseits die Stille in der Berührung mit Gott wichtig ist und andererseits das Fest des Glaubens, Fest erleben zu können.

Die Welt hat auch ihre Feste. Nietzsche hat sogar gesagt: Nur wenn es Gott nicht gibt, können wir ein Fest feiern. Aber das ist Unsinn: Nur wenn es Gott gibt und er uns anrührt, kann es ein wirkliches Fest geben. Und wir wissen ja, wie diese Feste des Glaubens doch den Menschen dann das Herz aufreißen und Eindrücke schaffen, die ihnen weiterhelfen. Ich habe es bei den Pastoralbesuchen in Deutschland, in Polen, in Spanien wieder erfahren, dass da Glaube als Fest erlebt wird und dann den Menschen wieder nachgeht und sie führt.

„Das Gebet ist Hoffnung in Akt“

Und noch etwas möchte ich in dem Zusammenhang erwähnen, das mir sehr aufgefallen ist, und das mich nachhaltig beeindruckt hat. In dem letzten, Fragment gebliebenen Werk des hl. Thomas v. Aquin, dem Compendium Theologiae, das er ja einfach aufbauen wollte nach den drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, hatte der große Kirchenlehrer das Kapitel Hoffnung noch angefangen und ein Stück weit ausgeführt. Und dort hat er Hoffnung und Gebet sozusagen miteinander identifiziert: Das Kapitel über die Hoffnung ist zugleich das Kapitel über das Gebet. Das Gebet ist Hoffnung in Akt. Und in der Tat, im Gebet öffnet sich der eigentliche Grund, warum wir hoffen dürfen: Wir können mit dem Herrn der Welt in Berührung treten, er hört uns zu, und wir können ihm zuhören.

Das ist es, was der hl. Ignatius meinte, und was ich Ihnen heute noch einmal ins Gedächtnis rufen wollte: Ou peismones to ergon, alla megethous estin ho Christianismos (Röm 3,3) – das eigentlich Große des Christentums, das uns nicht dispensiert vom Kleinen und Alltäglichen, das aber auch davon nicht verdeckt werden darf, ist diese Möglichkeit, mit Gott in Berührung zu treten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Gebot der Stunde: Glauben der Erwachsenen erneuern

Papst Benedikt XVI. hat dazu aufgerufen, den Glauben zuerst in den Erwachsenen zu erneuern. Dann wird es gelingen, auch Kinder und Jugendliche wieder zum Christentum hinzuführen. Wie dies geschehen kann und welche Rolle dabei neue Formen und Weggemeinschaften spielen, hat Pfarradministrator August Sparrer in einem wegweisenden Beitrag aufgezeigt.

Von August Sparrer

Glaubensdefizit in den Pfarreien

Die meisten Seelsorger in Deutschland bemühen sich, zusammen mit Laien Kinder auf den Empfang der Beichte, Erstkommunion und Firmung vorzubereiten. Sie erleben, wie sich die Herzen der Kinder öffnen und eine ganz natürliche Bereitschaft für das Evangelium zeigen. Doch nach einiger Zeit kommt ein Großteil der Kinder nicht mehr zum Gottesdienst und zum Empfang der Sakramente. Die Eltern sind nicht in der Lage und auch oft nicht gewillt, für die Glaubensweitergabe an die Kinder mehr zu tun, weil sie ja selbst nicht mehr eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus haben.

Diese Erfahrung erzeugt in den Pfarreien und bei den engagierten Seelsorgern und Laien einen Frust oder den Versuch, durch noch bessere Methoden und größere Anstrengungen die Kinder zu gewinnen. Doch auch Infoabende und Gespräche mit Eltern bewirken auf Dauer kaum eine Veränderung der Situation.

Aufruf des Papstes: Den Glauben der Erwachsenen erneuern

Nun hat Papst Benedikt anlässlich des Weltfamilientreffens im spanischen Valencia erklärt: „In vielen heutigen säkularisierten Gesellschaften ist es gläubigen Christen ein Bedürfnis, den Glauben der Erwachsenen zu erneuern, damit diese in der Lage sind, ihn an die junge Generation weiterzugeben.“ Angefangen vom Sakrament der Taufe solle der Weg der Hinführung von Kindern und Jugendlichen zum Christentum für die Eltern als Gelegenheit zu einer Wiederannäherung an die Kirche betrachtet und genutzt werden.

Wie soll eine solche Erneuerung und Wiederannäherung geschehen?

