Papst Benedikt XVI. hat Deutschland verändert

Gerade war Martin Lohmann von einer Begegnung mit Benedikt XVI. aus Rom zurückgekehrt, da beantwortete er „Kirche heute“ mit lebhafter Begeisterung Fragen zu seinem neuen Papst-Buch. Am 7. März durfte er es dem Papst als Geschenk zum bevorstehenden 80. Geburtstag persönlich überreichen. Und so sprüht auch jede Antwort von Dankbarkeit und Enthusiasmus. Nicht umsonst trägt das Buch den verheißungsvollen Titel „Maximum. Wie der Papst Deutschland verändert“.[1] „Deutschland ist auf dem Weg zu einer neuen Kultur der Nachdenklichkeit, Herzlichkeit und Einfachheit“, so Lohmann. Und er fügt hinzu: „Einen nicht geringen Anteil an dieser Entwicklung hat Papst Benedikt XVI.“, was er mit zahlreichen Beispielen belegt.

Interview mit Martin Lohmann

Kirche heute: Herr Lohmann, am 16. April feiert Papst Benedikt XVI. seinen 80. Geburtstag. Welchen Glückwunsch könnten Sie dem Hl. Vater zu diesem Fest aussprechen?

Martin Lohmann: Es ist zugleich sein 80. Tauftag, den der Hl. Vater an diesem Tag feiern kann. Als Joseph Ratzinger in der Osternacht mit dem frischen Quellwasser des Todes und der Auferstehung Christi gereinigt wird, beginnt für ihn das Leben in Fülle und Freiheit. Davon profitieren wir nun alle. Denn sein Aposteldienst ist geprägt von reicher Fülle und klarer Freiheit, die er allen erschließen möchte. Und so wünsche ich diesem klugen „Mitarbeiter der Wahrheit“, dass er mit uns und der Kirche in der göttlichen Wahrheit geborgen bleibt, sie mehr und mehr entdeckt und erlebt, um sie in der Fülle der Freiheit für viele andere zu erschließen und liebevoll weiterzugeben. Ja, ich wünsche ihm weiterhin den Frieden des Herzens und der Seele sowie die Weite des Geistes, die für uns alle zum Segen geworden sind. Und weil der Wunsch ja auch immer vornehmste Form der Bitte ist, wünsche ich – sicher im Namen vieler – ihm die Kraft, noch lange seinen Petrusweg möglichst beschwerdefrei gehen zu können. Aber das ist eher ein Wunsch, der eine Etage höher als Bitte deponiert wird, weil wir Papst Benedikt schätzen und brauchen: Gott möge immer bei ihm sein. Bleiben Sie gottbehütet, lieber Heiliger Vater! Und bleiben Sie für uns ein vorbildlicher Apostel der Klarheit und Wahrheit!

Kirche heute: Wie Sie berichten, hatten Sie schon im Vorfeld des Konklaves immer wieder behauptet, man werde Ratzinger wählen. Aber damit nicht genug: Sie hätten auch schon vor seiner Wahl die Überzeugung geäußert, er werde sich dann den Namen „Benedikt“ geben. Sind Sie ein Prophet oder wie kamen Sie auf eine solche Idee?

Lohmann: Über meine prophetischen Gaben habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber es schien mir nun mal als logisch, dass dieser so gütige und kluge Kardinal der richtige Nachfolger für den großen Johannes Paul II. sei. Vielleicht habe ich es mir auch einfach nur sehr gewünscht, weil ich den damaligen Kardinal und den früheren Professor schon so lange kannte und unglaublich schätzte. Ratzinger hat mich schon fasziniert, als ich noch ein kleiner Junge war. Begegnungen mit ihm waren immer ein Gewinn. Irgendwie war ich mir sicher: Der wird‘s. Dass ich dann auch noch meinte, er werde am 19. April gewählt, hatte freilich nur damit zu tun, dass dies auch – neunzehn Jahre zuvor in New York – unser Verlobungstag ist. Die Sache mit der Namengebung war in der Tat etwas gewagt. Und so mancher, der sich heute daran nicht mehr erinnern kann, hatte schon ernsthaft an meinem Geisteszustand gezweifelt, als ich fest davon ausging, ein zum Papst erwählter Kardinal Ratzinger werde sich den Namen Benedikt geben. Mir schien das, so würde man im Rheinland sagen, „normal“. Warum? Weil ich weiß, wie sehr die Spiritualität des hl. Benedikt Joseph Ratzinger bewegte, und weil er nicht nur ein legitimer echter Konzilspapst sein würde, sondern auch ein legitimer Nachfolger von Benedikt XV. Dieser begabte und kluge Papst, dessen Wirken vom Ersten Weltkrieg im Bewusstsein vieler Menschen ziemlich verdeckt wurde, hatte keine Angst vor der Begegnung mit der Welt und ihren geistigen Strömungen. Benedikt XV. war allen Auseinandersetzungen und Herausforderungen des Geistes gewachsen und kannte keine Berührungsängste. Er kannte und erkannte Gefahren und Chancen gleichermaßen. Das gilt ebenso für Benedikt XVI. In ihrer segensreichen filigranen Geisteskraft sind sich die beiden Päpste ähnlich. Und deshalb war ich so kühn, schon vor der Entscheidung von Papst Benedikt XVI. zu reden. Zum Glück habe ich etliche Zeugen für diese Keckheit samt den zuvor abgegebenen erklärenden Begründungen. Aber als ich dann unter der Loggia auf dem Petersplatz stehend am 19. April exakt zur amerikanischen Verlobungszeit die wunderbare Bestätigung hörte und miterlebte, war ich schon freudig erschrocken. Die Hüpfer, die Herz und Seele sofort machten angesichts dieser Papstwahl, nahmen mir schon für einen Augenblick das Gleichgewicht. Aber das fand ich rasch wieder, zumal ich wirklich glaube, dass diese Papsterwählung ein Segen für viele ist, besonders für uns Deutsche.

Kirche heute: Rechtzeitig zum bevorstehenden Geburtstag unseres Papstes haben Sie ein Buch geschrieben, in dem Sie die Bedeutung Benedikts XVI. für unsere Zeit herausarbeiten. Sie vertreten die These, dass der Papst Deutschland „unumkehrbar“ verändert. Woran ist dies Ihrer Meinung nach zu erkennen?

Lohmann: Wer genau und aufmerksam hinschaut und die Gesellschaft unaufgeregt beobachtet, der kann viele Zeichen einer – wie ich es nenne – „Benedettinischen Wende“ erkennen. So ist, um bei der Kirche anzufangen, der in den Jahren zuvor so gepflegte und auch gelegentlich regelrecht zelebrierte Katholikenkomplex inzwischen weg. Verflogen. Aufgelöst. Die selbstmitleidvolle Entschuldigungsmentalität, man sei zwar katholisch, aber verstecke dies lieber, ist längst ein Relikt aus dem Vorgestern. Den aufgeklärten und souveränen Christen zeichnet heute hingegen aus, dass er selbstbewusst und ohne mentale Verrenkungen bekennt, Christ zu sein. Mehr noch: Immer häufiger entdecken bisher allzu verschüchterte Katholiken, welche modernen Schätze sie eigentlich haben, und dass man zur wirklichen Avantgarde gehört, wenn man sich den Weitblick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leistet. Das hat viel mit diesem Papst zu tun, dem man einfach nicht – jedenfalls nicht, wenn man kein Ignorant sein will – plump ausweichen kann, weil er mit seiner klugen und klaren wie auch authentischen Art zum scheuklappenfreien Nachdenken einlädt und Mut macht.

Kirche heute: Sie haben das allererste Exemplar Ihres Buches dem Hl. Vater in Rom überreicht und sind dann nach Berlin geflogen, um dort Ihr Buch ausgerechnet durch Gregor Gysi vorstellen zu lassen. Warum?

Lohmann: Weil ich mir Gregor Gysi gewünscht hatte, mit dem ich schon häufig heftig gestritten habe, was wir beide aber stets fair und voller Respekt getan haben. Gysi, der sich selbst als ungläubig und als toleranten Atheisten bezeichnet, hat mir zugestimmt, als ich ihm nach seiner bemerkenswerten Rede in der Bertelsmann-Repräsentanz mitten in Berlin sagte, er sei nun Teil der Bestätigung der Richtigkeit meiner These, dass der Papst Deutschland verändert. Den so etwas hatte es noch nie gegeben: Ein ostdeutscher Linken-Chef und ehemaliger DDR-Sozialist stellt das Papstbuch eines rheinisch-katholischen Publizisten vor, das in einem evangelischen Verlagshaus erscheint. Wenn das keine Brückenbauerfunktion ist! Sie sehen: Auch Gysi kommt an diesem Papst nicht vorbei. Selbst ein so prominenter PDS-Mann muss sich mit Benedikt XVI. auseinandersetzen. Mich wundert es daher nicht, dass nach der Lektüre meines Buches Gysi davon überzeugt ist, dass letztlich nur die Kirchen dieser Gesellschaft noch wirkliche Orientierung geben können und die Linke da nichts anzubieten hat. Fast klang der ehemalige SED-Mann schon ein wenig neidisch auf die katholische Kirche mit ihrem Papst. Jedenfalls lachte er herzlich, als ich ihn bei unserem öffentlichen Auftritt in der Nobeladresse „Unter den Linden 1“  einen „Begierdekatholiken“ nannte.

Insgesamt gilt, dass seit dem Amtsantritt Benedikts viele Klischees über Kirche und Papst gerade in Deutschland geplatzt sind. Man spricht niveauvoller und respektvoller über vieles, was man zuvor in bequeme und simple Klischees gepresst hatte. Mit diesem Papst geht das aber nicht so einfach. Er spricht unsere Sprache, kennt unser Denken, ist klug und weise und so wunderbar liebenswert. So lange WIR Papst sind, hat der Papst auf UNS auch eine besondere Wirkung. Ich belege das in meinem Buch vielfach. Da möchte ich Gregor Gysi nicht widersprechen, wenn er sagt: Dieses Buch ist in jeder Hinsicht lesenswert. Mit dieser Meinung ist er kein Außenseiter.

Kirche heute: Sie sind überzeugt, dass der Schlüssel für die Wirksamkeit des Papstes in seinem Anspruch an die Menschen besteht. Bewusst haben Sie als Titel für Ihr Buch „Maximum“ gewählt; denn Benedikt XVI. gebe sich nicht mit einer Minimalforderung zufrieden, sondern traue den Menschen Großes zu. Wo bzw. wie kommt dies in seinem Pontifikat zum Ausdruck?

