Ringen um den wahren Geist der Liturgie

Wie sehr Papst Benedikt XVI. um den wahren Geist der Liturgie ringt, zeigt Pfr. Dr. François Reckinger in seinem ausgewogenen und zugleich spannenden Beitrag auf. Beispielhaft geht er besonders auf die Frage der Ausrichtung des liturgischen Gebets nach Osten ein. Die nachfolgende Darstellung wurde aus dem Vortrag erarbeitet, den Dr. Reckinger beim Frühjahrsforum von „Kirche heute“ im April dieses Jahres zum Thema „Liturgie“ gehalten hatte.

Von François Reckinger

Im Jahr 2000 veröffentlichte der damalige Kardinal Josef Ratzinger ein Buch mit dem Titel „Der Geist der Liturgie“.[1] Aufschlussreich sind die Reaktionen zu dieser Abhandlung, wie sie in den wichtigsten Rezensionen von Liturgikern vorliegen. Einer Replik Kardinal Ratzingers zu einer dieser Rezensionen ist zu entnehmen, wie sehr er das Gespräch mit dem betreffenden Autor und dessen Kollegen gesucht hat – offenbar mit Erfolg; denn er wurde umgehend eingeladen, im Dezember 2003 in Trier die Festrede zum 40. Jahrestag der Liturgiekonstitution des 2. Vatikanischen Konzils zu halten. Genau wie seine erwähnte Replik wurde später auch diese seine Festrede im Liturgischen Jahrbuch veröffentlicht, und zwar mit dem Vermerk, dass deren Inhalt bei den in Trier versammelten Fachvertretern auf breite Zustimmung gestoßen sei. Tatsächlich lassen diese Rede und spätere Verlautbarungen erkennen, welche Entwicklung sich auf Seiten des Kardinals vollzogen hatte.

Eucharistie als Opfer

Inhaltlich wird in den Kommentaren zum Buch Kardinal Ratzingers über die Liturgie besonders die eingehende biblische, vor allem auch das Alte Testament einbeziehende Grundlegung anerkannt.

Was die Religionen mit ihrem Opferkult angestrebt haben, geschieht in Israel in ganz neuer Weise, weil Gott dem Abraham aufgrund seiner Bereitschaft, seinen Sohn Isaak zu opfern, den Widder geschenkt hat, das männliche Lamm, das im Voraus Christus bedeutet (32).

Das Opferwesen des Alten Testaments, das nach dem Buch Levitikus für ewig festgelegt scheint, ist faktisch von ständiger prophetischer Unruhe begleitet, gipfelnd in Hosea 6,6, wo Gott sagt: „Liebe will ich, nicht Schlachtopfer“ (33).

Diese Linie führt hin zum Tempelwort Jesu, Joh 2,19-22: „Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten … Er aber meinte den Tempel seines Leibes …“ Der auferstandene Leib Jesu ist der universale Tempel der neuen Zeit, in den wir Christen als lebendige Steine eingefügt werden. Der christliche Kult, so heißt es wörtlich, „sieht die Zerstörung des Jerusalemer Tempels als endgültig und als theologisch notwendig an: An seine Stelle ist der universale Tempel des auferstandenen Christus getreten“ (36).

In der Liturgie dieses Tempels ist auch das erfüllt, was das Judentum in den letzten Jahrhunderten des Alten Testamentes bei der Begegnung mit der griechischen Philosophie und ihrer Kultkritik kennen gelernt hatte und was Paulus in Röm 12,1 als Auftrag Gottes an uns Christen herausstellt: die logikè latreia: der logosgemäße, worthafte, vernunftgemäße Kult. Es ist das Opfer, das durch das Wort geschieht, aber nicht das bloß menschliche, sondern das ewige Wort Gottes, das für uns Mensch geworden ist (38f).

In der Offenbarung des Johannes erscheint das ewige Wort Gottes vorwiegend als das geopfert lebende Lamm und steht als solches im Mittelpunkt der himmlischen Liturgie (32).

Braucht das Neue Testament dann überhaupt noch ausgesonderte heilige Zeiten und Räume? Ja, so antwortet Kardinal Ratzinger, weil der verheißene neue Himmel und die neue Erde noch nicht da sind (47).

Was die Zeit betrifft, sind drei Ebenen zu unterscheiden:

• das einmalige historische Ereignis: Tod und Auferstehung Jesu, sein Hinübergang, das Pascha-Mysterium, Pascha-Geheimnis;

• dessen Feier in der Eucharistie (und der gesamten Liturgie).;

• die Erfüllung im jenseitigen Leben.

Die mittlere Ebene ist die eigentlich liturgische. Sie hat nur Sinn, weil es die erste Ebene gibt und weil diese in der zweiten Ebene gegenwärtig wird.

Hier spricht der Kardinal das an, was mit „gedenken“ und „Gedächtnis“ im Hochgebet gemeint ist und was andere Autoren als Realgedächtnis bezeichnen. Es ist mehr als bloße Erinnerung: Das Ereignis, dessen wir gedenken, wird real gegenwärtig, so dass wir es mitvollziehen können. Wieso das möglich ist, dazu bietet Kardinal Ratzinger eine vertiefende Erklärung an (48-50).

