Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten

Der Anblick des Altöttinger Kapellplatzes im weihnachtlichen Festgewand ist eine echte Freude. Wir dürfen stolz darauf sein, wie unsere christlichen Traditionen zur Advents- und Weihnachtszeit bis heute unsere Innenstädte verwandeln. Bernhard Meuser möchte mit seiner adventlichen Betrachtung nicht einfach ein Lamento auf die Vermarktung und Verflachung des Weihnachtsfestes anstimmen, sondern uns zum Wesentlichen hinführen. Um es pointiert auszudrücken, nennt er seinen Beitrag: „Voll – Eine adventliche Reise um die halbe Welt“.

Von Bernhard Meuser

Ein Abend im Advent

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“, hatte Goethe in Faust I gedichtet und wahrscheinlich etwas anderes gemeint. Es ist Advent und schon spät am Abend. Vom Kopfsteinpflaster hallen Schritte nach oben zu meinem Fenster, durchmischt mit Gegackere und Gesangsfetzen. Unten ziehen sie vorbei, die letzten Besucher des Advents- und Weihnachtsmarktes, der sich in den letzten Jahren wie eine parasitäre Anlagerung von Zuckerguss rund um die Kirche ins Stadtbild gefressen hat. Die Buden haben wohl endlich ihre Klappen heruntergelassen. Schwankende Gestalten strömen ihren Betten entgegen, voll des süßen Glühweins, von Punschbatterien und Schnäpsen beschwingt. Alkohol wärmt so schön. Davon kann man in kalten Zeiten nicht genug bekommen.

Hunger nach Wärme und seelischer Erfüllung treibt die Menschen in die klinglockelige Licht- und Lebkuchenperipherie rund um unsere Gotteshäuser, die still und dunkel wie kalte Herzen inmitten des Reigens pseudoweihnachtlicher Attacken auf das Gemüt ruhen. In der Mitte ist nichts los, aber außen herum tanzt der Bär. Da krachen die Pfannen, wehen die Schwaden, fließt der Stoff.

Eine Sternstunde im Schnee

Szenenwechsel, Ortswechsel: Die kleine Szene spielt im Russland des anbrechenden 19. Jahrhunderts, an einem Donnerstagmorgen im Advent eines unbekannten Jahres. Wir befinden uns auf einer Waldlichtung, etwa fünf Kilometer von der altrussischen Klosterstadt Sarow entfernt, bei einer Hütte am Flüsschen Sarowka. Die Wälder sind dort dicht und dunkel; es gibt Bären und Wölfe. Über Nacht hatte Schnee die gefrorene Erde bedeckt und es schneite immer weiter. Dort hinaus war ein Mann aus der Stadt gezogen, ein Richter namens Nikolaj Motowilow, um einen Eremiten zu treffen, der schon damals im ganzen Zarenreich einen legendären Ruf als Weiser und Wundertäter besaß: Seraphim von Sarow. Seraphim ließ seinen Besucher auf einen Baumstumpf niedersetzen und kauerte sich selbst in den Schnee.

Von all diesen äußeren Umständen wissen wir, weil Nikolaj Motowilow sich darüber Aufzeichnungen machte. Das Gespräch, das die beiden führten, muss für ihn eine Art Sternstunde gewesen sein.

Motowilow war zu dem Mönch in den Wald gezogen, weil ihn seelische Unruhe umhertrieb. Der Eremit sollte ihm sein Leben auslegen und ihm Weisung geben, wie er seinen inneren Frieden finden könne. Ich stelle mir vor, wie Motowilow „auspackte“, zitternd vielleicht wegen der Kälte, aber auch wegen seiner seelischen Verwerfungen, und wie der Weise geduldig zuhörte, während immer neue Flocken vom Himmel herabschwebten und sich in seinem weißen Bart und auf dem Gewand festsetzten. 

War Motowilow depressiv? Wir wissen es nicht. Vielleicht hatte er nur eine ganz normale Sinnkrise, jene innere Leere, die jeder Mensch kennt, und die man nicht nur im zaristischen Russland gerne mit hochdosiertem Alkohol zuschüttet. Motowilow wählte nicht den Alkohol gegen die Leere. Er blieb ein Mensch der Suche, ein Fragender. Motowilow hatte bereits viele Ratgeber und Priester aufgesucht, aber immer nur standardisierte Antworten erhalten. Einige rieten ihm, Gottesdienste zu besuchen, zu beten, zu fasten, gute Werke zu vollbringen. Andere meinten sogar, er solle schlicht und einfach aufhören, nach höheren Dingen zu suchen. Motowilow hörte nicht auf, konnte nicht aufhören. Deshalb saß er nun auf dem Baumstumpf, neben dem in den Schnee gekauerten Eremiten.

Wie ein weiser Arzt, der sich über die untauglichen therapeutischen Maßnahmen seiner Kollegen wundert, begann der Einsiedlermönch zu sprechen: „Also will der arme Seraphim euch jetzt erklären, welches der wahre Sinn des christlichen Lebens ist. Gebet, Fasten, Wachen und all die anderen guten Werke sind wohl an sich gut, doch liegt die Bedeutung unseres christlichen Lebens nicht etwa nur darin ... Der wahre Sinn des christlichen Lebens besteht in der Erlangung des Heiligen Geistes …“

In der Erlangung des Heiligen Geistes? Eine rätselhafte Auskunft.

Von Freude bewegt

Erneuter Szenen- und Ortswechsel: Begeben wir uns in noch tiefere Vergangenheit und in wärmere Gefilde. Dieses Mal sehen wir eine junge Frau, fast noch ein Kind, wie sie durch das Bergland von Judäa eilt: karstige, staubige Hügel, mediterrane Vegetation: Ölbäume, Kiefern, Strauchwerk. Wer auf Hirtenpfaden unterwegs ist, braucht einen Stock, um Spinnenetze zu durchtrennen, Hecken und Dornen vom Körper fernzuhalten und Schlangen durch Klopfgeräusche zu vertreiben.

Die junge Frau ist voller Eile; wenn es einmal bergab geht, rennt und springt sie fast. Doch die junge Frau ist keine hektisch Getriebene; ihr sitzt nicht etwa Angst im Nacken. Die junge Frau ist schnell, weil sie eine so große Freude in sich hat, eine übermütige Freude. Sie könnte platzen vor Freude. Sie läuft, weil ihr das Herz übergeht, weil sie nicht mehr an sich halten und bei sich bleiben kann. Sie muss sich mitteilen, einer Verwandten und nahen Freundin. Dorthin ist sie unterwegs, in die Stadt im Bergland von Judäa. – Die Szene ist bekannt. Sie spielt im Jahr 7 vor Christi Geburt, im Jahr also, in dem Jesus exakter historischen Zählung nach wirklich geboren wurde – aus Maria, der Jungfrau. Wir besingen diese Szene in jedem Advent im Lied „Maria durch ein Dornwald ging“. Und wer sich der spirituellen Übung des Rosenkranzes unterzieht, ruft zehnmal das Mysterium „... den du o, Jungfrau zu Elisabeth getragen hast“ herbei. Lange Jahre erschien mir dieses Mysterium als beiläufig, nebensächlich, entbehrlich. Nun liebe ich es, nähere ich mich langsam seinem existenziellen Gehalt. Es hat uns etwas sehr Wesentliches zu sagen über Leere und Erfüllung, über Hoffnung und Freude und die Art, sie mit anderen Menschen zu teilen.

Prosaisch gesagt, war Maria voller Freude, weil sie ein Kind im Leib hatte. Natürlich freut man sich da, wenn man noch einen Funken Gefühl in sich hat. Aber das innere Erfülltsein Marias sprengte die Grenzen einer Freude aus physio-psychologischen Motiven oder den hormonellen Folgen einer Schwangerschaft. Maria war so voller Freude, weil sie bei ihrem Sinn angekommen war: Alle Leere in ihr war nur dazu da, damit für Gott ein Raum in dieser Welt da ist. Drücken wir es, der Präzision halber, ruhig einmal in philosophischer Gespreiztheit aus: Maria wurde zur Bedingung der Möglichkeit Gottes in dieser Welt.

Der Engel Gottes, der Maria aufsuchte, hatte dem inneren Überfluss in ihr einen Namen gegeben: „Sei gegrüßt, du bist voll der Gnade, der Herr ist mit Dir“ (Lk 1,28). Gnade heißt im Griechischen ,charis‘, ein Wort, das im Deutschen in ,Charisma‘, ,charmant‘ und ,Charme‘ nachklingt und soviel bedeutet wie: Dank, Anmut, Lieblichkeit, Gunst, Wohlwollen. Charis hat zudem die gleiche Wortwurzel wie ,chara‘ = Freude. Wir könnten, um das Abstraktum Gnade mit uns näheren Worten zu füllen, auch beten: „Du bist voll von der Freude Gottes“, „du bist voll von der Begabung Gottes“, „du bist voll von der Liebe Gottes“, „du bist voll vom Liebreiz Gottes“.

Maria war nicht die Produzentin ihrer Erfüllungen. Sie verfügte auch nicht über Tricks, wie man inneren Frieden herstellt. Die Ursache ihrer Freude bestand in einer mindestens so rätselhaften Auskunft, wie sie jene Auskunft war, die der Einsiedlermönch Seraphim von Sarow an jenem frostigen Wintermorgen zu Beginn des 19. Jahrhunderts dem Richter Nikolaj Motowilow erteilte. Der Engel sagte nämlich: „Heiliger Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten“ (Lk 1,35). Du musst es nicht selbst machen. Es wird dir geschenkt. Du musst nur leer und bereit sein. Die Leere aushalten. Sie höher schätzen als die vorschnellen Erfüllungen. Du musst warten. Du musst glauben.

Wissen wir jetzt mehr, warum Seraphim von Sarow den Satz sagte: „Der wahre Sinn des christlichen Lebens besteht in der Erlangung des Heiligen Geistes …“? Ich fürchte, wir müssen noch einen weiteren Umweg machen, um über eine erfüllte junge Frau in Judäa, eine Gott- und Sinnsucherszene im Winterwald von Sarow, auf das leerlaufende Getue eines mitteleuropäischen Weihnachtsmarktes und schließlich in unserem eigenen leeren Herzen zu landen. Reisen wir zu einer letzten Station, versetzen wir uns für einen Moment in einen wahren Moloch von Stadt, ins indische Kalkutta, jene Millionenmetropole, die sich heute „Kolkata“ nennt.

Die Not der Mutter Teresa

Eines Tages ging sie aus dem wohlgeordneten Kloster fort, das sich mitten in der Elendsmetropole befand. Sie zog das Gewand der Toilettenputzerinnen-Kaste an, das später zu ihrem Markenzeichen werden sollte, im Kalkutta jener Tage aber wie die närrischste Verkleidung der Welt wirkte – den weißblauen Sari. Und alles, weil sie mit unüberhörbarer Klarheit die Stimme Gottes in ihrem Inneren vernommen hatte. „Trage mich in die Löcher der Armen.“

Alle Verheißungen, die ihr Gott mit auf den Weg gab, erfüllten sich: Ihr Werk wurde mit Gnaden und Wundern überhäuft, ihre Gemeinschaft blühte, sie selbst fühlte sich wie von Heiligen umgeben. Mutter Teresa wurde nicht müde, die Wunder und Geschenke Gottes zu preisen, die sie rings um sich entdeckte.