Wäre es jetzt nicht an der Zeit, dass sich Seelsorger und Bischöfe bemühen, einen ganz konkreten Weg für die Erneuerung des Glaubens der Erwachsenen in den Blick zu nehmen? Der bisherige Versuch, Eltern einzuladen und zu motivieren, hat wenig angeschlagen. Daher muss es wohl einen tieferen Weg der Glaubenserneuerung geben. Ein altes Wort aus der Frühzeit der Kirche sagt: „Wenn du einen Menschen zu Christus führen willst, dann lass ihn ein Jahr mit dir leben.“

In Ländern und Diözesen, die sich sehr um die Erneuerung des Glaubens der Erwachsenen bemühen, geschieht das durch Gruppen von Gläubigen aus der Pfarrei. Diese bilden eine Gemeinschaft des Glaubens und des Lebens und laden Menschen zu sich ein. Kurzum, es handelt sich um ein Wiederaufleben des frühchristlichen Katechumenats.

Bewusstseinsbildung

Bevor bei uns ein solcher Weg möglich wird, ist eine Bewusstseinsbildung bei Bistumsleitungen, Priestern, hauptamtlichen Mitarbeitern und in den Pfarreien notwendig. Es braucht eine neue missionarische Haltung. Weithin wird noch eine flächendeckende Volkskirchenpastoral (auch in Seelsorgeeinheiten) gepflegt, die die Gemeinden versorgt. Bischof Reinelt von Dresden erklärte laut Tagespost v. 13.7.06: Seelsorger dürfen keine „Allroundversorger“ sein. Die Kirche müsse Mut zu einer Seelsorge des „qualitativ hochwertigen Brückenbauens“ haben. Die große Herausforderung in Deutschland sei, Menschen anzusprechen, die nicht mehr viel mit dem christlichen Glauben anfangen können. Es gehe darum, möglichst vielen den Glauben zu bezeugen und nicht jeden Anspruch der Gemeinde zu befriedigen.

Dieses Wort richtet sich gegen die Überforderung der Seelsorger, die sagen: Was sollen wir noch alles machen? Wir sind schon eingedeckt mit Arbeit bis zum Hals. Das stimmt. Darum sind eine Umschichtung der Seelsorgearbeit und eine andere Gewichtung der Prioritäten notwendig.

Was könnte umgeschichtet und welche Prioritäten könnten neu angestrebt werden?

Ein paar Hinweise:

a) Kardinal Ratzinger erklärte schon 1996 in seinem Interview „Salz der Erde“: „Es gibt im Grunde zwei Konzepte von Reformen. Das eine Konzept ist, mehr auf äußere Macht, auf äußere Faktoren zu verzichten, aber umso mehr aus dem Glauben zu leben. Das andere besteht darin, Geschichte bequemer zu machen…“ (S. 80).

Äußere Macht wird in der Kirche ausgeübt, indem man religiöse Aktivitäten zentralisiert und reguliert, Führungspersonen ernennt und das Leben der Kirche möglichst durch Priester und pastorale Mitarbeiter arrangiert. Dabei besteht die Gefahr, dass die Gläubigen sich selbst nicht als Kirche erleben und nur gefragt werden, ob sie bei dieser oder jener Aktivität mitmachen möchten.

b) Nach alten geistlichen Prinzipien gilt es, die meiste Kraft und Zeit für kleine Weggemeinschaften einzusetzen, die tiefer in den Glauben geführt werden wollen. Später können sie Promotoren für andere werden und diese zur Glaubenserneuerung führen. Christus hat uns durch seinen Jüngerkreis dafür ein Beispiel gegeben. Nicht extensive, sondern intensive Seelsorge ist heute angesagt.

c) Dazu ist eine gute Bibelarbeit notwendig. Inzwischen bietet sich die weltweit bekannte und sich ausbreitende Methode des Bibelteilens an, die die Menschen befähigt, mit dem auferstandenen Herrn in Beziehung zu treten und sich gegenseitig zu einem tieferen Glauben zu verhelfen. Der Begründer dieser Bibelarbeit, Bischof Dr. Hirmer, sagt dazu: „Dort wo es richtig gemacht wird, macht das Bibel-Teilen aus einer kleinen christlichen Gemeinschaft eine „mystagogische Gemeinschaft“, deren Mitglieder sich gegenseitig helfen, das Geheimnis der Gegenwart Christi in ihrer Mitte zu berühren. Die Menschen von heute sehnen sich danach, das Göttliche zu berühren (Anzeiger für die Seelsorge 9/2006, 21).

d) Aus dem Bibelteilen können langsam kleine christliche Gemeinschaften, sog. Basisgemeinden entstehen, die ein enormes und effektives Werkzeug der Glaubenserneuerung und der Glaubensweitergabe sind. Papst Johannes Paul II. schrieb dazu in seiner Enzyklika Redemptoris missio: Die kirchlichen Basisgemeinden sind Gruppen von Christen, die sich auf familiärer Ebene oder im begrenzten Umkreis treffen. Sie kommen zusammen, um zu beten, die Hl. Schrift zu lesen, das Glaubenswissen zu vertiefen und menschliche und kirchliche Probleme im Hinblick auf ein gemeinsames Engagement zu besprechen. Solche Basisgemeinden gliedern und prägen die Pfarrgemeinde, mit der sie stets verbunden bleiben. Sie werden zum Sauerteig, zur Umwandlung in der Gesellschaft. Die Basisgemeinden geben Grund zu großer Hoffnung für das Leben der Kirche“ (Art 51). Natürlich wird sich durch solche Basisgemeinden der Führungsstil der Hauptamtlichen verändern, seien es Priester oder pastorale Mitarbeiter. Dabei wird sich eine Kultur des intensiven Zu- und Hinhörens entwickeln, gegenseitiger Respekt wachsen und alle sich als Kirche erfahren. Das kann ein Zeichen für einen Verzicht auf äußere Macht im Leben der Kirche sein.

e) Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Glaubenskurse für Erwachsene oder sog. Alphakurse in den Gemeinden durchzuführen. Bei einem Symposion an der Hochschule der Pallottiner in Vallendar haben sich 2006 über 200 Personen (Bischöfe, Priester, Professoren, Hauptamtliche und Laienmitarbeiter aus den Gemeinden) getroffen, die in Deutschland und in Nachbarländern Glaubenskurse für Erwachsene durchführen. Es zeigt sich dafür zunehmendes Interesse in den Gemeinden. Bei diesen Kursen geht es nicht primär um Vermittlung von Glaubenswissen, sondern um eine tägliche Einübung des Wortes Gottes in Gebet und Lebenspraxis.

Der Schreiber dieser Zeilen hat in diesem Frühjahr selbst wieder einen solchen Glaubenskurs in seiner Gemeinde mit der sehr guten Vorlage „Komm und sieh“ (Herausgeber: IPW Internationales Projektteam „Wege erwachsenen Glaubens“) durchgeführt. Dabei haben am Schluss eine ganze Reihe von Erwachsenen und Jugendlichen ihr Taufversprechen erneuert. Sie sind jetzt anfanghaft dabei, auch andere tiefer in den Glauben einzuführen.

f) Eine große Hilfe zur Erneuerung des Glaubens der Erwachsenen sind die neuen geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften, die von den letzten Päpsten sehr gefördert werden. In ihnen steht ein großes Potential an Glaubenserneuerung zur Verfügung, das in die Pfarreien integriert werden sollte und aufgeschlossene Hirten verlangt.

Fazit: Die vorhandenen Möglichkeiten bündeln und nutzen

Damit die vom Papst so sehr empfohlene Erneuerung möglich wird, wäre es notwendig, dass Bischöfe und Priester die jetzt schon in der Kirche vorhandenen Ansätze aufgreifen, sie bündeln und sich gemeinsam für solche Weggemeinschaften einsetzen würden. Dabei würden auch die Voraussetzungen geschaffen, dass die Sakramentenpastoral in den Pfarreien langsam von einer echten Glaubensvertiefung unterfangen und getragen würde und so Frucht bringen könnte. Solche Weggemeinschaften bringen ja die grundlegende Wahrheit zur Geltung, dass nur dann ein Mensch ein Sakrament fruchtbar empfangen kann, wenn zuerst eine Beziehung zu Christus geschehen ist.

In „Salz der Erde“ hat Papst Benedikt XVI. von 10 Jahren gesagt: „Das bloße Umfeld der Gesellschaft reicht heute nicht mehr aus, eine allgemein christliche Atmosphäre ist nicht mehr gegeben. So müssen Christen sich wirklich untereinander stützen. Und hier gibt es ja jetzt schon andere Formen, „Bewegungen“ verschiedener Art, mit denen Weggemeinschaften gebildet werden. Unerlässlich ist eine Erneuerung des Katechumenats, in dem eine Einübung, ein Kennenlernen des Christlichen möglich ist. … Mit anderen Worten, wenn die Gesellschaft in ihrer Ganzheit nicht mehr christliche Umwelt ist, so wie sie es ja auch in den ersten vier bis fünf Jahrhunderten nicht gewesen ist, muss die Kirche selber Zellen bilden, in denen das Sichstützen, das Sichtragen und das Miteinandergehen, also der große Lebensraum der Kirche im kleinen erfahrbar und praktisch wird“ (S. 282).

Gewiss ist ein solcher Prozess nicht einfach zu organisieren, aber könnte nicht durch ein gemeinsames Beten und Überlegen mit den Bischöfen eine Offenheit für ein solches Unternehmen wachsen? Sollten nicht die Verantwortlichen zuerst selbst solche Weggemeinschaften bilden, um dabei eigene Erfahrung zu machen? Sollte der Aufruf des Papstes verhallen und sollten die Zeichen der Zeit nicht erkannt werden? Ist die Stimme des Papstes nicht die Stimme des Hl. Geistes, der uns einlädt, seine Anregungen aufzunehmen? Gilt hier nicht: „Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte?!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Werner Bergengruen: Leben als Advent

Professor Dr. Rudolf Grulich stellt uns Werner Bergengruen als großartigen christlichen Dichter vor. Mit einem unverwüstlichen Glauben an die Führung Gottes und den Heilscharakter der Geschichte hatte Bergengruen im vorigen Jahrhundert die großen Ereignisse der Völkerfamilie sowie dramatische Einzelschicksale gedeutet. Als Heimatvertriebener kann sich Grulich besonders gut in den Lebensweg und die Gedankenwelt des Schriftstellers hineinfühlen. Zwar fragt sich Bergengruen selbst: „Hab ich den Tod allzufleißig gerühmt?“ Doch ist sein dichterisches Schaffen letztlich ein einzigartiges Zeugnis für das menschliche Leben als „steten Advent“, als Heimkehr an der Hand des Schöpfers.