Lohmann: Ja, dieser Papst traut den Menschen das Maximum zu. Er weiß und kann erklären, dass der Mensch zum Maximum berufen ist. Benedikt lädt in charmanter und sympathischer Weise ein, das Klein-Klein zu verlassen und endlich groß und weit zu denken. Er ist ein Meister der Erkenntnis und ein Meister der Erkenntnisvermittlung. Jetzt kommt es darauf an, ob wir uns zum Beispiel im Blick auf ein neues und aufgeklärtes Miteinander von Glaube und Vernunft trauen, Erkenntniszuwachs zuzulassen. Der Papst traut uns das zu, weil er weiß, dass in der Entdeckung der Schönheit und Wahrheit von Vernunft und Glaube eine befreiende Freiheit liegt. Ich bleibe dabei, was ich ganz zu Beginn des Pontifikats bereits am 19. April 2005 gesagt habe: Dieses Pontifikat ist ein Pontifikat der Wahrheit in Klarheit und der Klarheit in Wahrheit. Und bisher hat sich bestätigt: Das wirkt, leise und fein, aber sehr nachhaltig, besonders auf Deutschland. Dort ist die Zeit gekommen, mentale Verklebungen hinter sich zu lassen und den Geist zu befreien. Benedikt hilft dabei. Und das ist gut so.

Kirche heute: Warum ist dieser Anspruch attraktiv? Warum wirkt er ermutigend und führt, wie Sie sagen, zu einem Aufbruch in Deutschland?

Lohmann: Weil die Menschen in sich eine ungestillte Sehnsucht nach Großem und Gutem haben. Weil sie letztlich keine Lust haben, sich mit einem Minimum zufrieden zu geben. Weil jeder Mensch wirklich zum Maximum berufen ist und das Leben in Fülle sucht und haben will. Weil die allzu lange gepflegte Sicht ausschließlich auf den eigenen Bauchnabel kurzsichtig und unzufrieden macht. Weil in jedem Menschen der Seelenhunger nach dem Mehr lebt. Weil die Zeit des mentalen und nährstoffarmen Toastbrotes vorbei ist und jetzt wieder vitaminreiches mentales Schwarzbrot nachgefragt wird. Weil der Professor-Papst einen so einfachen und schönen wie verständlichen Glauben hat. Weil es stimmt, dass man nie allein ist, wenn man glaubt. Weil die Menschen Hoffnung haben wollen und das Laben. Weil nach langer Zeit der Diktatur des Relativismus die Freiheit der Wahrheit gesucht wird. Weil wir alle Mitarbeiter der Wahrheit sein können.

Kirche heute: Der Papst wirke sogar heilsam gegen die sich ausbreitende Politikverdrossenheit. Wie?

Lohmann: Ja, denn er entlarvt moderne und versteckte Geistesdiktaturen, wie sie sich im Relativismus zeigen. Ich sage Ihnen, dass dieser Papst mit seiner Botschaft eine echte und manche Politiker auch überfordernde Herausforderung ist. Denn die Lehre vom Nichts, die vielfach worthülsenreich verpackt wird, führt letztlich ins Nichts und in die Leere. Und so wird sich auch manch unverbindliche Flachheit auf der politischen Bühne nicht ewig halten können. Warum? Weil die Menschen wieder tiefer und genauer fragen werden und sich nicht mit Floskeln abspeisen lassen wollen. Es gibt von Kardinal Ratzinger eine Menge klarer und herausfordernder Aussagen über Politik und Demokratie und Werte. Seit Benedikt XVI. bohren hier viele Aussagen geradezu an der dünnen Oberfläche des Eises, auf dem mancher Politiker und auch Journalist seine wenig belastbaren mentalen Pirouetten dreht. Wetten, dass sich auch in der Politik manches ändern wird? Wetten, dass wir, wenn die CDU zum Beispiel nicht die avantgardistische Kraft des „C“ entdeckt, neue Parteien mit klarem Profil bekommen werden? Schließlich macht auch Benedikt deutlich, dass man als echt Konservativer echt progressiv ist, weil man das in der Vergangenheit Bewährte im Jetzt bewahrt, um es heute als Sprungbrett ins Morgen zu nutzen.

Kirche heute: „Wir stehen am Beginn einer aufgeklärten Aufklärung“, so schreiben Sie. Was wollen Sie damit sagen?

Lohmann: Ich kann hier nicht all die schönen Aussagen wiederholen, die genau vor zehn Jahren Kardinal Ratzinger in einem Zeitungsgespräch – das Sie in meinem Buch wieder finden – mit mir gemacht hat, aber es ist schon lange sein Anliegen, die auf halber Strecke stecken geblieben ist. Erst eine Aufklärung, die Glaube und Vernunft miteinander versöhnt, eine Aufklärung, die in aller Vernunft die Frage nach der Wahrheit wieder zulässt und die die ratio mit den Realitäten der Offenbarung verbindet, verdient den Namen Aufklärung. Es geht darum, die Aufklärung nach vorne zu bringen und ihr die verdrängte oder vergessene andere Hälfte zurückzugeben, von der zu befreien sie fälschlicherweise glaubte, dass es nötig sei. Das Gegenteil ist richtig: Erst eine mit der Offenbarung und mit dem Glauben verbundene Vernunft schafft volle Aufklärung, also eine aufgeklärte Aufklärung. Die Zeit dazu ist da. Denn erst eine aufgeklärte Aufklärung garantiert wirkliche Freiheit.

Kirche heute: In Ihrem Buch ist zu lesen: „Ein Papst gehört allen. Deshalb muss er sich auch allen stellen und für alle da sein. Vielleicht gibt es keine andere Person, die so sehr der ganzen Weltfamilie ‚gehört‘ wie der jeweilige Petrusnachfolger.“ Hat Benedikt XVI. Ihrer Ansicht nach dem Petrusdienst bereits einen neuen historischen Stempel aufgedrückt?

Lohmann: Ja. Während man zu Johannes Paul II., den ich für einen ganz Großen halte und dessen baldige Seligsprechung ich mir sehr wünsche, pilgerte, um ihn zu sehen, reist man zu Benedikt XVI., um ihn zu hören. Seine feine und stets verständliche Sprache, die er mit einer unglaublichen persönlichen Bescheidenheit verbindet, ist schon jetzt zum Markenzeichen des Pontifikats geworden. Benedikt wirkt durch die Kraft des Geistes. Aber auch durch die Kraft seines gütigen Herzens. Benedikt hat dem Petrusdienst den Stempel des Feinen aufgedrückt. Man könnte auch sagen: Petrus kommt heute als edler und geistvoller Menschenfischer auf uns zu.

Kirche heute: Sie stellen fest, dass Kardinal Ratzinger gerne Robert Spaemann zitierte. In welchem Zusammenhang?

Lohmann: Beide zeichnet eine tiefgründige, genaue und überzeugende Sprache aus, die sich an Wahrheit in Klarheit orientiert. Beide sind große Geister. Der eine als Theologe, der andere als Philosoph. Beide gehen entschieden auf dasselbe Ziel zu. Beide sind in der Lage, Kompliziertes verständlich und einfach auszudrücken. Beide sind seelenverwandt. Beide lieben die Wahrheit. Beide sind Mitarbeiter eben dieser Wahrheit.

Kirche heute: Sie gehen auch auf das berühmt gewordene Wort Ratzingers ein: „Warum hasst sich der Westen?“ Welchen Hintergrund hatte diese Frage?

Lohmann: Da gehe ich auf einen Beitrag ein, in dem der Kardinal die inneren Selbstverrenkungen des Westens beschreibt und deutlich macht, dass der Westen mit sich vielfach nicht im Reinen ist. Es geht hier um den mangelnden Mut, zu sich selbst Ja sagen zu können die richtigen Fragen zu stellen. Aber das ändert sich ja mit einem Papst für die ganze Welt, der aus dem Westen kommt und an dessen Fragen und Hinweisen nur Dumme vorbeilaufen können.

Kirche heute: Sie heben den Beitrag Benedikts XVI. für die Ökumene hervor. Welchen Beitrag sehen Sie?

Lohmann: Schon als Kardinal Ratzinger hat der Papst für eine Weitung der Ökumene plädiert, die ja neben den typisch deutschen Fragen auch in Wirklichkeit viel mit der Kirche des Ostens zu tun hat. Es ist nur logisch, dass dieser mit ökumenischen Fragen aufgewachsene Gelehrte und Seelsorger als Pastor der Universalkirche eine klare und fundierte Ökumene will. Freilich eine, die ihren Namen verdient und die Gemeinsamkeiten vertieft, ohne zugleich Unterschiede zu leugnen. Dieser Papst steht, nachdem in den vergangenen Jahrzehnten Gott sei Dank viele Fortschritte erreicht wurden, für einen umsichtigen, aber deshalb vielleicht sogar intensiveren Dialog auf der Suche der wahren Einheit. Und dabei lenkt er den Blick auf den – wie er Christus besonders gerne und fast schon zärtlich nennt – Herrn. Auf dem Weg zu ihm sind wir, so sagt er, auf dem Weg zur Einheit. „Die beste Form des Ökumenismus besteht darin, nach dem Evangelium zu leben“, sagte der Papst 2005 in Köln. Und es ist ein Segen, dass ausgerechnet dieser aus deutschen Landen kommende Papst immer wieder dazu einlädt, die große Ökumene mit den Orthodoxen nicht zu vergessen, mit denen es ja ebenballs zahlreiche Gemeinsamkeiten gibt. Mit Benedikt XVI., so sage ich, wird die Ökumene vielleicht unspektakulärer, weil alles Spektakuläre im Pontifikat seines Vorgängers und mit seiner Hilfe erreicht wurde. Aber sie wird dadurch keineswegs bedeutungsloser. Auch hier steht der Papst für Klarheit und Wahrheit.

Kirche heute: Am Ende runden Sie das Buch mit einen „persönlichen Thesenanschlag“ ab. Wie hängen diese Thesen mit dem derzeitigen Pontifikat zusammen?

Lohmann: Nun ja, es sind die Fragen, die wir durch diesen Papst auf den Tisch gelegt bekommen, und auf die wir eine Antwort suchen und auch haben müssen. Vielleicht vertue ich mich, vielleicht aber auch nicht. Nein, ich vertue mich nicht, auch wenn mein „Thesenanschlag“ bereits nach zwei Jahren Benedikt recht früh kommt. Ich bin mir sicher, dass dieser Papst mitten ins Leben der Menschen hineinwirkt, und ich bin sicher, dass wir in einigen Jahren feststellen können, dass Benedikt XVI. Deutschland verändert hat. Ich wünsche mir, dass man dann im Blick auf meine Thesen sagen wird: War doch klar, dass alles so kommt. Ich bin jedenfalls mehr denn je davon überzeugt: Die Kraft des Geistes hat auch in Deutschland eine Chance. Wir sollten sie nutzen und das Erlebnis der Freiheit wagen. Ich habe es so formuliert: Wer sich den Weitblick über den Tellerrand der Immanenz leistet, wird frei für die Welt. Auch hier gilt, was die Heilige Schrift sagt: Die Wahrheit wird euch frei machen (Johannes 8,32). Stimmt!

