Der Weg des Papstes nach Manoppello

Der bekannte Journalist und Buchautor Paul Badde ist überzeugt, dass er mit der Aufspürung des Christusbildes von Manoppello die Entdeckung seines Lebens gemacht hat: Es handelt sich um das Schweißtuch der Veronika, das im Besitz des Vatikans war, jedoch vor 400 Jahren verloren ging. In seinem Buch „Das Göttliche Gesicht"[1] hat er den Krimi dieser faszinierenden Entdeckung minutiös aufgezeichnet. Zugleich bereitete er durch seine Publikationen den Weg für einen Papstbesuch. Bald, und vielleicht schon im Mai dieses Jahres, möchte Benedikt XVI. nach Manoppello zum „authentischen Bild Gottes“ pilgern. In spannender Weise schildert Badde seine Mission und vermittelt aufschlussreiche Informationen über das Christusbild.[2]

Von Paul Badde

Ein Bild mit Licht gemalt

Tief in den Abruzzen wird von Kapuzinern auf einem Hügel hinter dem Städtchen Manoppello seit mindestens 400 Jahren ein rätselhaftes Tüchlein verwahrt. Es hat feinere Qualitäten als feinstes Nylon und kann weder Seide noch Leinen sein. Es ist aber nicht nur extrem feines Gewebe, das dort zu bestaunen ist. Auf dem Stoff ruht ein Christusbild, dem kein zweites gleicht, oder besser: dem fast jedes Christusbild der Erde gleicht wie ein Sohn seiner Mutter, doch nie in dieser Vollkommenheit. Es hat unvergessliche Augen, eine schlanke Nase, einen halboffenen Mund. Die Schattierungen sind delikater als Leonardo da Vinci sie mit seiner sfumatura zu zaubern verstand. In manchem erinnert das Bild an eine Fotografie, doch in der Iris ist die rechte Pupille aus dem Zentrum leicht nach oben verschoben, wie es in keinem Foto möglich ist. Genauso wenig kann das Bild eine Holografie sein, der es trotzdem gleicht, wenn leichtes Licht von hinten den Schleier bescheint. Doch eine 400 Jahre Holografie in den Abruzzen? Der Gedanke ist noch absurder als Nylon.

Vier deutliche Falten durchziehen das Tüchlein, als wäre es lange Zeit einmal längs und zweimal waagerecht gefaltet gewesen. Das Porträt schillert nicht wie ein Regenbogen; die Farben des Volto Santo, des „Heiligen Gesichts“, leuchten zwischen Braun- und Rot- und Rosa-Tönen, zwischen Umbra, Siena, Silber, Schiefer, Kupfer, Bronze, Gold. Es scheint mit Licht (griechisch: photos) gemalt, denn unter dem Mikroskop wurden überhaupt keine Farbspuren in dem Gewebe entdeckt. Im Gegenlicht aber wird es durchsichtig wie klares Glas, dann verschwinden auch die Falten vollkommen.

Das „Schweißtuch der Veronika“

Es sind Phänomene, die sich nur bei Muschelseide beobachten lassen: dem kostbarsten Gewebe der Antike. Auch das ist eine Sensation. Denn die ältesten sicher identifizierten Fragmente aus diesem höchst seltenen Stoff sollen aus dem 4. Jahrhundert stammen. Sie sind allerdings viel kleiner und längst nicht so gut erhalten. Und ein Tuch aus Muschelseide mit einem Bild oder einer Zeichnung gibt es überhaupt nirgendwo. Muschelseide lässt sich nicht bemalen. Das ist technisch unmöglich. Den einleuchtendsten Unterschied zu gewöhnlicher Seide kann hier in Manoppello aber auch jeder Laie mit bloßem Auge erkennen. Denn links und rechts oben fehlen dem Bild zwei Ecken, die irgendwann einmal durch Flicken aus feinster Seide ersetzt worden sind. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Gegen Licht wirken diese Flicken grau, der ganze Schleier hingegen so durchsichtig wie nur Muschelseide durchsichtig sein kann.

Das Bild vereint in sich also Qualitäten von Fotos, Holografien, Gemälden, Zeichnungen, zusammen mit rätselhaften Unmöglichkeiten und Ungenauigkeiten. Es ist völlig schleierhaft, was die wahre Natur dieses göttlichen Gesichts eigentlich ist und wie man es treffend benennen kann. Klar ist nur, dass es seit Jahrhunderten hoch verehrt wird und dass es mit all seinen Eigenschaften nur einem einzigen Objekt im großen Bildersaal des letzten Jahrtausends gleicht. Das ist das „Schweißtuch der Veronika“, das bis zum Beginn der Neuzeit von zahllosen Malern festgehalten worden ist.

Die Kronreliquie des Petersdoms

Das Volto Santo von Manoppello muss dieser Schleier der Veronika sein. Zu überwältigend sind die vielen Merkmale, mit denen es einer ganzen Galerie von Bilddokumenten entspricht, in denen Künstler des Mittelalters den Schleier dargestellt haben. In Rom finden sich in den Grotten unter dem Petersdom fünf Fresken in zwei kleinen alten Kapellen, die sehr deutlich jenes alte „Ziborium“ festhalten, das Papst Johannes VII. im Jahr 705 für dieses „allerheiligste Schweißtuch“ errichten ließ. Der säulenverzierte Altar, der es damals barg, war der wichtigste Reliquienschrein der alten Petersbasilika Kaiser Konstantins aus dem 4. Jahrhundert. Erst im Jahr 1506 wurde dann mit dem Neubau des heutigen Petersdoms begonnen – und zwar sogleich mit einer neuen Schatzkammer für die Kronreliquie. Gleich der erste jener vier hochhaushohen Pfeiler, auf denen die Peterskuppel ruht, wurde als Hochsicherheitstresor für den zarten Schleier mit dem Christusbild ausgebaut. Hier sollte er hinein, als der alte Schrein im Jahr 1608 abgerissen wurde. Und hier verschwand er im 17. Jahrhundert. Das „Schweißtuch“ ist in vielen Abbildungen noch immer allgegenwärtig in Rom, von einem Gemälde in der Sakristei des Pantheon bis zu drei Fresken in der San Silvestro-Basilika. Nur das Urbild ist in Rom nicht mehr zu sehen. Das hat die Suche nach dem wahren Bild Christi in den letzten Jahrhunderten so sehr erschwert, dass sie schließlich kaum noch unternommen wurde.

Geschichte des mysteriösen Christusporträts

Sehr viel einfacher war es in diesem Zeitraum, in Büchern und alten Texten danach zu forschen, wo das Bildnis vor seiner Ankunft in Rom wohl gewesen sein mochte. Da mussten Forscher nicht lange suchen, wenn auch mit oft verwirrenden Ergebnissen. Ein uraltes mysteriöses Christusporträt wird in Edessa erwähnt. Da soll es eingemauert in einem der Stadttore eine große Zeitlang alle Stürme überstanden haben. Später muss das Urbild in Konstantinopel gewesen sein. Das Christusmosaik in der Kuppel der Hagia Sophia gleicht noch heute dem göttlichen Gesicht von Manoppello ganz außerordentlich. Im frühen 6. Jahrhundert wird im Orient mehrfach von einem allerfeinsten Jesusbild „mit vier Falten“ berichtet, das da allerdings „Abgar-Bild“ oder „Mandylion“ heißt. Es hatte noch einige Namen mehr. Wie Schalen einer Zwiebel haben sich verschiedene Namen im Lauf der Geschichte um dieses eine Bild gelegt und mit immer neuen Legenden überlagert. Wer sie Haut für Haut wieder voneinander löst, stößt im Innern dieser Begriffe unweigerlich auf das griechische Wort „acheiropoietos“ – „nicht von Menschenhand geschaffen“.

Die Odyssee des Muschelseidentuchs zurück zu ihrem Ursprung ist damit aber noch nicht beendet. Denn wo kommt es bloß her? Ist es irgendwann einmal vom Himmel gefallen? Wie ein Mann vom Mars sieht das Porträt jedoch nicht aus. Im Gegenteil: es hat eine eigentümliche Spiegelwirkung. Das Bild ist fremd und nah zugleich. Das Gesicht leuchtet auf wie ein geheimnisvoller Referenzpunkt für jedes Geschlecht, für Mann oder Frau. Am allermeisten gleicht es jedoch dem Antlitz des Mannes, der einmal in dem Turiner Grabtuch gelegen hat. Es ist genauso majestätisch und das Muschelseidentuch ebenso rätselhaft wie das Leintuch aus Turin – jenem zweiten, doch viel, viel größeren Textil, das seit frühester Zeit acheiropoietos genannt wurde. Und das ist vielleicht darum am allermerkwürdigsten, weil sich so gar nichts damit beweisen lässt.

Denn unter allen Materialien gibt es ja kaum zwei Stoffe, die von ihrer ganzen Natur her weniger „exakt“ sind als diese beiden Gewebe: Leinen das eine, Muschelseide das andere, beide von völlig unterschiedlicher Dichte, Dicke, Struktur und Webart. Beide lassen sich verschieden verziehen. Ungenauigkeit und höchst problematische Messbarkeit ist diesen organischen Materialien praktisch eingewebt. Wer auch immer die beiden Tücher für dieses Experiment ausgesucht hat, es scheint ihm fast augenzwinkernd daran gelegen zu haben, dass diese Tücher für einen mathematischen Beweis überhaupt nicht taugen.

Umso erstaunlicher ist deshalb, wie außerordentlich hoch die Übereinstimmung zwischen beiden Abbildern dennoch auf den ungleichen Tüchern ist. Alle bisher möglichen Vergleiche und Messungen lassen auf ein und denselben Abgebildeten schließen. Beide Tücher bilden eine einzige identische Figur ab, beide als Urbilder, und beide vollkommen verschieden. Alles andere sind Kopien.

Benedikt XVI. und die „beiden Grabtücher“

Die erste Kopie meines Buches über dieses Muschelseidentuch hatte ich Papst Benedikt XVI. gleich in seinen Palast hochgeschickt. Denn wer sollte und musste sich mehr dafür interessieren? Schon das Pontifikat seines Vorgängers hatte unter dem Anspruch einer „Reinigung der Erinnerung“ der katholischen Kirche gestanden. Musste auch ihn da nicht sehr die Frage bewegen, was es mit den wesentlichen Bildern der Kirche wirklich auf sich hat, im Vatikan und in Manoppello? Das Tuch aus Turin kennt er gut. Es sei ein „Geheimnis“, hat er dem Publizisten Peter Seewald einmal erklärt, „das noch keine eindeutige Erklärung gefunden hat, auch wenn sehr vieles für seine Echtheit spricht.“ Ist es aber echt, dann entstammt es der ersten Osternacht: dem leeren Grab in Jerusalem, als erste Hinterlassenschaft der Auferstehung Christi. Joseph Ratzinger selbst kam am 16. April 1927 zur Welt, einem Karsamstag, und noch in derselben Osternacht wurde er mit frisch geweihtem Wasser getauft. Der Umstand ist ihm immer bewusst geblieben. Musste es ihn da nicht alarmieren, wenn nun „beide Tücher“ aus dem leeren Grab wieder gefunden waren, von denen der Evangelist Johannes in seinem lakonischen Bericht der allerersten Osternacht spricht?