Von Rudolf Grulich

Kaum ein deutscher Dichter ist so radikal von der Kulturszene verdrängt worden wie Werner Bergengruen. Th. W. Adorno hatte ihn persönlich angegriffen und Verse des Dichters aus dem Zusammenhang gerissen. Er sah in Bergengruens Gedichtesammlung „Die heile Welt“ nur Verlogenheit und ging bekanntlich soweit, zu behaupten, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Zahlreiche Autoren haben durch ihr lyrisches Werk Adorno widerlegt. Wir wollen hier aufzeigen, aus welch zutiefst christlichem Geist Werner Bergengruen die Welt als Schöpfung Gottes annahm.

Wiederentdeckung des Dichters in Estland

Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg erschien 1939 in Hamburg noch sein Buch „Der Tod von Reval. Kuriose Geschichten aus einer alten Stadt“. Damals war der Autor bereits aus der Reichsschriftkammer ausgeschlossen, als „nicht geeignet … durch schriftstellerische Veröffentlichungen am Aufbau der deutschen Kultur mitzuarbeiten“. Zehn Jahre später wurde „Der Tod von Reval“ in Zürich erneut aufgelegt. Damals war aber das alte Reval bereits sowjetisch. Der aus Riga stammende Bergengruen hatte dem alten Reval ein Denkmal gesetzt, ehe es die Nationalsozialisten am 23. August 1939 im Hitler-Stalin-Pakt den Moskauer Kommunisten überließen. Die Deutschen aus Reval wurden umgesiedelt, „heim ins Reich“ geholt, der Friedhof in Ziegenkoppel, dessen Grablegen Bergengruen im Auge hatte, eingeebnet und bebaut. Jahrzehntelang kannte kaum jemand in Tallin, wie Reval nun hieß, den Dichter. Erst seit der Unabhängigkeit Estlands wurde er auch in Nordosteuropa wieder entdeckt und übersetzt. Bei uns dagegen kennen heute kaum Germanistikstudenten den Namen Bergengruen.

Opfer der Protestbewegung von 1968

Dagegen waren in den Jahrzehnten zwischen 1930 und 1970 Werner Bergengruens Werke „vielgelesene Bestseller, heute (sind sie) nur noch einer kleinen Zahl Literaturfreunden geläufig“ (Franz-Lothar Kroll). Der Autor wurde wie Reinhold Schneider, Edzard Schaper oder Gertrud von Le Fort „Opfer jenes geistig-politischen Umbruchs der 1960er Jahre, der seinen symbolischen Ausdruck in der studentischen Protestbewegung von 1968 gefunden hat, und als dessen Ergebnis – unter anderem – die Werke der genannten Schriftsteller von der Leseliste des Publikums verschwanden“.

Bergengruen galt nach 1968 als nicht mehr zeitgemäß, weil seine „von ungebrochener christlichen Heilsgewissheit getragene Überzeugung von der Richtigkeit der Welt“ nicht mehr in eine Zeit zu passen schien, die gegen christliche Wertbezüge und konventionellen Erzählstil zu Felde zog. Der Titel einer Gedichtauswahl „Die heile Welt“, der das unerschütterliche Vertrauen des Dichters auf Gottes Schöpfung ausdrückte, musste alle jene erbosen, die Literatur nach ideologischen Motiven beurteilten. Die Pauschalkritik übersah dabei, dass gerade auch Bergengruen die Abgründe menschlicher Existenz, die Paradoxa des Weltgefüges und die Zerrissenheit und Schuldbeladenheit seiner Romanfiguren klar herausstellte, dabei aber auch Leid und Schuld immer im überpersonalen Ordnungsgefüge sah. Zu diesem Ordnungsgefüge gehörte für ihn auch der Tod. „Manchmal will es mir scheinen, als hätte ich den Tod allzu fleißig gerühmt“, schreibt der Dichter 1957. „Vielleicht sollte ich es jetzt beim Lobpreis des Lebens bewenden lassen. Der Tod weiß schon, wann er das Lied seines Ruhmes von unseren Lippen zu hören verlangt.“

Konversion: „… etwas Organisches und Natürliches“

Bergrengruen war zeitlebens ein Pilger, ein Ruheloser. „Heimat und Wanderwege haben Bergengruens Leben gleichermaßen bestimmt. Das Gefühl des Exilanten, der nicht sesshaft werden kann, lässt ihn niemals los“, schreibt seine älteste Tochter N. Luise Hackelsberger. 1943 notiert der Autor selbst: „Der Mensch wird ja geführt und soll sich dieser Führung getrost überlassen.“ So ertrug der Dichter sein ruheloses Wandern.