Kirche heute: Herr Lohmann, wir danken Ihnen ganz aufrichtig für dieses ermutigende Gespräch.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Martin Lohmann: Maximum. Wie der Papst Deutschland verändert, Gütersloher Verlagshaus 2007, 192 S., geb. mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-579-06452-9.

„Mein ganz persönlicher Thesenanschlag“

Am Ende seines neuen Buches „Maximum"[1] formuliert Martin Lohmann sieben profilierte Zukunftsthesen, welche die Wirkung des Papstes zur Veränderung Deutschlands und Europas markant zum Ausdruck bringen. Er hat dafür den Begriff der „Benedettinischen Wende“ geprägt und möchte mit seinen Thesen in und außerhalb der Kirche zur Diskussion anregen. Seine provozierende Studie zeichnet ein Bild unserer Gesellschaft, in der die Stimme der christlichen Religion zu Fragen der Orientierung und Wertedebatte nicht fehlen darf.

Von Martin Lohmann

These 1:  Europa wird keine Angst vor dem Gottesbezug in seiner Verfassung haben.

Begründung: Es entspricht weder seiner Geschichte noch der Logik seiner Werteordnung, wenn man sich davor fürchtet, seine eigenen Wurzeln zu erkennen und zu benennen. Die Entscheidung des Europäischen Rates, den Gottesbezug nicht zuzulassen, war unerleuchtet. Es ist zu wenig, nur noch von geistigen Traditionen zu reden, und es ist ein Ausweis falsch verstandener Toleranz, aus Furcht vor möglichen Missverständnissen auf eine Erkenntnis zu verzichten, die allen zugute kommt und den Völkern Europas ermöglicht, die unwandelbare und zuverlässige Begründung ihrer Werteordnung zum Wohle aller vorzunehmen.

Es ist nach wie vor „unleugbar, dass Europa ein christlicher Kontinent ist“ (Otto von Habsburg). Wenn man das Christentum aus den Überlegungen und Wertebezügen ausschaltet, entsteht eine Fehlkonstruktion, etwas Defizitäres. Das Christentum auf dieselbe Höhe einer von vielen anderen Philosophien setzen zu wollen, käme einem geistigen Offenbarungseid gleich. Da die christliche Prägung des Kontinents ohne die jüdischen Wurzeln und den durch das Judentum vermittelten Reichtum in Geist, Kult, Kultur und Kunst nicht denkbar ist, sollte der Mut gefunden werden, mit aufgeklärter Vernunft eine Formulierung des Gottesbezuges zu finden, die den drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam gerecht wird und gemeinsam getragen werden kann.

Bereits früher hat der Islam weite Teile des europäischen Kontinents mitgeprägt. Für die Zukunft Europas ist es überlebenswichtig, einen klaren und von jeder Ängstlichkeit befreiten Gottesbezug zu suchen und zu finden. Europa ist mehr als die Summe seiner Technologien. Europa ist auch wesentlich mehr als eine Ansammlung von Geldströmen und Wirtschaftsideen. Europa hat die Chance zu zeigen, wie segensreich die kluge Verbindung von Vernunft und Glaube sein kann. Gerade Europa hat mit seiner wechselvollen Geschichte, in der immer wieder bewiesen wurde, wie gefährlich der Verlust einer übergeordneten Instanz mit garantierter Sicherheit vorgegebener Werte ist, allen Grund, im Prozess des Zusammenwachsens die größte und stabilste moralische Stütze für die Menschenrechte zu benennen. Der Gottesbezug in einer europäischen Verfassung ist kein schmückendes Beiwerk, sondern gleichsam der nie rostende Nagel in der Wand, an dem die Verfassung für ein freies und demokratisches Europa aufgehängt werden kann.

Ohne Gottesbezug würde Europa „jede Orientierung und jedes Gefüge“ verlieren.[2]

These 2: Wer den Frieden will, muss für Gerechtigkeit kämpfen.

Es ist unvernünftig und gefährlich dumm, Friedens- und Sicherheitspolitik ohne engen Zusammenhang mit entsprechender Entwicklungshilfepolitik sehen zu wollen. Es ist darüber hinaus unverantwortlich, wie sehr gerade in Deutschland der nächstverwandte Kontinent Afrika aus dem Bewusstsein ausgeblendet wird und selbst gebildete Politiker meinen, dieser Kontinent sei uninteressant und könne vernachlässigt werden. Es ist sowohl ein Zeichen von verblendeter Vernunft wie auch ein Hinweis auf eklatante Defizite in der Kenntnis von Geschichte, wenn von diesem in vielerlei Hinsicht reichen und lebensfrohen Kontinent in den Köpfen vieler Deutscher nur Zerrbilder vorhanden sind, die sich ausschließlich an Chaosstrukturen und Unruheherden orientieren. Allein ein Blick auf die Landkarte, auf unverhältnismäßig viele gerade und mit dem Lineal gezogene Grenzziehungen, bei denen ethnische Gruppen und Stammestraditionen nicht berücksichtigt wurden, macht deutlich, dass der von Europäern lange beherrschte Kontinent nach anderen, wirtschaftlichen und entsprechend „passenden“ Gesichtspunkten gestaltet wurde. Den zum Teil schmerzhaften Selbstfindungsprozess in Afrika, wo in wenigen Jahren der Sprung aus der überkommenen Agrarstruktur in eine moderne Industrienation erzwungen wurde und selten reibungslos funktionierte, kann man nicht ohne mit Europa verbundene Geschichtskenntnisse erklären.

Wer Afrika vergessen will, was auch durch einen viel zu niedrigen Prozentsatz staatlich zur Verfügung gestellter Finanzmittel zum Ausdruck gebracht werden kann, der vergisst seine eigene europäische Zukunft. Afrika ist nicht fern. Afrika ist nah. Und: Afrika ist anders. Jetzt ist die Zeit, die vernünftige und mit echter Verantwortung gekoppelte Kooperation mit dem vor Europas Haustür liegenden Kontinent und seinen Menschen zu suchen. Auf Augenhöhe. Ohne Arroganz. Ohne neokoloniale Attitüde.

Afrika braucht Europa. Aber Europa braucht auch Afrika. Die wachsenden Flüchtlingsströme sind noch ein nicht besonders bedrängendes Menetekel für Europa. Wenn aber einmal das Transportproblem gelöst sein wird, wird man in Europa mehr als nur ein Achselzucken haben müssen. Im Sinne der durch das Christentum und sein Menschenbild gebotenen Verantwortung gegenüber dem Nächsten und im Einklang mit der Vernunft werden immer mehr Menschen in Europa und Deutschland die Klugheit haben, vor allem Afrika zu entdecken als Partner für die Zukunft. Und die Bibel hat doch Recht: „Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein, der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer“ (Jesaja 32,17). Papst Paul VI. machte daraus die Aufforderung: If you want peace, work for justice.

These 3: In Deutschland werden Christen ihre vergrabenen Schätze wiederfinden.

Kein anderes Land in Europa liegt so sehr in der Mitte wie Deutschland. Kein anderes Land hat so vielfältige Erfahrungen mit der Geschichte des Glaubens und seiner Spaltung wie Deutschland. Deutschland ist das Land des hl. Bonifatius, der aus Irland kommend das Christentum bei den Germanen verbreitete, und zugleich das Land Martin Luthers. Hier haben sich die Geschichte des Geistes wie auch der Widerstand von Vernunft und Vision in besonderer Dichte verwirklicht.

Das Land der Dichter und Denker ist zugleich das Land der Verquickung von Glaube und Macht. Deutschland und seine Geschichte sind angefüllt von Spuren und Schätzen christlicher Prägung und Entfaltung. Eine auf den reinen Pragmatismus konzentrierte und vom eigenen Verstand verführte Gesellschaft hat immer wieder im konkreten Leben den Bezug zur eigentlichen Quelle des Seins vergessen, verraten oder verdrängt. Auch die Christen wurden von diesem Virus der Verleugnung heimgesucht und haben vielfach den im eigenen Gepäck versteckten Reichtum unterschätzt. Aber gerade deshalb sind religiös unterernährte Generationen besonders empfänglich für und neugierig auf Tugenden und belastbare Lebenshaltungen, die auch der moderne Mensch – vor allem er – sucht und wünscht.

In wenigen Jahren wird man beobachten können, dass ausgerechnet in diesem Deutschland eine neue Zeit des Wiedererwachens religiöser, zumeist christlicher Selbstverständlichkeit erwächst. Voraussetzung ist allerdings, dass die Christen ihren eigenen Komplex grundlegend ablegen und in neuer Normalität ohne falschen Eifer sich darauf besinnen, wie sehr die ihnen anvertraute Botschaft ein Handbuch für gelebte Toleranz bei unverkrampftem Bekenntnis zu Gott ist, der Wahrheit und Vernunft zu einem segensreichen Miteinander führen kann. Auf dem Weg dorthin werden sich Kirchen wie gesellschaftliche Gruppen von selbstverständlich gewordenen Bequemlichkeiten und konservierten Klischees trennen müssen. Das in der deutschen Verfassung grundgelegte Verhältnis der aufeinander bezogenen jeweiligen Unabhängigkeit von Staat und Kirche wird neu belebt werden und kann sich durch ein erfrischtes Miteinander besser entfalten.

These 4: Der Diktatur des Relativismus folgt die Freiheit des Geistes.

Durch dieses neue Zulassen eines Miteinanders von Glaube und Vernunft werden sich auch politische Parteien, vor allem diejenigen, die sich dem hohen „C“ verbunden meinen, neu ausrichten. Dazu kommt, dass in der Gesellschaft die Gefährdung durch die Diktatur des Relativismus mehr und mehr erkannt wird und Parteipolitiker, die in allem die Unverbindlichkeit suchen und mit hohlen Phrasen ihren Souverän zu betäuben suchen, als Beliebigkeitsvertreter an Ansehen verlieren und nicht mehr modern sind. Mit einem alles relativierenden und dadurch gleichgültig, weil gleich gültig machenden Lebenskonzept wird sich eine künftige Generation nicht mehr abspeisen lassen. Die Zeit des Nihilismus und der leichten Seichtigkeit sowie der seichten Leichtigkeit ist vorbei. Politiker und andere Verantwortungsträger in Kirche und Gesellschaft, die das nicht wahrhaben wollen, werden sich selbst schnell überlebt haben. Gefragt sein werden Menschen mit Mut zur Verantwortung, Mut zum Profil, Mut zum Nonkonformismus und Mut zur Freiheit des Geistes, der sich an bewährtem Bewahrtem orientiert und sich den Maßstab des Gültigen gönnt.