Im 6. Jahrhundert haben byzantinische Heerführer dieses zweite Grabtuch schon als Siegesbanner in ihren Kriegen gegen die Perser mit sich geführt – gerade so wie das alte Israel die Bundeslade in seinen Feldzügen gegen die Philister mit sich führte. Auch die Bundeslade war schon verloren gegangen und auf abenteuerliche Weise wieder gefunden worden, bis sie schließlich endgültig verschollen ging: das „Allerheiligste“ Israels mit den Geboten vom Berg Sinai. Musste das Wiederauftauchen von Christi Urbild die Christenheit aber nicht mindestens so freuen wie eine letzte Wiederentdeckung der Bundeslade? Christi Gesicht! Die Augen, die vom Kreuz auf seine Mutter geschaut hatten, die Lippen, denen wir die Bergpredigt verdanken: „Selig die Armen im Geist, selig die Trauernden, selig, die keine Gewalt anwenden, selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, selig die Barmherzigen, selig, die ein reines Herz haben, selig die Friedenstifter, selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden …!“ Schöner hat Gott sein Gesicht nie gezeigt.

Vor Jahren hat Kardinal Ratzinger nachgewiesen, dass erst in der Auseinandersetzung mit dem „Gesicht Gottes“ das Verständnis der „Person“ entwickelt worden ist, wie wir es heute in der Welt des Westens haben. Selbst die alten Griechen kannten den Begriff der Person noch nicht. Die „Person“ ist ein Geschenk der Christenheit an die Welt – das längst noch nicht überall angenommen worden ist. „Sollten wir nicht darin das wahre Verhängnis der Welt sehen und um so lauter und eindringlicher zu Gott rufen, dass er sein Antlitz zeige?“ rief der Kardinal damals, bevor er das bewegende Plädoyer mit den Worten beendete: „Das Neue der biblischen Religion war und ist es, dass ‚Gott‘, von dem es keine Bilder geben kann, dennoch Gesicht und Namen hat, Person ist. Und das Heil besteht nicht im Versinken ins Namenlose, sondern ‚in der Sättigung an seinem Angesicht‘, die uns im Erwachen zuteil wird.“

Hat ein neues Zeitalter begonnen?

Die ZEIT berichtete in der letzten Weihnachtsausgabe über die Entdeckung und Geschichte des göttlichen Gesichts. Der barmherzige Blick des Heiligen Gesichts auf der Titelseite bewegte danach die Herzen vieler Leser an Kiosken, in Supermärkten und Autobahnraststätten; die Ausgabe verkaufte sich rasant. Alexander Smoltczyk vom SPIEGEL hatte schon im Oktober in einem spektakulären Stück über „Die doppelte Veronika“ berichtet. Dass Deutschlands linksliberale Flaggschiffe in diesem Ausmaß – und erstmals ohne zynischen oder auch nur ironischen Unterton – im Mutterland der Reformation über Reliquien berichteten, konnte fast selbst unter der Rubrik „Zeichen und Wunder“ verbucht werden. Hatte unter dem deutschen Papst vielleicht ein neues Zeitalter begonnen?

Bald kamen erste Busse mit Pilgern aus Sankt Petersburg von der Baltischen See an der Adria an, mitten im Winter. Gerhard Wolf, ein führender Kunsthistoriker, reiste erstmals nach Manoppello und stand bewegt vor dem „lebendigen Gesicht“. Der orthodoxe Erzbischof von Athen begann von dem Muschelseidentuch zu erzählen. Unabhängig von allen Recherchen wurde am 23. Dezember 2005 in Manoppello von Erzbischof Bruno Forte aus dem nahen Chieti ein Heiliges Jahr für das Heiligtum eingeleitet, das an jenen „Sonntagnachmittag im Jahr 1506“ erinnern soll, an dem „ein Engel“ den Schleier hierhin gebracht hatte. Von weit her waren Pilger zu dem nächtlichen Fackelzug durch die eiskalte Nacht gekommen, um mit den Einwohnern des Städtchens den Beginn des Jubiläums zu feiern. Aus dem Vatikan war ein Schreiben James Francis Staffords eingetroffen, des Kardinalgroßpönitentiars der Kurie, das allen Pilgern einen „vollständigen Ablass“ zusagte, die in dieser Zeit des Jubiläumsjahres in gebührender Andacht zu dem Heiligen Antlitz gepilgert kämen.

Guadalupe und Manoppello

Mit einem nächtlichen Fackelzug den Hügel hoch zum göttlichen Gesicht für eine feierliche Messe um Mitternacht endete das Jahr 2005. Wir waren noch einmal von Rom dazugekommen. Früh am 31. Dezember hatte Pater Emilio mir im Chor der Kirche einen Text von Papst Leo dem Großen aus dem 5. Jahrhundert zum Vorlesen gegeben. „Die Geburt des Herrn ist die Geburt des Friedens“, las ich im Stehen, „er ist unser Friede, er, der aus zwei Völkern ein einziges geschaffen hat, aus Juden und Heiden.“ Plötzlich war ich hellwach geworden und schaute zum Gesicht Christi über der gegenüberliegenden Brüstung hinauf.

Ein Mensch hat aus zwei Völkern eins geschaffen? Ein solches Ereignis ist sonst nur aus Mexiko bekannt, wo im Jahr 1531 nach einer Erscheinung Marias aus spanischen und aztekischen Todfeinden plötzlich das neue Volk der Mexikaner entstand. Die unverständliche Versöhnung war jedoch nicht etwa das Werk der Erscheinung, sondern Frucht eines rätselhaften Bildes, das die Madonna von sich hinterlassen hatte! Das „Bild“ der Jungfrau von Guadalupe auf einem billigen Umhang hat damals den Gang der Weltgeschichte umgelenkt. „So hat Gott an keinem Volk gehandelt!“ habe Papst Benedikt XIV. gerufen, als er im Jahr 1754 das Wunder offiziell anerkannte, erzählen die Mexikaner. Das Bild Marias aber ist dort noch heute zu betrachten, ich habe es selbst gesehen, am Stadtrand der Millionenmetropole, wo ebenfalls bis jetzt keiner zu sagen weiß, wie Menschenhände es je hätten erschaffen können.

Kann und muss dann das Bild ihres Sohnes  – wenn es aus dem leeren Grab in Jerusalem stammt – nicht auch eine unvergleichliche Rolle bei der rätselhaften Versöhnung der Juden und Heiden nach der Auferstehung Christi gespielt haben? Bei der Entstehung jenes neuen Volkes der Christen, von dem der Apostel Paulus in seinem Brief an die Epheser so staunend schreibt!? Muss dieses neue Bild dann nicht auch im Arkanum – im verborgenen Geheimraum der christlichen Urgemeinde aus Juden und Heiden – von Anfang an eine unglaubliche Rolle gespielt haben, und bei der so unverständlich schnellen Verbreitung der Nachricht von der Auferstehung Christi?!  Petrus sah im leeren Grab „die Leinenbinden und das Schweißtuch“ liegen, schreibt der Evangelist Johannes. Danach ging er auch selbst hinein und „sah und glaubte“. Was sah er denn, dass er so schnell glaubte? Warum glaubte er nicht schon vorher? Wochen später war der kleine Haufen um die versprengten Apostel schon auf mehrere tausend Menschen angewachsen. Muss daran nicht einfach auch dieses Bild beteiligt gewesen sein, mehr als jedes Buch, und nicht nur die Predigt des Petrus? Ein neues Buch – neben der jüdischen Bibel – hatten die ersten Christen doch mehrere Generationen lang gar nicht.

Wann kommt der Papst?

Den ersten Geburtstag seiner Amtszeit als Papst wird Benedikt XVI. in diesem neuen Jahr 2006 wieder am Ostersonntag feiern. Zwei Tage später wird im Vatikan der Grundsteinlegung des Petersdoms im Jahr 1506 gedacht werden – in einem Jubiläum wie in Manoppello, wo jedoch das ganze Jahr über die Ankunft des göttlichen Gesichts im Jahr 1506 gefeiert werden wird.[3]

Menschen, die einfach glaubten, dass ein Engel das Bild hierher gebracht habe, hatten den kostbaren Schatz Jahrhunderte beschützt und bewahrt. Ihr Glaube hat völlig genügt. Doch jetzt haben wenige Jahre für einige ruhelose Deutsche genügt, um hinter diesem Bild nur noch die alte römische Veronika zu sehen –  als habe das alte Urbild hier in einer kleinen Kirche in den Abruzzen so verborgen die Stürme der letzten Jahrhunderte überlebt wie einst in dem Mauerverlies im Stadttor von Edessa.

Und nun hörten plötzlich die Manoppelleser nicht auf zu fragen: Kommt der Papst? Wann kommt er? Dass der bayerische Nachfolger Petri immer häufiger vom „Gesicht Gottes“ redete, war auch den Menschen in den Abruzzen nicht entgangen. Am 11. Januar beendete er die Generalaudienz wieder mit den Worten, dass „für Christen Gott das liebende Gesicht Christi angenommen hat“. Am 18. Januar berichtete die Zeitung „Il Tempo“ in den Abruzzen über „Gerüchte“, dass der Papst „im Frühling“ nach Manoppello komme. Am 23. Januar bestätigte mir der Sekretär des Papstes die Nachricht: Ja, der Papst habe seinen Besuch Erzbischof Forte von Chieti schon angekündigt und fest versprochen. Er komme bald!

Dantes „Göttliche Komödie“

Am gleichen Tag erläuterte Benedikt XVI. in Rom öffentlich seine erste Enzyklika. Dantes „Göttliche Komödie“ habe ihn zu dem Schreiben inspiriert, ließ er in dieser Erklärung wissen – wo ein „kosmischer Ausflug“ im Innern des Paradieses zum innersten Licht der Liebe führe, „die Sonne und Sterne zugleich bewege“. – Das tiefste Innere dieses unzugänglichen Lichtes sei jedoch nicht etwa ein noch gleißenderes Leuchten oder noch helleres Scheinen, sondern das zarte Gesicht eines Menschen, das dem Seher da endlich auf seiner Suche entgegentrete. Dies sei „etwas vollkommen Neues“. Das menschliche Antlitz Jesu Christi, das Dante im Innern des innersten Geheimnisses Gottes erkenne, sei „noch viel bewegender als die Offenbarung Gottes in der Form des dreifaltigen Kreises von Erkenntnis und Liebe. Gott, das unendliche Licht, … besitzt ein menschliches Gesicht.“ Ich las die Rede dreimal. Dann holte ich die „Divina Commedia“ aus dem Bücherregal und suchte die Stelle.