Zum Thema Eucharistie als Opfer führt er näherhin Folgendes aus. Das Lamm, das Gott selbst geschenkt hat, ist nicht, wie die Opfer der Völker, bloßer Ersatz für den Menschen, der eigentlich sich selbst darbringen müsste, sondern wirkliche Stellvertretung für ihn. Die Stellvertretung aber nimmt, anders als der Ersatz, die Vertretenen in sich auf: Christus nimmt unser Opfer (das gemeinsame Opfer der getauften Teilnehmer) in sein Opfer mit hinein. Nur so erklärt sich die Bitte um Annahme des Opfers in den Hochgebeten. Die Liturgie, gipfelnd in der Eucharistiefeier, erscheint von daher als Wendepunkt im Vorgang der Erlösung: Der Hirte nimmt das verlorene Schaf auf seine Schultern und trägt es heim (32).

Damit ist eine Dimension der Liturgie, die von anderen Autoren bei Ratzinger mitunter vermisst wird, in entscheidender Position sehr wohl angesprochen: die sog. „katabatische“, d. h. herabsteigende Dimension. Das Gebet und dessen höchste Form, das Opfer, stellen demgegenüber die „anabatische“ oder aufsteigende Linie dar. Aber hier wird deutlich: Gott musste zuerst den Widder, das Vorausbild Christi, schenken, damit das Opfer Abrahams und die nachfolgenden Opfer Israels, ebenfalls als Vorausbilder des Opfers Christi, für Israel und für die Völker mehr bewirken konnten als die Opfer der Völker selbst.

Die Gebetsrichtung in der Liturgie

Aus den Ausführungen Kardinal Ratzingers gab die anschließende Frage der Gebetsrichtung am meisten Anlass zu Diskussionen. Die Ausrichtung des Kirchengebäudes nach Osten, so heißt es, sei für die ganze Christenheit Tradition von Anfang an (65ff).

Aus Gründen der Bodenbeschaffenheit macht allerdings die Peterskirche eine Ausnahme und ist nach Westen ausgerichtet, und eine Reihe von Kirchen im direkten Einflussbereich von Rom hat dieses Modell übernommen. In diesen Kirchen musste daher der Zelebrant, um beim Hochgebet nach Osten zu schauen, hinter dem Altar der Gemeinde zugewandt stehen. Von daher habe die liturgische Erneuerung des 20. Jh.s die Idee übernommen, der Zelebrant müsse am Altar dem Volk zugewandt stehen, versus populum (67).

Zusammen mit zwei französischen Autoren, Louis Bouyer und Cyrille Vogel, meint Kardinal Ratzinger demgegenüber, das Modell des antiken St. Peter tauge als Vorbild für das „versus populum“ wenig, denn das Volk habe sich damals, so unglaublich das für uns auch klingt, selbst in den Kirchen dieser Bauart, bei jedem Gebet und demnach auch während des gesamten Hochgebetes nach Osten gewandt und habe damit in diesem Fall dem Zelebranten, dem Altar und den eucharistischen Gaben den Rücken zugewandt. Auch dafür werden Bouyer und Vogel als Gewährsleute angeführt – aber auch im 7. Bd. des „Lexikon für Theologie und Kirche“ von 1998 findet sich dieselbe Feststellung als anerkanntes Forschungsergebnis (69).

Als zweites Argument, das die Vordenker der liturgischen Erneuerung zugunsten der Zelebration versus populum vorgebracht haben, nennt Ratzinger die Behauptung, nur so entspreche man der Tischanordnung beim Letzten Abendmahl. Dagegen führt er erneut Bouyer an, der klarstellt, dass bei den Gastmählern des Altertums die Gäste zusammen mit dem Gastgeber an einer Seite des Tisches saßen oder lagen, nämlich an der Außenseite eines großen Tisches in Form eines Hufeisens oder des griechischen Buchstabens Sigma.

Anschließend kritisiert Kardinal Ratzinger eine Reihe von Missbräuchen, die sich aus der Zelebrationsrichtung versus populum ergeben hätten, und unterscheidet dabei nicht, ob diese Missbräuche mit der genannten Ordnung wesentlich und notwendig verbunden sind oder ob sie sich aus einer verfehlten Art ihrer Durchführung ergeben. Der Zelebrant würde jetzt „zum eigentlichen Bezugspunkt des Ganzen … Ihn muss man sehen, an seiner Aktion teilnehmen, ihm antworten“ (70). Gleichzeitig jedoch setzt Kardinal Ratzinger etwas weiter im Buch selbst voraus, dass man an der Aktion des Zelebranten teilnehmen soll, als er nämlich darlegt, auf welche Weise die vor allem innere Teilnahme am Hochgebet geschehen soll (147f). Und dass das Volk wirklich wieder in den Akklamationen antwortet, wird auf S. 178 als ein wichtiges Ergebnis der liturgischen Erneuerung gelobt. Erst so, heißt es da mit Recht, „ist die wahre liturgische Struktur wiederhergestellt.“ Wem aber soll die Gemeinde in den allermeisten Fällen antworten, wenn nicht dem Zelebranten? Denn er ist es ja fast immer, der die Versammelten anspricht und in ihrem Namen Gebete vorträgt.