Nur eine Gabe Gottes verstand sie nicht: die Gabe der Leere.

Einmal, in früheren Jahren, hatte sie Jesus gelobt, er möge ihr doch die Gnade gewähren, dass sie ihm nie etwas verweigern würde. Sie wollte Jesus, dem sie in zärtlicher Liebe ergeben war, etwas so Schönes geben, wie es ihm nie zuvor gegeben worden war, wollte „ihn lieben, wie er noch nie geliebt worden war.“ Was Jesus ihr schließlich abverlangte, klingt grausam: die Begleitung hinein in die eigene Gottverlassenheit, in die Tiefe der Zeit hinein, in das, was das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der GULAGs, KZs, der Säuberungen, Kriege und Hungerkatastrophen, zuletzt war: das kollektive Empfinden der Abwesenheit, des Schweigens Gottes. Mutter Teresa glaubte mit letzter Glut, in blindem Heroismus, aber sie fühlte nichts mehr – nicht Seele, nicht Gott („Wie furchtbar ist es, ohne Gott zu sein!“), nicht Liebe, nicht Glauben, nicht Jesus, nicht Ewiges Leben. Sie fühlte sich ausgeplündert, beraubt, entleert. „Warum tust du das jemand so Kleinem an?“, lautet ihr Seufzer aus unterster Tiefe.

Eines Tages jedoch ging ihr ein Licht auf und sie schrieb: „Beten Sie für mich, dass ich in dieser Dunkelheit nicht mein eigenes Licht entzünde – und diese Leere auch nicht mit meinem Selbst fülle.“ An anderer Stelle sagt sie: „Man muss vollständig leer sein, um ihn einzulassen, damit er das tun kann, was er will.“ Und wieder an anderer Stelle: „Ich will, dass er mit mir und in mir völlig freie Hand hat.“ Und jetzt versteht man auch, wie Mutter Teresa Heiligkeit definiert: Heilig ist, wenn „Jesus Sein Leben ganz und gar in mir leben kann.“ Darum war Maria heilig. Und dafür sind wir leer.

Rückweg zum Weihnachtsmarkt

Aller Glühwein dieser Erde reicht nicht aus, um die seelischen Löcher zu stopfen, die sich vor, an und um Weihnachten rings um uns (ja – und auch in uns selbst) auftun. Geistige Getränke betäuben den Schmerz. Das Kraterloch bleibt. Hingehaltene Leere ist sinnvoll. Zuschütten ist Unsinn. Wir Menschen sind so gebaut, dass wir nach Gott dürsten mit unendlichem, mit verwegenem Durst.

Es muss Weihnachten werden in uns. Gott möchte Wohnung nehmen in unserer Seele. Etwas muss von außen in uns hineingelegt werden. Etwas Größeres. Etwas nicht Banales. Eine Freude muss kommen, die wir uns nicht selbst organisieren. Wir sind für eine Erfüllung da, die jenseits käuflich zu erwerbender Freuden existiert.

Unser herumirrendes Verlangen, unser Suchen, unser Fragen, unsere Sinnkrisen, das lernten wir im Wald von Sarow, sind nur durch die Erlangung des Heiligen Geistes zu beheben. Was das heißt? Dass in uns ein Geist entfacht wird, der nur eines will: „dass Jesus sein Leben ganz und gar in mir leben kann.“ Der gleiche Heilige Geist, der schon in Maria das Leben aller Leben hervorrief, ist es, in dem mir der Sinn auch meines Lebens aufgeht: Jesus. Wir sind Christen – das heißt: Wir gehören uns nicht selbst. Wir gehören ihm. Sein Werkzeug, sein Rahmen, seine Möglichkeit, sein Instrument, seine Plattform, seine Ankunft, sein Leib, seine Krippe zu sein – dazu sind wir da. Wir gehören ihm – und denen, in denen er erkannt werden möchte, den Armen: „Lasst zu, dass die Armen und die anderen Leute euch aufessen. Lasst die Leute in euer Lächeln beißen und eure Zeit“ (Mutter Teresa).

Die Weihnachtsmärkte rund um unsere Kirchen wollen den Menschen ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Sie provozieren zwar die Sehnsucht, für mich enthalten sie jedoch einen Überhang an Tristesse. Die Welt braucht andere Lächeln als die von Nussknackern und Weihnachtsmännern. Sie braucht einen anderen Geist als den aus der Flasche. Sie braucht eine andere Süßigkeit als die aus den Arsenalen der Lebensmittelchemie. Weihnachtsmarkt ist Zuckerguss. Der Kuchen ist hinter dem Zuckerguss. Was hinter dem flirrenden Reigen der Buden und Stände liegt – die Stille, die Leere, die Verweigerung –, das ist es.

Könnten wir das kalte Herz unserer Kirchen in der Adventszeit nicht beleben durch stille Lichter, offene Türen, leise Musik? Müssten wir in der Adventszeit nicht einfach mutig durch den Süßbudenpanzer wie durch den Dornwald hindurchschreiten – in die Kirchen hinein? Müssten wir uns dort nicht zu Gebeten vereinbaren, einen Sog der Sehnsucht erzeugen? Müssten wir nicht die Wucht der Stille predigen lassen? Müssten wir nicht vor überfließender, weihnachtlicher, gnadenvoller Freude so voll sein, dass es einfach überläuft – und dem anderen das Herz im Leib hüpft?

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Das Bischofsamt heute

P. Dr. Karl Josef Wallner OCist ist Rektor der Päpstlichen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz, welche durch den jüngsten Papstbesuch eine ungemeine Ehrung erfahren hat und ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gerückt ist. An der Hochschule gibt es zurzeit 38 Lehrende und 180 Studierende. Einer der Dozenten ist Weihbischof Dr. Andreas Laun, den eine langjährige Freundschaft mit dem Rektor der Hochschule verbindet. Bei der Festakademie zum 65. Geburtstag von Weihbischof Laun hielt nun Prof. Dr. Wallner am 27. Oktober 2007 in Wigratzbad einen begeistert aufgenommenen Vortrag über das Bischofsamt. Wir geben ihn nachfolgend in einer leicht bearbeiteten Form wieder.

Von Karl Josef Wallner OCist

1. Die Bischöfe gibt es um der Kirche willen

Wozu brauchen wir Bischöfe? Weltlich gesehen ist es leicht zu erklären, warum es Bischöfe gibt; denn von außen wird ein Bischof wahrgenommen als ein Chef der „Firma Kirche“, der sie nach innen ordnet und nach außen repräsentiert. Natürlich ist eine solche Sicht des Bischofsamtes zu wenig, weil sie auf einer rein äußerlichen Sicht der Kirche gründet.

Die katholische Kirche ist zwar „in der Welt“, wir glauben jedoch, dass ihre Struktur und ihre Organisation „nicht von der Welt“ sind. Sie ist kein weltliches Unternehmen und braucht sich auch nicht permanent zu überlegen, wie sie sich dem Zeitgeist anpasst, sondern nur wie sie den Heiligen Geist zu möglichst allen bringt. Und daher ist auch ihre Leitung keine natürliche Chefetage, die man sich irgendwie selbst erfinden und in einem Leitbildprozess, wie ihn etwa viele weltliche Unternehmen in den letzten Jahren durchgemacht haben, erkonstruieren könnte oder müsste. Die Leitung der Kirche ist etwas Übernatürliches, ja: Göttliches! Und diese Leitung erfolgt durch die Bischöfe.

Auf dem 2. Vatikanischen Konzil war die Kirche gleichsam das Hauptthema, das Aggiornamento, die Verheutigung, die pastorale Offensive, die der selige Johannes XXIII. im Sinn hatte. Auf dem 1. Vatikanischen Konzil 1870 war es auch um die Kirche gegangen, und zwar zentral um die Leitung der Kirche. Nach der Katastrophe, in die der ausbrechende Atheismus Ende des 18. Jahrhunderts die Menschheit gestürzt hatte – Französische Revolution, Nationalismus, Säkularisation, offener Kirchenkampf in fast allen europäischen Staaten –, suchten die Bischöfe auf dem 1. Vatikanum nach der letzten Garantie für die Offenbarung. Wenn man der Bibel nicht mehr vertrauen kann, wenn die Tradition nicht mehr sicher ist, wenn jede christliche Konfession den Glauben anders deutet und lebt, wo ist dann der letzte Garant für die Wahrheit? Woher weiß man, was von den Glaubensvorstellungen christlich ist und was nicht? Was von Gott geoffenbart und daher gültig ist, oder was von den Menschen erdacht und daher beliebig ist? Und die Väter antworteten 1870: Die letzte Garantie für die Scheidung der Offenbarungswahrheit von der subjektiven religiösen Meinung liegt beim Petrusnachfolger, beim Papst.

Pius VI. war 1800 als Gefangener Napoleons gestorben, sein Nachfolger Pius VII. von Napoleon verschleppt worden. Das Papsttum hatte man für abgeschafft erklärt, – und dann 70 Jahre später dieser Triumph: Wenn der Papst „ex cathedra“ eine Wahrheit des Glaubens oder der Sitten für von Gott geoffenbart erklärt, dann ist er „untäuschbar“, „infallibel“. Im Deutschen hat sich dafür das unglückliche Wort „unfehlbar“ etabliert, dieses ist irreführend. Denn der Papst ist im Verhältnis zu den Glaubenswahrheiten immer passiv: er erfindet sie nicht unfehlbar, sondern er ist „nur“ untäuschbar, wenn er ihnen in einem feierlichen ausdrücklichen Akt den Charakter des Geoffenbartseins zuspricht.

Am Fest der Kathedra Petri (22. Februar) wird uns das matthäische Jesuswort zu Petrus vorgelesen: „Auf diesen Petrus will ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie, die Kirche, nicht überwältigen“ (Mt 16,18). Non praevalebunt! Das ist der Inhalt der dogmatischen Wahrheit der Untäuschbarkeit des Bischofs von Rom, dass es um die gesamte Kirche geht: dass nämlich diese von Christus gegründete und von ihr in der Kraft des Heiligen Geistes weiterbeseelte Kirche unzerstörbar ist. Der Grund dafür liegt nicht in ihr selbst, sondern in Christus, den die Kirche zu bezeugen und zu verkünden hat. Wenn wir in den Symbola sagen: „Credo Ecclesiam“, also die Kirche selbst als Glaubensinhalt bekennen, dann ist sie auch darin Gegenstand des Glaubens, dass sie eine eschatologische Größe ist, dass sie sich dem Heilswillen Gottes verdankt.

Und daher unterliegt sie nicht der Hinfälligkeit sonstiger menschlicher Institutionen. Die Franzosen sagen: „Les dieux s’en vont!“ – „Die Götter kommen und gehen!“ Wir hatten eben einen postmodernen Esoterik-Boom, jetzt hat sich das ganze verflacht zum Wellness-Boom, dazwischen haben wir einen Islam-Boom, und vielleicht kommt auch wieder ein „Katho-Boom“. Das Kontinuierliche ist dieses Gebilde des Heiligen Geistes, der fortlebende Christus: die eine, heilige, katholische Kirche. Und der Herr selbst hat für diese Kontinuität gesorgt. Nicht nur durch Petrus, der seit dem 1. Vatikanum sosehr im Mittelpunkt steht.