Doch es war nicht so einfach in meiner italienisch-deutschen Ausgabe. Der 130. bis 132. Vers des 33. Gesangs klang in der Übertragung August Vezins dunkler als das Orakel von Delphi, wo „unser Bild aus Flimmerfloren, / gleich ihm getönt, erschien im Binnenkreise, / und (der Seher sich) neu in neue Schau verloren“. Dennoch: es war die entscheidende Stelle. In der Sprache Dantes hieß sie nur so: „Dentro da sé, del suo colore stesso, / mi parve pinta de la nostra effige; / per che 'l mio viso in lei tutto era messo.“ Ich versuchte die Zeilen zuerst grob und wörtlich zu übersetzen, dann noch einmal etwas eleganter: „Tief im Innern, gemalt in seinem Ton desselben Lichts, / Erschien mir unser Ebenbild – / auf dessen Grund ich mein Gesicht entdeckte.“ In den nächsten Zeilen beschrieb der Dichter das Gesicht als letzten Referenzpunkt weiter, wie ein Landvermesser der alten Welt der Christen.

Es war klar, dass Dante hier vom Volto Santo sprach: vom Heiligen Gesicht im Innern des göttlichen Lichts! Die drei Zeilen aus dem Jahr 1320 beschrieben es genau wie ein Steckbrief. Der unvergleichliche Ton in Ton dieser „Malerei“ aus „seiner selben Farbe“, das Tauchen des Pinsels in einen Topf aus Licht für Christi Gesicht, die merkwürdige Spiegelbildlichkeit zu jedem Betrachter. Mit diesen drei Zeilen gab Dante sich als ein Augenzeuge des Schleierbildes von Manoppello zu erkennen, aus nächster Nähe – nachdem er wenige Seiten vorher, im 31. Gesang, ausdrücklich „unsere Veronika“ erwähnte. Ich war sprachlos.

Generationen von Romanisten und Theologen hatten dieselbe Vision Dantes bisher immer auf die Gottesschau des Buches Ezechiel zurückgeführt, in dessen 1. Kapitel die Rede von „etwas“ ist, „das wie Saphir aussah und einem Thron glich“, darauf „eine Gestalt, die wie ein Mensch aussah“. Oberhalb der Hüften sah Ezechiel „etwas wie glänzendes Gold in einem Feuerkranz“, unterhalb davon „etwas wie Feuer und ringsum einen hellen Schein. Wie der Anblick des Regenbogens, der sich an einem Regentag in den Wolken zeigt, so war der helle Schein ringsum. So etwa sah die Herrlichkeit des Herrn aus.“ Jeder Bezug der Verse Dantes zu dieser Vision ist offenkundig an den Haaren herbeigezerrt. Die Anschauung dessen, was die Christen einmal hatten, war verlorengegangen, bevor der Sinn unter unverständlichen Übertragungen begraben wurde.

Für mein Buch war die Entdeckung nun aber noch einmal zur wichtigsten Spur überhaupt geworden: Dieser Fund vom wahren Gesicht Christi im Herzen der christlichen Literatur, auf dem Gipfel der italienischen Dichtung, war spektakulärer als es die Öffnung eines letzten geheimen Tresors hätte sein können. Noch unglaublicher war jedoch, dass der Papst selbst diese Entdeckung gemacht hatte. Ich hatte ihm Fotos geschickt. Doch ohne das Göttliche Gesicht von Manoppello auch nur einmal selbst gesehen zu haben, hatte er es hier schon im Innern der Göttlichen Komödie wiederentdeckt, inmitten des Paradieses! „Jesus leuchtet ein!“ hatte sein Freund Hans Urs von Balthasar ihm Jahre zuvor gesagt. Hier leuchtete Jesus plötzlich mehr als je zuvor ein, aus dem Innern des Lichts der Liebe, „die die Sonne und Sterne bewegt“. Wahrhaftig, kein geöffnetes Verlies hätte mir einen größeren Schatz zeigen können.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Paul Badde: Das Göttliche Gesicht. Die abenteuerliche Suche nach dem wahren Antlitz Jesu, Pattloch-Verlag, 336 S., ISBN 3-629-02149-2.
[2] Für Kirche heute bearbeiteter Auszug aus dem genannten Buch, mit freundlicher Genehmigung des Pattloch-Verlages.
[3] Wie erreicht man Manoppello? Manoppello, eine Kleinstadt in der Provinz Pescara (6.000 Einw.) am Fuße des Maiella Massivs, ca. 20 km von Chieti entfernt gelegen, erreicht man über die A 14 (Adriatica): bis zum Autobahnkreuz Pescara, und von dort auf die A 25 (Pescara/Roma): bis zur Ausfahrt Alanno/Scafa. Tägliche Flüge verbinden Pescara mit Rom, Mailand, Frankfurt-Hahn. Weitere Informationen: www.abruzzo-airport.it – Öffnungszeiten des Heiligtums: 6–12 Uhr, 15-19 Uhr (Winter 18 Uhr); Hl. Messen: Vorabendmesse an Sonn-und Feiertagen: 17.30 Uhr; Sonn- und Feiertage: 7:30, 9, 10, 11, 17:30 Uhr; Werktags: 7:15 Uhr Konzelebration; Hotel, Restaurant: Buchung unter Telefon: 0039-085-859777; Fax: 0039-085-8590818; Ans Heiligtum angrenzend: Pilgersaal (für Selbstversorger, Toilette, etc.); Homepage: www.voltosanto.it – Deutsche Homepage: www.voltosanto.de

Botschaft des neuen Pontifikats: Gebet – Seele des Lebens

Papst Benedikt XVI. hat im ersten Jahr seines Pontifikates der Menschheit viele gute, wegweisende Worte geschenkt: zum Evangelium und Glaubensbekenntnis, zu den Werten und Tugenden, zum Priester- und Ordensberuf, zu Ehe und Familie, zu Gerechtigkeit und Frieden. Dafür sind wir ihm sehr dankbar und sagen Vergelt’s Gott. Seine wichtigste Botschaft enthält die Enzyklika „Deus caritas est – Gott ist die Liebe“. Im Schlussteil dieses Schreibens bezeichnet er „das Gebet als die Weise, immer neu von Christus her Kraft zu holen“. Am 1. Jahrestag seiner Wahl zum Papst am 19. April 2005 sollen ihm die folgenden Gedanken zum Gebet in Dankbarkeit gewidmet sein.

Von Erzbischof Ludwig Schick, Bamberg

Ich liebe, also bin ich

„Deus caritas est“ lädt ein, über das Hauptgebot Jesu nachzudenken. Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst! (vgl. Mk 12,29-31). In diesem Hauptgebot sind alle Gebote zusammengefasst. Wenn wir die Liebe zu Gott und zum Nächsten leben, haben wir Gott erkannt und sind mit ihm verbunden, haben wir gute Beziehungen zum Nächsten und erfüllen unsere Aufgaben in dieser Welt. In der Liebe zu Gott und zum Nächsten erfahren wir auch selbst das Leben in Fülle, denn der Mensch lebt glücklich und zufrieden, wenn er das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe erfüllt. Das kommt im Lukas-Evangelium gut zum Ausdruck, in dem der Gesetzeslehrer fragt: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Jesus stellt ihm die Gegenfrage: „Was steht im Gesetz?“ … Er antwortet: „Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben … und Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Jesus sagt zu ihm: „Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und Du wirst leben“ (vgl. Lk 10,25-28).

Für die Christen gilt nicht „Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich“, wie es der Philosoph Descartes am Anfang der Neuzeit formuliert hat, sondern „Amo ergo sum“ – „Ich liebe, also bin ich.“

Gebet und Liebe

Der letzte Satz vor dem Schlusskapitel in „Deus caritas est“ lautet: „Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die Welt einzulassen – dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen.“

Wer die Liebe verwirklicht, der lässt das Licht Gottes in die Welt ein: in sein eigenes Leben, in seine Familie, in seine Arbeitswelt, in sein Dorf und in seine Stadt, in seine Pfarrgemeinde und Kirche. Die Liebe verwirklichen, darauf kommt es an, damit wir im Licht Gottes leben und damit wir das Licht Gottes in unsere Welt bringen.

Dafür ist das Gebet unabdingbar. Das Gebet ist die Seele für ein Leben in der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Papst Benedikt XVI. weist im 37. Abschnitt „Gott ist die Liebe“ darauf hin, dass wir Menschen in der Gefahr sind, selbst in der christlichen Liebestätigkeit und beim Gutes tun, dem Aktivismus und dem drohenden Säkularismus, der Routine und der Verweltlichung, das heißt des Verlustes Gottes zu verfallen. Um dem Säkularismus und Aktivismus zu entgehen, bekräftigt der Heilige Vater die Bedeutung des Gebetes. Dazu zitiert er die selige Teresa von Kalkutta. Sie schrieb in ihrem Brief zur Fastenzeit 1996 an ihre Mitarbeiter im Laienstand: „Wir brauchen diese innige Verbindung zu Gott in unserem Alltagsleben. Und wie können wir sie erhalten? Durch das Gebet“ (Nr. 36).

Beten verlangt Geben

„Beten“ hat etwas mit „Geben“ zu tun. Wer beten will, muss etwas geben. Er muss zuerst Zeit geben. Zeit ist heute ein rares Gut. „Ich habe keine Zeit“ lautet eine häufig verwendete Entschuldigung Mitmenschen gegenüber. Für Gott bleibt oft gar keine Zeit. Das Gebet braucht freie und ungestörte Zeit. Beten kann man nicht so nebenbei erledigen. Der Epheserbrief fordert auf, jederzeit zu beten (vgl. Eph 6,18), d.h. dass unser ganzes Leben Gebet ist. Das geht aber nur, wenn wir zuvor Zeit geben, um ausdrücklich zu beten.

Was müssen wir noch geben? Wir müssen Aufmerksamkeit und Konzentration geben. Wir müssen einen bestimmten Raum und gute Atmosphäre geben, damit das Beten gelingt und wir im Gebet Gott begegnen. Zum Beten kann ich in eine Kirche gehen, mich zu Hause vor ein Kreuz oder ein Bild setzen, das mich anspricht, oder mich in der freien Natur an einen stillen Platz begeben.

Die selige Mutter Teresa von Kalkutta hat in einem Interview gesagt: „Ich beginne mein Gebet immer schweigend, denn in der Stille des Herzens spricht Gott. Gott ist der Freund der Stille. Wir müssen Gott lauschen, denn wichtig ist nicht, was wir sagen, sondern was er zu uns und durch uns sagt.“ Vor dem Beten müssen wir uns bewusst machen: Jetzt ist alles andere unwichtig, Gott allein zählt.

Auch Haltung müssen wir geben! Wir knien oder stehen still, um uns bewusst zu machen: Jetzt stehe ich vor Gott oder ich knie vor ihm. Wir können auch aufrecht und entspannt vor Gott sitzen.

Wer beten will, muss Zeit, Stille, Konzentration, Raum und Haltung geben und in all dem das Herz. Deshalb lautet das Hauptgebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken.“ Und: „Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst“ (vgl. Lk 10,27).

Beten ist aufschauen, anschauen und sprechen!