Positiv äußert sich Kardinal Ratzinger allerdings dazu, dass der in vielen Kirchen zu weit entfernte Altar näher an das Volk herangerückt worden sei; und ebenso dazu, dass für den Wortgottesdienst ein eigener Ort geschaffen worden ist. An dieser Stelle wird ganz kurz auch die Bedeutung des Antwortpsalms gewürdigt (71), dessen tatsächlicher Gebrauch in Rom und in ganz Italien, wie wohl in den meisten Ländern, seit langem eine Selbstverständlichkeit darstellt – ein Zustand, von dem man in den meisten Gemeinden unseres Sprachbereichs bisher leider nur träumen kann.

Beim Wortgottesdienst, so Ratzinger weiter, sei ein Gegenüber von Verkündigern und Hörern sinnvoll. Wesentlich bleibe dagegen „die gemeinsame Wendung nach Osten beim Hochgebet“. Vor allem Seelsorger werden an dieser Stelle fragen, wie wir denn den heutigen Menschen die Hinwendung zur aufgehenden Sonne hin als wichtig nahebringen sollen – vor allem in Ländern, in denen man an den meisten Tagen die Sonne ohnehin nicht sieht, und in einer kulturellen Situation, in der dank des elektrischen Lichtes das gesamte gesellschaftliche Leben sich auch bei Dunkelheit abwickeln kann. Für eine solche Frage hält Kardinal Ratzinger an dieser Stelle eine überraschende Wendung des Gedankengangs bereit.

Vorher, S. 60f, machte er deutlich, dass die aufgehende Sonne von den Christen der Antike als Symbol des wiederkehrenden Christus verstanden wurde. Diese eschatologische Ausrichtung des christlichen Betens immer wieder zu betonen, ist einer der zahlreichen Vorzüge des Buches. An der angegebenen Stelle wies er auch bereits darauf hin, dass die Richtung nach Osten sehr früh mit dem Kreuz verbunden und bezeichnet wurde, weil man in diesem das „Zeichen des Menschensohnes“ erblickte, das nach Mt 24,30 am Himmel erscheinen wird, wenn Jesus wiederkommt. Im Anschluss an Erik Peterson meint Ratzinger nun, man brauche die Altäre durchaus nicht wieder herumzudrehen, es genüge, ein Kreuz in die Mitte des Altares zu stellen. Dieses sollte den gemeinsamen Blickpunkt für Zelebrant und Gemeinde darstellen, einerlei an welcher Seite des Altares ein jeder von ihnen steht.

Liturgie nach der Norm der heiligen Väter

Jedoch selbst in diesem bescheidenen Ausmaß ist der damalige Papst Johannes Paul II. dem Präfekten der Glaubenskongregation nicht gefolgt. Denn im selben Jahr, in dem dessen Buch erschien, approbierte Johannes Paul II. die revidierte 3. Auflage des Römischen Messbuchs, das dann 2002 erschien, seither für die Feiern in lateinischer Sprache verbindlich ist und z. Zt. im Hinblick auf die landessprachlichen Ausgaben übersetzt und angepasst wird. Diese Neuausgabe nimmt nichts zurück von dem, was die Erstausgabe von 1969 bestimmt hatte: „Für gewöhnlich soll eine Kirche einen feststehenden, geweihten Altar haben, der frei steht, damit man ihn ohne Schwierigkeit umschreiten und an ihm, der Gemeinde zugewandt, die Messe feiern kann“ (AEM, 262).[2] Im Gegenteil: Die Ausgabe von 2002 verstärkt diese Aussage noch erheblich, indem sie hinzufügt: „Diese Art, sie zu feiern, empfiehlt sich, wo immer sie möglich ist“ (IGMR, 299).[3] Hinsichtlich des Kreuzes heißt es in beiden Ausgaben übereinstimmend: „Auf dem Altar oder in seiner Nähe soll für die Gemeinde gut sichtbar ein Kreuz sein“ (AEM, 270; IGMR, 308).

Zwischen den damals von Kardinal Ratzinger vorgetragenen Positionen und den Bestimmungen der liturgischen Bücher, die Paul VI. in Kraft gesetzt hatte, sowie dem erwähnten und einigen weiteren Zusätzen zur Einführung ins Messbuch, die Johannes Paul II. sich zu unterzeichnen anschickte, als das Buch des Kardinals erschien, ist zumindest eine Spannung zu erkennen. Beide waren sich dessen wohl auch bewusst, denn Letzterer fühlte sich veranlasst, einen Abschnitt seines Buches dem Thema Begrenzung der Vollmacht des Papstes zu widmen. Wörtlich führt er aus: „Nach dem II. Vaticanum entstand der Eindruck, der Papst könne eigentlich alles in Sachen Liturgie, vor allem wenn er im Auftrag eines ökumenischen Konzils handle … Tatsächlich hat aber das I. Vaticanum den Papst keineswegs als absoluten Monarchen definiert, sondern ganz im Gegenteil als Garanten des Gehorsams gegenüber dem ergangenen Wort: Seine Vollmacht ist an die Überlieferung des Glaubens gebunden – das gilt gerade auch im Bereich der Liturgie“. Und etwas weiter noch einmal: „Die Vollmacht des Papstes ist nicht unbeschränkt; sie steht im Dienst der heiligen Überlieferung.“