Petrus war ja nicht allein. Unser Herr Jesus Christus wollte die Fülle Israels, ja die gesamte Menschheit retten. Das ist der Grund, warum die Zahl 12 für den Kreis von Jüngern eine Rolle spielt, die er um sich sammelt, denn 12 steht für die 12 Stämme Israels, also für die Gesamtheit des Volkes.

Interessant ist, dass sich niemand selbst in diese Jüngerschaft drängt, sondern Jesus ruft mit absoluter Souveränität, er wählt aus: „Er rief zu sich, die er wollte!“ (Mk 3,13). Und sonst keine. Die Jünger müssen eine harte Schulung in der Nachfolge ihres Meisters durchmachen. Die Evangelien berichten ungeschminkt von Unverständnis und Oberflächlichkeit, von Ehrgeiz und Neid, ja letztlich vom Verrat dieser Männer, denen Jesus doch eine so wichtige Aufgabe zugedacht hatte.

Ihr Leben sollte die Sendung fortsetzen, die er, der ewige Sohn, von seinem Vater her für die Welt empfangen hatte. Sie sollten Lichtstrahlen des Lichtes sein, das er selbst ist. Daher nennt er sie „Apostel“ (Lk 6,13), das heißt: „Gesendete“ – „Botschafter“ – „Missionare“…

2. Die Bischöfe sichern die Unzerstörbarkeit der Kirche

Im dritten Hochgebet heißt es: „Du hörst nicht auf, Dir ein Volk zu bereiten, damit Deinem Namen das reine Opfer dargebracht wird vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang.“ Gott hört nicht auf, sich dieses Volk zu bereiten, das seinen Namen bekennt, seine Gnade durch die Sakramente in die Welt trägt und den Gott, der die Liebe ist, durch Hingabe zu bezeugen. Das ist der Glaube an die so genannte  „Indefektibilität“ bzw. „Integrität“. Die „Unzerstörbarkeit“ der Kirche bekennen wir ohne Triumphalismus, denn sie ist kein Selbstzweck, sondern sie folgt einem von Gott gewollten Zweck: Kirche existiert final, „damit“ Gott verherrlicht wird. Und ein Blick in die Kirche zeigt: Je mehr man auf die Christen einschlägt, je mehr man sie marginalisiert oder martyrisiert, umso lebendiger wird sie in übernatürlicher Hinsicht. Tertullian hat recht: Sanguis martyrum semen christianorum! Das gilt auch für heute, auch wenn wir nicht – zumindest nicht im Westen – das rote Blutmartyrium erleiden, sondern das graue Martyrium des beschädigten oder gar zerstörten Rufes, der besudelten Ehre.

Nochmals zum 1. Vatikanum: Die Väter staunten damals selbst: Alle waren sie ausgezogen, die Kirche umzubringen: Voltaire, Diderot und die Enzyklopädisten, Joseph II., Napoleon, Bismarck, die laizistischen und freimaurerischen Regierungen des 19. Jahrhunderts. Und da stand sie prachtvoll da im Jahre 1870 mit ihrem seligen Pius XI. Die Väter ließen sich dazu hinreißen, in der Konstitution über die Offenbarung („Dei Filius“) die Unbesiegbarkeit der Kirche sogar als Gottesbeweis anzuführen. Nicht in der Konstitution über die Kirche, sondern in der über die Offenbarung Gottes sagen sie, dass die Existenz Gottes ja durch das bloße Vorhandensein der Kirche bewiesen wird: „ob suam nempe admirabilem propagationem, eximiam sanctitatem et inexhaustam in omnibus bonis foecundidatem, ob catholicam unitatem invictamque stabilitatem…“ – „wegen ihrer wunderbaren Ausbreitung, außerordentlichen Heiligkeit und unerschöpflichen Fruchtbarkeit an allem Guten, wegen ihrer katholischen Einheit und unbesiegten Beständigkeit“. Die Kirche ist, ich zitiere wieder, „ein mächtiges und fortdauerndes Motiv der Glaubwürdigkeit und ein unwiderlegbares Zeugnis göttlicher Sendung."[1] Die Väter waren damals 1870 ähnlich euphorisch über die „invicta stabilitas“ der Kirche wie ihre Vorfahren auf dem Chalcedonense 451 nach der Verlesung des Tomus ad Flavianum des großen Papstes Leo. So wie 451 die Bischöfe riefen: Durch Leo hat Petrus gesprochen –, so klingt aus der Formulierung von 1870 der Jubel durch: Durch die jüngste Geschichte der Kirche hat Gott selbst die Wahrheit seiner Kirche geoffenbart.

Die dogmatische Dimension des Bischofsamtes ist nicht verständlich, wenn das Mysterium der Kirche nicht verstanden wird. Auf dem 2. Vatikanum 1962-1965 ging es, wie gesagt, zentral um die Kirche. Die wichtigste der vier Konstitutionen – eine der zwei dogmatischen Konstitutionen des Konzils, nämlich jene über die Kirche – beginnt mit einem Begriff aus dem Lukas-Evangelium, wo Jesus als das „Lumen Gentium“ (Lk 2,32), als das „Licht der Heidenvölker“ gepriesen wird. Im Ohr klingt dabei auch der Jubelruf der Osternacht auf, wo die Osterkerze den auferstandenen Christus symbolisiert, den Sieg über die Finsternis von Tod und Sünde: „Lumen Christi!“„Lumen Gentium“ bezieht sich nicht auf die Kirche, sondern auf Christus: „Das Licht der Völker ist Christus.“ Und dann wird gesagt, dass sich der Glanz dieses Lichtes auf dem Antlitz der Kirche widerspiegelt.

Die Kirche war als einzige Institution – was man heute wegen einer massiven Gegenpropaganda leicht vergisst – unbeschadet aus dem Grauen der Nazidiktatur und des 2. Weltkrieges hervorgegangen. Sie hatte nicht kollaboriert, sie war im Gegenteil – im ganzen gesehen – die einzige Institution des ernstzunehmenden geistigen Widerstandes. Freilich würde man sich mehr Katholiken wie Schwester Restituta Kafka, Jakob Gapp, Franz Jägerstätter, Bernhard Lichtenberg, Karl Leisner, Nikolaus Groß, Alfred Delp, P. Ingbert Naab OFMCap, Bischof August Graf von Galen, P. Rupert Maier SJ oder Pfarrer Otto Neururer wünschen. Stellvertretend für Tausende sind sie bereits selig gesprochen. Nach dem Weltkrieg kam eine große Blüte, man war gläubig, in der pianischen Kirche war auch alles wohlgeordnet, der Wirtschaftsaufschwung, ja das Wirtschaftswunder, war von einem Glaubenswunder begleitet.

Da wollten die Väter des 2. Vatikanums 1962 natürlich demütig sein. Aus dieser Position der Stärke, der Geschlossenheit, respektiert von aller Welt, konnte man leicht die Waffen begraben, mit denen man bisher sich gegen all die anti-theistischen, anti-christlichen und anti-kirchlichen Kräfte gestemmt hatte.

Ein Konzil, das die erste Konstitution mit den Worten „Sacrosanctum Concilium“ beginnen lässt, war demütig (und keineswegs gedemütigt wie heute!) aus einer Position der Stärke und des Selbstbewusstseins heraus. Was die Unzerstörbarkeit der Kirche betrifft, so war man im Ton bescheidener, in der Sache jedoch gleich konsequent: Während das 1. Vatikanum noch der Kirche „in globo“ die Unveränderlichkeit, die Unzerstörbarkeit, die Heiligkeit zuschreibt, so differenziert die Kirchenkonstitution des 2. Vatikanums: Die Väter streichen den ebenso seltsamen wie leidvollen doppelgesichtigen Charakter der Catholica heraus: Die heilige Kirche umfasst einerseits „Sünder in ihrem eigenen Schoß."[2] Zugleich ist sie andererseits „unzerstörbar heilig“. Von dieser Polarität von Sünde und Heiligkeit wird freilich das Leuchten der Heiligkeit stärker betont: „Es ist Gegenstand des Glaubens, dass die Kirche, deren Geheimnis die Heilige Synode vorlegt, unzerstörbar heilig ist."[3]

3. Der Bischof vergegenwärtigt Christus in seinen Dimensionen als Hirt, Priester und Lehrer

Die ekklesiologische Fundamentierung ist wichtig, um das Bischofsamt zu verstehen: Es gibt in der katholischen Kirche eine totale, absolute Christozentrik: nichts ist für sich selbst (nicht das Leitungsamt, nicht die Sakramente, nicht die institutionellen Strukturen usw.), sondern alles ist durch Christus, mit Christus und in Christus. Und diese Christusfunktionalität, Christuspersonalität, Christuspräsenz ereignet sich mittels der Apostel, deren Amt in den Bischöfen fortlebt. Jesus bezeichnet sich selbst als den „guten Hirten“, der sein Leben hingibt für die Seinen (Joh 10,1-39). Das ist nicht nur eine Selbstdefinition, sondern eine Mahnrede an seine Apostel, die er am Ende seines irdischen Wirkens aussenden wird: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!“ (Mk 16,15).

Der Anspruch ist universal: „alle Geschöpfe“, die Aufgabe daher eindeutig eine Überforderung! Aus Eigenem gibt es kein „Apostolat“ in diesem umfassenden Sinn, aus eigener Kraft muss ein solcher Auftrag scheitern. Das Apostelamt ist ein Amt zum Scheitern. Apostelfeste werden ja in blutroter Farbe gefeiert, weil alle – außer Johannes – das Martyrium erlitten. Doch dieses Scheitern ist Sieg. Denn die Gleichförmigkeit mit dem am Kreuz „Gescheiterten“ ist identisch mit der Gleichförmigkeit mit dem in der Auferstehung Siegenden. Jesus sagt: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab; wer aber mich ablehnt, der lehnt den ab, der mich gesandt hat“ (Lk 10,16). Und bei seiner Verabschiedung in die Transzendenz des Himmels gibt er die kraftvolle Zusage: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).

Und so sind die Apostel hinausgezogen. Von Anfang an haben Sie ihre Sendung weitergegeben, indem sie Nachfolgern die Hände aufgelegt haben (1 Tim 5,22), sodass sie mit ihrem ganzen Sein hingeordnet (ordinare ist das lateinische Wort, das wir heute mit „weihen“ übersetzen) wurden für diesen Dienst, in dem Christus selbst gegenwärtig sein möchte. Schon Irenäus von Lyon (ca. 135 bis 202) bezeugt, dass die Apostel Bischöfe einsetzten. Für diese geweihten Apostelnachfolger hat die junge Kirche den Begriff „episkopos“ verwendet, davon leitet sich unser deutsches Wort „Bischof“ ab. Der griechische Ausdruck heißt wörtlich: Aufseher, der, der alles überschaut und beaufsichtigt. Man hat bewusst einen profanen Ausdruck gewählt – der Bischof ist der Vorarbeiter, der Polier, also der, der auf Erden für das Funktionieren der Heilsweitergabe sorgt. Der Chef ist und bleibt nämlich Christus selbst! Und auch der Papst ist nur sein „Vikar“, sein „Statthalter“ auf Erden: Versichtbarung einer unsichtbaren Wirklichkeit.