Die kleine Theresia von Lisieux hat in ihrer Autobiographie das Gebet so definiert: „Für mich ist das Gebet ein Aufschwung des Herzens, ein schlichter Blick zum Himmel, ein Ausruf der Dankbarkeit und Liebe inmitten der Prüfung und inmitten der Freude.“ Gebet ist erstens Aufschauen und Aufschwung des Herzens zu Gott. Wir wissen aus der täglichen Erfahrung, wie gut es tut, Pause zu machen, wie wichtig der Urlaub ist. Wir müssen ab und zu Abstand vom Alltag nehmen, aufschauen und die Weite der Berge oder des Meeres erfahren. So werden wir für unseren Alltag gestärkt. Ebenso ist es mit dem Beten. Wir dürfen unser Herz vom Alltäglichen und Engen, von den Belastungen und Sorgen erheben zu dem großen, lieben Gott, zum Himmel und zur Weite. Wie wohltuend ist dieses Aufschauen und der Aufschwung des Herzens zu Gott.

Zweitens ist das Gebet ruhiges, liebendes Anschauen Gottes und Angeschaut werden von ihm. Der heilige Pfarrer von Ars sah oft einen alten Bauern lange und still in seiner Kirche auf der Bank sitzen, der nichts anderes tat, als immer nur zum Altar und zum Tabernakel zu schauen. Eines Tages fragte der heilige Pfarrer den Bauern, was er denn tue, wenn er da so lange sitze und schaue. Der Bauer antwortete ihm: „Ich schaue Gott an und er schaut mich an.“ Im stillen Anschauen lernt der Mensch Gott immer besser kennen und lieben.

Drittens ist Gebet liebendes Gespräch mit Jesus Christus, dem man alles sagen kann. Der heilige Ignatius von Loyola lädt in seinem Exerzitienbüchlein immer wieder ein, mit Jesus wie mit einem Freund zu sprechen. Durch das Gespräch mit Jesus wird unser Leben und Denken ihm immer mehr angeglichen. Papst Benedikt hat das Bekenntnis abgelegt: „Jesus Christus ist der Bezugspunkt meines Lebens. Ich versuche, im Gespräch mit ihm zu leben und mich von ihm immer wieder ‚zurechthobeln‘ zu lassen.“

„Hört nicht auf, zu beten und zu flehen“

Es gibt vor allem drei Arten des Gebetes: 1. Dank, 2. Lob und 3. Bitte, wozu die Klage gehört! Die erste und wichtigste Art des Betens ist der Dank. Danken und denken sind zwei Seiten einer Medaille. Nur wer denkt, kann danken. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir, wenn wir beten wollen, zunächst denken. Im Denken erinnern wir uns an alles Gute, das uns im Leben zuteil wird. Wir leben, wir können unsere Sinne gebrauchen, die Schöpfung nährt uns und wir haben gute Menschen um uns. Gottes Heiliger Geist hat uns Glaube, Hoffnung und Liebe ins Herz gelegt. Wir glauben an die Sündenvergebung und wir haben die Zuversicht, dass wir einmal im Himmel bei Gott selig sein werden. Dieses Denken macht dankbar. Die Dankbarkeit lässt beten.

Das Zweite ist das Lob. Wenn wir all das Gute, das wir empfangen, das es gibt, das uns zuteil wird, bedenken, dann wissen wir als Christen, dass das alles nicht Evolution oder Zufall zustande bringt, sondern dass der eine gute Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, es für uns erschafft; wir spüren auch Glaube, Hoffnung und Liebe im Herzen, weil Jesus Christus sie uns durch die Sendung des Heiligen Geistes geschenkt hat. Deshalb wird aus dem Dank Lob. Wir loben Gott den Vater, wir loben Jesus Christus, unseren Herrn und Bruder, wir loben den Heiligen Geist.

Bei Dank und Lob spüren wir drittens, dass dieser gute Gott bereit ist, uns immer zu geben, was wir brauchen. Dieses Wissen und Spüren gibt uns die Kraft zur Bitte. Weil Gott Person und uns zugetan ist, dürfen wir beim Bitten auch klagen. Klagen bedeutet: Gott sein Herz ausschütten. Klagen darf nicht mit Jammern verwechselt werden. Jammern hat keinen Adressaten; es dreht sich um sich selbst. Die Klage richtet sich an Gott, der weiß, was wir brauchen, auch wenn seine Wege uns oft unverständlich bleiben. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika ein Wort des heiligen Augustinus zitiert, das sagt: „Wenn du ihn verstehst, dann ist er nicht Gott“ (Nr. 38). Gott möchte, dass wir ihn in allem bitten, damit wir von unseren Ängsten und Sorgen um uns selbst befreit werden. Die Bitte öffnet uns für den Glauben und mehrt unser Vertrauen auf ihn, den guten Gott.

Wie beten?

Wir Menschen sind immer in der Gefahr, uns zu verlieren, irgendetwas, aber nicht Gott, anzubeten, über irgendetwas nachzudenken und es zu betrachten und das für Gebet zu halten. Das Christentum, hat uns einen Gott offenbart, mit dem wir auf Du und Du in Kontakt treten können. Er hat zu uns durch die Propheten gesprochen und zuletzt durch Jesus Christus, seinen Sohn. Was sie gesprochen haben, ist in der Heiligen Schrift überliefert.

Die christliche Gebetsweise hat deshalb immer folgende Schritte: 1. Lesung aus der Heiligen Schrift oder ein vorformuliertes Gebet sagen; 2. darüber nachdenken und 3. mit Jesus Christus sprechen. Dieser Dreischritt ist wichtig und hilfreich.

Die Große Teresa von Avila hat ihren Schwestern empfohlen, zu Beginn jeder Gebetszeit das ,Vater unser‘ zu beten, um sich so mit Jesus Christus zu verbinden, der dieses Gebet gelehrt hat. Mit Jesus sollen wir seinen und unseren Vater anschauen und ansprechen. Auch das Glaubensbekenntnis ist ein guter Einstieg ins Gebet. Es lässt uns nachdenken, damit wir danken können. Man kann auch einen Teil oder den ganzen Rosenkranz, einen Psalm, eine Tagzeit des Stundengebetes oder eine Litanei beten.

Sehr hilfreich ist es, einen Text aus der Heiligen Schrift zu lesen, dann zu fragen, was wird uns damit gesagt, wer kommt darin vor, was ist bedeutsam und schließlich mit Jesus über das Gelesene in ein Gespräch kommen, wie mit einem Freund.

Beten schenkt Leben

Ist Beten nicht Zeitvergeudung, sollte man nicht die Zeit für sinnvolle Arbeit nutzen? So fragen und behaupten manche. Papst Benedikt XVI. hat auf diese Frage die Antwort gegeben, dass das Gebet dahin führt, die Liebe zu verwirklichen und das Licht Gottes in die Welt einzulassen. Wer gut betet, der lebt gut und kann auch gut arbeiten. Das Gebet bringt gute Früchte.

Die erste Frucht des Gebets ist die innere Ruhe. Wir sind oft hin- und hergerissen von unseren Gedanken, Emotionen, Leidenschaften. Unsere Lebensweise, die Informationsflut und die Reizwellen der Reklame sind die Ursache dafür. Wir können aber nur lieben, wenn wir selbstlos sind und in Ruhe auf den Menschen schauen, den wir lieben wollen und sollen. Das Gebet lässt uns erkennen, was dem anderen wirklich gut tut. Der Spruch Berthold Brechts ist richtig: „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.“ Damit unser Tun gut ist und nicht nur gut gemeint, ist Beten erforderlich.

Es ist auch wichtig, in Ruhe zu betrachten, was wir dem Nächsten Gutes tun sollen und wie wir es anpacken müssen. Wer in Unruhe, Hetze und Stress arbeitet, wirft hinten um, was er vorne aufgebaut hat.

Das Gebet schenkt Reinheit. „Alles Gebet macht rein,“ so hat der Dichter Jean Paul gesagt und der Schriftsteller Novalis schreibt in seinem Tagebuch: „Durch Gebet erlangt man alles. Gebet ist eine universale Arznei.“ Oft sind unsere Gedanken hin und her getrieben. Wir wissen oft gar nicht, was gut und böse, rein und unrein ist. Das Gebet klärt unsere Gedanken.

Das Gebet weckt auch unser Gewissen. Das Gewissen ist die Stimme Gottes in uns, die so oft im Lärm unserer Zeit, unserer Wünsche und Begierden gar nicht durchdringt und gehört wird. Das Gebet schafft Reinheit, Klarheit und Durchblick, es lässt uns das Gewissen und den Gewissensspruch deutlich hören.

Das Gebet schenkt Kraft und Trost, wenn wir unten, wenn wir ,down‘ sind; wenn wir meinen, es geht nichts weiter, dann richtet das Gebet auf. Es schenkt uns Trost, lässt uns spüren, dass Gott da ist und einen neuen Anlauf ermöglicht, obwohl scheinbar alles schief gegangen ist und wir nichts mehr machen können. Das Gebet schenkt Kraft, wo wir ganz kraftlos sind.

Das Gebet entspannt und gibt Freude. Mutter Teresa von Kalkutta hat einmal einem Menschen den Rat gegeben: „Sie können nicht lächeln, wenn sie nicht beten.“ Betende Menschen sind heitere und gelöste Mitmenschen.

Letztlich verbindet uns das Gebet mit Jesus Christus und seinem Geist, damit wir aus ihm und mit ihm leben; wie er sollen wir Gott und den Nächsten lieben. Die innere Ruhe, die Reinheit des Herzens, Trost und Kraft sind unerlässliche Voraussetzungen für die Liebe und das Leben. Das Gebet schenkt sie uns.

Gebet ist Kampf

Gebet muss eingeübt und erkämpft werden. Gebet ist Gnade Gottes. Der Geist schenkt uns das Gebet und gibt uns ein, wie wir beten können. Aber wie jedes gute Gespräch, wie echte Freundschaft und gute Kommunikation, braucht auch das Gebet Einübung und Kontinuität.

Beten kann nur der, der demütig ist, der weiß, dass Gott ihm das Gebet schenken und eingeben muss und der immer wieder darum bittet, gut beten zu können.

Das Gebet braucht Geduld. Nicht jedes Gebet, das wir beginnen, schenkt Ruhe, Trost und Kraft. Manchmal sind wir frustriert vom Beten, alles bleibt leer und ohne Antwort. Dann dürfen wir nicht aufgeben. Wir müssen immer wieder anfangen. Geduld und Langmut gehören zum Gebet dazu. Wir müssen um gutes Beten, kämpfen.

Es ist auch nicht so, dass man das Gebet irgendwann einmal hat und dann alles schnurgerade und problemlos läuft. Wie das Gespräch in menschlichen Beziehungen, muss auch die Kommunikation mit Gott immer wieder neu begonnen und gepflegt werden. Wer nach Enttäuschung im Gebet aufgibt oder das Beten schleifen lässt, lernt nie gut zu beten.