Der 1892 in Riga geborene und 1964 in Baden-Baden gestorbene Werner Bergengruen hat uns elf Romane, über 200 Erzählungen und an die 500 Gedichte geschenkt. In vier Jahrzehnten zeichnete er ein Weltbild, über dem Gottes gütiges Wirken steht. 1936 konvertierte der baltendeutsche Lutheraner zur katholischen Kirche. Er sah die Konversion nie als Bruch, sondern als „etwas vollkommen Organisches und Natürliches. Was im Protestantismus zu mir gesprochen hat, das ist nie etwas anderes als das namentlich im Luthertum noch immer weitgehend vorhandene Erbe der alten, ungeteilten Kirche. Aber wie hätte ich mich mit einem Bruchstück zufrieden geben sollen, wenn ich das ganze haben sollte?“ 1943 notiert er, dass er schon lange vor seiner Konversion geistig in der katholischen Welt lebte. Er sei im Grunde immer eine „anima naturaliter catholica“ gewesen.

Dies gilt von allen seinen Werken, vor allem von seinen religiösen Gedichten, die voller Bilder und liturgischer Symbole sind. Nicht nur in seinen Romanen und Novellen, gerade auch in seinen Gedichten „könnte Bergengruen den professionellen Theologen allerlei zu bedenken geben – aber die kümmern sich in der Regel nicht um Dichter und Erzähler, zu ihrem eigenen Schaden“, stellt dazu Gisbert Kranz fest.

Gottvertrauen: „Geh! Du bist geführt!“

Den Umzug der väterlichen Familie im Jahre 1902 vom zaristischen Riga ins wilhelminische Deutschland bezeichnete Bergengruen als „die schwerste Verletzung meines Lebens“. Er nannte sie „Herausreißung aus meiner natürlichen Welt“, er empfand sie als Deportation. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Bergengruen dann als aktiver Soldat, er hatte sich freiwillig zur Kavallerie gemeldet und brachte es bis zum Oberleutnant. Er erlebte den Krieg im Osten in der Ukraine und meldete sich 1919 zur Baltischen Landwehr, jenen „romantischen Tollköpfen“, ein Freischärlerkorps, das die baltische Heimat von den Bolschewiken befreien wollte und tatsächlich am 22. Mai 1919 Riga eroberte. Während eines zweiwöchigen Urlaubs heiratete er 1919. Die Bergengruens lebten dann nach seiner Rückkehr vom Krieg ein Nomadenleben: „Mit zwei großen Koffern, vollgepackt mit Büchern, Manuskripten und wenigen Kleidern reiste man zwischen Tilsit, Memel, Berlin und Danzig hin und her“, schreibt Luise Hackelsberger. „Nach einem längeren Aufenthalt in Berlin reiste man weiter von Verwandten zu Freunden, von Freunden zu Verwandten, das Kind während der Eisenbahnfahrten in der Hängematte von Gepäcknetz zu Gepäcknetz geknüpft: Nomaden, Emigranten, Unbehauste unterwegs.“

Erst 1927 wurde Bergengruen in Berlin sesshaft. 1936 übersiedelte er nach Solln bei München, wo das Haus, in dem er wohnte, 1942 durch eine Fliegerbombe zerstört wurde. Er wohnte dann mit seiner Familie bis 1946 in Achenkirch in Tirol in einem Jagdhaus von Freunden, ehe er 1946 bis 1958 seinen Wohnsitz in Zürich nahm. 1958 kehrte er nach Deutschland zurück und bezog ein Haus in Baden-Baden. Seine aufgegebene baltische Heimat weitete sich in dieser Zeit „zu einer heilen Welt, die verletzlich, verlierbar, doch immer wieder auffindbar ist“ (Hackelsberger).

Als eine solche Welt erscheint auch das Reval seiner Geschichten vom Tod: „Die Stadt, von welcher ich dir erzählen will, hat eine sonderbare Sage. Nämlich von dem Domberge als von dem ersten Keim der Stadt Reval wussten die Ureinwohner des Landes von jeher zu überliefern, die Riesin Linda habe den mächtigen Kalksteinfelsen aufgerichtet als ein Grabmal für ihren Geliebten, den starken Kalew. Und so steht ein Grab am Anfang der Stadt.“ Diese Gräber beschäftigen die Phantasie des Dichters: „Der Gräber sind viele in den Kirchen und auf den Friedhöfen von Reval. Da sind merkwürdige Grabstätten und Totensteine in einer großen Fülle, kunstvolle Monumente, kostbare Epitaphe. Da liegt jene Frau, dessen Gesang das Herz eines Leipziger Studenten ergriff und die seither den Menschen der Goethezeit als Vorbild der Mignon galt; da liegt der Graf Matthias Thurn, an welchem ein großer und totenreicher Krieg sich entzündete. Da liegen allerlei fürstliche Personen, allerlei berühmte Kriegsleute; Seehelden und Weltumsegler liegen in Reval begraben“.