Das 2. Vatikanische Konzil musste, da es viel über die Kirche handeln wollte, viel über die Bischöfe handeln. Natürlich musste man auch austarieren; denn mit dem 1. Vatikanum und der Super-Definition der Infallibilität des Papstes war der Eindruck entstanden, als bestünde die Kirche nur aus dem Papst und die Bischöfe wären nichts anderes als die Filialleiter von Papstes Gnaden. Pius IX. selbst hat hier durch die deutschen Bischöfe den Unterstellungen von Bismarck und Döllinger widersprochen. Jedenfalls: Das Bischofsamt wurde theologisch durch das 2. Vatikanum aufgewertet. Ein eigenes dickes Dekret mit dem bezeichnenden Titel „Christus Dominus“ handelt über die Bischöfe. Der Bischof ist gleichsam „Christus am Ort“, er leitet die ihm anvertrauten Gläubigen seiner Diözese als Lehrer, Hirt und Priester (LG 21, CD 2, KKK 1558). Diese Lehre steht ungebrochen in der Nachfolge des Konzils von Trient und des 1. Vatikanums: „Darum lehrt die Kirche, dass die Bischöfe aufgrund göttlicher Einsetzung an die Stelle der Apostel nachgerückt sind, gleichsam als Hirten der Kirche; wer sie hört, hört Christus, und wer sie verachtet, verachtet Christus und den, der Christus gesandt hat“ (LG 20).

Die Bischöfe konnten sich über die dogmatische Klarheit, mit der ihr sakramentales Amt auf dem 2. Vatikanum beschrieben wurde, freuen. Hatte noch Thomas von Aquin gemeint, dass das Bischofsamt nur ein rein juridisches Plus gegenüber dem Priestertum darstellt – also der Bischof nur ein Priester mit mehr Rechten –, so dürfen sich nach dem 2. Vatikanum die Bischöfe ihres Stabes, ihrer Mitra und ihres Rings auch aus theologischen Gründen erfreuen: Das heilige Lehr-, Hirten- und Heiligungsamt Christi selbst drückt sich in ihnen aus: in ihnen „west“ die Fülle des ewigen Hohenpriesters Christus. Daraus folgt, dass die beiden anderen Stufen der Weihe – die Priester und die Diakone – nur unter der Leitung des Bischofs ihr Amt ausüben können.

Zur Nachgeschichte des Konzils mit seiner Betonung des Bischofsamtes (also zur Theologie des Bischofsamtes im 3. Kapitel von „Lumen Gentium“ und im Dekret „Christus Dominus“) gehört auch die Bischofssynode 2001 in Rom zum Thema „Der Bischof – Diener des Evangeliums Jesu Christi für die Hoffnung der Welt“, deren Resultat das Apostolische Schreiben „Pastores Gregis“ von 2003 ist.[4] Interessant sind dort im 2. Kapitel die ungewöhnlich breiten – und vielleicht auch notwendigen – Ausführungen über „Das geistliche Leben des Bischofs“. Bischof-Sein ist nicht bloß eine „existentia“, sondern eine „pro-existentia“.

An „Pastores Gregis“ ist auffallend, dass großes Gewicht auf die persönliche Glaubwürdigkeit der Träger des bischöflichen Amtes gelegt wird: die Autorität in der Kirche sei eine Vollmacht, die aus dem Zeugnis hervorgeht. Der Bischof ist dann glaubwürdig, wenn er zeigt, dass er ein „Mann Gottes“ ist. Das Bischofsamt ist ja kein Selbstzweck, sondern ein notwendiger – wenn auch übernatürlicher – Sicherungsmechanismus, durch den sich Christus selbst seiner Kirche als Guter Hirte sakramental eingestiftet hat. Christus selbst hat die „Hierarchie“, also die „heilige Ordnung“ begründet (hierarchia heißt griechisch: heilige Ordnung, heiliger Ursprung, heiliges Fundament). Der Hirtenstab, den der Bischof trägt, verweist auf niemand anderen als auf Christus, den guten Hirten. Der interessante Hut, die Mitra, den die Bischöfe aufhaben – nicht nur um ein bisschen größer zu wirken –,  ist der Mütze des Hohenpriesters in Jerusalem nachempfunden. Die Mitra bezeugt die Kontinuität der Erwählung, sie bezeugt auch die Fülle der beiden Testamente durch ihre zwei Spitzen und die zwei nach hinten weghängenden Bänder (Infel). Sie bezeugt auch symbolisch das, was im Weiheritus ausgedrückt wird: Während der weihende Bischof das Weihegebet spricht, halten zwei Diakone das geöffnete Evangeliar über dem Haupt des zu weihenden, um gleichsam den im Evangelium selbst sprechenden Christus in dem Geweihten gegenwärtig zu machen („Weihe eines Diakons“, Nr. 37). Das eigentliche Zeichen des Bischofs ist aber sein Lehrstuhl, die Kathedra (kathedra ist griechisch und heißt: Stuhl, Sessel), die im Altarraum der Bischofskirche aufgestellt ist. Daher nennt man Bischofskirchen ja auch: „Kathedrale“, wörtlich: „Lehrstuhlkirchen“.

Ein Bischof muss vieles: ordnen, leiten, heiligen, auch in der Öffentlichkeit die Kirche repräsentieren usw. – vor allem aber muss er die Botschaft Christi treu und unverfälscht verkünden. Und hier hat er einen besonderen Beistand des Heiligen Geistes. Er kann nicht verkünden, „was man sich so denkt“, oder „was der Zeitgeist flüstert (oder brüllt)“, sondern was die Kirche glaubt. Er vertritt nicht aus Eigeninteresse eine Meinung. Er lehrt nicht zu seinem eigenen Vorteil, sondern er lässt sich lieber prügeln und schimpfen und verachten.

4. Die Bischöfe üben ihr Amt in „Kollegialität“ aus

Das 2. Vatikanum hat die Bischöfe aufgewertet und zugleich eingeordnet, zugeordnet, ja schlechthin geordnet. Und zwar durch das Kriterium der so genannten Kollegialität. Der dogmatische Ausdruck „Kollegialität“ ist ein ekklesiologischer Fachterminus und hat nichts mit dem zu tun, was wir umgangssprachlich unter Kollegialität verstehen, also Freundschaftlichkeit, Fairness, Teamgeist und Brüderlichkeit – auch wenn es den Bischöfen durchaus ansteht, wirklich „kollegial“ miteinander umzugehen im Sinne von unprätentiös, liebenswürdig, freundschaftlich… – eben: „kollegial“.

Die „Kollegialität“ im theologischen Sinn ist ein Kriterium, das den einzelnen Bischof – egal welcher Funktion er sich erfreut – in seiner Lehrtätigkeit korrigiert bzw. bestätigt: Bischof ist man nämlich niemals für sich allein: Das Bischofsamt entkleidet den Geweihten seiner individuellen Vereinzeltheit und integriert ihn in ein übergeordnetes Ganzes, das den Namen Bischofskollegium trägt. Christus hat nicht nur einen einzelnen Apostel berufen, sondern ein „Kollegium“ von „Zwölf“, um die Gesamtheit der Stämme Israels darin abzubilden. Daher sagt der KKK 1444 klar und deutlich, dass die Vollmacht, die Christus dem Petrus gab, auch dem gesamten Kollegium gilt und umgekehrt.[5] Der katholische Bischof ist keine omnipotente Einzelfigur, sondern er repräsentiert Christus nur insofern, als er Glied des Bischofskollegiums ist.[6] Die kollegiale Natur des Episkopats zeigt sich schon an den beiden Umständen, dass erstens bei der Weihe eines neuen Bischofs mehrere Bischöfe mitwirken. Und zweitens erfolgt die rechtmäßige Weihe nur in der Einheit mit dem Bischof von Rom.[7]

Wir halten also fest: Die Kirche selbst ist unzerstörbar. Das Bischofsamt – und hier herausragend das Amt des Petrusnachfolgers – ist ein Aspekt dieser Indefektibilität der Kirche. Durch seine Lehre, in Kollegialität mit dem Papst und den Bischöfen, nimmt der Bischof teil an der Infallibilität, die Christus seiner Kirche garantiert hat, und er hält sie selbst in der Wahrheit. Wenn der Papst und die Bischöfe heute Unbequemes verkünden, dann nicht deshalb, weil sie „Ideologen“ sind, sondern weil es die Wahrheit ist, die frei macht. Wäre es anders, wäre die Kirche schon längst untergegangen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2007
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[1] DH 3013.
[2] 2. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ Nr. 8.
[3] Ebd., Nr. 39.
[4] G. Bausenhart: Das Nachsynodale Schreiben Pastores Gregis (2003), in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg 2005, 3,299.
[5] KKK 1444: „Es steht ‚fest, dass jenes Amt des Bindens und Lösens, das Petrus gegeben wurde, auch dem mit seinem Haupt verbundenen Apostelkollegium zugeteilt worden ist (vgl. Mt 18,18; 28,16-20)’ (LG 22).“
[6] LG 22.
[7] Vgl. KKK 1559.

Anliegen zur Ausübung des Bischofsamtes

An seine theologischen Überlegungen fügte P. Wallner einige persönliche Anliegen zum Auftreten der Bischöfe in der Öffentlichkeit an.

Von Karl Josef Wallner OCist

Einige persönliche Anmerkungen: Man darf von Bischöfen, Äbten oder Oberen nicht alles erwarten. Je mehr ich als Rektor einer Hochschule selber Entscheidungen über Glück und Unglück, Zukunft und Ende fällen muss, desto mehr fühle ich mich überfordert. Vor allem bedrückt es, wenn einem als kirchlichen Verantwortlichen gleichsam „der andere“, „der Mitbruder“, „der Student“, „der Professor“ vorgeworfen wird, als wäre man an deren Fehlverhalten schuld, oder als könne man dieses mit einem strengen Wort, einem klärenden Brief, einer ernsten Mahnung – Schnipp-Schnapp – beseitigen.

Ähnlich wie der Ehemann, der mir in einer Ehekrise eine genaue Analyse seiner Ehe auf drei A4-Seiten vorgelegt hat. Und was glaubt er dann: Dass er das nur seiner Frau vorlesen muss, sie sagt: Okay, das sehe ich ein. Und dann ist alles wieder gut? – Der hl. Benedikt sagt, der Abt müsse bedenken, dass er nicht die „Tyrannei über gesunde Seelen“, sondern die „medizinische und psychologische Versorgung kranker Seelen“ zu bewältigen hat. Ein schiefer Blick des Bischofs kann unter Klerikern jahrzehntelange Beleidigtheit, Depression und manchmal auch Aggression schaffen. Wir müssen viel für die Bischöfe beten, mit ihnen leiden und noch mehr für sie leiden! Trotzdem erlaube ich mir, Wünsche zur Ausübung des Bischofsamtes auszusprechen:

1. Die Bischöfe müssen fachgerecht mit den Medien umgehen.

Wir brauchen mediengeschulte Bischöfe, gute Mediensprecher. Kurz und pointiert. Der Mediensprecher muss nicht immer dem hierarchischen Rang entsprechen, aber er muss mit den Medien umgehen können. Sachlich, freundlich, klar und präzise. Ambrosius und Augustinus wären nicht die großen Kirchenlehrer geworden, hätten sie nicht ordentlich Rhetorik gelernt. Das war damals die Kunst des Auftretens, des Argumentierens und des Plausibilisierens, das vor allem Anwälte brauchten.