These 5: Die Familie steht im Mittelpunkt.

Eine Gesellschaft, die noch immer nicht die wirkliche Bedeutung von Familie und Kindern erkannt hat, wird keine Zukunft haben. Deshalb wird sich die deutsche Gesellschaft zu der Erkenntnis durchringen müssen, dass vor allem im politischen Denken mit der entsprechenden Wirkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein die Familie nicht mehr eine Randexistenz führen darf, sondern in den Mittelpunkt gerückt werden muss. Dazu bedarf es eines neuen und mutigen Überarbeitens bisher stillschweigend zum Tabu erklärter Wirklichkeiten. So wird man, ohne damit eine Abwertung der Erwerbstätigkeit von Müttern bewirken zu wollen, die Berufstätigkeit von Müttern – und Vätern – aufwerten und die von nicht erwerbstätigen, wohl aber berufstätigen Müttern sowohl politisch als auch gesellschaftlich besser anerkennen müssen. Denn eine Gesellschaft, die nicht mehr Ja sagt zum Kind, sagt auch Nein zum Leben. Eine solche Gesellschaft wird nicht überleben. Eine solche Gesellschaft verliert ihre innere Kultur. Deutschland wird sich also radikal, von der Wurzel her, ändern und befreien.

These 6: Christen werden die Avantgarde sein.

Der Schöpfergott, der sich als Logos geoffenbart hat, ist die beste Garantie für einen vernünftigen Vernunftgebrauch und ein am ganzen Menschen orientiertes Handeln in Freiheit und Verantwortung. Wer sich auf seine Koordinaten einlässt, hat eine Einladung, sich und anderen ein Leben in Fülle zu ermöglichen. Toleranz, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit und Respekt vor dem anderen gehören ebenso selbstverständlich dazu wie Absage an Gewalt und die unbedingte Achtung der unantastbaren Würde des Menschen. Weil ein aufgeklärter christlicher Glaube von jeder Angst befreit und keine Scheuklappen zulässt, sind Christen dazu berufen, für eine humanere Welt von morgen heute schon Avantgardisten zu sein. Das Wissen um die Endlichkeit des irdischen Lebens engt nicht ein, sondern befreit zu größerer und unabhängigerer Dynamik. Wer sich den Weitblick über den Tellerrand der Immanenz leistet, wird frei für diese Welt. Auch hier gilt, was die Heilige Schrift sagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8,32).

These 7: Die Welt braucht den Mut zum Maximum –für Geist und Seele.

Benedikt XVI. macht allen, denen eine Minimalversion des eigenen Lebens zu wenig ist, Mut, sich des eigenen Verstandes und der eigenen Sehnsucht nach Mehr und nach Großem zu bedienen. Dieser deutsche Denker auf dem römischen Stuhl lädt dazu ein, die mitten im eigenen Entwicklungsprozess stecken gebliebene Aufklärung weiter zu treiben und anzureichern mit jener Dimension der mit der Vernunft erkennbaren Wirklichkeit, die den Horizont weitet und öffnet. Wer genau hinhört, kann nicht unberührt bleiben von einer Einladung, der Tristesse des Alltags den Mut zum Maximum für Geist und Seele vorzuziehen. Der Papst wird ganz im Sinne seiner „alten“ Vorbilder aus frühen Zeiten für unsere seelenentleerte und arm gewordene Welt zum Propheten Benedikt, der den Blick hoffnungsvoll auf das Licht der Wahrheit lenkt und das Tor zum reichen Vertrauen auf Gott öffnet. Wer sich auf die Freiheit einlässt, erfährt Heimat als „Kind Gottes“ (1 Johannes 3,2). Dabei verweist der Papst, der sich bekanntlich als Mitarbeiter der Wahrheit sieht, stets auf den, dessen Treuhänder er sein will, so wie es der Evangelist Johannes in Vers 17,17 jeden Suchenden und Erkenntnisbereiten befreit sagen lässt: „Dein Wort ist Wahrheit.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Martin Lohmann: Maximum. Wie der Papst Deutschland verändert, Gütersloher Verlagshaus 2007, 192 S., geb. mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-579-06452-9.
[2] Martin Lohmann im Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger, veröffentlicht am 22. Juli 2003 in der Koblenzer Rhein-Zeitung.

„Papstmesse“ zum Geburtstag

Der Berliner Musik-Professor Wolfgang Seifen, der bereits 1987 ein Auftragswerk für Johannes Paul II. geschaffen hatte, komponierte nun zum 80. Geburtstag von Papst Benedikt XVI. eine Messe mit dem Titel „Tu es Petrus“ – „Du bist Petrus, der Fels“. Seifen ist auf dem Gebiet der Orgelmusik eine international anerkannte Koryphäe. Er verbindet künstlerische Genialität mit einem tiefen persönlichen Glauben. Im nachfolgenden Interview gibt uns Seifen einen aufschlussreichen Einblick in sein kirchenmusikalisches Verständnis.

Interview mit Wolfgang Seifen

Kirche heute: Herr Professor Seifen, zum 80. Geburtstag von Papst Benedikt XVI. haben sie eine „Papstmesse“ komponiert. Wie kamen Sie auf die Idee, dem Hl. Vater eine für großes Orchester, Chor und Orgel angelegte lateinische Messe zu widmen?

Prof. Seifen: Die Idee kam von lieben Freunden. Letztlich führte ein konkreter Auftrag zur Realisation dieses Vorhabens.

Kirche heute: Was verbindet Sie persönlich mit Benedikt XVI.?

Prof. Seifen: Mit Papst Benedikt verbindet mich der gemeinsame Glaube und die Tatsache, dass wir uns in meiner langjährigen Tätigkeit als Basilikaorganist an St. Marien in Kevelaer mehrfach begegnet sind und ich die Gelegenheit hatte, einige Worte mit dem Heiligen Vater, damals noch Kardinal Ratzinger, zu wechseln. Überdies war sein Bruder Georg Ratzinger während meiner Mitgliedschaft bei den Regensburger Domspatzen mein Lehrer.

Kirche heute: Wie lange haben Sie an dem Werk gearbeitet?

Prof. Seifen: Das Werk entstand in knapp drei Monaten, also relativ kurzer Zeit.

Kirche heute: Die Komposition trägt den Titel: Missa Solemnis „Tu es Petrus“. Was wollen Sie mit dieser Papstmesse zum Ausdruck bringen?

Prof. Seifen: Missa Solemnis bezeichnet eine feierliche und groß besetzte und angelegte Messvertonung. Etwa 100 Orchestermusiker und 150 Choristen sind hierzu notwendig. Der Titel „Tu es Petrus“ nimmt direkten Bezug auf das Petrusamt und kennzeichnet damit den eigentlichen Anlass zur Komposition: In erster Linie soll damit der Auftrag Jesu an Petrus: „Du bist Petrus, der Fels. Und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Kräfte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ und damit das durch Jesus Christus eingesetzte Petrus-Amt gewürdigt, in zweiter Linie der Papst zu seinem 80. Geburtstag geehrt werden.

Kirche heute: Was ist aus Ihrer Sicht als Komponist das Besondere an dieser Messe?

Prof. Seifen: Das Besondere an dieser Messe könnte sein, dass sie zahlreiche gregorian. Hymnen, welche auf den Ordinarientext der Hl. Messe Bezug nehmen, zitiert und versucht, den Text musikalisch zu deuten. Die außergewöhnlich große Besetzung ist sicherlich auch nicht alltäglich zu bezeichnen.

Kirche heute: Wie würden Sie Ihren eigenen Stil bezeichnen?

Prof. Seifen: Mein Kompositionsstil ist eher konservativ und tonal gebunden, wenngleich auch durch bitonale Farbgebung angereichert. Letztlich verlässt das Werk jedoch nie den Bezug zur Tonalität und die ausgewogene Balance von Dissonanz und Konsonanz.

Kirche heute: Sie sind ein Vollblutmusiker, dem die Kirchenmusik sehr am Herzen liegt. Worauf ist Ihrer Meinung nach zu achten, um eine qualitätsvolle und zukunftsträchtige Kirchenmusik zu gewährleisten?

Prof. Seifen: Die Kirchenmusik muss stets höchsten künstlerischen Anforderungen genügen und die Bestimmungen des II. Vaticanums beachten, ja verpflichtet fühlen. Daher ist den Bestrebungen, Popularmusik als adäquate Alternative zu bezeichnen, eine klare und unmissverständliche Absage zu erteilen, da sie nicht dem Kunstanspruch, sondern den „Markterfordernissen“ folgt. Kunst dagegen darf sich nie den Marktgesetzen beugen, sonst verleugnet sie sich selbst. Die Liturgie verlangt und fordert die Kunst und den Künstler.

Kirche heute: Welche Fehler der vergang. Jahrzehnte gilt es zu korrigieren oder zu vermeiden?

Prof. Seifen: Wie schon bemerkt, gilt es, die Verlautbarungen des II. Vatikanischen Konzils und die Instructio der römisch-katholischen Liturgie zu beachten. Hier ist eindeutig das von mir schon angesprochene Kunstprinzip als unbedingte Voraussetzung zur „Liturgietauglichkeit“ festgeschrieben. Trivialliteratur, Popularmusik und Marktordnungen nach dem Motto „Der Kunde ist König“ gehören nicht in die Liturgie, da die Kirche kein Dienstleistungsunternehmen repräsentiert. Die Beachtung des lateinischen Ritus als die feierlichste Form des Gottesdienstes (Stundengebete) und der Hl. Messe müssen wieder stärker in den Mittelpunkt der Gestaltung gerückt werden. Besonders in Klosterkirchen, großen Stadtpfarren und Domkirchen fordert das Konzil die besondere Pflege des lateinischen Hochamts und sonstigen liturgischen Feiern. Der Kirchenschwund hängt meines Erachtens in besonderer Weise mit der Verflachung und Belanglosigkeit der Liturgie zusammen. Daher sollten wir uns an anderen Religionen (z.B. der Orthodoxie) ein Beispiel nehmen. Die dort gefeierte Liturgie ist zeitlos und nie (da auch nicht notwendig) verändert worden. Die Kirche sollte sich nicht anbiedern, sondern die feierliche Liturgie pflegen und durch die Kunst stabilisieren.

Kirche heute: Sie sind mit einzigartigen Talenten ausgestattet. Empfinden Sie Ihre Musikalität als Gabe Gottes? Spüren Sie bei Ihrem Orgelspiel bzw. beim Komponieren eine unmittelbare Inspiration?