Im Blick auf dieses Bedenken hatte Paul VI. bei der 2. Auflage desselben Römischen Messbuchs von 1974 der Allgemeinen Einführung ein Vorwort vorausgeschickt, das die Traditionstreue dieses Buches herausstellen sollte. Dieses Vorwort übernahm Johannes Paul II. in die 3. Auflage des Messbuchs von 2002. Haupttenor seines Inhalts ist, dass es sich nicht um ein neues Messbuch und eine neue Messordnung handelt, sondern dass erst hier die Reform zu Ende geführt wurde, die Pius V. für das Messbuch von 1570 im Sinn gehabt hatte: nämlich die Messfeier nach der „Norm der heiligen Väter“ zu reformieren. Anhand der damals bekannten Quellen kam man allerdings nicht weiter zurück als bis zum Messritus des 13. Jh.s und zu den Messkommentaren derselben Zeit. Aber schon 1571 wurde das sog. Gregorianische Sakramentar veröffentlicht, bald danach folgten weitere römische, ambrosianische, altspanische und gallikanische Quellen. Die Zeugnisse der ersten christlichen Jahrhunderte und die Riten des Ostens wurden zunehmend wiederentdeckt, herausgegeben und wissenschaftlich erforscht, so dass sich ein viel weiteres Panorama der kirchlichen Tradition erschloss. „Die ‚Norm der heiligen Väter‘ fordert also nicht nur, das zu bewahren, was die uns zeitlich am nächsten stehenden Vorfahren überlieferten: sie verlangt vielmehr, alle vergangenen Zeiten der Kirche und alle Formen zu erfassen …, in denen die Kirche den einen Glauben in derart unterschiedlichen Kulturen ausgedrückt hat …“ (Nr. 9).

Wert und Wirksamkeit der Liturgiereform

Unter Ratzingers Rezensenten hatte der große Pariser Gelehrte, Pater Pierre-Marie Gy keine glückliche Hand, indem er sich besonders auf die Frage der Ostung von Kirchen konzentrierte und sich dabei auf eine Studie von Otto Nussbaum von 1965 berief. Der Kardinal erklärte in seiner Replik,[4] die Untersuchung Nussbaums sei inzwischen überholt. Er konnte sich dafür auf eine neuere Veröffentlichung eines anderen Rezensenten, Albert Gerhards, berufen.[5] Gleichzeitig bezeichnete Kardinal Ratzinger am Ende dieser Replik seine Stellungnahme als einen bescheidenen Beitrag zu dem von ihm versuchten freundschaftlichen Streitgespräch im Hinblick auf das Gespräch miteinander, „um das wir uns heute alle mühen müssen“.

In seinem Vortrag zum 40. Jahrestag der Liturgiekonstitution im Dezember 2003 betonte der Festredner gleich zu Beginn, es sei ein großer Tag für das Konzil und die Kirche gewesen, als die Konstitution über die heilige Liturgie am 4. Dezember 1963 nahezu einstimmig verabschiedet worden sei. Anschließend griff er das Wort Pius‘ XII. auf, mit dem dieser die Liturgische Bewegung des 19. und 20. Jh.s als ein „Hindurchgehen des Heiligen Geistes durch seine Kirche“ gedeutet hatte.

Der Text der Liturgiekonstitution, so Kardinal Ratzinger, bewegt sich auf zwei verschiedenen Ebenen. Einerseits entwickelt er die Prinzipien, die das Wesen der Liturgie grundsätzlich und allgemein betreffen. Davon ausgehend gibt er dann normative Anweisungen für die praktische Erneuerung der römischen Liturgie. Diese Weisungen gelten daher nur für den lateinischen Teil der Kirche und sind ihrer Natur nach mehr zeitgebunden als die grundsätzlichen Aussagen. Aufgrund der anschließenden Durchführung kam notwendig eine dritte Ebene hinzu: die der konkret erarbeiteten Reformen. Diese konkreten Formen liturgischer Erneuerung „sind verbindlich für die Kirche von heute, aber sie sind nicht einfach mit dem Konzil identisch“, weil dessen meist weiträumige Anweisungen unterschiedliche Umsetzungsweisen zulassen. Wer nicht alles an dieser Reform für geglückt hält, ist deswegen noch kein Gegner des Konzils. In seinem Vortrag will sich der Kardinal bemühen, „dem Konzil zuzuhören und einige der wesentlichen Weisungen des Textes besser verstehen zu lernen“.

Um das Wesen der Liturgie zu beschreiben, bietet die Konstitution eine Zusammenschau von großen Grundgedanken der biblischen Überlieferung: Die Kirche als Braut – Liturgie ist hochzeitliches Geschehen, Kommen des Bräutigams und Zugehen auf das ewige Fest der Liebe Gottes zu uns. Liturgie ist Bundesgeschehen. Sie hat einen kosmischen, Himmel und Erde umfassenden Charakter, der sich praktisch vernehmbar im Schluss der Präfation und im anschließenden Sanctus als dem Gesang der Engel Ausdruck verschafft. Und schließlich bildet der Begriff Pascha und Pascha-Mysterium die zentrale Kategorie der Liturgietheologie des Konzils. Alle anderen Aspekte sind darin zusammengefasst: Pascha ist Vollzug des Bundes; Pascha ist Hochzeit; Pascha ist „Hinübergang“, Überschreitung: von Leben zu Tod und von Tod zu Leben, von Welt zu Gott, von den Stationen der Zeit in das endgültige Jerusalem hinein.