Trotz seiner vielen Ortswechsel sah sich Bergengruen stets geführt. Er versuchte, seinen Weg zu gehen voller Vertrauen zu dem, der seine Hände über ihm breitete. Er stellte sich dem Schicksal und der Begrenzung. „Wohin Du gehst, es fügt der Weg sich zu Wegen“, schreibt er 1948.

Im Zweiten Weltkrieg sieht er sich in dem Gedicht „Das quellende Licht“ als Wanderer und Suchender:

„Standst in grauen Pilgerschuhn

vor so manchem Tor.

Wie die Unbehausten tun,

starrtest du empor.“

Es sind dann Geist und Braut der Apokalypse, die zu ihm sprechen: Komm!

1943 notiert der Dichter in sein Compendium Bergengruenianum:

„Der Mensch wird ja geführt und soll sich dieser Führung getrost überlassen. So ist auch dafür gesorgt, dass der mit einem Ortswechsel zusammenfallende Abschluss einer Lebensperiode zu dem Zeitpunkt geschieht – nicht früher, aber auch nicht später, was freilich oft erst lange hernach offenbar wird –, da einerseits der Grad der Sättigung erreicht, andererseits der Gehalt der Periode und ihrer Örtlichkeit ausgeschöpft ist. Darum soll man geduldig sein, wenn ein herbeigesehnter Wechsel scheinbar allzu lange auf sich warten lässt, und fügsam, wenn ein nicht oder noch nicht gewünschter auf einen zutritt.

Dass die Ortswechsel im rechten Zeitpunkt geschehen, das mag selbst von solchen gelten, die schmerzlich und erzwungen erscheinen. Es geschieht ja allemal nur das Fälliggewordene: das Fällige, nicht das Zufällige. Auch erzwungene Ortswechsel, etwa in Gestalt von Verbannung oder von unfreiwilliger Flucht werden dem Menschen gegeben, wann und weil er ihrer bedarf: damit er sie fruchtbar machen lerne oder an der unbestandenen, vielleicht unbestehbaren Probe seiner Schranken innewerde.“

Und so schließt denn auch sein Gedicht „Wandlung“ mit der Strophe:

„Gib dich der verborgnen Hand,

die dich angerührt.

Hebe dich vom Grabenrand.

Geh! Du bist geführt.“

Trost im Leiden: „Himmlische Rechenkunst“

Weil Bergengruen stets Leid und Trauer, Schmerz und Trost in den Darstellungsrahmen seines Schaffens einbezog, ist sein Bekenntnis zur „heilen Welt“ ein ehrliches und glaubwürdiges. Im Gedicht „Der Behütete“ heißt es:

„Ich, mit Vergänglichkeit geschlagen,

ein Spielball jedem Widerpart,

bin alle Stunden aufgetragen

den Engel seiner Gegenwart.“

Er lässt den Engel sprechen und befehlen:

„… das Wagnis des Petrus zu wagen.

Ob dich die Wellen wie Hände tragen,

ob der Herr dir entgegenschreitet –

ich weiß es nicht, und du darfst auch nicht fragen.“

In einem Gebet bittet er:

„Gib unser keinem, Gott, um was wir flehen,

Verworrne, die getrübtes Licht beriet!

Nein, einen jeden lasse nur geschehen,

wie in der Schöpfung alles Ding geschieht.“

In drei Gedichten kommt diese Glaubenshaltung Bergengruens am deutlichsten zum Ausdruck: so in seiner „Himmlischen Rechenkunst“, in der er wie die Bergpredigt die Armen mit den leeren Händen preist:

„Was dem Herzen sich verwehrte,

lass es schwinden unbewegt.

Allenthalben das Entbehrte

wird dir mystisch zugelegt.

Liebt doch Gott die leeren Hände,

und der Mangel wird Gewinn.

Immerdar enthüllt das Ende

sich als strahlender Beginn.

Jeder Schmerz entlässt dich reicher.

Preise die geweihte Not.

Und aus nie geleertem Speicher

nährt dich das geheime Brot.“

Im 1944 geschriebenen Gedicht „Die heile Welt“ ist er überzeugt:

„Wisse, wenn in Schmerzensstunden

dir das Blut vom Herzen spritzt:

Niemand kann die Welt verwunden,

nur die Schale wird geritzt.

Tief im innersten der Ringe

ruht ihr Kern getrost und heil.