Prof. Seifen: Ob ich mit einem einzigartigen Talent ausgestattet bin, wage ich nicht zu bestätigen. Allerdings hat der liebe Gott mir eine besondere Liebe zur Musik, zur Orgel und zur Liturgie der katholischen Kirche geschenkt und ich bin ihm dankbar für diese Gabe, ohne sie qualifizieren zu wollen. Sicherlich spürt der gläubige Mensch Inspiration, wenn er die Liturgie mitgestaltet oder in der Komposition mit seinem persönlichen Glaubensausdruck darstellt. Ich glaube, dass auch die kirchenmusikalische Arbeit getragen wird von der Zuwendung und Hilfe Gottes.

Kirche heute: Welche Rolle spielt Ihr persönlicher Glaube für Ihr musikalisches Wirken?

Prof. Seifen: Mein persönlicher Glaube spielt die zentrale Rolle für die musikalische Arbeit. Die Liebe zur Liturgie und zur Kirchenmusik bedingt den Glauben, da meines Erachtens nur so ein segensreicher und lebenslanger Dienst möglich ist. Alles ist ein Geschenk Gottes: Glied der Kirche zu sein, Talent zu haben, die Kunst als „das Höchste für den Höchsten“ einzusetzen und den dazu notwendigen Glauben zu haben, der uns trägt und leitet.

Kirche heute: Herr Professor Seifen, wir danken Ihnen von ganzem Herzen für dieses Gespräch.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2007
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Das Geheimnis des Karol Wojtyla

Der Monat April ist auch untrennbar mit Papst Johannes Paul II. verbunden. Seit dem unvergesslichen Abschied vor zwei Jahren ertönt der Ruf nach seiner Seligsprechung. Während der Prozess offensichtlich einen viel versprechenden Lauf nimmt, wollen wir einen dankbaren Blick auf die große Gestalt dieses Papstes werfen. Wir dürfen drei ausgewählte Abschnitte aus dem mitreißenden Buch von Andreas Englisch wiedergeben, das den Titel trägt: „Johannes Paul II. – Das Geheimnis des Karol Wojtyla“.[1] Für viele dürften die Berichte ganz unbekannte Nuancen Johannes Pauls II. ans Licht bringen.

Von Andreas Englisch

Stille Tränen vor Millionen

Papst Johannes Paul II. war nur mein Job gewesen, Gegenstand meiner Berichterstattung, das Thema einer Unzahl von Artikeln, mein Broterwerb. Bis zum Juni 1999 musste sich der Journalist für Johannes Paul II. interessieren, während der Mensch unbeteiligt zusah.

Ich weiß noch genau, wo sich das änderte: in Radzymin, einem winzigen Ort bei Warschau, in dem ein Soldatenfriedhof liegt. Es war die 87. Auslandsreise, die siebte Reise nach Polen.

Ich hatte an diesem 13. Juni stundenlang auf einem beschaulichen Friedhof gewartet. Der Papst wollte an dem Ort für die gefallenen Soldaten einer Einheit beten, die im Jahr 1920 auf wundersame Weise die vielfach überlegene Armee der Sowjets gestoppt hatte. Es war ein warmer, angenehmer Nachmittag, und es war alles wie immer. Drei gewaltige Transporthubschrauber landeten neben dem Friedhof, die Straßen rund um den Ort wurden hermetisch abgesperrt, überall heulten Polizeisirenen, sobald der Papst eingetroffen war. Die riesigen Rotorblätter der Helikopter wehten altes Laub auf, das über den Friedhof regnete. Kameramänner versuchten mit Fußtritten die besten Positionen in der Nähe der Bank zu ergattern, an der der Papst für die Opfer der Schlacht beten wollte. Er kam langsam auf den Friedhof, und er sah niedergeschlagen aus. Er ließ sich zu der Gebetsbank führen und kniete nieder. Wie im Programm vorgesehen, versuchte er, still zu beten. Ich stand direkt neben ihm. Mein Job war nicht sonderlich spannend. Ich musste nur aufpassen, ob alles ablief wie vorgesehen. Ich stand nur für den Fall da, dass etwas passierte, dass er hinfiel oder seine Rede nicht lesen konnte oder sonst irgendetwas Überraschendes geschah. Er versuchte sich zu sammeln und ein Gebet zu sprechen. Plötzlich blickte er auf. Er sah mir direkt in die Augen, flehentlich, und sagte mir mit dem Blick und einer knappen Geste: „Tu mir einen Gefallen und lass mich allein. Siehst du nicht, dass ich dazu verurteilt bin, einen friedlichen Ort in einen Medienjahrmarkt zu verwandeln, mit all den Helikoptern, den Polizeibeamten, den Blitzlichtern der Fotografen, die ich mitbringe? Siehst du das nicht? Tu mir einen Gefallen und geh wenigstens du.“

Ich ging weg, obwohl ich damit meinen Job vernachlässigte. Als die Fotografen sahen, dass der einzige Pool-Journalist sich entfernte, gingen auch sie, leise und respektvoll. Ich sah nur von weitem zu, was geschah: Der Papst weinte. Er weinte leise vor sich hin. Ein Kameramann des italienischen Staatsfernsehens sah das plötzlich und stürmte zu der Gebetsbank. Er hielt den Scheinwerfer und die Kamera auf den weinenden Mann und in diesem Moment sah ich, wie Johannes Paul II. innerlich zusammenbrach. Er weinte nicht mehr still. Er heulte regelrecht, er schluchzte, dass es ihn schüttelte, er sah unter Tränen den Kameramann an, der nicht daran dachte, ihn in Ruhe zu lassen, und so weinte er auch über sein Schicksal und darüber, dass er nicht einmal allein weinen konnte, dass ein rücksichtsloser Medien-Mann ihm nicht einmal diesen einen Augenblick gönnte, weil er die Bilder eines weinenden Papstes teuer verkaufen konnte.

Ich weiß nicht mehr, wie lange das dauerte, vielleicht ein paar Minuten. Dann hatte Johannes Paul II. sich wieder gefasst. Er stand auf, segnete die Gräber und hielt eine kurze Ansprache. Auf dem Rückweg zum Helikopter kam er dicht an mir vorbei und nickte mir kurz zu (S. 124f.)

Gott am Berg Sinai

Von fern sah man die Mauern des Katherinenklosters. Wie hatten Menschen in diesem Konvikt, an diesem verlorenen, unfruchtbaren Ort, mehr als 1500 Jahre überleben können? Wieviele Generationen von Mönchen haben in der Hitze des schmalen Tals ihr ganzes Leben verbracht? Wieviele Pilger haben sich an diesen Ort geschleppt? Wieviele mögen im Lauf der Jahrhunderte bei dem Versuch, das Kloster zu erreichen, verdurstet sein? Es ist sicher einer der magischsten Orte der Welt. Mohammed soll persönlich einen Schutzbrief für das Kloster ausgestellt haben. In der unvergleichlichen Bibliothek des Klosters wurde eines der wichtigsten Bücher der Welt entdeckt, der Codex Sinaiiticus, zusammen mit dem Codex Vaticanus, dem größten Schatz der Päpste, die älteste Bibel der Welt. Als Geschenk hatte der Papst an diesem Tag eine Reproduktion des Codex Vaticanus mitgebracht. Über dem schmalen Tal erhob sich majestätisch der Berg Mose. Die griechischen Mönche des Klosters hatten sich in ihren schwarzen Kleidern zum Empfang des Papstes aufgebaut. Zu diesem Zeitpunkt, im Februar 2000, war das Verhältnis zwischen der griechischen Orthodoxie und dem Vatikan noch eindeutig feindselig. Die Mönche Griechenlands wiederholten Jahr für Jahr, dass der Papst auf griechischem Territorium nicht willkommen sei. Es war schon ein Wunder, dass er das Kloster überhaupt betreten durfte. Aber ein einfacher Besuch würde es nicht sein. Die Mönche führten den Papst durch den Hof des Klosters in die Kirche an die Stelle, wo der Dornenbusch gestanden haben soll, aus dem die Stimme Gottes zu Moses sprach.

Ich sah, wie der Papst an diesem Ort litt, wie er an vielen heiligen Plätzen der Welt gelitten hatte, weil seine Gastgeber etwas Grundsätzliches häufig nicht begriffen oder einfach ignorierten: Johannes Paul II. kommt nie als Tourist, er kommt als Pilger. Die Mönche erklärten dem Papst bestimmt nach bestem Gewissen ihre Kirche, die Schätze des Klosters und die Tradition des Dornenbuschs. Sie redeten nahezu pausenlos auf ihn ein. Er war aber nicht gekommen, um sich die unbestreitbar interessanten Schätze des Klosters anzusehen. Er war gekommen, um zu beten. Nur einen kurzen Augenblick ließen ihn die Mönche in Ruhe, dann schoben sie ihn weiter durch das Kloster, um die reich verzierten Säle zu zeigen. Der Papst schien froh zu sein, als er das ehrwürdige Gebäude endlich verlassen konnte. Er ging langsam und gemessen zu dem Olivenhain, wo man ihn in angemessener Entfernung vom Kloster mit katholischen Christen einen Wortgottesdienst beten ließ. Der Vatikan hatte gar nicht erst gefragt, ob in der Kirche des Katherinenklosters eine Zeremonie stattfinden dürfe. Es gab keinerlei Zweifel daran, dass das abgelehnt worden wäre. So drehten die Mönche auch sofort um und gingen weg, als der Papst Anstalten machte, mit dem Wortgottesdienst zu beginnen. Sie wollten nicht mit ihm beten. Sein Appell, den er in die Predigt eingebaut hatte, dass „alle monotheistischen Weltreligionen zum Wohl der gesamten menschlichen Familie“ zusammenarbeiten sollten, schien nicht einmal bei den christlichen Brüdern auf Gehör zu stoßen.