Die im Buch stark betonte Ostung der Kirchengebäude wird hier nur noch kurz als Praxis der alten Kirche erwähnt. Aus ihr wird nicht mehr wie im Buch eine Problematisierung der Zelebration versus populum abgeleitet und auch nicht mehr als Ersatz für die Ostung die Platzierung des Kreuzes in der Mitte des Altares empfohlen. Wohl aber wird aus dem kosmisch-universalen Charakter der Liturgie wie im Buch mit Recht gefolgert, dass Liturgie nicht von der jeweiligen Gemeinde oder von deren Seelsorgern erdacht und gemacht werden kann. Gleichzeitig, so heißt es, sei es wichtig, dass der Schöpfungsbezug der Liturgie auch sinnlich vernehmbar wird. Daher sollte der Kirchenbau nach Möglichkeit in die Weite der Schöpfung hineingestellt sein und nichts gemeinsam haben mit jenen Betonbauten, die sich von der Schöpfung abschließen und sich selbst ihr Licht und ihre Luft zu geben beanspruchen.

Das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Sacramentum Caritatis“ von 2007,[6] das die Ergebnisse der Beratungen mit über 250 Bischöfen aus aller Welt zusammenfasst, ist keine direkte persönliche Stellungnahme des Papstes, wohl aber von ihm stark geprägt und durch seine Unterschrift verantwortet.

Anders als in mehreren Passagen des Buches von Kardinal Ratzinger wird hier die Liturgiereform von ihrem Missbrauch deutlich unterschieden und eindeutig positiv bewertet. „Wie bekräftigt wurde, können die Schwierigkeiten und auch einige erwähnte Missbräuche den Wert und die Wirksamkeit der Liturgiereform … nicht verdunkeln“, heißt es in Nr. 3.

Anders als im Buch wird diesmal die Liturgiekonstitution des Konzils und die Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch laufend zitiert. Letztere enthält, genau wie die Pastorale Einführung in das Messlektionar, geistliche „Schätze, die den Glauben und den Weg des Gottesvolkes in den zweitausend Jahren seiner Geschichte bewahren und darstellen“ (Nr. 40). Mit dieser Aussage wird von Papst und Synode, in Konformität mit Paul VI. und Johannes Paul II., deren Bekenntnis zur Traditionstreue des geltenden Messbuchs erneuert.

Eine ganze Nummer wird der echten, „aktiven, vollen und fruchtbaren Teilnahme des ganzen Gottesvolkes an der Eucharistiefeier“ gewidmet (Nr. 52), die nachfolgende Nummer unterstreicht die Notwendigkeit, die verschiedenen hierarchischen Rollen zu unterscheiden, die in die Feier einbezogen sind. Insbesondere kommt es dem Bischof bzw. dem Priester zu, der gesamten Messfeier vom Eröffnungsgruß bis zum Schlusssegen vorzustehen. Vorher, im grundsätzlichen Teil des Schreibens, handelt eine ganze Nummer davon, dass dieses „Vorstehen“ in der Person Christi als des Hauptes geschieht und die Bevollmächtigung dazu durch die Priesterweihe die unerlässliche Gültigkeitsbedingung ist (23). „Vorstehen“ wird dabei in einem eindeutig positiven Sinn gebraucht, wohingegen Kardinal Ratzinger in seinem Buch betont kritisch angemerkt hatte, dass seit der Liturgiereform der zelebrierende Priester häufig als „Vorsteher“ der Feier bezeichnet würde (70).

In der Zeitschrift „Gottesdienst“, die für die Liturgischen Institute Trier, Salzburg und Fribourg spricht, heißt es zum Apostolischen Schreiben: „ … wie erhofft und … erwartet, führt das Nachsynodale Schreiben ins Zentrum unseres Glaubens … Damit setzt Benedikt XVI. fort, was … Kardinal Ratzinger am 40. Jahrestag der Verabschiedung der Liturgiekonstitution in Trier so deutlich gesagt hat: Was heute so dringend Not tut, sind keine gestalterischen Basteleien an der Liturgie, sondern ihre geistliche Durchdringung, aus der heraus die Feier ihre Würde und ihre tiefe Menschenfreundlichkeit erhält. Es ist einfach eine Wohltat, nach und neben all dem kleinlichen Hickhack, das oft das Tagesgeschäft bestimmt, etwas über die Liturgie zu lesen, das von der Mitte her einzelne Bereiche beleuchtet: mit dem langen Atem der Geschichte und aus der Tiefe des Geheimnisses heraus, das uns … in und durch Jesus Christus geschenkt wurde."[7]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Joseph Kardinal Ratzinger: Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg i. Br. 2000.
[2] AEM = Allgemeine Einführung in das Messbuch.
[3] IGMR = Institutio Generalis Missalis Romani.
[4] Joseph Kardinal Ratzinger: Der Geist der Liturgie. Oder: Die Treue zum Konzil, in: Liturgisches Jahrbuch 52, 2002, 111-115.
[5] Versus orientem – versus populum. Zum gegenwärtigen Diskussionsstand einer alten Streitfrage, in: Theologische Revue 98, 2002, 15-22.
[6] Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 177, Bonn 2007.
[7] Eduard Nagel: Auf zwei Minuten, in: Gottesdienst 41, Nr. 7/2007, 51.