Reißt euer Herz weit auf für Gott

Papst Benedikt XVI. hat uns in „Deus caritas est“ eingeladen zu begreifen, dass alles darauf ankommt, die Liebe zu verwirklichen und das Licht Gottes in die Welt einzulassen. Darin besteht das Leben, unser Glück und das Heil. Das Gebet ist die Seele der Liebe und des Lebens. Deshalb hat der Heilige Vater die Jugendlichen und mit ihnen alle Christen beim Weltjugendtag in Köln aufgerufen: „In diesen Tagen werdet ihr das Gebet wieder in bewegender Weise als ein Zwiegespräch mit Gott erfahren können – mit dem Gott, von dem wir uns geliebt wissen und den wir unsererseits lieben wollen. Allen möchte ich mit Nachdruck sagen: ‚Reißt Euer Herz weit auf für Gott, lasst Euch von Christus überraschen!‘ Gewährt ihm … das ‚Recht, zu Euch zu sprechen‘!“

Im Gebet spricht Christus zu uns und gibt unserer Seele Leben.

Ich möchte diese Gedanken zum „Gebet: Seele des Lebens“, die von Papst Benedikt XVI. ausgehen, mit einem Wort von ihm abschließen und zusammenfassen: „Wo nicht mehr angebetet wird, wo nicht Gott zuerst die Ehre gegeben wird, da können auch die Dinge des Menschen nicht wachsen“, weil die Seele fehlt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Maria, das Gedächtnis der Kirche

Bevor Papst Benedikt XVI. am Hochfest der Verkündigung des Herrn 15 neuen Mitgliedern des Kardinalkollegiums den Kardinalsring überreichte, ging er auf die Bedeutung des marianischen Prinzips in der Kirche ein. „Jede geschichtliche Verwirklichung der Kirche“, so betonte der Papst, „muss auf diese ursprüngliche Quelle zurückgehen“, nämlich die „Fleischwerdung des Sohnes Gottes“ im Schoß der Jungfrau Maria, in der wir „die Anfänge der Kirche erkennen können“. Gleichzeitig erinnerte er an die marianischen Impulse seines Vorgängers. Dazu passt wunderschön ein Beitrag von Erzbischof Dr. em. Karl Braun über Maria, die Papst Johannes Paul II. „das Gedächtnis der Kirche“ nannte.

Von Erzbischof em. Karl Braun, Bamberg

Als Papst Johannes Paul II. am 1. Januar 1987 in seiner Predigt die Enzyklika „Über die selige Jungfrau Maria im Leben der pilgernden Kirche“ (Redemptoris Mater) ankündigte,[1] verwendete er eine interessante Formulierung. Im Anschluss an den Bericht des Evangeliums: „Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“ (Lk 2,19) wandte sich der Papst unmittelbar an Maria und sagte: „Du bist das Gedächtnis der Kirche!“

Eine überraschende Aussage! Sie erscheint uns ungewohnt und neu. Ein Titel, den wir nicht in der Lauretanischen Litanei finden, in jenem geistlichen Blumenstrauß, den die Liebe der Gläubigen im Lauf der Jahrhunderte zu Ehren der Gottesmutter gebunden hat. Ein Wort, das nirgendwo in den kirchlichen Dokumenten über Maria zu finden war und auch bisher kaum nennenswerte Beachtung fand. Was bewegte wohl Johannes Paul II., die Gottesmutter „das Gedächtnis der Kirche“ zu nennen?

Bedeutung des Gedächtnisses

Um einer Antwort näher zu kommen, ist es angebracht, uns kurz auf die Funktion, die Bedeutung, den Wert des Gedächtnisses zu besinnen. Allein aus der Kraft des Gedächtnisses leben wir im Zusammenhang der Dinge und der Menschen. Ohne Gedächtnis, das heißt ohne Wiedererkennen, gäbe es keine menschliche Gemeinschaft, keine Sprache und damit auch keine Mitteilung. Ohne das Gedächtnis würden wir schlechtweg verhungern, denn wir wären nicht einmal imstande, die Nahrung als solche zu erkennen.

Ähnlich verhält es sich mit dem „Gedächtnis“ der Kirche. Es ist Raum und Organ der Zusammenhänge all dessen, was zum Leben des Volkes Gottes gehört. Alles Wirken der Kirche, vor allem ihre Verkündigung und ihr Verständnis der Heilsgeschichte, schöpft daraus seinen vollen Sinn. Jede weitere Entfaltung der Kirche muss sich darin einordnen lassen.

Erinnerungen der Mütter

Besonders den Müttern ist es gegeben, Gedächtnis für ihre Kinder zu sein, in ihnen bedeutsame Ereignisse und Erfahrungen ihres Lebens wachzurufen. Wer lange genug seine Mutter hatte, so dass er noch als Erwachsener mit ihr sprechen konnte, der weiß, wie treu und wunderbar das Gedächtnis einer Mutter ist.

Maria, die „Mutter der Kirche“, gleicht hierin unseren irdischen Müttern. Was hat Maria zeit ihres Erdendaseins nicht alles an Bedeutsamem in Leben und Wirken ihres göttlichen Sohnes und der jungen Kirche in ihr Gedächtnis aufgenommen, immer wieder darüber nachgesonnen und in wachsender Einsicht begriffen? Niemand war wie sie in der Lage, lückenlos und getreu von Jesus und der Jüngerschar zu berichten. Die Gottesmutter bewahrte das Heilsgeschehen und die Heilsbotschaft in ihrem Herzen (vgl. Lk 29,19-51) und gab es an die christliche Urgemeinde weiter. Die „allerweiseste Mutter, allein eines solchen Sohnes würdig“, so schreibt der heilige Bruno von Segni († 1123), „dachte nach über all das, was geschehen war, bewahrte es für uns und prägte es ihrem Gedächtnis ein, damit es später nach ihrer Lehre, ihrem Bericht und ihrer Verkündigung aufgeschrieben, auf der ganzen Welt verkündet und allen Völkern gepredigt würde“.[2] Maria will der jungen Kirche die Geschichte wach halten, die der lebendige Gott mit ihr geht und die zum Gelingen des Lebens, zum Heil aller Menschen dient. Die Mutter Jesu gibt den Christen der Frühzeit die Erfahrung ihres Lebens mit, dass sich nämlich der Erdenweg der einzelnen Christen und der Kirche insgesamt zwischen Karfreitag und Ostern bewegt, dass wir also im Karsamstag „beheimatet“ sind.

Das Gedächtnis Mariens im Himmel

Auch nach der Aufnahme Marias in den Himmel ist ihr Gedächtnis fortan die reine Tafel, auf der die heilsbedeutsamen Schritte der Kirche unauslöschlich verzeichnet sind. Die gesamte Geschichte des neuen Gottesvolkes, des mystischen Leibes Christi, ist in ihrem Herzen verwahrt, ist darin in völliger Einheit und Verwobenheit gegenwärtig. In unverwelklicher Erinnerung sieht Maria die Kirche in ihrem Auf und Ab durch die Zeiten – mit allen Höhen und Tiefen, mit aller Freude und Trauer, mit allem Mut und aller Verzagtheit. Die Kirche aber, die sich so tief im Gedächtnis Marias eingegraben hat, „weiß sich … in ihrem ganzen Leben mit der Mutter Christi durch ein Band verbunden, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Heilsgeheimnisses umfasst“.[3]

Auf Grund dieser Wahrheit nannte Papst Johannes Paul II. die Gottesmutter das „Gedächtnis der Kirche“. Es stimmt zwar, dass sich die Geschichte der Menschheit und auch die Geschichte der Kirche nicht wiederholen. Dennoch hat die Geschichte eine ähnliche Funktion wie beim einzelnen Menschen die Lebenserfahrung. Diese weiß, was für einen förderlich oder schädlich ist, welcher Weg unheilvoll sein kann und welcher zur Hoffnung berechtigt.

Identität der Kirche zwischen Vergangenheit und Zukunft

Wir haben als Christen kein Recht auf „Nostalgie“, wir dürfen uns nicht mit einem unrealistischen Heimweh nach den „guten alten Zeiten“ aus der Verantwortung für die Gegenwart fortstehlen, und es wäre fruchtlos, ja tödlich, ausschließlich die Vergangenheit im Blick zu haben. Wir sind der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gleicherweise verpflichtet. Wo Leben ist, da gibt es Veränderung. Auch die Kirche ist auf dem Weg, sie bedarf zu jeder Zeit der Erneuerung, ihr Leben und Wirken ist stets neu im Licht des Glaubens zu prüfen, damit sie immer mehr dem entspricht, was Christus ihr aufgetragen hat. Deshalb dürfen wir nicht kurzsichtig auf ein verklärtes Früher oder auf ein utopisches Morgen starren und so das Heute versäumen. Wir müssen vielmehr einerseits unsere Identität, das heißt die Übereinstimmung mit sich selbst, die Übereinstimmung der Kirche mit dem, was ihr Wesen ausmacht, bewahren und andererseits zugleich offen sein für die Zeichen der Zeit. Immer wieder müssen wir uns rückbesinnen auf das Mysterium der Kirche – ihre elementare Verwiesenheit auf die göttliche Dreieinigkeit. Die Kirche ist ja „Ikone“ der Trinität, Spiegelbild des dreieinen Gottes. Zugleich müssen wir uns bewähren in einem solidarischen Bezug zur Welt, für die wir als Kirche Zeichen und Werkzeug von Gottes Heil sind. Gefordert sind deshalb Treue zur Identität unseres Glaubens, ohne sich aus der Welt zurückzuziehen, aber auch Zuwendung der Kirche zur Welt, ohne sich ihr anzubiedern oder sich an sie anzupassen. Diese Gratwanderung mutet uns Christus zu, wenn er uns „Licht der Welt“ und „Salz der Erde“ nennt. „Licht“ in deutlichem Gegensatz zur Welt, „Salz“ in fundamentaler Beziehung zu ihr.

Wert von Tradition und Geschichtsbewusstsein

Dabei bedenken wir angesichts eines heute weithin mangelnden Geschichtsbewusstseins und eines zunehmenden Traditionsverlustes: Keine Generation beginnt das Leben an einem Nullpunkt. Wenn sie dies zu tun versuchte, trennte sie sich vom tragenden Mutterboden, vom festen Ausgangspunkt, von dem aus sie zuversichtlich in die Zukunft schreiten kann. Wenn ein Baum wachsen und sich entfalten soll, darf er nicht von seinen Wurzeln getrennt werden. Ohne Herkunft keine Zukunft! Verheißungsvolle Zukunft ist immer auch auf das Bewahrende angewiesen; sie gründet im Bewährten, in der Verbindung mit Geschichte und Tradition. Freilich, „Tradition“ hat ein schlechtes Image. Sie scheint Hemmschuh des Fortschritts zu sein. Sie trägt den Geruch des unbeweglichen Festhaltens am Gestrigen, Verstaubten und Toten an sich. Doch dies ist mit Tradition nicht gemeint. Tradition bedeutet nicht Fluchtbewegung nach rückwärts, sie ist auf die Weitergabe dessen ausgerichtet, was sich über allen Zeitwandel hinweg bewährt hat, an das Heute. „Der den großen Sprung machen will“, sagt Bertold Brecht, „muss einige Schritte zurückgehen. Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen.“ Die Tradition der Kirche beinhaltet das unveränderliche Gut ihrer Glaubens- und Sittenlehre; sie umfasst „alles, was dem Volk Gottes hilft, ein heiliges Leben zu führen und den Glauben zu mehren“.[4]

Zur Tradition der Kirche gehören aber auch viele andere religiöse Werte wie die des gottesdienstlichen Lebens, der Frömmigkeit, der Spiritualität, der Askese, des christlichen Brauchtums. Es sind dies Werte, die durch die Erfahrung erprobt, durch die Lehren und Weisungen der Hirten gutgeheißen und durch das Leben der Heiligen sowie den Glaubenssinn des Gottesvolkes bestätigt sind: ein reiches und wertvolles Erbe, das nicht leichtfertig aufgegeben oder verschleudert werden darf.