Trotz des Schattens, den die kargen Olivenbäume spendeten, war der Hain neben dem Kloster schon am Vormittag ein brütend heißer Ort. Das schmale Tal war vollkommen windstill, keine Wolke am Himmel zu sehen, die Luft stand wie in einem Backofen. Nur etwa 300 Gläubige hatten den Weg hierher gefunden. Die meisten waren italienische Touristen, die am Roten Meer gerade Urlaub machten und mit Jeeps zu dem Gottesdienst gebracht worden waren. Ich war gespannt auf das, was der Papst jetzt sagen würde: Der Sinai war vielleicht der richtige Ort, um Gott dafür zu danken, dass er sich den Menschen offenbart hat, dass er sich selbst nicht genug war, sondern sich zeigte. Aber ich irrte mich völlig. Johannes Paul II. war nicht mit einer Antwort gekommen, sondern mit einer Frage: „Wer bist du, rätselhafter Gott?“ Der Papst, der so oft seinen Gott nicht gefunden hatte, war zum Sinai gekommen, weil er ihn hier an der Stelle, an der er sich in der Geschichte dreimal Menschen gezeigt hatte, selbst fragen wollte: „Wieso versteckst du dich?“

Ich saß an diesem Tag nur zwei Meter vom Papst entfernt auf einer Holzbank, die man für zwei Reporter reserviert hatte. Ich blickte ihm in die halb geöffneten, strahlend blauen Augen. Er las seine Predigt nicht einfach ab. Dieses Mal waren seine Worte doch nicht für die Menschen bestimmt, die in der Hitze ausharrten und zuhörten. Er sprach zu seinem Schöpfer: „Er ist der Gott, der kommt, um uns zu treffen, den man aber nicht besitzen kann. Er ist der Gott, der das Sein in sich trägt. Er ist der ,Ich bin, der ich bin‘. Er hat einen Namen, der kein Name ist. Wie könnten wir zögern, vor einem solchen Geheimnis die Sandalen auszuziehen, wie er es befiehlt, und ihn anzubeten an diesem heiligen Ort?“ Und wieder fragte Johannes Paul II.: „Wer bist du, Gott Israels?“ Und meditierte über die rätselhafte Natur Gottes: „Er ist gleichzeitig fern und nah, er ist in der Welt und doch nicht von ihr.“

Er sprach langsam und leise. Am Ende der Zeremonie faltete er die Hände und schwieg. Die Menschen warteten auf den abschließenden Segen, aber er saß nur still da. Er sah hinauf zum Berg des Moses und betrachtete den Himmel. Ich sah ihn an, aber ich verstand nicht, was vor sich ging. Endlich begriff ich es: Er wartete. Er wartete auf ein Zeichen. Er war sich absolut sicher, dass Gott ihm eine Antwort geben würde auf all die Fragen der Predigt, auf die Kernfrage: „Wer bist du?“ Er war bis hierher gepilgert an diesen heiligen Ort, als erster Papst der Geschichte, und er war sich sicher, dass Gott es nicht versäumen würde, mit ihm in Kontakt zu treten. Ich sah seinen Augen an, wie unruhig er war, und ich verstand plötzlich, was er sich fragte: Wie? Wie würde Gott sich ihm an dieser Stelle zeigen, an der er sich Moses in einem brennenden Dornenbusch gezeigt hatte?

Die Menschen wurden unruhig. Es war absolut windstill, und die Sonne glühte vom wolkenlosen Himmel, und noch immer saß er ganz still da. Ich sah ihm zu. Minutenlang passierte nichts. Dann beobachtete ich, wie er die Hände faltete, die Augen schloss und leise lächelte. Ich sah ihm gebannt zu, wie er dort in sich gekehrt saß. Es war, als ob seine Seele berührt worden wäre, aber nicht leicht, sondern heftig, wie durch einen Blitzschlag. Er schlug schließlich die Augen wieder auf. Er sah überglücklich aus und klopfte rhythmisch mit der Hand auf die Lehne seines Sessels, eine Geste, die er immer wiederholt, wenn es etwas zu feiern gibt. Er blinzelte uns zu, und ich verstand die Botschaft: „Seht Ihr? Er ist hier: Er ist wirklich hierher gekommen, er ist hier. Ich kann es ganz deutlich spüren, ich fühle seine Nähe ganz stark.“ Der Papst machte ein Zeichen: „Seht doch hoch!“ Vor dem strahlend blauen Himmel waren plötzlich große weiße Wolken heraufgezogen. Gleichzeitig hatte ein leichter Wind eingesetzt, der die Blätter der Olivenbäume rascheln ließ. Freudig und mit einem Lächeln auf den Lippen spendete Johannes Paul II. den abschließenden Segen. Da fiel es mir endlich wieder ein: Gott hatte sich auf dem Sinai dreimal den Menschen gezeigt. Dem Moses als Dornenbusch, aber auch in Form einer Wolke (Ex 19, 9) und dem Elijas als leise säuselnder Wind (1 Kön 19,12). Ich war erschüttert. Stellte sich der Papst Gott so konkret vor? Für die meisten Menschen war dort auf dem Sinai überhaupt nichts passiert. Ein paar Wolken waren aufgezogen. Das mochte über der Wüste des Sinai ungewöhnlich sein, kam aber vor. Und dass plötzlich eine leichte Brise durch das Tal wehte, war nichts weiter als ein einfaches meteorologisches Phänomen. Der Papst erlebte aber Gott, innerlich natürlich, aber so konkret und heftig, dass es erschütternd war, das mitzuerleben. Seine Überraschung, sein Erschrecken, aber auch seine Freude waren so authentisch, als hätte jemand neben ihm gestanden, mit ihm gesprochen und hätte ihn berührt. So sah das aus. Diese konkrete Art, immer wieder seinen Gott zu suchen und ihn so durch und durch zu erleben, musste ihm die Kraft geben für den Marathon, den er sich auferlegt hatte. (S. 220-224)

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Andreas Englisch: Johannes Paul II. – Das Geheimnis des Karol Wojtyla, Ullstein Verlag, Berlin 2004, 381 S., kart., ISBN-13: 978-3-548367101.

Der Ostersieg Christi über die Mächte des Bösen

In freikirchlichen Kreisen spielt das Thema Befreiungsdienst eine ganz zentrale Rolle. Es geht häufig um die Lösung von dämonischen Bindungen oder das Brechen von Flüchen. Über die charismatische Erneuerung hat dieses Gedankengut Eingang in die katholische Kirche gefunden und kommt in der Pastoral immer häufiger zum Tragen. Doch entspricht es wirklich dem katholischen Verständnis von Erlösung und Heiligung? Pfarrer Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel, Direktor der Gebetsstätte Wigratzbad, gehen dieser Frage nach und versuchen aus katholischer Sicht Stellung zu nehmen.

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Segnet die, die euch verfluchen (Lk 6,28), so sagt Jesus selbst. Er gibt uns damit eine Wegweisung an die Hand. Es gilt, einerseits die Wirklichkeiten wie Fluch und Verfluchung ernst zu nehmen, doch andererseits ohne Angst darauf zuzugehen und ihre Überwindung als Aufgabe zu betrachten, die zum Aufbau des Reiches Gottes gehört.

Es sind besonders die evangelisch geprägten Freikirchen, die sich dieser Aufgabe widmen. Sie beschäftigen sich intensiv mit der Frage, wie sich Flüche auswirken und wie sich ein Christ mit seinem Glauben an den Erlöser von ihren Folgen befreien kann. Grundsätzlich ist dagegen aus katholischer Sicht nichts einzuwenden. Es ist sogar ein Verdienst dieser Kreise, die Thematik ins Bewusstsein gebracht und Seelsorger wie Gläubige für entsprechende Zusammenhänge sensibilisiert zu haben. Gleichzeitig aber zeigen sich Akzentsetzungen, die wir als Katholiken nicht befürworten können.

Die Unterschiede in der Behandlung dieses Themas ergeben sich vor allem aus der Tatsache, dass die Freikirchen auf dem Fundament der Reformation aufbauen und das sakramentale Priestertum nicht kennen. Es gibt für sie nicht die Möglichkeit, Bindungen durch das Sakrament der Versöhnung zu lösen, durch die Eucharistie in den sakramentalen Lebensraum der Kirche einzutreten und durch den priesterlichen Segen an der Schutzmacht der ganzen Kirche teilzuhaben. Stattdessen setzen sie allein auf die Autorität des einzelnen Gläubigen, der im Namen Jesu und im Glauben an den Sieg Christi dem Bösen gebietet und die unterschiedlichsten Bindungen zu brechen versucht, die es aus ihrer Sicht genau zu analysieren gilt. Dabei gehen wir im Folgenden nicht auf die Fragen nach Besessenheit und Exorzismus ein.

Freikirchliche Vorstellungen

In katholischen Kreisen hat freikirchliche Literatur zum Thema Verfluchungen und Befreiung eine große Verbreitung gefunden. Gleichzeitig werden die darin vorgeschlagenen Anleitungen immer häufiger von Katholiken übernommen und in Gebetskreisen, Einkehrtagen und Exerzitien angewandt. Ein Beispiel stellt das bekannte Buch von Charles H. Kraft dar und trägt den Titel „Ich gebe euch Vollmacht“.

Darin findet sich die grundsätzliche Unterscheidung zwischen „formellem“ und „informellem“ Verfluchen.[1] In manchen Kulturkreisen, aber auch in Gruppen, die sich mit okkulten Praktiken beschäftigen, ist es üblich, eine Art „formelles“ Verfluchen zu praktizieren. Es handelt sich dabei um das Aussprechen von Flüchen in Verbindung mit bestimmten Ritualen. In satanischen Kulten beispielsweise können solche Riten an ganz bestimmten „Opfern“ vollzogen werden. Oft werden dazu Fotos oder Puppen als Abbild der Person, die verflucht werden soll, verwendet, um die Macht Satans auf sie herbeizurufen.

Viel häufiger aber komme, wie Charles H. Kraft es nennt, das „informelle“ Verfluchen vor, das bereits durch ärgerliche oder achtlos dahingesagte Worte geschehen könne. Dabei handle es sich um negative Redewendungen, die dem Bösen eine gewisse Macht über den Betreffenden geben und insofern zum Fluch werden könnten.

Als Beispiele für bedenkliche Schimpfwörter nennt er Ausdrücke wie „Verdammt“, „Zum Teufel“ oder „Hol dich der Teufel!“. Auch würden Aussagen wie „Du bist zu nichts zu gebrauchen!“ – „Aus dir wird nie etwas!“ – „Ich hasse dich!“ – „Ich wünschte, du wärst tot!“ nicht ohne Wirkung bleiben. Solche Äußerungen könnten sehr schnell zu Flüchen werden, weil durch sie die Macht des Bösen auf einen Menschen übertragen werden könne. Besonders schlimm würden sich solche negativen Worte dann auswirken, wenn sie von einer Person ausgesprochen werden, die Autorität über den Betreffenden habe.

Belastungen könnten auch aus der Zeit vor der Geburt stammen. So sei es beispielsweise möglich, dass Eltern ihre Kinder schon im Mutterleib mit negativen Worten belegen, wenn sie Gedanken hegen oder gar aussprechen wie: „Ich wünschte, ich wäre (du wärst) nicht schwanger!“ oder: „Ich hoffe, ich habe eine Fehlgeburt.“ Es sei erschreckend, wie viel Macht der Feind aufgrund solcher Gedanken oder Äußerungen über das Leben eines Menschen gewinnen könne.

Außerdem gebe es nicht wenige Menschen, die sich selbst einen Fluch zufügen. Unzählige Jugendliche würden ihren eigenen Körper während der Pubertät verwünschen und ein Leben lang unter der Unfähigkeit leiden, sich selbst anzunehmen. Ähnliches trete oft bei sexuellem Missbrauch auf.