2. Die Bischöfe müssen in den Medien präsent sein.

Und zwar auch in den kontroversen Medien. Das ist ihr Amt. Der hl. Ignatius von Antiochien, der es wünschte, von den Löwen zerrissen zu werden, sei hier in Zukunft unser Fürsprecher. Wir brauchen solche mutigen Bischöfe; denn die Medien sind die „Kathedra“ der säkularen Gesellschaft. Wir sollten sie besser nützen.

3. Die Bischöfe müssen in ihrem Auftreten einmütig sein.

Die dogmatische Kollegialität muss sich als menschliche und auch als medialpräsente Kollegialität zeigen. Sie müssen sich gut koordinieren. Oft ist Koordination auch eine Frage der Technik. Und die Einordnung in die Kollegialität erfordert Disziplin.

4. Die Bischöfe müssen klar undverständlich sprechen.

Ein „Ja-aber“ ist zu wenig, vor allem wenn das „Aber“ das „Ja“ wieder negiert. Das Bischofsamt verlangt Ausgewogenheit. Aber in der plakativen Medienwelt braucht es auch das pointierte Statement. Bischofsworte und auch römische Schreiben sind oft zu lang. Alles sehr klug, aber ungriffig. Vor einer 10-seitigen Enzyklika Pius XII. erbebte die Kirche, vor zehn Mal so langen Papieren erbeben nur noch jene, die sich von Amts wegen in Pflicht genommen fühlen, das auch zu lesen. Fatal ist dabei, dass sich die Medien ohnehin nur die „hot spots“ suchen, also die Sensationsmacher, die sie dann meist zuungunsten der Kirche plakativ aufbauschen. Außerdem muss die Kirche in den Medien häufiger und lauter von Gott sprechen, gleichsam müsste Gott in jedem Satz vorkommen! Wir stehen im Wettbewerb mit anderen theozentrischen Religionen und müssen Gott als den Hintergrund all unseres Tuns und unseres Handelns aufleuchten lassen.

5. Die Bischöfe müssen volksnah sein.

Das bedeutet nicht die Jovialisierung des Bischofsdienstes, doch gehört der Bischof „unter die Leute“! Bischöfe dürfen nicht nur „für ihre Gremien leben und sprechen“. Die Gremien und Räte müssen reduziert werden. „Rat“ heißt auf Russisch „Sowjet“. Ist die Kirche heute nicht eine Art unbewegliche „Sowjetunion“ geworden, wo wunderschöne Protokolle, Papiere und Leitlinien verfasst werden, aber der Effekt auf das Leben gleich null ist? Fällt uns nicht das Fehlen der Früchte auf? Immer mehr Papier, immer mehr Fachartikel, immer mehr Bücher stehen immer weniger Gläubigen gegenüber! Die Kirche lebt aber vom Volk Gottes her, und der Bischof muss dieses Volk kennen und seine Sprache sprechen. Konkret könnte es um eine Intensivierung der Einrichtung der Visitationen gehen. Das war ja das Reformmittel des Tridentinums. Der heilige Reformbischof Karl Borromäus sollte hier Vorbild und Fürsprecher sein.

6. Die Bischöfe müssen ostentativ eins mit dem Petrusamt sein.

Sie dürfen sich ruhig trauen, deutliche Zeichen der Einheit mit dem Papst zu setzen. Animositäten gegen „den Vatikan oder Rom“ gehören nicht in die Öffentlichkeit, auch wenn es Manches an der Kurie auszusetzen gibt. Ein „antirömischer Affekt“ hat die Kirche noch nie fruchtbar gemacht. Unfair ist auch das verbale Abschieben der Verantwortung in unliebsamen Punkten auf „Rom“ oder den „Vatikan“.  Die Verantwortung, die das 2. Vatikanum dem einzelnen Bischof zuspricht, muss er auch dann tragen, wenn es um Unpopuläres geht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Die „intellektuelle Erkrankung“ der Gesellschaft

Benedikt XVI. besuchte im Herbst dieses Jahres Österreich. Am 7. September 2007 hielt er in der Wiener Hofburg eine vielbeachtete Rede, in der er auch auf das Thema Abtreibung einging. Weihbischof Dr. Andreas Laun zeigt auf, was der Papst tatsächlich gesagt hat. Die Reaktionen auf die Ansprache sind für ihn entlarvend. Sie offenbaren den Zeitgeist, der auch in Kreise eingedrungen ist, die sich als christlich verstehen. Laun macht sich dabei eine Aussage der US-Bischöfe zueigen, die bereits 1998 von einer „intellektuellen Erkrankung“ der Gesellschaft gesprochen haben.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

I. Papst Benedikt XVI. zur Abtreibung in seiner Rede in der Wiener Hofburg

In „Europa ist zuerst der Begriff der Menschenrechte formuliert worden. Das grundlegende Menschenrecht, die Voraussetzung für alle anderen Rechte, ist das Recht auf das Leben selbst. Das gilt für das Leben von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende. Abtreibung kann demgemäß kein Menschenrecht sein – sie ist das Gegenteil davon. Sie ist eine ,tiefe soziale Wunde‘, wie unser verstorbener Mitbruder Kardinal Franz König zu betonen nicht müde wurde.

Mit alledem spreche ich nicht von einem speziell kirchlichen Interesse. Vielmehr mache ich mich zum Anwalt eines zutiefst menschlichen Anliegens und zum Sprecher der Ungeborenen, die keine Stimme haben. Ich verschließe nicht die Augen vor den Problemen und Konflikten vieler Frauen und bin mir bewusst, dass die Glaubwürdigkeit unserer Rede auch davon abhängt, was die Kirche selbst zur Hilfe für die betroffenen Frauen tut.

Ich appelliere dabei an die politisch Verantwortlichen, nicht zuzulassen, dass Kinder zu einem Krankheitsfall gemacht werden und dass die in Ihrer Rechtsordnung festgelegte Qualifizierung der Abtreibung als ein Unrecht nicht faktisch aufgehoben wird.“

II. Reaktionen auf die Papstrede

In einer Zeit, in der sogar eine Organisation wie „Amnesty International“, die für die Verteidigung der Menschenrechte angetreten war, Abtreibung als rechtmäßig anerkennt und ebenso „Ärzte ohne Grenzen“ bereit sind, Abtreibungen durchzuführen, und Politiker Abtreibung im Widerspruch zum Gesetzbuch ihres Landes als „Menschenrecht“ bezeichnen, internationale Konferenzen abgehalten werden, um Abtreibung weltweit noch „sicherer“ zu machen,  mussten diese Sätze Aufsehen erregen, obwohl sie die liberale Gesetzgebung auch in Österreich nicht einmal direkt ansprach. Aber die erregte Reaktion zeigt eigentlich nur, wie weit die „intellektuelle Erkrankung“ der Gesellschaft fortgeschritten ist (so die US-Bischöfe[1]): Worin besteht der Neuheitswert oder gar das Sensationelle solcher Worte, da der Papst doch nur wiederholte, was das kirchliche Lehramt schon immer, oft und viel ausführlicher gesagt hat?

Nach der Rede des Papstes beeilten sich Politiker aller größeren Parteien Österreichs zu betonen, dass an der Fristenregelung nicht zu rütteln sei, und die APA, die Österreichische Presse-Agentur, konnte  unter dem Titel „Fristenlösung nicht gemeint“ sogar melden: „Unterdessen stellten kirchliche Stellen klar, der Papst habe bei seiner Rede am Freitag in der Hofburg keine Abschaffung der österreichischen Fristenlösung gefordert: Benedikt XVI. habe an die politisch Verantwortlichen appelliert, dass Abtreibung weiter wie bisher als ein Unrecht gelten solle. Der Pressesprecher der Erzdiözese Wien, Erich Leitenberger, sagte, der Papst habe offensichtlich auf Bestrebungen Bezug genommen, Abtreibung aus dem Strafrecht herauszunehmen. Solche Bestrebungen gebe es wie in anderen Ländern auch in Österreich.“

III. Die Position des Papstes

Was der Papst „wirklich gesagt hat“, kann jeder nachlesen. Tatsache ist: Er hat das Wort „Fristenregelung“ nicht in den Mund genommen. Offen bleiben aber zwei Fragen: Was ergibt sich logisch aus dem, was der Papst gesagt hat? Und: Was will und denkt der Papst bezüglich Fristenlösung wirklich?

Zunächst: Was die „Fristenlösung“ betrifft, ist der Standpunkt der Kirche klar und unverändert, weil ihr Standpunkt zur Abtreibung unveränderlich ist: Abtreibung ist „Mord“. Und zur Frage der Gesetzgebung sagte Papst Johannes Paul II.: Abtreibung frei gebende Gesetze haben nur den „tragischen Schein einer Legalität“ (in EV 20). Und Papst Benedikt XVI. im Jahr 2007 in Wien: Abtreibung ist das „Gegenteil“ eines Menschenrechtes. Dann zitiert der Papst noch Kardinal König mit seinem berühmten Wort: Die Fristenlösung ist eine „tiefe soziale Wunde“. In eben diesem Sinn sprachen die österreichischen Erzbischöfe: Die Fristenlösung ist ein „nicht annehmbarer Zustand“, so Kardinal Schönborn und Erzbischof Kothgasser: Abtreibung ist „die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen und daher ein schweres Unrecht, das niemals gerechtfertigt werden kann!“ Daraus folgt: „Gesetze, die Abtreibung, Euthanasie und Beihilfe zum Selbstmord erlauben, sind zutiefst unrecht, und wir sollten friedlich und unermüdlich daran arbeiten, ihnen zu widerstehen und sie zu ändern“ – so nochmals die US-Bischöfe!

Angesichts dieser kirchlichen Position: Wer sagt, der Papst wollte keine Änderung der Fristenlösung, behauptet, er, der Papst, hätte sich von der stets gleich bleibenden Lehre der Kirche verabschiedet und wäre in dieser Frage ein „Liberaler“ geworden! In Anbetracht seiner Rede in Wien würde es bedeuten: Der Papst halte den rechtlichen Schutz eines Menschenrechtes für unnötig oder gar für falsch! Noch einfacher wird es, zu erkennen, was der Papst denkt und will, wenn man die Antwort im Bild von der „offenen Wunde“ sucht: Wer meint, die Fristenlösung solle bleiben, vertritt die absurde Auffassung, es könne einen Menschen geben, der sich wünscht, dass die beklagte offene Wunde offen bleibe und offen gehalten werde! Es ist zwingend logisch: Wer die Fristenlösung eine „offene Wunde“ nennt, ist zugleich überzeugt, dass sie abgeschafft werden sollte – weil nur die Abschaffung dieses Gesetzes und der erneuerte Schutz auch für die Ungeborenen entspricht der „Heilung“, die im Bild von der „Wunde enthalten ist.