Erneuerung auf dem Boden der Kontinuität

Deshalb gilt es auch, einem oberflächlichen, unsachlichen Sprachgebrauch zu wehren, der sich breitgemacht hat. Man anerkennt beispielsweise in einem wirklichkeitsfremden „Archäologismus“ nur die Zeit der frühen Kirche als gültige Tradition; man spricht vom „Konstantinischen Zeitalter“, um die Geschichte der Kirche bis zur zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts zu disqualifizieren; man redet von vorkonziliarer Mentalität, um das Erbe kostbarer Überlieferungen abzuwerten; man spricht über die Vergangenheit so, als beginne die Geschichte der wahren Kirche Jesu Christi erst heute und als habe der Heilige Geist bis dahin die Kirche verlassen.

Eine solche Einstellung lässt das Bemühen vermissen, das, was im großen Erbe der kirchlichen Tradition unaufgebbar ist, von dem zu unterscheiden, was überholt, überflüssig und folglich wert ist, aufgegeben zu werden, oder vielleicht einer umsichtigen Reform bedarf. Dabei kann nicht jeder nach eigenem Gutdünken seine Auswahl treffen über das, was bleiben oder wegfallen soll. Das Urteil darüber steht jenen zu, denen der Herr die Leitung der Kirche anvertraut hat.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche zu einer umfassenden Erneuerung aufgerufen. Dabei stehen wir immer noch in den Anfängen. Echte kirchliche Erneuerung kann nur auf dem Boden der Kontinuität, des Zusammenhangs mit der lebendigen Tradition der Kirche gelingen. Das Außerachtlassen der Geschichte unserer Glaubensgemeinschaft führt in eine geistig-geistliche Verarmung, die im leiblichen Leben der Blutarmut entspricht. Das Gedächtnis zu verlieren, ist für jeden Menschen beklagenswert, für die Glieder der Kirche aber lebensgefährlich. Die Tradition will eine dynamische Kraft sein, um das Heute und das Morgen zu bestehen. „Tradition heißt nicht, einen Haufen Asche hüten, sondern ein Feuer am Brennen erhalten“, las ich jüngst über einer Klosterpforte. Wollte die Kirche auf ihre Tradition verzichten, würde sie selbst die Grundlagen ihrer Existenz zerstören. Wir dürfen nicht zu einer Gemeinschaft werden, die das „Gedächtnis“ verloren und damit ihre Identität, die lebensnotwendige Übereinstimmung mit sich selbst aufgegeben hat.

Maria, Garant für eine authentische Entwicklung der Kirche

Im Wissen um die Gefahr, dass die Kirche unserer Tage ihre innerste und prägende Geschichte vergisst oder verdrängt, stellt Papst Johannes Paul II. uns Maria als „Gedächtnis der Kirche“ vor Augen. Er lädt uns ein, dem Beispiel der jungfräulichen Gottesmutter zu folgen, die alles bewahrte und in ihrem Herzen erwog (vgl. Lk 2,19.51), was die Geschichte Gottes mit uns Menschen betrifft. Maria will die Erfahrungen und Erkenntnisse ihres mütterlichen Gedächtnisses mit uns teilen. So rufen wir zu ihr:

Maria, schenke uns durch deine Erinnerung eine sichere Hoffnung

Maria, du Gedächtnis der Kirche, beschenke uns mit der kostbaren Gabe deiner Erinnerung, die über die Jahrhunderte hinweg frisch ist wie am ersten Tag. Du erkennst die Geschichte der Kirche in ihrer ganzen Weite und Tiefe. Du siehst, was die Kirche von Anfang an und auf ihrem Weg durch die Jahrtausende in ihrem innersten Wesen ist und bleiben muss. Du zeigst dich in vielen glaubhaften Erscheinungen als jene, die mit dem Rosenkranz in der Hand uns anleitet, das Leben Jesu und den Pilgerweg der Kirche aus der Perspektive deiner Erinnerung, von deinem Gedächtnis her zu bedenken.

Unsere Augen sind oft trüb und matt, erschließe du uns den Blick für das, was zu allen Zeiten die Grundrichtung der Kirche sein muss. Lass die Kirche nicht vergessen, wo ihre Wurzeln liegen und die Quelle ihrer Kraft entspringt. Sei du jeder und jedem von uns „Gedächtnisstütze“ für all das Große und Wunderbare, das Gott für die Kirche gewirkt hat und auch fernerhin wirken will. Dein Gedächtnis sei uns Ermutigung, Frucht zu bringen in Geduld, selbst dann, wenn uns Erfolge versagt bleiben und die Situation ausweglos erscheint, wenn sich Gewitterwolken über uns zusammenziehen und wir für die Kirche keine Zukunft mehr sehen. Deine Erinnerung sei uns eine Einladung zur Hoffnung, zum Vertrauen auf die Macht Gottes gerade in den Herausforderungen durch Krisen und Umbrüche, aus denen die Kirche meist kraftvoller und vitaler als zuvor hervorging.

Maria, zeige uns die Fehler der Vergangenheit

Zeige uns, wo wir als Kirche für die Fehler und Sünden der Vergangenheit um Vergebung bitten müssen, wie wir diese wiedergutmachen und künftig vermeiden können. Öffne unsere Augen für das, was auch auf kargem Erdreich sprießt, für die zarten Pflänzchen der Hoffnung, die sogar auf Felsengestein wachsen. Hilf uns, die Spuren und Wege zur ersehnten Einheit aller Christen zu entdecken, damit der Tag sich naht, an dem wir alle der Welt ein glaubwürdiges Zeugnis für Christus geben. Lass uns aus der jahrtausendealten Erfahrung der Kirche daran festhalten, dass denen nichts schaden kann, die Christus in sich tragen; dass Prüfung oder Versuchung, Zeiten der Trübsal und des Schmerzes, des Verlustes, des Leids und des Spottes der Feinde, uns nicht scheiden können von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn (vgl. Röm 8,39); „dass Christus in uns stärker ist als die Welt um uns und dass er siegen wird, … dass Christi Arm ,nicht zu kurz ist, uns zu helfen‘ (vgl. Jes 59,1); ... dass komme, was will, seine Gnade für seine Kirche hinreichend ist und seine Kraft in der Schwachheit zur Vollendung kommt; ... dass zu jeder Zeit, wenn die Mächte des Bösen sie herausfordern, immer noch Märtyrer und Heilige hervorkommen … “ (John Henry Kardinal Newman); dass Jesus Christus, dein göttlicher Sohn, alle Tage bei uns bleibt, wie er uns verheißen hat (vgl. Mt 28,20).

Maria, erwecke in uns ein neues Sendungsbewusstsein

Dein Gedächtnis, Maria, ist nicht bloßes Bewahren, es ist dynamisch, nach vorne weisend. Und deshalb sind wir gerade auch als marianisch geprägte Christinnen und Christen keinesfalls solche, die man als Traditionalisten oder Reaktionäre bezeichnet. Du kennst keine Erinnerung, die nicht zugleich Zukunft ist. Wir verdanken auch deiner Fürsprache die Vision und das Programm einer Erneuerung der Kirche in unserer Zeit, wie dies uns das Zweite Vatikanische Konzil vor Augen stellt. Hilf uns im Blick auf das zukunftsweisende Zeugnis deines Gedächtnisses, dass wir diese Vision und dieses Programm mit Mut und Zuversicht verwirklichen, „damit sich die ganze Kirche aus dieser neuen Quelle der Erkenntnis ihres eigenen Wesens und ihrer Sendung erneuere – ohne aus fremden, vergifteten Zisternen zu schöpfen (vgl. Jer 8,18)“.[5] Wecke auch, Maria, kraft deines mütterlichen Gedächtnisses im Gottesvolk von neuem das Bewusstsein, für das Kommen des Reiches Gottes mitverantwortlich zu sein, so wie es das Beispiel der lebendigen Glieder der Kirche zu allen Zeiten zeigt.

Maria, du bist das Gedächtnis der Kirche, du bewahrst in deinem Herzen die Geschichte des neuen Gottesvolkes. Lass uns, geführt durch deine mütterliche Erfahrung, die Nöte bewältigen, von denen unsere Zeit erfüllt ist. Lass uns in dir jene Hoffnung wiederfinden, die aus dem Herzen des Evangeliums geboren wird. Deine Gegenwart als Gedächtnis der Heilsgeschichte werde für uns zu einer Quelle der Freude – der Freude am Glauben, der Freude am Christsein. Lass in der Hinwendung zu dir an jeder und jedem einzelnen von uns und an der Kirche insgesamt wahr werden, was der heilige Bernhard von Clairvaux (geb. 1090) von dir sagte: „Folge ihr, und du gehst nicht in die Irre; bitte sie, und du verzweifelst nicht; denke an sie, und du gehst nicht fehl; … rufe sie an, und du gelangst ans Ziel“, denn ihr Gedächtnis weist dir, weist uns allen den guten Weg.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2006
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[1] Rom, St. Peter, 1.1.1987.
[2] Kommentar zum Lukasevangelium, I. Teil, 2. Kap.: PL 1653 355.
[3] Papst Johannes Paul II.: Enzyklika „Redemptoris Mater“, 25.3.1987, Nr. 47.
[4] II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei verbum“, Nr. 8.
[5] Johannes Paul II., Tschenstochau, 4.6.1979.

Das marianische Prinzip in der Kirche

In seiner Predigt am 25. März 2006 interpretierte Papst Benedikt XVI. das „Totus Tuus“ seines Vorgängers Johannes Pauls II. und rief die Kardinäle auf, nach dem Vorbild Mariens dem Herrn Jesus, der sie gewählt und bestellt hat, und seiner heiligen Kirche mit bräutlicher Liebe zu dienen.

Von Papst Benedikt XVI.

Die Bedeutung des marianischen Prinzips in der Kirche wurde nach dem Konzil in besonderer Weise von meinem geliebten Vorgänger Papst Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit seinem Wahlspruch „Totus Tuus“ deutlich gemacht. In seiner spirituellen Richtung und in seinem unermüdlichen Dienst wurde vor den Augen aller die Gegenwart Mariens als Mutter und Königin der Kirche ersichtlich. Mehr denn je spürte er diese mütterliche Gegenwart im Moment des Attentats auf dem Peterplatz am 13. Mai 1981. Zur Erinnerung an dieses tragische Ereignis wollte er, dass ein Mosaik, das die Madonna darstellt, von der Höhe des Apostolischen Palastes aus den Petersplatz beherrsche, um so die Höhepunkte und den geregelten Verlauf seines langen Pontifikats zu begleiten, das gerade vor einem Jahr in seine letzte schmerzhafte und zugleich triumphale, wirklich österliche Phase eintrat.