Stärkung der russischen Orthodoxie

Am Hochfest Christi Himmelfahrt erlebte die russisch-orthodoxe Kirche einen großen Augenblick. Nach genau 80 Jahren offizieller Trennung fand die Wiedervereinigung der sog. „Russischen Auslandskirche“ mit dem Moskauer Patriarchat statt.

Von Erich Maria Fink

Die Bildung der russischen Auslandskirche begann bereits vor 90 Jahren. Nach der Oktoberrevolution 1917 suchte die russisch-orthodoxe Kirche ihren neuen Standort im russischen Staatsgebilde. Während des Bürgerkriegs zwischen den kommunistischen Roten und den konservativen Weißen stellte sich die Moskauer Kirche auf die Seite der Kommunisten und suchte einen Kompromiss mit dem Sowjetstaat. Einige Bischöfe wehrten sich dagegen und schlossen sich der konservativen Gegenrevolution an. Nach deren Zusammenbruch 1920 auf der Krim flohen sie nach Istanbul und gründeten dort die sog. „Auslandskirche“. Den Sitz errichteten sie in Karlowitz bei Belgrad. Zum offiziellen Bruch mit der Heimatkirche kam es aufgrund der Treuerklärung des Moskauer Patriarchen zur Sowjetunion im Jahr 1927. Nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs verlegte die antikommunistische russische Auslandskirche ihr Kirchenzentrum schließlich nach Jordanville bei New York. Insgesamt konnte sie sich fast zwei Millionen Emigranten einverleiben, heute hat sie noch etwa 500.000 Mitglieder.

Auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Anfang der 90er Jahre fand sie kein Vertrauen zum Patriarchat. Vielmehr nützte sie die neue Religionsfreiheit unter Präsident Jelzin, um in Russland selbst aktiv zu werden und vom Patriarchat unabhängige Diözesen zu gründen. Präsident Putin betrachtete dieses Wirken als schädlich und unterstützte das Patriarchat in seinem zum Teil erbittert geführten Kampf gegen die Auslandskirche. Schließlich aber war es Putin selbst, der vor einigen Jahren den Anstoß zur Versöhnung der beiden verfeindeten Kirchenflügel gab. Seit einer Begegnung mit dem Oberhaupt der Auslandskirche, Metropolit Lavr, in New York forcierte Putin diese Entwicklung und übte zum Teil auch politischen Druck auf beide Seiten aus. In zähen Verhandlungen wurde der Auslandskirche volle Selbstverwaltung zugestanden, und zwar in personellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Angelegenheiten. Der von den Auslandsbischöfen gewählte Metropolit muss jedoch vom Moskauer Patriarchen und von der Heiligen Synode bestätigt werden. Unter Anwesenheit Putins wurde die Vereinbarung nun am 17. Mai von Patriarch Alexij II. und Metropolit Lavr in der russischen Hauptstadt unterzeichnet. Im Anschluss an die Zeremonie feierten Vertreter beider Kirchen erstmals seit der Spaltung eine gemeinsame Eucharistiefeier.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2007
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„Intercession for Priests“

„Intercession for Priests“ sind Einkehrtage für Priester mit besonderem Gebet um Heilung und Stärkung in ihren seelsorglichen Aufgaben. Begründet wurde diese Initiative von Sr. Briege McKenna und P. Kevin Scallon aus Irland (Bild oben). Pfr. Bernhard Hesse aus Türkheim kennt diese Begegnungen aus eigener Erfahrung. Er ist überaus glücklich, dass es gelungen ist, die beiden, die auf einzigartige Weise im Dienst an den Priestern der ganzen Welt stehen, zum ersten Mal nach Deutschland einzuladen.

Von Bernhard Hesse

Tief betroffen von den schwerwiegenden Erschütterungen, die viele Priester am Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre erfassten, begann ein irischer Priester zusammen mit einer irischen Ordensfrau und einigen Laien, für Priester zu beten. Sie kamen in diesem Anliegen am 16. Juli 1976, dem Fest Unserer Lieben Frau v. Berge Karmel, zum ersten Mal in einem kleinen Gebetskreis zusammen. Seither organisiert Father Kevin Scallon, ein Lazaristenpater, zusammen mit der Klarissenschwester Briege McKenna Exerzitien für Priester. Einladungen zu solchen Gebetsexerzitien erhalten die beiden aus der ganzen Welt. Allein dieses Jahr stehen neben ihrem Heimatland Irland Priesterexerzitien in Argentinien, USA, England, Dänemark, Norwegen, Färöer Inseln, Island und Brasilien auf dem Programm, bevor sie vom 5.-9. November in die Gebetsstätte Wigratzbad nach Deutschland kommen.

Fr. Kevin Scallon CM war nach seiner Priesterweihe 1961 in England und Nigeria eingesetzt. Danach übernahm er die Leitung des Missionspriesterseminars All Hallows-College in Dublin. Seit 1985 widmet er sich zusammen mit Sr. Briege ausschließlich dem Apostolat für Priester.