Wer immer noch meint, Papst Benedikt XVI. wäre mit der Fristenlösung irgendwie einverstanden, wenigstens im Sinn einer Resignation, muss ihn für schizophren halten: Erst vor kurzem lobte Benedikt XVI. Politiker aus Nicaragua ausdrücklich für ihr Bemühen, das menschliche Leben zu schützen, und er bedankte sich für die Einschränkung der Abtreibungs-Gesetze – durch ein seit einem Jahr gültiges absolutes Abtreibungsverbot! Die Antwort auf die Frage lässt sich auch aus dem Gebetsanliegen des Papstes für November 2007 ableiten: „Dass diejenigen, die sich der medizinischen Forschung widmen und im Bereich der Gesetzgebung tätig sind, stets tiefen Respekt für das Menschenleben empfinden, von dessen Beginn bis zu seinem natürlichen Ende.“ Die Belege für das katholische Nein zu Gesetzen wie demjenigen der österreichischen Fristenregelung ließen sich leicht vermehren: mit weiteren Belegen aus dem Mund des Papstes und aus der ganzen Weltkirche!

Dass die Worte des Papstes in Österreich, wenn auch nur für kurze Zeit, eine solche Unruhe hervorgerufen haben, zeigt, wie offen diese Wunde tatsächlich immer noch ist! Von einer ruhigen Überzeugung derer, die die Fristenlösung praktizieren und verteidigen – Überzeugung, das Richtige zu tun! –, kann keine Rede sein.

IV. Argumente, die die Abschaffung der Fristenlösung als zwingend erscheinen lassen

Wer wirklich auf Papst Benedikt XVI. hört und seine Worte zum Menschenrecht auf Leben ernst nimmt, will, dass die Fristenlösung abgeschafft wird. Dafür gibt es mehr als nur einen guten, zwingenden Grund:

Das erste Opfer der Abtreibung ist der Mensch, der getötet wird. Es ist nicht eine Glaubensfrage, sondern ein wissenschaftlich abgesichertes Faktum: Der Mensch beginnt mit der Empfängnis; wer abtreibt, tötet einen Menschen. Wer den Schutz des Gesetzes für alle Menschen fordert, fordert auch den der ungeborenen Menschen und fordert damit die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz.

Das zweite Opfer der Abtreibung ist die Frau, die in ihrer Weiblichkeit tief verletzt wird. Zudem gibt man sie quälenden Gewissensbissen preis; sie wird wahrscheinlich an PAS leiden und in vielen Fällen wird sie in ihrem Alter einsam sein – und an die Kinder denken, die gehabt hätte!

Das dritte Opfer ist der Rechtsstaat: Die Menschenrechte sind unteilbar! Wer das Recht auf Leben missachtet, missachtet auch alle anderen Menschenrechte und zerstört damit auf längere Sicht das Fundament, auf dem der Rechtsstaat aufbaut. Mutter Teresa: „Abtreibung ist die größte Gefahr für den Weltfrieden.“

Das vierte Opfer ist Europa in seiner physischen und kulturellen Existenz: Europa leidet mehr und mehr unter den Folgen des Kindermangels, und das wissen heute bereits alle Menschen und alle Parteien. Notwendig ist, gegen alle politische Korrektheit und Zensur der „Meinungs-Moralisten“ nach den Hauptursachen dieser Entwicklung zu fragen: nach Verhütung und Abtreibung! Man tut es nicht, weil man die Fristenlösung in Frage stellen müsste!

Darum fordert die Kirche: Alle Gesetze, die Abtreibung ermöglichen, sollten abgeschafft werden und die Gesetze, die den Menschen schützen, sollten auf die Ungeborenen ausgedehnt werden. Denn wir wissen sehr wohl, wer die Ungeborenen sind, und wir wissen auch, dass wir ihre Brüder und Schwestern sind – und dass Gott uns einst fragen wird wie den Kain nach seinem Bruder Abel. Und auch Kain hat gemeint, er könnte sich mit „Nichtwissen“ aus der Verantwortung stehlen. Es hat ihm nichts genützt!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2007
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[1] „Das Evangelium des Lebens leben“ – Hirtenbrief der US-Bischöfe zum „Evangelium des Lebens“ vom 24.11.1998.

Vom Widerstand der Liebe

In der Rede, die Christa Meves anlässlich der Festakademie zum 65. Geburtstag von Weihbischof Dr. Andreas Laun gehalten hat, spiegelt sich zuallererst ihr eigenes Lebenswerk wider. Auf prophetische Weise hatte sie schon vor Jahrzehnten die verhängnisvolle Entwicklung unserer Gesellschaft vorausgesehen. Fast vollkommen alleingelassen erhob sie sich mit all ihren Kräften gegen den Zeitgeist. Es ist nur allzu verständlich, dass sie mit Weihbischof Laun zusammenzuarbeiten begann; denn sie fand in ihm einen verlässlichen Mitstreiter. So rühmt sie seine Tapferkeit und Klarsicht, sein „Charisma, das die Menschen heute in all ihrer Schläfrigkeit so sehr nötig brauchen“. Was wir heute erleben, gibt sowohl ihr als auch Weihbischof Laun auf der ganzen Linie Recht. Die Rede ist in den Aussagen über Weihbischof Laun gekürzt.

Von Christa Meves

Die drei Männer im Feuerofen

Nach der Eroberung Judäas durch Nebukadnezar sollten drei jüdische Männer von ihm in einen Feuerofen geworfen werden, weil sie dessen heidnischen Götter nicht anbeten wollten. Sie aber antworteten ihm auf diese Bedrohung: „Nur unser Gott, den wir verehren, kann uns erretten; auch aus dem glühenden Ofen und aus deiner Hand, oh König. Tut er es aber nicht, so sollst du, König, wissen: Auch dann verehren wir deine Götter nicht und beten das goldene Standbild nicht an, das du errichtet hast“ (Dan 3,17-18).

Einen solchen Mann Gottes wie diese drei standfesten Heiligen haben wir heute unter uns. Hundertfältig hat er bereits der Welt bekundet, dass er nicht bereit ist, die modischen Götzenstandbilder anzubeten, sondern dass er fröhlich und tiefernst zugleich in der Liebe zu unserem Gott steht und das auch unbeirrt den Götzenanbetern ins Gesicht sagt – groß und unerschrocken wie die Männer im Feuerofen, ja, und ganz wirklich auch in der gefährdeten Lage, von der Übermacht eines zerstörerischen Geistes beiseite geräumt zu werden; denn der herrscht z.Zt. überall, selbst im Felix Austria, ja, sogar auch dort schleichend bis in die große heilige Kirche hinein. Dieser Macht wirft sich unser Mann Gottes aus Salzburg entgegen, tapfer, von Anfeindungen umgeben, wiederholt ins Medienfeuer gestoßen, standfest, stark und unverletzlich.

Die Götzen unseres Zeitgeistes

Die alte Geschichte vom Feuerofen wiederholt sich heute doch geradezu! Auch wir sind in den letzten 40 Jahren von einem schlimmen König, einem Nebukadnezar erobert worden – erobert nicht wörtlich durch eine einzelne Person, nicht mit äußerer Kriegsgewalt, sondern vielmehr durch ebenso listige wie massiv durchschlagende geistige Verführungsfeldzüge, aber ebenfalls mit der Errichtung von Götzenstandbildern, wie Nebukadnezar sie errichten ließ, nur anders, vielfältiger und undurchschaubarer; dennoch mit der gleichen Wirksamkeit: Umerziehung großer Menschenmassen zu einer uniformen Veränderung ihrer Lebenseinstellung, der Anbetung von Götzen wie damals – und zwar mit einer derartigen Dominanz, dass es heute wie damals halsbrecherisch zu werden beginnt, sich ihnen nicht zu unterwerfen, sich nicht einzufügen in den uniform gemachten Strom dieses Zeitgeistes.

Die Götzen unseres Zeitgeistes haben verschiedene Namen, und doch sind sie allesamt an einem Hauptnenner zu erkennen: Sie bilden die höchste Instanz im Leben der Verführten, ihnen wird alles andere untergeordnet. Dieser Vorrang erst in der Einstellung der Menschen macht die Idole zu Abgöttern. Sie heißen: Götze Geld, Ego, Sex, Zauberkult sowie der Götze Angleichung aller an alle. Völker hat dieser Moloch im vergangenen Jahrhundert in Blut und Tränen dahingeschlachtet; aber dennoch ist er nicht einmal in Mitteleuropa endlich vom Thron gestürzt worden, sondern fesselt weiter, indem er auf den Neid des kainhaften Menschen setzt und jede Menge Mensch nivelliert, vergewaltigt und Unrecht bewirkt in Hochpotenz, indem er mit der Schalmei der Gerechtigkeit die Unzufriedenen betört.

Beunruhigende Voraussagen für die Zukunft

Als praktizierende Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin konnte ich bald erkennen, was geschieht, wenn man diesen Standbildern huldigt, statt dem einzigen wahren Gott. Von der Mitte der 60er Jahre ab nahm die Zahl der Verhaltensstörungen sprunghaft zu. Und das ließ tief Beunruhigendes für die Zukunft voraussagen. Man musste, so erkannte ich damals – vorausgesetzt die äußere Situation in den zivilisierten technisch orientierten Ländern Europas bliebe einigermaßen unverändert – mit einem Hochschnellen der psychischen Erkrankungen rechnen. Vor allem die Süchte und die Depressionen würden zu einer schweren Belastung unserer Gesellschaft werden, so dass ab 2000 die Krankenkassen nicht mehr in der Lage sein würden, den ansteigenden Kosten gewachsen zu sein. Die Sexualdelikte und Perversionen würden wie Pilzkolonien aus dem Boden schießen und mithelfen, das Leben unsicher zu machen. Die Ehen würden immer weniger oft noch lebenslänglich halten. Ein Geburtenschwund gigantischen Ausmaßes würde nach der Jahrtausendmarke die Renten unbezahlbar machen.

Mir war durch meine Arbeit nämlich eine unter vielen anderen gewichtige Folge der Götzenanbetung ins Blickfeld geraten: Sie bewirkte einen Kampf der zum Egoismus verführten, sich selbst bestimmenden Frau gegen das Kind und damit zu einer seelischen Verelendung der jungen Generationen – die fürchterlichste aller Grenzüberschreitungen des Homo sapiens aufgrund moderner Götzenanbetung, da diese lebenslängliche Beeinträchtigung bedeutet.

Der Mensch ist zur Liebe programmiert

Im Umkehrschluss ließ sich erkennen, dass der Mensch von einem dieses sein Geschöpf liebenden Gott zur Liebe programmiert ist. Das ist nicht ohne weiteres einsichtig. Wie sieht so ein Beweis aus?