Die Ikone der Verkündigung lässt uns besser als jede andere mit Klarheit erkennen, wie alles in der Kirche auf dieses Geheimnis der Annahme des göttlichen Wortes zurückgeht, wo durch das Werk des Heiligen Geistes der Bund zwischen Gott und der Menschheit in vollkommener Weise besiegelt worden ist. Alles in der Kirche, jede Einrichtung und jeder Dienst – auch der des Petrus und seiner Nachfolger –, liegt unter dem Mantel der Madonna, ist im Raum ihres Ja zum Willen Gottes, der voll der Gnade ist, angesiedelt. Es handelt sich um ein Band, das in uns allen natürlich ein starkes affektives Echo hat, das aber vor allem eine objektive Wertigkeit besitzt: Zwischen Maria und der Kirche existiert eine Konnaturalität, die das Zweite Vatikanische Konzil wirksam mit der glücklichen Entscheidung unterstrichen hat, die Abhandlung über die allerseligste Jungfrau Maria an den Schluss der Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ zu setzen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2006
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Maria – die starke Frau

Kaplan Dr. Christof May geht in seinem Beitrag zum Marienmonat Mai zunächst darauf ein, dass Männer oft Schwierigkeiten haben, eine offene und ausgeglichene Beziehung zur Gottesmutter aufzubauen. Sie leben eher ein anonymes Marienverhältnis; denn es handelt sich um eine Mutter-Sohn-Beziehung. Und diese Beziehung, so May, erweist sich häufig als nicht ganz einfach. Doch scheinen im Land der Reformation nicht nur die Männer in einer Art spirituellen Pubertät steckengeblieben zu sein. Kaplan May lädt dazu ein, freimütig auf Maria zu blicken, die als die „starke Frau“ der Kirche den Weg des Glaubens weisen kann.

Von Christof May

Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir Männer in unserem Marienverhältnis irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsenenalter steckengeblieben sind: In der Schule haben wir die Marienlieder mitgesungen und im Mai den Marienaltar aufgebaut – dann aber gab es irgendwann einen Bruch! Scott Hahn – ein berühmter Konvertit – beschreibt es sehr treffend in Bezug auf sein Verhältnis zu seiner Mutter. Als Heranwachsender im Alter von 13 oder 14 Jahren musste er wegen Übelkeit aus der Schule abgeholt werden. Es kam seine Mutter. Auf der Krankenstation, wo er mit ihr allein war, ließ er sich von ihr pflegen und im Wortsinn „bemuttern“. Als es später darum ging, die Schule zu verlassen, bat er seine Mutter, doch bitte einige Meter von ihm entfernt zu gehen und ihn bloß nicht bei der Hand zu nehmen. Das wäre ihm wohl den andern Mitschülern gegenüber zu peinlich gewesen. Die Mutter hörte auf ihren Sohn. Später sagte sein Vater: „Schäme dich nie, gemeinsam mit deiner Mutter gesehen zu werden!“ – Wir Männer sind oftmals geistlich Pubertierende: „Man freut sich, eine Mutter zu haben, die für einen betet, das Essen kocht und das Haus in Ordnung hält – möchte aber, dass sie außer Sichtweite ist, wenn andere in der Nähe sind, die kein Verständnis für sie haben könnten“ (S. Hahn).

„Du unsres Lebens Süßigkeit“

Vielleicht sind nicht nur wir Männer geistlich Pubertierende, wird doch Maria gerade in unseren Ländern sehr an der Peripherie betrachtet. Noch dazu zu reden von starker Frau? Das scheint nicht zusammenzupassen! Der Grund ist ein einfacher: Es ist das allgemeine Bild, das wir schlechterdings von Maria haben. Es genügt ein Blick in die Lieder und Gebete über Maria: Im „Salve Regina“ grüßen wir sie als gütige, milde und süße Jungfrau Maria! Bei dem Lied „Gegrüßet seist du, Königin“ wird sie als „Mutter der Barmherzigkeit, du unsres Lebens Süßigkeit“ bezeichnet. In anderen Liedern ist sie die „edle Rose, ganz schön und auserwählt“ oder „edler Rosengart, lilienweiß ganz ohne Schaden“. Das ist nicht das Bild, das man von einer starken Frau hat!

Warum ist Maria eine starke Frau?

Die Stärke liegt meines Erachtens darin, dass sie die Möglichkeit zur Verneinung des Grußes des Engels Gabriel ausgeschlagen hat. Das mag nun häretisch klingen: Aber nur aufgrund Ihrer unbefleckten Empfängnis war Maria nicht ihrer Freiheit beraubt. Das heißt: Sie hätte auch anders auf die Anrede des Engels reagieren können.

Die unbefleckte Empfängnis ist doch gerade die Rückkehr in die verantwortete Freiheit der Kinder Gottes, wie Adam und Eva sie im Paradies erfahren durften: eine Freiheit, die nicht von außen gesteuert und manipuliert – in die erbsündliche Struktur verwebt – ist, sondern die zugleich verantwortet wahrgenommen wird. In eben dieser Freiheit hatte Maria die Möglichkeit, sich dem Angebot des Engels Gabriel zu verweigern. Sie hätte sagen können: „Das schaff ich nicht! Ich, den Sohn Gottes zur Welt bringen; das tu ich nicht!“ Stattdessen gibt sie sozusagen eine Blanko-Unterschrift: „Gott hat es bisher mit mir gut gemeint; er hat mich bisher geführt, so wird er es auch in Zukunft gut mit mir meinen.“

Joachim Kardinal Meisner mahnt uns, dass wir heute mehr Christen denn je benötigen, die ihre Blanko-Unterschrift geben, damit Gott die Beträge einsetzt, die in der Welt gerade gebraucht werden. Wir neigen dazu, uns alles versichern und absichern zu lassen. Welche Versicherungen hatte Maria? Sie hatte den Blick zurück auf ihr gelebtes Leben – geführt und bewahrt.

Wir? Unser Leben? Da gilt es, nicht ständig nach Absicherungen zu schielen, sondern den vertrauenden Sprung zu wagen. Man könnte es auch anders formulieren: Unser Leben gleicht einem großen und ausgiebigen Schwimmunterricht. Ganze Epochen haben wir uns mit der Theorie – in unserm Kontext: mit der Theologie befasst. Aber was bringt die Theorie? Trockenübungen allein bringen mich nicht durchs Wasser. Es gilt, den vertrauenden Sprung in das Wasser zu wagen – in der Hoffnung, dass das Wasser mich trägt und dass die angeeignete Theorie nicht vergebens war.

Wir – im Land der Dichter und Denker – sind oftmals zu grüblerisch. Maria erwog alles in ihrem Herzen – ja – schließlich aber hat sie sich klar entschieden. Gerade in der Entschiedenheit zu ihrer Entscheidung liegt ihre Stärke. Wieviele Menschen werden schwach – revidieren ihre getroffenen Lebensentscheidungen, weil sie ständig darüber grübeln, was ihnen durch die getroffene Entscheidung vermeintlich entgangen ist. Sie setzen sich nicht mit ihrer Entscheidung auseinander und genießen sie, sondern schauen beängstigt auf die Alternative, die durch die Entscheidung aus dem Bereich des Möglichen herausgefallen ist.

Ich bin davon überzeugt, dass viele Priester ihr Amt niederlegen, da sie die Weihegnade und die damit geschenkte Freiheit der Christusbeziehung nicht genießen und stattdessen nur auf das schauen, auf was sie verzichtet haben. Das gleiche gilt wohl für die Ehe: statt in Dankbarkeit einander anzuschauen, gehen die Blicke panisch auf andere Menschen, mit denen man vermeintlich besser leben könnte.

Marias Stärke ist die Treue zur getroffenen Entscheidung – keine zwanghafte, überanstrengte Treue, sondern Treue, die aus der Größe der Berufung entspringt. Ihre Stärke liegt im Gehorsam – anders gewendet: Evas Schwäche liegt darin, dass sie allein auf sich selbst setzt und Gott misstraut.

Die Stärke entspringt allein aus der Gottesfurcht! Nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, bekommen es Adam und Eva mit einer Heidenangst zu tun, Gott könnte sie in ihrer Nacktheit entdecken. Maria hingegen lebt aus der Gottesfurcht, die ja bekanntlich – wie der Psalmist sagt – der Anfang der Weisheit ist. Daher wird Maria immer wieder als „Sedes sapientiae“ – „Sitz der Weisheit“ angerufen.

Entscheidungen mit Entschiedenheit leben

Maria lebt ihre Entscheidung entschieden. Einige Schlaglichter auf ihr Leben mögen genügen: Das Kind, das sie erwartet, ist nicht von ihrem Verlobten Josef. Was wird das Umfeld gedacht haben? Wie soll man ihnen erklären, dass Gott Maria erwählt habe, Seinen Sohn in die Welt zu tragen? Wie würden wir in dieser Situation handeln? Am liebsten alles hinwerfen? Maria aber geht ihren Berufungsweg in Treue!

Ein weiteres Schlüsselerlebnis ist die Hochzeit zu Kana: Von ihrem Sohn wird sie zunächst abgewiesen: „Frau, was willst du?“ – Man muss das Evangelium gar nicht psychologisierend lesen; es ist doch offenkundig: Jesus scheint sich von seiner Mutter zu emanzipieren.

Das zeigt sich noch mehr, als Maria vor dem Haus steht, in dem Jesus mit einigen Jüngern versammelt ist. Nachdem seine Jünger ihn darüber in Kenntnis gesetzt haben, antwortet Jesus: „Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder?“ – Joachim Kardinal Meisner beschreibt es treffend: „Der Sohn verwächst dem Willen des Vaters und entwächst dem Wollen seiner Mutter.“

Darin wird Maria zu einem starken Vorbild für alle Eltern, die um den richtigen Zeitpunkt ringen, wann sie ihre Kinder in die volle Freiheit und Verantwortung entsenden dürfen und müssen.

Woher nimmt Maria diese Stärke?