Und mit jedem Schöpfungsdinge

Hast du immer an ihm teil.“

Eines der schönsten deutschen Liebesgedichte ist „Zu Lehen“. Gewiss ist es heute für viele altmodisch, ja unverständlich, aber es ist eine wunderbare christliche Aussage über die Liebe, die ihre letzte Erfüllung als Sakrament findet im Jenseits beim Lehnsherrn Gott.

„Ich bin nicht mein, du bist nicht dein.

Keiner kann sein eigen sein.

Ich bin nicht dein, du bist nicht mein.

Keiner kann des andern sein.

Hast mich nur zu Lehn genommen,

hab zu Lehn dich überkommen.

Also mags geschehn:

Hilf mir, liebstes Lehn,

dass ich alle meine Tage

treulich dich zu Lehen trage

und dich einstmals vor der letzten Schwelle

unversehrt dem Lehnsherrn wiederstelle.“

Als Christ „… der Heimkehr gewiss“

Obwohl Bergengruen den Verlust seiner baltischen Heimat als Kind so schmerzlich empfand, gab er sich später nie nostalgischen Illusionen hin. Emotional und intellektuell tief im Baltikum verwurzelt, voll Schmerz und Wehmut, voll Sehnsucht und Liebe nach dem weiten deutschen Nordosten wusste er schon 1933 in seinem autobiographischen „Bekenntnis zur Höhle“, dass diese Heimat „versunken [sei] nicht in eine Ferne des Raumes, sondern in der Tiefe der Zeit, in der sie nicht von Länderkunde, sondern nur noch von der Geschichte und der Überlieferung aufgesucht werden kann. Aber wahrhaft gefunden wird sie doch von nichts anderem als von der liebenden, schwermütigen Erinnerung des Herzens“.

Deshalb dichtet er in antikem Versmaß:

„Nie noch sang ich ein Lied,

das die Heimkehr priese.

Nie noch hab ich der Heimkehr Stunde erfahren.

Käme sie unversehens, mir wäre die Lippe

zitternd geschlossen.“

Im dritten Teil dieses Gedichtes besingt er den Süden mit dem Ölbaum und stellt ihm die Birken seiner baltischen Heimat entgegen. Er sieht sein Leben verhüllt und geborgen, „und so bin ich der Heimat gewiss“. Es ist für ihn eine Heimkehr „Heim in den Anbeginn“, weil er weiß, was den Menschen Bestimmung ist:

„Zum Sterben geboren,

und steten Advent!

Nichts ist verloren,

 und nichts ist getrennt.

Nichts, nichts ist vergangen,

und alles bleibt dein.

So hält dich umfangen

unendliches Sein.“

Im Gedicht „Teutones in Pace“ wünscht er sich, in Rom begraben zu sein. In seinem „Römischen Erneuerungsbuch“ hat er die Ewige Stadt gerühmt und im ewigen Rom eine Vorstufe der ewigen Heimat gesehen.

„Bei meinen Vätern kann ich nicht mehr liegen.

Die Grüfte sind gesprengt und aufgerissen,

und bald wird niemand mehr die Stelle wissen

und nur die Nessel sich im Winde wiegen.

Wo aber ist das Grab mir zugemessen?

Nicht in dem Land, da ich so viel gelitten!

Dürft ich denn wählen, wollt ich mir erbitten

alt Totenwächter römische Zypressen.

Hier ist der Deutschen Herz. Hier endlich wohnen

im Angesicht unsäglicher Versöhnung

und nah dem Ort der kaiserlichen Krönung

nach Schuld und Streit im Frieden die Teutonen.“

Der Tod ist für den Christen kein Schrecken, ja jeder Tod hat auch sein Gelächter, wie der Dichter in der Novellensammlung „Der Tod von Reval“ feststellt.

„Ist eigentlich ein Dichter vorstellbar, der am Phänomen des Todes ohne Liebe vorüberginge? Wer den Tod liebt, kann auch ein wenig Spiel mit ihm treiben. Man wird mir als Autor des ‚Todes von Reval‘ und des Rodensteinbuches schon das Recht einräumen, hier einigermaßen sachverständig zu fühlen.“

In der typischen Bergengruenschen Ode „Bergengruensruhe“ rekapituliert er sein Leben. Er tut dies in einem, das den Erzählungen seines Rittmeisters gleicht, seinen Novellen, aber eben lyrisch und poetisch, träumend vom Branntwein östlichen Lands oder bald an Päonien sich, an Tulpen und Lilien freuend, rühmend die Kochkunst seiner Heimat, sich entsinnend so mancher Forelle, so manches fetten Karpfengerichtes, goldig geräucherten Aals. Zypressen und Agaven steigen auf, das läutende Schellen galoppierender Schlitten, die Steppe und stampfende Hufe.

„Schweifenden Mutes spielte er so und gedachte der Städte,

die er vor andern geliebt – Riga und Kiew und Rom.