Schwester Briege McKenna OSC wurde in Irland geboren und trat im Alter von 15 Jahren bei den Klarissinnen ein. Sie kam als Lehrerin nach Tampa in Florida. Durch eine rheumatische Arthritis wurde sie schwer gehbehindert. Im Alter von 24 Jahren schenkte ihr der Herr bei der Feier einer Heiligen Messe eine wunderbare, vollständige und sofortige Heilung. In der Folge empfing sie selber die Gabe, für andere um Heilung zu beten. In ihrem Buch „Wunder geschehen wirklich“, das in viele Sprachen übersetzt wurde, sind zahllose Gebetserhörungen und Heilungen festgehalten.

Schwerpunkte eines jeden Treffens sind die Feier der Hl. Messe, die eucharistische Anbetung und das Gebet miteinander und füreinander. Fr. Scallon und Sr. Briege halten beide geistliche Vorträge, beten um innere Heilung und stehen für geistliche Gespräche zur Verfügung.

Die beiden haben ein besonderes Charisma, um die Teilnehmer zum Wesen ihrer Weihe und zur Größe ihrer Sendung hinzuführen. Das große Geschenk solcher Begegnungen besteht darin, dass die Priester wieder eine neue Freude an ihrer Berufung gewinnen. Schon zweimal durfte ich selbst an solchen „Intercession for Priests“ teilnehmen, einmal im All Hallows-College in Dublin, der eigentlichen Zentrale dieser Bewegung, und ein anderes Mal in Ars. Im Herbst 2005 waren dort nicht weniger als 850 Priester, Bischöfe und Kardinäle versammelt, um Sr. Briege und Fr. Kevin zu hören. Allein schon durch die weltweite Erfahrung der beiden bekommen solche Einkehrtage immer einen internationalen Charakter und lassen die Weltkirche hautnah erfahren. Beide Male durfte ich das massive Wirken des göttlichen Geistes verspüren, der nichts lieber tut, als die Herzen der Hirten zu heilen, damit sie fähig werden, besser für die ihnen anvertraute Herde zu sorgen. Ich freue mich sehr, dass es endlich gelungen ist, Sr. Briege und Fr. Kevin nach Deutschland zu holen und hier „Intercession for Priests“ zu organisieren.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2007
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Kinderkrippen im Spannungsfeld der Weltanschauungen

In der Diskussion über Kinderkrippen geht es nicht nur um eine kleine Meinungsverschiedenheit, sondern um zwei Weltanschauungen, die unversöhnt einander gegenüber stehen. Das zeigt ein Blick in die geschichtliche Entwicklung.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

1. Der Kampf gegen die Familie

Die Idee, Alternativen zur Familie zu entwickeln, ist im Grunde uralt. Dazu gehört auch die Tendenz, die Kinder möglichst früh von den Eltern weg in staatliche Obsorge zu nehmen, was zudem wirtschaftliche Vorteile bringt. So heißt es schon bei Platon:[1] „Primär gehören die Kinder der Allgemeinheit und damit dem Staat.“ Daher hat dieser das Recht, sie zu erziehen. Man sollte sie, so Platon weiter, gleich nach der Geburt ins „Säugehaus zu Wärterinnen“ bringen, dort werden sie auch nach Bedarf gestillt, von Frauen, die dazu gerade in der Lage sind, vielleicht auch von den eigenen Müttern, aber ohne dass diese in der Lage wären, ihre Kinder zu erkennen, geschweige denn, dass sie sie nach Hause mitnehmen dürften!

Auch wenn sich die heutigen Ideologen in der Regel scheuen, so unverhüllt zu formulieren wie: „Die Kinder gehören dem Staat“, sind die neuzeitlichen Ideen durchaus ähnlich. Die Familie hält man für eine mehr oder weniger überholte Lebensform, zu der es Alternativen gibt und geben muss. Auf die Frage, „Was ist das Beste für die Mütter, die Kinder und das Land?“, antwortet man sinngemäß: Das Beste ist, die Frauen kehren möglichst rasch an ihren Arbeitsplatz zurück, die Kinder werden am besten von „professionellen“ Kräften betreut, und damit ist auch der Allgemeinheit gedient. Aber im Grunde geht es um mehr: Nicht nur um Trennung von Mutter und Kind und die Erhaltung der weiblichen Arbeitskraft, sondern um Auflösung der Familie überhaupt.

Besonders deutlich herrschte bis vor kurzem noch die Familien- und damit auch Kinder-feindliche Ideologie in Schweden: Premierminister Palme verkündete den Tod der Hausfrau, und einer seiner Minister meinte, die Hausfrau gehörte ins Museum. Eine schwedische Zeitung schrieb: Hausfrauen sind Verräter. Noch brutaler drückte sich Alva Myrdal aus: Zusammen mit ihrem Mann hatte sie das Konzept der Kindestagesstätten für Schweden schon in den 30er Jahren erarbeitet. Sie schrieb über Mütter, die bei ihren Kindern bleiben: „Für schwache, dumme, faule, nicht ehrgeizige oder andere weniger intelligente Individuen ist es noch möglich, weiter in der häuslichen Atmosphäre zu bleiben und ihren Weg sowohl als Hausfrauen und Dienerinnen zu gehen…“ Am Ende landen sie ihrer Meinung nach in der Prostitution. Bezeichnend ist auch: Das Wort „Familie“ gibt es nicht mehr in den Gesetzbüchern. Ersetzt durch Haushalt. Das Grundgesetz kennt keine Elternrechte mehr.[2]

Ideologisch eingeleitet hat die Entwicklung in diese Richtung wohl Karl Marx mit dem „Kommunistischen Manifest“, in dem dieser zu wissen behauptete, „dass die bürgerliche Familie mit ihrem bürgerlichen Klimbim bezüglich der als heilig angesehenen Beziehung zwischen Eltern und Kind selbstverständlich verschwinden wird.“ Und auch verschwinden soll. Die häusliche Erziehung soll, so Marx, durch „die gesellschaftliche Erziehung“ ersetzt werden!