Sie nimmt sie aus ihrem ersten Wort, das sie dem Engel Gabriel entgegnete: „Fiat – Mir geschehe!“ Ihre Stärke liegt im Anerkennen der Verwiesenheit, ja sogar der eigenen Schwäche: Nicht der ist stark, der alleine auf sich vertraut, sondern der seine Verwiesenheit auf Gott anerkennt. Im Land der Reformation tut es uns vielleicht gut, der spirituellen Pubertät zu entwachsen und Maria gerade im Marienmonat Mai mehr in den Blickpunkt zu nehmen, damit die Kirche nicht der Gefahr verfällt, ausschließlich funktional und strukturell zu sein. Mit Maria dürfen wir unsere Verwiesenheit auf Gottes Gnade anerkennen und ausrufen: „Mir geschehe, wie Du es gesagt hast!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2006
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Eucharistische Gebetswache auf dem Lindenberg

Die Gebetswache auf dem Lindenberg im Schwarzwald ist etwas Einmaliges in der Erzdiözese Freiburg und wahrscheinlich auch in ganz Deutschland. Seit 50 Jahren wird in der dortigen Wallfahrtskirche Tag und Nacht die ewige Anbetung gehalten. Zurzeit teilen sich diesen Dienst das ganze Jahr über etwa 1000 Männer, die im Katholischen Männerwerk der Erzdiözese Freiburg organisiert sind. Ihr Präses Robert Henrich betrachtet es als besonderes Geschenk der göttlichen Vorsehung, dass das 50jährige Jubiläum der Gebetswache im Jahr der Eucharistie gefeiert werden konnte. Sein ermutigendes Zeugnis möge ein Impuls für viele andere Gläubige und Pfarreien sein, der ewigen Anbetung neue Aufmerksamkeit zu schenken.

Von Robert Henrich

1000 Männer knien vor dem Herrn

Wer die Wallfahrtskirche auf dem Lindenberg im Schwarzwald betritt und auf den Hochaltar schaut, der sieht – zu jeder Stunde, Tag und Nacht – die Monstranz. Vor dem Allerheiligsten beten Männer, Laien aus allen Berufen, aus den Städten und Dörfern des Erzbistums Freiburg im Breisgau. 20 bis 25 Männer kommen jeweils für eine Woche auf den Lindenberg. Sie teilen sich die Tag- und Nachtstunden ein, um Gebetswache zu halten. Stellvertretend für ihre Mitmenschen beten sie in den Anliegen von Kirche und Welt. Das ist seit über 50 Jahren so. Anfangs waren es einige Wochen im Jahr, bald aber war es für das Männerwerk ein Anliegen, die Wache über das ganze Jahr auszudehnen. Dankbar können wir feststellen, dass die Gebetswache ständig gewachsen ist. Inzwischen sind es ca. 1000 Männer, die daran teilnehmen. 1000 Männer, die stellvertretend für die Vielen vor dem Herrn knien, Gott die Ehre geben, die Sorgen und den Dank ihrer Mitmenschen „mitnehmen“ hin vor die Monstranz.

Die Gebetswache hat ihren Platz an einem Gnadenort unserer lieben Frau gefunden. Der Wallfahrtsort ist ein wunderbarer Background für unsere Männer. Das gegenseitige Glaubenszeugnis ist sehr hilfreich. Die Männer erleben die Wallfahrerinnen und Wallfahrer, die täglich das Gotteshaus besuchen, die ihre Freude und Dankbarkeit, ihre Nöte und Sorgen mitbringen. Die Wallfahrer erleben das Glaubenszeugnis der Männer, die vor dem Allerheiligsten Wache halten – Tag und Nacht.

Der „heilige Anfang“ in Sachseln

Entscheidend war für unsere Gebetswache der „heilige Anfang“ in Sachseln, jenes Ereignis, das bleibende Erinnerung geworden ist. Es war das Gebet für den damaligen Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer. Betend begleiteten die Männer seine Mission in Moskau. Adenauer versuchte, in zähen und mühseligen Verhandlungen die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen zu erreichen. In letzter Minute gelang ihm dieses Ziel. Die Männer in Sachseln konnten jubeln ... und danken. Die Heimkehr der Kriegsgefangenen war für die Männer Ansporn, weiterhin die „Waffen des Gebetes“ einzusetzen. So bleibt ein Ereignis der Nachkriegszeit ein fruchtbarer Impuls für die Zukunft. Das Gebet um den Frieden hat auf dem Lindenberg Platz gefunden.

Dass die Anfänge unserer Gebetswache mit der Einsiedelei von Bruder Klaus ganz stark verbunden sind, ist für uns ein Fingerzeig Gottes. Nikolaus von Flüe, der Friedensstifter und Nationalheilige der Schweiz, ist für uns ein Beispiel der Wachsamkeit. Zeitlebens war er ein großer Beter, deshalb war er hochsensibel für die Zeichen der Zeit. Betend konnte er sie deuten, betend gab er Antwort auf die Herausforderungen seiner Zeit. Klaus war ein politischer Mensch, weil ihn seine Nähe zu Gott ganz offen machte für die Nöte der Menschen, für das politische Geschehen, für die Gestaltung der Zukunft.

Auch unsere Zeit braucht betende Menschen, ist angewiesen auf Männer, die die Nöte der Welt in die Kirche hineintragen vor den Altar, und sie braucht Männer, die vom Altar herkommen, um die Kirche hineinzutragen in die Welt. Was Gott unserer Zeit zu sagen hat, lässt er die wissen, die zu ihm kommen, die bei ihm bleiben und die betend sich für seinen Geist offen halten.

So gehören unsere Gebetswache und unsere Wallfahrt nach Sachseln zusammen. Sie bilden – wie es Dr. Stiefvater nannte – die Aktion „Oremus“. Jedes Jahr begehen wir diese Wallfahrt nach Sachseln, wo wir uns besonders verbunden wissen mit den Männern unserer Gebetswache und mit unserem „Dauerthema“: Frieden in der Welt.

Das Vermächtnis Papst Johannes Pauls II.

Es ist für uns alle ein denkwürdiges Zeichen, dass wir gerade im Jahr 2005, das von Papst Johannes Paul II. als „Jahr der Eucharistie“ ausgerufen wurde, das 50jährige Bestehen unserer Gebetswache feiern konnten. Dass der Papst auch für den Weltjugendtag in Köln als Leitthema die Anbetung wählte, war für unsere Männer eine zusätzliche Ermutigung; denn auch sie sagen: „Wir sind gekommen, um IHN anzubeten“. Die Enzyklika „Ecclesia de eucharistia“ (Kirche aus der Eucharistie) und das Apostolische Schreiben „Mane nobiscum domine“ (Bleibe bei uns, Herr) erscheinen uns wie ein besonderes Vermächtnis des verstorbenen Papstes, dem die Verehrung des Altarsakramentes ein Herzensanliegen war.

Wenn wir das stille, immerwährende, auch nächtliche Gebet betrachten, sind wir an jene Stunde erinnert, in der Jesus zu seinen Jüngern sagte: „Wachet und betet“ (Mt 26,41). Aus tiefster Not sprach er am Ölberg diese Worte: „Wachet und betet mit mir.“ Die Szene ist erschütternd. Jesus erlebt in tiefster Verlassenheit das, was jetzt über ihn hereinbricht. Der Kelch des Leidens steht vor ihm. Er aber will den Willen des Vaters erfüllen. Er bittet um Kraft und Hilfe.

Wachen und beten gehören zusammen. Beten ist die Hochform der Wachsamkeit, des Gehorsams, der Gehörsamkeit. Betend erwarten wir die Weisung Gottes, die Führung durch den Hl. Geist.

Aus diesem Grund halten Laien, die oft noch im Beruf stehen, die Gebetswache für unbedingt wichtig. „Wachet und betet...“, natürlich kann man das auch zu Hause tun. Die Männer der Gebetswache aber möchten ein Zeichen setzen. Sie wollen dem Willen des Herrn gemeinsam entsprechen und sie wollen sich dafür bewusst Zeit nehmen, sie wollen gleichsam heraustreten aus dem Zwang des Alltags, um ganz frei zu sein für diesen Dienst. Damit wird er zu einer Symbolhandlung. Sie wollen zeigen, was auch im Alltag das Leben eines gläubigen Menschen bestimmen soll: Anbetung des Herrn; betend das Leben gestalten und erleben.

Entscheidender Beitrag für unsere Erzdiözese

Ich komme jede Woche auf den Lindenberg und erlebe die jeweilige Gruppe. Was mich immer wieder neu innerlich bewegt, ist die dichte Gemeinschaft, die Kameradschaft, die alle verbindet. Die Männer fühlen sich verbunden im gleichen Anliegen: Gemeinsame Anbetung des Herrn, gemeinsames „Vorbringen“ der Anliegen, verbunden in der geistlichen Sorge für die Zukunft in Kirche und Welt. Viele der Männer kommen auf den Lindenberg „beladen mit Gebetsbitten“ ihrer Angehörigen und Freunde: „Denke auch an uns“, „Bet auch für mich“. Selbst Menschen, die „ferne stehen“, freuen sich, wenn sie wissen: auf dem Lindenberg wird für mich, für uns gebetet. Beten füreinander, wachen füreinander, stellvertretend die Hände erheben für die Vielen, das entspricht dem Willen des Herrn. Wir realisieren dabei die Nächstenliebe und wir entsprechen der Weisung Jesu: „Betet gemeinsam!“

Viele der Gruppen treffen sich regelmäßig auf Dekanatsebene und gestalten in verschiedenen Gemeinden Anbetungsstunden. So kann ein zentrales Anliegen unseres Glaubens, die Anbetung, in den Gemeinden Raum finden.

Unsere Obmänner, die garantieren, dass zur geplanten Woche die entsprechende Zahl von Männern auf dem Lindenberg erscheint, treffen sich einmal jährlich, um gemeinsam ihre Erfahrungen auszutauschen. Bei diesen Begegnungen staune ich immer wieder über das Engagement der Männer, über die pastorale Sorge, die diese Männer erfüllt. Gegenstand unserer Überlegungen sind einerseits das jeweilige diözesane pastorale Anliegen (z.B. die Leitlinien der Erzdiözese oder das „Jahr der Berufung“), andererseits die Anliegen der Weltkirche, z.B. „Jahr der Eucharistie“.

Geistlich gesehen ist die Gebetswache der Männer eine ganz entscheidende Wirklichkeit in unserer Erzdiözese. Es ist einfach trostvoll zu wissen, dass an diesem Ort die „Ewige Anbetung“ geschieht. – Nichts ist wichtiger. – Für unseren Erzbischof Dr. Zollitsch, dem erstverantwortlichen Seelsorger der Diözese, war der Tag des Jubiläums ein Freudentag. Am Ende seiner aufmunternden Predigt sagte er: „Bitten wir Gott, dass dieses Werk noch lange Bestand hat und auch künftig zum Segen für Viele wird“.

Segensgruß des Papstes

„Betend blicken die Männer auf den Herrn und halten Wache für Kirche und Welt.“ Diese Worte trug Joseph Kardinal Ratzinger am 30. März 1993 ins Gästebuch auf dem Lindenberg ein.

Zum 50jährigen Jubiläum ließ er ein Bild mit persönlicher Widmung übermitteln: „Für die Männer der Ge­betswache – Gruß und Segen – Benedikt PP – 21.6.2005“.

Das Papstbild hängt nun im Aufenthaltsraum der Gebetswache. Der Se­gensgruß ist nicht zuletzt dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass der Vater des persönlichen Sekretärs des Papstes, Monsignore Dr. Gänswein, der Gebetswache auf dem Lindenberg angehört.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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