Ratschläge aus freikirchlichen Kreisen

Bei Flüchen gelte die Regel, dass die Person, die einen Fluch ausgesprochen habe, ihn auch wieder zurücknehmen könne. Diese Möglichkeit bestehe insbesondere für Menschen, die sich selbst mit einem Fluch belegt hätten.

In jedem Fall aber gehe es darum, die zur Wirkung gekommenen Flüche zu „brechen“. Den Ausdruck „brechen“ haben sich inzwischen auch zahlreiche charismatische Gruppen innerhalb der katholischen Kirche zueigen gemacht. Dies könne etwa mit den Worten geschehen: „Im Namen Jesu Christi üben wir unsere Vollmacht über diesen Fluch (diese Flüche) aus und heben ihn (sie) und alle seine (ihre) Auswirkungen ausdrücklich auf und brechen hiermit alle feindliche Macht, die das Leben dieses Menschen beeinträchtigt oder beeinträchtigt hat."[2]

Aufgrund dieser Vorstellungen spielt bei all diesen Kreisen das Aufspüren etwaiger Flüche eine entscheidende Rolle. Je genauer die Analyse erfolgt, umso gezielter kann in der Vollmacht des Namens Jesu dagegen vorgegangen werden. Ein großer Teil der religiösen Kraft wird für diese Thematik verwendet. Es ist zu beobachten, dass die Gläubigen gerade in der Befreiung von der Macht etwaiger Flüche die Lösung ihrer Probleme erwarten und darin bereits die Erlösung durch Jesus Christus erblicken.

Beurteilung aus katholischer Sicht

Zunächst stellt sich die Frage, wie wir aus katholischer Sicht die Analyse der Freikirchen hinsichtlich von Verwünschungen und Verfluchungen bewerten. Viele der dazu gemachten Aussagen haben ihre Berechtigung. Und auch innerhalb der katholischen Kirche sind diese Überlegungen nicht völlig fremd. Selbst bei Heiligen finden sich zahlreiche Äußerungen über Zusammenhänge verschiedener Probleme, unter denen Menschen leiden, und von anderen vollzogenen Verwünschungen. Grundsätzlich hält auch die katholische Kirche daran fest, dass alle Übel und Leiden in dieser Welt mit der Wirksamkeit Satans, des Gegenspieler Gottes, zusammenhängen. Jesus bezeichnet ihn als den „Herrscher dieser Welt“ (z.B. Joh 12,31; 14,30; 16,11), der seine Macht über die Menschheit durch die Ursünde und die einzelnen Sünden der Menschen erhalten hat und erhält. Eine besondere Form der Abwendung von Gott und damit der Sünde ist natürlich die bewusste Herbeirufung des Teufels in Form eines Fluchs. Doch bietet jede Lieblosigkeit dem Bösen eine Angriffsfläche, insbesondere ein ungerechtfertigtes Urteilen über den Mitmenschen.

So sehr die Kirche das Wirken des Bösen anerkennt, so vorsichtig ist sie jedoch bei der Bewertung einer ganz konkreten Situation. Wir können nämlich nie eindeutig feststellen, welche Ursachen sich hinter einem Ereignis verbergen. Denn jedes Geschehen hat nicht nur einen Grund, sondern ist letztlich mit dem Schicksal aller Menschen und aller Zeiten verbunden. Und immer, wenn jemand versucht, die Wurzel eines widrigen Zustands herauszufinden, und dafür ausschließlich Flüche und Verwünschungen als Ursache ausmacht, geht er in die Irre. Dagegen gesteht die Kirche ein, dass es grundsätzlich nicht Sache des Menschen ist, diesem Geheimnis nachzuspüren. Darin besteht der erste Grund, warum sich die Kirche von den genannten Analysen distanziert.

Der zweite Grund hängt damit zusammen. Das katholische Weltbild teilt die Wirklichkeit nicht in eine Sphäre ein, in der Gott herrscht, und in eine andere Sphäre, die vom Teufel regiert wird. Vielmehr hat Gott die ganze Welt in seiner Hand, in der er allerdings seinen Geschöpfen Entscheidungsfreiheit einräumt. Wie sich jedoch eine freiwillig getroffene Entscheidung gegen Gott letztlich auswirkt, wird ebenfalls von ihm bestimmt. Selbst wenn Satan durch die Sünden der Menschen Macht über sie gewinnt, kann er diese Macht nur in der Form und in dem Maß ausüben, wie Gott es zulässt. Aus diesem Grund sind wir überzeugt, dass Gott nie machtlos zusieht, wie sich ein Fluch oder ein unüberlegtes Wort auswirkt. Es wäre sogar ein Zeichen von Unglauben, würden wir auch nur das Geringste, was in dieser Welt geschieht, allein der Wirkung eines Fluchs zuschreiben. Genau deshalb braucht ein gläubiger Mensch nicht nach diesen Ursachen zu fragen, sondern kann alles, was geschieht, aus der Hand Gottes annehmen. Warum es so und nicht anders kommt, ist allein Sache Gottes, der sich die Antwort für den Augenblick des Endgerichts vorbehalten hat. Dies anzuerkennen, verlangt von uns auf der anderen Seite den Verzicht auf eine genaue Analyse. Der hl. Paulus kann deshalb sagen: „Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt“ (Röm 8,28).

Ein dritter Grund ergibt sich aus den fatalen Folgen, die sehr häufig mit diesen Analysen verbunden sind. Die naheliegendste negative Auswirkung besteht darin, dass durch solche Erkundungen Misstrauen unter den Menschen wächst und Spaltungen entstehen. Dies aber ist genau das Ziel des Widersachers Gottes, der in der Heiligen Schrift „Teufel“, d.h. „Auseinanderwerfer“ genannt wird. Insbesondere gelingt ihm dies durch die Anklage der Menschen. Das Erkunden von Verwünschungen ist im Grunde genommen nichts anderes als die Vorbereitung einer Anklage, eine Sache dessen, der, wie es in der Bibel heißt, „unsere Brüder bei Tag und bei Nacht vor unserem Gott verklagt“ (Offb 12,10). Und auch das ist sicher, dass dem Widersacher all diese Dinge aus allen Zeiten bekannt sind, nämlich wann, von welcher Person, welche Verwünschungen ausgegangen sind. Dem nachzuspüren kann deshalb sehr leicht dazu führen, mit dem „Ankläger“ gemeinsame Sache zu machen.

Aus diesen Gründen ist auch sehr behutsam mit der sog. „Gabe der Erkenntnis“ umzugehen, wie sie in charismatischen Kreisen erbeten und gepflegt wird. Es ist grundsätzlich bedenklich, wenn etwa empfangene Bilder dazu herangezogen werden, von Vorfahren oder Bekannten vollzogene Verfluchungen auszumachen. Manchmal ist an diesem Charakterzug eines Charismas sogar zu erkennen, dass eben nicht der Heilige Geist am Werk ist. Davon ist deutlich der Weg der inneren Heilung zu unterschieden. Hier können Bilder oder Worte dazu dienen, innere Verletzungen zu erkennen und sie bewusst durch den Weg der Liebe und der Versöhnung zu überwinden. Wenn die Gabe der Erkenntnis den Gläubigen dazu hinführt, zu vergeben, so trennt sie nicht, sondern verbindet.

Befreiung und Erlösung

Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen katholischer und freikirchlicher Auffassung, wenn wir der Frage nachgehen, wie wir auf Verwünschungen reagieren und uns von ihren Folgen befreien.

Die Position der Freikirchen ist verständlich, wenn man bedenkt, dass sie das Priestertum und die Vermittlung der Gnade durch die sakramentale Struktur der Kirche nicht kennen. Aus diesem Grund erfahren sie die Befreiung aus der Macht des Bösen auf eine andere Weise als die Gläubigen in der katholischen Kirche. Was sie haben, ist tatsächlich „nur“ die Taufgnade und die damit verbundene Vollmacht des persönlichen Gebets.

Erlösung bedeutet nach katholischem Verständnis die Vergöttlichung des Menschen, welche schon auf dieser Welt beginnt, d.h. eine fortschreitende Teilnahme am göttlichen Leben. Sobald sich der Mensch Gott zuwendet und sein Herz für seine Gegenwart öffnet, kann dieser Weg beginnen. Dabei ist die Befreiung aus Bindungen böser Mächte nur der allererste Schritt, gleichsam die Voraussetzung für das Wachstum des Reiches Gottes in unseren Herzen. So sagt Jesus: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu Euch gekommen“ (Lk 11,20). Damit sind wir aber erst am Punkt Null der Vergöttlichung angekommen, in dem freikirchliche Pastoral oft schon das Wesentliche erblickt. Das Eigentliche, was nach der Befreiung beginnt, ist die Erfüllung unserer Seele mit der Gegenwart Gottes.

Nach katholischer Auffassung geschieht die Befreiung nicht durch das bewusste „Brechen“ von Flüchen, sondern durch die Vereinigung mit Jesus Christus in den Sakramenten, angefangen bei der Taufe und ihrer Erneuerung im Bußsakrament bis hin zur Eucharistie. Die Gegenwart Christi im Menschen verleiht ihm Anteil an seinem Ostersieg über die Mächte des Bösen. Denn wo der Sohn Gottes in Liebe aufgenommen ist, kann sich eine dämonische Einflussnahme nicht halten. Dabei erfolgt die Befreiung, ohne dass wir uns über die Ursachen von tatsächlich bestehenden Belastungen und Bindungen Gedanken machen müssten. Wir brauchen nicht dieses „Brechen“, sondern nur die Öffnung in der Beichte; denn der sakramentale Segensraum der Kirche, der durch die apostolische Vollmacht des Priestertums gewährleistet wird, schenkt uns in jedem Augenblick Befreiung und Schutz. Die Lossprechung bringt eine Überwindung aller bösen Belastungen mit sich, die weit über ein konkretes „Brechen“ hinausgeht. Eine Fixierung auf Flüche und Verwünschungen kann aus der Sicht der katholischen Kirche nur eine Ablenkung von der eigentlichen Berufung bedeuten, nämlich der hochzeitlichen Vereinigung mit dem auferstandenen Herrn.

Überwindung der Ängste

In den evangelisch geprägten Freikirchen wird sehr stark die Bedeutung der persönlichen Entscheidung hervorgehoben. Die Taufe hat weniger den Charakter eines gnadenhaften Geschenks als vielmehr eines bewussten Akts des Glaubens und der Annahme, bei dem alles vom Einzelnen abhängt. Ähnlich ist es beim Kampf gegen das Böse. Er lebt davon, dass der Gläubige in ständiger Wachsamkeit seine Vollmacht einsetzt. Dies führt leicht zu einer Atmosphäre der Angst vor Verfluchungen und vor den Menschen, von denen sie ausgehen.