Der Mensch ist ein Wesen, das mit einem extrem unreifen Gehirn zur Welt kommt, was ihn in den ersten Lebenstagen und -jahren besonders prägbar macht. Denn in dieser Zeit konstituiert und strukturiert sich das menschliche Gehirn, wie durch neue Untersuchungsergebnisse vielfältig erhärtet worden ist. In diesen ersten Lebensjahren des Homo sapiens gelten in Bezug auf seine Entfaltung noch sehr eherne Naturgesetze, wie sie auch für höhere Säugetiere gültig sind. Dauernd unabgesättigte Bedürfnisspannungen im Hirnstamm eines Babys lassen Angst und dadurch chronische Unruhe entstehen. Das hat viele lebenserschwerende Folgen: fehlende Durchhaltefähigkeit besonders bei der Arbeit, in Schule, Ausbildung und Beruf, eine allgemeine Passivität aus unbewusster Mutlosigkeit, dadurch verminderte Leistungsfähigkeit. Trink- und Trunksucht, das heißt eine Betäubungsbedürftigkeit als Ersatzbefriedigungen bahnen sich an. Das heißt: die Anbetung des Götzen Ego missachtet die Erwartung, ja, das Recht des hilflosen Kindes auf die Nähe der Mutter, auf ihre Liebe, auf die natürliche Nahrung aus ihrem Leib. Infolgedessen wurde das Leben der Kinder in unseren Ländern immer künstlicher, vom ersten Lebenstag an; man konnte auch im Einzelfall an den Vorgeschichten ablesen: Immer mehr Erwachsene „organisierten“  unwissend ihr Leben und das der Kinder. Eltern gaben sie einmal dahin, einmal dorthin zur Betreuung, weil sie das erstmalig in der Geschichte der Menschheit konnten, ohne das Leben ihrer Babys und Kleinkinder zu gefährden und weil der Trend zur Berufstätigkeit der Familienmutter auch von kleinen Kindern, weil die Diffamierung der „Nur-Hausfrau“ das Abgeben der Kleinkinder zusätzlich begünstigte. Man vergaß die Vorgabe Gottes, Kleinkinder im Schutzraum einer liebevollen Mutter heranreifen zu lassen. Man glaubte, es nach eigener Maßgabe allein damit halten zu können. Man glaubte eben nicht mehr hinauffragen zu müssen, was im Sinne unseres Gottes der Liebe für die Kinder das Richtige sei.

Seelische Erkrankungen verdreißigfacht

Heute, nach 40 Jahren, hat sich der Typ des seelisch beschädigten Menschen vervielfacht. Die Weltgesundheitsorganisation hat festgestellt, dass sich allein die als Depression gekennzeichneten seelischen Erkrankungen verdreißigfacht haben und die zweithäufigste aller Erkrankungen in den Industrieländern zu werden droht. Aber da auch alle Süchte von der Rauschgiftsucht über die Alkoholsucht bis zu den Ess-, Spiel- und Kaufsüchten in diese Kategorien gehören, hat hier weltweit in allen Industrienationen heute eine gewaltige Einbuße an seelischer Gesundheit stattgefunden. Dieser Trend war zudem von der Mitte der 60er Jahre ab noch gewaltig angeheizt worden, und zwar durch die epochemachende Erfindung der Anti-Baby-Pille und ihre Zulassung in allen Ländern. Mit ihr schwappte die Sexwelle aus den USA an Europas Küsten an. Das führte zu einer erneuten wesentlich radikaleren Phase des Feminismus. Die Möglichkeit, sich von „Kindern, Küche und Kirche“, ja, vor allem aus der Abhängigkeit durch den Ehemann zu befreien, wurde so wesentlich leichter realisierbar. Immer mehr Frauen blieben kinderlos, immer mehr junge Mütter blieben im Beruf, immer mehr Ehen wurden geschieden. Die Zahl der Geburten ging in der BRD bereits in den 70er Jahren vom volkserhaltenden Level von 2,6 Kindern pro Familie auf 1,3 Kind zurück. Deutschland avancierte zu einem der geburtenärmsten Ländern der Welt. Und was die Pille nicht schaffte, wurde dann durch die Veränderung des §218 durch Abtreibungserleichterung mittels der so genannten sozialen Indikation ab 1976 – und durch die vielen gebärunfähig machenden Frauenkrankheiten – nachgeschoben.

Das ideologische Gift der Kollektivierung

Diese gigantische Talfahrt war ab 1968 durch die so genannte Studentenrevolte massiv eingeleitet worden. Wenigstens heute sollte das ins Bewusstsein genommen werden: Diese Revolte war keineswegs ein wenig Studentenaufstand zwecks Beseitigung des „Muffs von 1000 Jahren unter den Talaren“ der Professoren. Sie war gezielte Agitation mit einem unverblümt ausgesprochenen Ziel: diese bürgerliche Gesellschaft mit Hilfe eines so genannten „Marsches durch die Institutionen“ abzuschaffen und sie zu einer einheitlichen atheistischen Ameisengesellschaft ohne die Unterschiede provozierende Familie, vor allem aber ohne Mütter, lediglich mit Männinnen zu verändern.

Und so floss in das geistige und religiöse Vakuum des wohlstandssatten Mitteleuropas ungehindert – ja geradezu wie von einem vertrockneten Schwamm aufgesogen – das ideologische Gift ein. Gift ist diese Ideologie, weil sie ein unrealistischer Wunschtraum ist, weil sie nicht von der Wirklichkeit, nicht vom Wesen des Menschen ausgeht, sondern von der Utopie unerzwingbarer Gleichheit durch angleichende Erziehung und Umverteilung des Besitzes auf dem Boden der Ideologie des Neides. Kommunismus ist eine menschenverachtende, atheistische, aber gerade deshalb ebenso verlockende wie tödliche Versuchung des Menschen. Aber diese Ideologie muss unausweichlich den Menschen seelisch und geistig zerstören: Sie geht von der Vorstellung eines Einheitskuchenteiges Mensch aus, der durch Kollektivierung vom Säuglingsalter ab zur Einheitsware zu entwickeln sei. Marxismus leugnet eine fundamentale Gegebenheit des Menschen: die Unwiederholbarkeit seiner Persönlichkeit, seine Möglichkeit, sich durch individuelle Betreuung zu einem seelisch gesunden, kultivierten Menschen entwickeln zu können! Diese Ideologie leugnet die genetischen und biologischen Unterschiede! Sie leugnet Gottes Willen und zwar ganz bewusst mit dem trotzigen Versuch, ohne ihn das Paradies auf Erden zu errichten.

Familienfeindliche Gesellschaftsveränderung

Deshalb wurden die 70er Jahre in den Wohlstandsländern verhängnisvoll. Deshalb entstanden nun hier immer mehr Ganztags-Kleinkinder-Bewahranstalten. Deshalb entstand nun Massenschule vom Grundschulalter ab – mit diesen unsäglichen Schulbussen und all den so kinderfeindlichen Maßnahmen: dem vielen Platzwechsel, dem vielen Raumwechsel, dem Zerschlagen der Klassenverbände. Deshalb sollen neuerdings in ganz Deutschland flächendeckend Kinderkrippen für die 0-3jährigen Babys eingerichtet werden. Jetzt entstand gezielt: die Entwertung der Hauptschule und des Abiturs, das lähmende Überlaufenwerden der Universitäten und dort – meist mehr oder weniger versteckt – das Lernen vom Sozialismus als Scheinwissenschaft, als Heilslehre und Religionsersatz. Aber zerstörerischer noch: Es geschah zu frühe Entfernung der Kinder von den Eltern – oft bereits via Schulbuch, mit der Verführung zu sexueller Betätigung von der Geschlechtsreife ab. Manipulierte Maßlosigkeit, manipulierte Kindsverführung; denn wie gern möchte man's in der Pubertät anders, freier, kühner machen als diese ewig-gestrigen Eltern!

Die Bevölkerung erfasst das Diabolische dieses Trends bis heute nicht. Sie wurde und wird auch nicht darüber aufgeklärt. In den elektronischen Medien wurde unisono die familienfeindliche Gesellschaftsveränderung vorangetrieben, aber meist nur in Gestalt von manipulatorischen Tendenzen in den Filmen, nicht offen, verschleiert nur – allerdings auch durch diffamierende Propaganda besonders gegen die katholische Kirche. Diese Manipulationen waren das Gegenkonzept gegen das Christentum, obgleich doch gerade die Prämissen des Christentums durch die negative Erfahrung mit all der modischen Götzenanbetung so durchschlagend bestätigt wurden.

Abstützung durch den gelebten Glauben

Unsere Natur, Bäume wie Kinder – Grundlage der allgemeinen Existenz des Menschen auf unserem Planeten – nehmen so gefährlichen Schaden. Kinder brauchen den Schutzraum einer Familie mit Geschwistern und einem einander liebenden verantwortungsbewussten Elternpaar, am besten auch noch mit Abstützung durch Großeltern oder anderer Familienangehöriger im Hintergrund.

Kinder brauchen darüber hinaus Vorbilder, Besinnlichkeit (statt Dauerberieselung mit ihnen unbekömmlichen Bildern und dämonischer Musik, statt Verführung zu „Sex and Crime“ durch die elektronischen Medien und durch ideologische Verführer). Sie müssen angenommen werden um ihrer selbst willen, und sie brauchen sanfte Eindämmung wild ausufernder Schösslinge. Sie brauchen orientierende Vorgaben, damit die Gewissensfunktion sich entfalten kann, sie brauchen vor allem anderen ein glaubensstarkes Elternhaus mit einer täglichen Gebetspraxis. Hellsichtig erkannte Weihbischof Laun in Salzburg den Handlungsbedarf einer Abstützung der Familie durch ein gelebtes Christentum des Alltags. Hier bereitete er in seinem Umfeld mit seinen Mitarbeiterinnen Prüfer und Kugler fruchtbarsten Boden und er gab den Erziehenden neu geschaffene Religionsbücher in die Hand, die frei sind von Häresien.

Beweis der Verbindlichkeit des Christentums

Zwar lässt sich erkennen: Das Großexperiment des kleinen Gottes der Welt mit sich selbst ist gescheitert. Aber es gibt durch solche wachen Initiativen noch Inseln intakter Familien, und infolgedessen zumindest im Westen in den europäischen Nationen noch so etwas wie eine einigermaßen stabile, staatstragende Schicht – noch gibt es seelisch gesunde junge Menschen; aber diese nähren sich eben auch vom Fundus der abendländischen Kultur auf dem Boden des Christentums.

Die negativen Ergebnisse der so genannten Kulturrevolution lassen im Umkehrschluss aber auch mit Hilfe der neuen Hirn- und Hormonforschung erkennbar werden: Das 20. Jahrhundert lieferte so einen Beweis der allgemeinen, höchst konkreten Verbindlichkeit des Christentums: Der Mensch wird nicht zum Menschen, ohne mit getreulicher, verlässlicher, präsenter Liebe umgeben zu sein, einer Liebe, die sich zunächst sehr persönlich (ja, sogar mithilfe der natürlichen Nahrung) als eine Vorgabe Gottes erweist. Nun lässt sich das in allen Einzelheiten belegen: Wie schon das Kind vor seiner Geburt auf diese Frau vorbereitet wird, wie es sie bereits kennt, wenn es geboren wird, wie Mutter und Kind beim ersten Anlegen des Kindes schon miteinander vernietet werden.

Was geschieht hier? Warum wird das so entschieden hormonell und hirnmäßig unterstützt? Nun, Gott setzt diese seine Krone der Schöpfung an mit einem drängenden Verlangen des Neugeborenen zur Mutter, um mit dem Vorgang einer sich entfaltenden Liebesbeziehung das liebende Hinaufrufen des Menschen zu Gott vorzubereiten! Deshalb ist die Mutter so unaufgebbar, deshalb ist sie nicht ersetzbar oder austauschbar, deshalb wurde uns die Mutter Maria zum ewigen Vorbild geschenkt, deshalb geschieht hier der Angriff des Teufels auf die moderne Frau, wie es in Off 12,8  in der Vision des Johannes beschrieben ist.