Er erwog die Läufe der Welt und bedachte sein Schicksal,

und er rühmte zuletzt, was auch ihm je widerfuhr.“

Rühmen und Lobgesang ist deshalb für Bergengruen die Konsequenz seiner Überzeugung und seines Glaubens an Gottes Schöpfung, wie im Gedicht „Frage und Antwort“:

„Der die Welt erfuhr,

faltig und ergraut,

Narb an Narbenspur

auf gefurchter Haut,

den die Not gehetzt,

den der Dämon trieb –

sage, was zuletzt

dir verblieb.“

„Was aus Schmerzen kam,

war Vorübergang.

Und mein Ohr vernahm

nichts als Lobgesang.“

In seinen Gedanken zum Tod schreibt Werner Bergengruen 1945: „Der Mensch ist im Tode nicht weniger in Gottes Hand und innerhalb der Werke Gottes als im Leben. Wie kann der fromm sein wollen, der das nicht wahrhaben möchte? Wie kann der in die Schöpfung, wie kann der in die göttliche Weltordnung einstimmen, der eine ihrer Fundamentalursachen nicht zu lieben vermag? Wie kann, wer den Tod nicht liebt, ein Christ heißen wollen?“

Dass uns dabei auf Erden noch vieles verhüllt und verborgen ist, weiß der Dichter. Sein Leben „wars nicht minder, und so bin ich der Heimkehr gewiss“.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Geistliche Dichtung neu entdeckt

Einer der ersten schmalen Gedichtbändchen, die 1945 nach dem Ende des Kriegs in Deutschland gedruckt werden konnten, war Werner Bergengruens „Dies irae“. 1944 im Krieg entstanden und von Hand abgeschrieben und weitergegeben gingen diese Gedichte in ihrer Wirkung weit über das Literarische hinaus. Ein damaliger Nachkriegsautor wie Heinrich Böll hat später betont, welche Bedeutung Bergengruen mit seinen Gedichten für die Möglichkeit geistigen Überlebens im Hitlerdeutschland und der Aufbruchsphase danach hatte.

Besprechung von Wolfgang Stingl

Nun hat der Gerhard Hess Verlag den Zyklus von 18 Gedichten mit Erläuterungen von Rudolf Grulich neu herausgegeben, dazu ein weiteres Bändchen „… der Heimkehr gewiß“ mit einer Auswahl geistlicher Gedichte Bergengruens.[1]

Grulichs Auswahl der geistlichen Gedichte ist persönlich, aber sie enthält die schönsten Gedichte des baltendeutschen Autors aus Riga. In seinem Nachwort schildert Grulich den Dichter als Ruhelosen und Pilger, der aber wusste, er werde geführt. Das Bändchen zeigt, wie Bergengruen Leid und Trauer, Schmerz und Trost kannte und deshalb von der Richtigkeit der Welt überzeugt war. 1944 ein Gedicht zu schreiben „Die heile Welt“, zeigt ebenso von diesem Glauben wie „Die himmlische Rechenkunst“ oder das Liebesgedicht „Zu Lehen“. Selbst der Tod ist für Bergengruen kein Schrecken, wie es seine Novellensammlung „Der Tod von Reval“ beweist:

„Was aus Schmerzen kam,

war Vorübergang.

Und mein Ohr vernahm

Nichts als Lobgesang“.

Auch zu den 18 Gedichten des Zyklus „Dies irae"[2] hat Grulich hilfreiche Erläuterungen geschrieben, in denen er aufzeigt, wie Bergengruen von den 17 Strophen der Sequenz „Dies irae“ in der Totenmesse der katholischen Kirche ausgeht. 17 Gedichte entstanden 1944, nur die Ode „An die Völker der Welt“ unmittelbar bei Kriegsende. Während in der lateinischen Dichtung „Dies irae“ alle 17 Strophen dreizeilige Terzinen mit gleichem Reimschema sind, benutzt Bergengruen verschiedene Gedichtformen vom Ghasel bis zum Sonett. Das Gedicht „Die letzte Epiphanie“ wurde auch beim Eichmannprozess in Jerusalem verlesen. Es sind erschütternde Gedichte wie „An Dante“ oder „Geheimnis des Abgrundes“.

Mit vielen biblischen Bildern beschwört Bergengruen die apokalyptischen Zustände jener Zeit: „Wer will die Reinen von den Schuldigen scheiden?“ So endet auch die Ode „An die Völker der Welt“ 1945 mit dem Aufruf der gemeinsamen Metanoia.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Werner Bergengruen: „… der Heimkehr gewiß“. Geistliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Rudolf Grulich, Gerhard Hess Verlag, Ulm, 55 Seiten.
[2] Werner Bergengruen: „Dies irae“. Mit einem Nachwort und Erläuterungen von Rudolf Grulich, Gerhard Hess Verlag, Ulm 2005, 60 Seiten.

Neuen Kommentar schreiben

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder! Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare gegebenenfalls nicht für die Veröffentlichung freizugeben oder in Abstimmung mit den jeweiligen Autoren zu kürzen.