Aus katholischer Sicht bedeuten Vergebung und Erlösung Anteilnahme am Ostersieg, den nicht wir erringen, sondern den Christus in uns und durch uns immerfort vollbringt.

Wir fürchten keinen Fluch! Denn wir sind überzeugt, dass Gott alles in seiner Hand hat. Wenn er eine Auswirkung zulässt, so nur deshalb, weil es uns im Blick auf die ewige Erlösung zum Guten gereicht (vgl. Röm 8, 28). Daher besteht für uns auch gar keine Notwendigkeit, herauszufinden, welche Flüche oder Verwünschungen gegen uns ausgesprochen worden sind.

Wir fürchten nicht den Fluchenden! Wir brauchen keinen Menschen zu meiden in der Angst, er könnte uns etwas Böses antun. Im Gegenteil: Wir sollten auf die Fluchenden zugehen. Denn letztlich sind sie es, die durch ihr Tun Opfer des Bösen geworden sind. Sie sind zu bemitleiden und brauchen unsere Hilfe. Je direkter wir auf sie mit Liebe zugehen, umso mehr können wir sie aus ihrer Abhängigkeit vom Bösen befreien. Der hl. Paulus schreibt: „Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf seinem Haupt“ (Röm 12, 20).

Wenn Christus uns zuruft: „Segnet die, die euch verfluchen!“, dann handelt es sich hier eben nicht um eine Methode, wie man Flüche brechen oder gar zurückweisen soll. Dies können wir getrost dem Herrn überlassen. Vielmehr laden uns diese Worte ein, den Menschen mit „offener Brust“ zu begegnen und die Macht des Bösen mit Liebe und mit Vertrauen auf Gott zu besiegen. Wir können mit dem Thema Fluch souverän umgehen und den Fluchenden segnen, damit er sich bekehrt. In diesem Sinn wird das Böse durch das Gute besiegt (Röm 12,21) und der Auftrag der Bergpredigt erfüllt: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,43-44).

Beispiel aus dem Leben des hl. Pater Pio

In geradezu erschütternder Weise leuchtet die katholische Haltung in einer Begebenheit aus dem Leben des hl. P. Pio auf.[3] Eines Tages nimmt ein Taxifahrer einen Fahrgast auf, der nach San Giovanni Rotondo fahren möchte. Als der Gast schon von weitem das Kloster mit der Kirche sieht, in dem P. Pio lebt, fragt er den Chauffeur: „Sagen Sie bitte, was ist das dort oben auf der Höhe für ein Gebäude?“ Der Chauffeur erklärt ihm, dass es das Kloster ist, in dem P. Pio lebt. Da beginnt der Fahrgast auf die Kapuziner zu fluchen und zu schimpfen, woher sie denn so viel Geld hätten. Der Taxifahrer versucht das Ganze zu erklären: P. Pio trage die Wundmale, die Leute würden sagen, er sei ein Heiliger. Aber er sei ganz selbstlos und die Spenden, die P. Pio erhalten habe, hätte er eingesetzt, um dieses große Krankenhaus auf dem Berg zu bauen. Auf diese Erklärung hin beginnt der Fahrgast P. Pio zu verspotten und zu verfluchen. Und als sie schon in der Stadt angekommen sind, fügt der Fahrgast über allem noch hinzu: „In einigen Tagen wird man hier ein großes Fest feiern – die Beerdigung von P. Pio. Dann ist alles aus!“ Danach kamen sie am Hotel an. Der Fahrgast stieg aus, fiel um und war auf der Stelle tot. Er war ungefähr 30 Jahre alt. Ein Augenzeuge ging sofort ins Kloster und wollte P. Pio alles berichten. Doch dieser sagte ganz bescheiden: „Das brauchst du mir nicht zu sagen, das weiß ich schon. In dem Augenblick, als der Mann den Fluch gegen mich aussprach und mir den Tod wünschte, war ich ganz in Gott. So konnte mir der Fluch nichts anhaben. Er prallte von mir zurück und traf den Fluchenden selbst auf der Stelle. Jetzt wird man in einigen Tagen seine Beerdigung feiern.“

Unsere Aufgabe also ist es, darauf zu achten, dass wir durch Gebet, Empfang der Sakramente und Werke der Nächstenliebe immer in Gott verweilen, und nicht, unser geistliches Streben darauf auszurichten, Verwünschungen aufzuspüren.

Die Last der Vorfahren

Verwünschungen und Verfluchungen werden von freikirchlichen Kreisen oft mit den Vorfahren in Verbindung gebracht. Es wird in den vorausgehenden Generationen nachgeforscht, von wem welche Bindungen und Belastungen ausgegangen sein könnten.

Auch hier gilt das bereits Gesagte. Aus katholischer Sicht ist es nicht unsere Aufgabe, bei unseren Ahnen nachzuforschen, um herauszufinden, von welchen Fehlhaltungen oder Flüchen unsere Probleme herrühren könnten. Wir brauchen das Vergangene nicht fürchten.

Gleichzeitig ist es eine uralte Tradition der katholischen Kirche, insbesondere für die verstorbenen Angehörigen zu beten. Es ist unsere Überzeugung, dass wir nach Gottes Ordnung gerade in der Linie unserer Familien Verantwortung füreinander tragen. Oft leiden wir, weil wir nicht bereit sind, für die Armen Seelen zu beten und um Vergebung zu bitten. Unsere Aufgabe ist es nicht, etwas zu brechen, was von diesen Seelen ausginge. Vielmehr sollten wir uns mit ihnen verbinden und solidarisch erklären. Die Seelen im Reinigungsort können selbst nichts für sich tun, doch durch unser liebevolles Gebet und besonders durch das Opfer der hl. Messe können wir ihnen zu Hilfe kommen. Wenn wir in dieser Art der Stellvertretung an unsere Vorfahren denken, können wir uns auch von der Last befreien, die wir als Kreuz gemeinsam mit ihnen zu tragen haben. Dazu brauchen wir aber nicht in ihren Sünden „herumrühren“ und Verwünschungen aufspüren bzw. brechen, sondern nur unsere von Gott selbst aufgegebene Verbundenheit mit ihnen ernst nehmen und uns ihnen in Liebe zuwenden.

Kultur des Segnens

Die Impulse aus der Freikirche können uns dazu anspornen, unsererseits den Segen der Kirche ernster zu nehmen und eine neue Kultur des Segnens aufzubauen. Was geschieht, wenn wir segnen? Segnen heißt zunächst, für jemanden zu beten, ihm die Gnade und die Zuwendung Gottes zu wünschen. Der sog. Aron-Segen bringt dies wunderschön zum Ausdruck: „Der Herr sprach zu Mose: Sag zu Aron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Heil. So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen und ich werde sie segnen“ (Num 6,22-26).

Jeder Getaufte hat die Vollmacht zu segnen. Bei ihm hängt die Kraft des Segens vom Maß seines Vertrauens und vom Grad seiner Heiligkeit ab. Vornehmste Aufgabe der Eltern ist es, ihre Kinder zu segnen. Welcher Schutz, wenn Eltern in ihrer Autorität vor Gott ihre Kinder segnen, bevor sie beispielsweise das Haus verlassen oder sich schlafen legen! Wenn sie dazu Weihwasser verwenden, verbinden sie sich zusätzlich mit dem Segen der Kirche.

Wenn ein Priester segnet, segnet er immer im Namen der ganzen Kirche und schöpft aus ihrer Segensfülle. Dies geschieht unabhängig von seiner persönlichen geistlichen Verfassung.

Die höchste Form des Segens in der katholischen Kirche ist der Segen mit dem Allerheiligsten. Es ist es der Herr selbst, der dabei gleichsam aus seiner sakramentalen Gegenwart heraustritt und unsere Herzen mit seiner göttlichen Liebe erfüllt. In Lourdes sind die meisten anerkannten Heilungswunder in dem Augenblick geschehen, als der Priester – meistens ist es ein Bischof – bei der Sakramentsprozession mit dem Allerheiligsten an dem Kranken vorübergezogen ist. Bekannt ist ein Augenzeugenbericht des früheren Jesuitengenerals Pater Pedro Arrupe. Er war seinerzeit Medizinstudent und verbrachte die Ferien mit seiner Familie in Lourdes. Vor der Sakramentsprozession befand auch er sich auf dem großen Platz und beobachtete eine Krankenschwester, wie sie neben ihm ihren Krankenwagen mit einem etwa 20jährigen jungen Mann aufstellte. Aufgrund einer Kinderlähmung war der Mann ganz verkrümmt, ein ganz trauriger Augenblick, so Arrupe später. Da kam der Bischof mit dem Allerheiligsten. Und Arrupe berichtet: „Der junge Mann schaute mit demselben Glauben auf die Hostie, wie der Gelähmte im Evangelium auf den Heiland geschaut haben mag.“ Als der Bischof mit der Monstranz ein großes Kreuz gemacht hatte, erhob sich der junge Mann geheilt von seinem Krankenwagen. Die Menge rief: „Ein Wunder! Ein Wunder!“ Nachdem Arrupe an die Universität Madrid zurückgekehrt war, um sein Medizinstudium wieder aufzunehmen, erschien ihm diese Welt um ihn herum plötzlich so klein. Er schreibt: „Die Bücher fielen mir aus der Hand. Die Vorlesungen, die Experimente, die mich vorher begeisterten, schienen mir leer. Meine Kollegen fragten mich: ‚Was ist mit dir los dieses Jahr? Du scheinst betäubt!‘

Ja, ich war wie betäubt durch jenes Erlebnis, das mich immer mehr beeindruckte. Nur der Anblick der segnenden Hostie und des Gelähmten, der aus seinem Krankenwagen sprang, blieben meinem Verstand und meinem Herzen eingeprägt … Nach drei Monaten trat ich in das Noviziat der Gesellschaft Jesu ein …“

Er sei Zeuge eines Wunders geworden, das Jesus in der Eucharistie gewirkt habe, derselbe Jesus, der vor 2000 Jahren Kranke und Gelähmte geheilt hatte. Es ist dieser Schatz, der die katholische Kirche von den evangelischen Freikirchen unterscheidet. Und darin liegt der Grund, warum wir uns als Katholiken gegenüber den Mächten des Bösen anders verhalten als sie und angstfrei auf jeden Menschen zugehen können: „Segnet die, die euch verfluchen!“ (Lk 6,28).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Vgl. Charles H. Kraft: Ich gebe euch Vollmacht, 219f.
[2] Charles H. Kraft: Ich gebe euch Vollmacht, 224.
[3] Karl Wagner: Pater Pio, 131f.

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