Vorbereitung der Liebesbeziehung zu Gott

Gelebte Liebe hat eben so zu sein, wie Christus sie uns als A und O vorgab und vorlebte: sie ist immer auch Opfer. Opfer des Ego an den anderen, ganz besonders an die Hilflosen und Schwachen. Sie ist Dienst, zunächst für ihre Nächsten, aber damit auch für Gott – an Seinen Willen, an Sein Ziel mit der Schöpfung. Sie ist in der Hingabe an das Neugeborene natürliche, aber unumgängliche Vorbereitung auf die Liebes- und Bindungsbereitschaft für ein Du im Erwachsenenalter, sie ist Vorprägung auf eine Kommunikation mit einem persönlichen Gott, zu dem der so gehaltene Mensch hinsucht und eher hinfindet und dann sprechen kann: „Abba, lieber Vater!“

Die viel besseren Ergebnisse bei erzieherischen Bemühungen gott-gehorsamer Art lassen sich heute auf diese Weise wissenschaftlich belegen. So bekommen z.B. gestillte Kinder schon durch das erste Anlegen an der Mutterbrust einen besseren Immunschutz, sie bringen später bessere Schulleistungen und sind wesentlich weniger gefährdet, im Erwachsenenalter seelisch zu erkranken. Leben auf christlicher Basis erbringt die besseren Früchte – so könnte man es theologisch ausdrücken – und das durchgängig durch alle Bereiche des menschlichen Lebens hindurch.

Das Christentum gibt nicht nur allein durch alttestamentarische Empfehlungen, sondern vor allem durch das – Ich und Es überwindende – Liebesgebot von Jesus Christus den entscheidenden Hinweis: Nur wer sich unter Verzicht dem Liebesgebot opferbereit stellt, kann eine wirklich frei machende Eingrenzung und Zügelung seiner Antriebe – einschließlich der Sexualität – erreichen. Beispiele dieser Wahrheit ließen sich beliebig erbringen.

Weihbischof Laun schwingt die Glocke

Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Zwei große Päpste mit Klarsicht haben wir geschenkt bekommen. Und unser Weihbischof Laun schwingt unverblümt und ohne Rücksicht auf den verhaltenen Stil vieler seiner Mitbrüder die Glocke, ruft und informiert darüber, was die Stunde geschlagen hat, und stellt sich unprätentiös in die kleine Schar der Laien, gegen die neue Götzenfront.

Unser Weihbischof weckt klug und aufrüttelnd nachdenkliche Besinnung im wahrsten Sinn dieses Wortes und hilft so den Menschen heute, die unbedacht mit im verderblichen Strom des elektronisch gesteuerten Zeitgeistes schwimmen: Er mutet ihnen eine bewusste Konfrontation mit der so entsetzlich negativen Bilanz zu, er macht den Menschen klar, wie bedrohlich für das christliche Abendland der Geburtenschwund ist, und verdeutlicht ihnen, dass es in dieser Situation keinerlei Rechtfertigung mehr für egozentrische Schläfrigkeit gibt: denn gerade dadurch kann Fehlentwicklung der beschriebenen Art wuchern, so dass gesellschaftliches, aber damit auch höchst persönliches Unglück in rasanter Beschleunigung vermehrt wird.

Wahrlich, die Realität unserer bedrohten Situation gehört ins Bewusstsein der Menschen, damit sie erkennen, wie einengend, wie zerstörerisch der atheistische Zeitgeist unseres Jahrhunderts wirkt, und wie dringend, wie existenznotwendig eine Umkehr ist. Unser Weihbischof hat sich in all seiner gläubigen Größe dieses zum Ziel gesetzt! Er weiß und sagt es uns: Es kommt nun darauf an, auf welche Seite wir uns schlagen!

Die Feueröfen heute

Aber wir sollten uns nichts vormachen: Auch heute sind die Feueröfen bereits angeheizt für solche, die es nun noch weiter wagen, sich zu dem Gott der Liebe zu bekennen, weil sie erfahren haben: Christus ist der Weg, die Wahrheit und das (ewige) Leben. – Ja, gewiss, die Öfen glühen schon; denn für Menschen vom Mut der drei jungen Männer zu Nebukadnezars Zeiten wartet zunächst einmal der Medien-Pranger. Sie werden mit der ehrenrührigen, diffamierenden Unterstellung, Fundamentalist, Traditionalist, ja, Faschist, Rechts-Extremist zu sein, unter Mobbing-Gejohle der öffentlichen Medien ausgetschilpt wie hellfarbige Spatzen von den dunkelfarbigen, weil sie sich anders benehmen und anders bekennen als die uniform gemachte Menge.

Aber so erschreckend solche Angriffe sind – zumal sie meist mit diffamierenden, den Ruf schwer beeinträchtigenden Lügen bestückt sind –, so wenig pflegt das unseren großen Getreuen und seine Helfer zu berühren; denn sie haben ihre Entscheidung bei vollem Bewusstsein getroffen. Isoliert werden sie deshalb lediglich aus dem Forum des lautstarken Zeitgeistes. Es kommen nämlich jetzt bereits in erheblicher Zahl Gleichgesinnte auch evangelischer und freikirchlicher Konfession oft in beglückend fest zusammengeschlossenen Gruppierungen hinzu. Hier gibt es auch noch kinderreiche Familien, hier gibt es bereits jede Menge gegenseitige Hilfe, private christliche Schulen und Begegnungsstätten – wie hier in Wigratzbad.

Die Zeit ist „reif zur Ernte“

Christi Satz vom Schwert, mit dem er die Geister scheidet, trifft also heute neu ganz besonders intensiv zu. Spaltung und Polarisierung ist unabwendbar und wird sich zunächst immer mehr ausprägen. Die Zeit ist abermals „reif zur Ernte“, und unabwendbar wird die Bewährungsprobe dergestalt, ob wir uns selbst mit unseren Familien in die „kleine Schar“ einreihen oder ob wir einen oder mehreren unserer modischen Götzen die Hand reichen; denn nur auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre letzteres die einfachere Wahl. Aber der Mensch erntet dabei dann paradoxerweise gerade den Verlust der geistig-seelischen Freiheit, erntet eine Fesselung welcher Art sie auch sein mag: in der Geldsucht, der Sexsucht, der Alkohol- oder Rauschgiftsucht, der Fresssucht oder in einer Form modischer Zauberkünste. Er macht sich dann für Gott unerreichbar, wenn er sich in den Bann der Götzenstandbilder  begibt. Aber der Schöpfer hat doch sein Geschöpf Mensch mit Freiheit, mit der Freiheit der Entscheidung begabt. – Diese Entscheidung steht heute unaufschiebbar an. Wer sich unserer Lage bewusst ist, kann sie aber fröhlichen Herzens vollziehen und damit dennoch mehr bewegen als scheinbar Weltbewegendes in einer ihm schmeichelnden Öffentlichkeit – für sich, für seinen kleinen Umkreis, ja, vielleicht sogar für die Zukunft aller hier auf der Erde; denn nur den Gott Getreuen wird es gelingen können, Gottes Schwert von unseren Häuptern abzuwenden und die Feueröfen der Moderne zu überstehen.

Wir sollten also wie die Männer im Feuerofen bitten: „Ach, Herr, wir sind geringer geworden als alle Völker. Du aber nimm uns an! Wir folgen dir jetzt von ganzem Herzen, fürchten dich und suchen dein Angesicht“ (Dan 3,37-41). Wir brauchen uns schließlich nur ins Schlepp unseres großen Jubilars zu begeben und erkennen: Keiner der materialistischen Strömungen aus Ost oder West dürfen wir in Zukunft noch den kleinsten Finger reichen. Wenn wir Zukunft haben wollen, brauchen wir eine europäische Erneuerung im Geist der Wahrheit, und das heißt in einem real umgesetzten Christentum des Alltags. Ihm müssen wir uns verschreiben – handelnd und betend ohne Unterlass.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Überreichung des Galen-Preises

Von Johanna Gräfin von Westphalen

Exzellenz, lieber Herr Weihbischof!

Am 13. Oktober sind Sie 65 Jahre alt geworden, geboren genau 25 Jahre nach dem Sonnenwunder von Fatima. Ihre Bischofsweihe war am 25. März 1995, jenem Tag, an dem Papst Johannes Paul II. die Enzyklika „Evangelium vitae“ unterzeichnet hat, die zu einem grundlegenden Manifest für die Lebensrechtsbewegung auf der ganzen Welt geworden ist.

Ihr größtes Geburtstagsgeschenk haben Sie, wie ich finde, bereits vor Ihrem Geburtstag erhalten. Ich meine den Besuch des Heiligen Vaters in Österreich, insbesondere den Empfang in der Wiener Hofburg, bei dem Papst Benedikt XVI. am 7. September zu all den wichtigen Politikern sprach. … Lieber Herr Weihbischof, bei den Worten des Heiligen Vaters war ihre Freude sicher ebenso groß wie meine und die aller Lebensschützer. Diese Worte sind eine wunderbare Ermutigung, das, was Sie in den letzten Jahrzehnten geleistet haben, weiterzuführen. Sie sind Bestärkung, die so wichtig ist, wenn einem der Wind der veröffentlichten Meinung gegen das Gesicht bläst und ab und an sogar Orkanstärke erreicht, wenn man sich für das menschliche Leben und für die Erhaltung und Neuentdeckung von Ehe und Familie einsetzt.

Ich freue mich, dass Sie heute mit dem Cardinal von Galen Award für Ihren unermüdlichen Einsatz für den Schutz des menschlichen Lebens und die Familie und Ihre tapfere Unerschrockenheit ausgezeichnet werden. Das „Nec laudibus, nec timore“, dass weder Lob noch Menschenfurcht unser Denken und Handeln bestimmen sollte, diesen Wahlspruch des Kardinals erfüllen Sie in unseren Tagen auf so eindrückliche Weise. Die heutige Zeit, so scheint es mir, ist vielleicht noch stärker von einer alltäglichen Verwirrung geprägt.

Papst Johannes Paul II. hat in „Evangelium vitae“ gesagt, dass wir über die staatlichen Gesetze hinaus eine „neue Kultur des menschlichen Lebens“ brauchen. Gott habe die Christen zu einem „Volk des Lebens und für das Leben“ berufen, das das „Evangelium vom Leben“ verkündet, feiert und ihm dient. Es wird betont, dass die Familie das „Heiligtum des Lebens“ sei und alle „als Kinder des Lichts“ das Evangelium vom Leben leben müssten, um in der Gesellschaft der Menschen eine kulturelle Wende herbeizuführen.

Ich glaube, dass das auch unser Weg sein muss. Deshalb ist es heute so wichtig, das Lebensrecht und den Schutz des menschlichen Lebens mit der Stärkung der natürlichen, der normalen Familie zu verbinden. Wir sehen die Anstrengungen der Gegenseite, die die Familie grundlegend zu verändern und aufzulösen trachtet. Auch wieder ein Spiel des Verwirrers.

Damit wir auf dem rechten Wege Kurs halten, sind wir glücklich und froh, dass wir in Ihnen einen Freund und Wegbegleiter haben.

Ein herzliches Vergelt`s Gott dafür!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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