So versteht man auch die traditionelle Abwertung der Familie durch jene politischen Kräfte, die ihre Wurzeln im Sozialismus haben, kein Naturrecht anerkennen und die Familie zerstören wollen. Diesem Ziel dient jede ideologische und gesetzliche Erleichterung der Scheidung, die Förderung der Homosexualität und natürlich auch der Griff nach den Kindern. Denn Familie wird ein Ehepaar durch Kinder. Wer die Kinder der Familie nimmt, trifft nicht nur für diese eine folgenreiche Entscheidung, sondern stellt auch die Familie in Frage. In dieser Logik gilt: Je früher, desto bedrohlicher für die Familie. Die Kompetenz des Staates wird dabei mehr oder weniger totalitär verstanden, Eltern- und Familienrechte spielen dabei keine Rolle.

In jüngster Vergangenheit waren es vor allem die kommunistischen Staaten, die nicht nur das Privateigentum verstaatlichten, sondern mit dem Zwang zur Kinderkrippe auch die Kinder. Aber auch das sozialistisch regierte Schweden zwang durch eine entsprechende Steuerpolitik die Eltern, ihre Kinder in die Krippe abzugeben.

Die treibenden Motive für solche Politik waren stets einerseits ideologischer Natur, um möglichst frühzeitig Einfluss auf die Kinder nehmen zu können oder um die Familie als solche zu zerstören, andererseits wirtschaftliche Überlegungen: Die Arbeitskraft der Frauen sollte möglichst rasch nach der Geburt wieder der Wirtschaft zugeführt werden.

2. Primat des Elternrechtes – subsidiäres Recht des Staates

Gegen diese Entwicklg. steht die abendländische, naturrechtliche Tradition, gemäß derer die Eltern das eigentliche Erziehungsrecht haben, der Staat hingegen nur ein subsidiäres Recht, das den Eltern die Erfüllung ihrer Aufgaben ermöglichen und es nur im Notfall ersetzen soll.

Elternrecht ist ein „Naturrecht“, das auch die Kirche selbst zu respektieren hat.[3] So lehrte zum Beispiel Thomas von Aquin: Man darf ein Kind niemals gegen den Willen seiner Eltern taufen![4] Als Papst Johannes Paul II. noch ein einfacher Priester war, wurde er gebeten, ein jüdisches Kind zu taufen, dessen Eltern dem Holocaust zum Opfer gefallen waren. Der junge Priester lehnte ab, weil der Wille der verstorbenen Eltern zu achten sei!

Den Vorrang des Elternrechtes gegenüber dem Staat beschreibt J. Messner so:[5] „Alle Tätigkeit des Staates in Sachen Erziehung steht unter dem Gesetz der Subsidiarität. Das heißt: Der Staat hat kein Recht, Erziehungsaufgaben zu übernehmen, solange die Eltern fähig und willens sind, ihren Kindern den geforderten Unterricht zu vermitteln.“ Also Elternrecht vor Staatsrecht! Das ist die vom Lehramt immer wieder bestätigte Lehre der Kirche.[6]

3. Neuere Entwicklungen in Europa

Das sowjetische Weltreich brach zusammen, von der in vielen seiner Länder praktizierten Kinder-Krippen-Erziehung und ihren Folgen hörte man nicht viel. In den deutschsprachigen Ländern galt das Elternrecht. Aber in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts tauchte die Idee der Krippen-Erziehung in Europa, z.B. in Deutschland und Österreich, wieder auf, politisch vertreten durch sozialistisch und feministisch geprägte Kräfte, vorgetragen mit einem dogmatischen Anspruch, der keine öffentliche Diskussion zulassen will und auch an einer Rückfrage an die Erfahrungen mit diesem System etwa in der DDR keinerlei Interesse bekundete. Stattdessen proklamierten die zuständigen Ministerinnen die Kinderkrippe als Hilfe für die Frauen und behaupteten, diplomierte Kinderschwestern seien gut und sogar besser geeignet, Kinder zu betreuen, als die eigenen Mütter.[7] Diese, so die Doktrin, sollten wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und sich durch ihren Lohn emanzipieren. Über die Frage, wie frei oder unfrei Frauen in diesem System sind und welche Art der Kinderbetreuung wirtschaftlicher ist, war dabei nie die Rede. Eigenartigerweise strebt man dabei manchmal nach mehr Kinderbetreuungsplätzen als laut Geburtenstatistik überhaupt gebraucht werden könnten, wie M. Spieker z.B. für Deutschland nachgewiesen hat.[8]

Vor kurzem sprach der Augsburger Bischof Walter Mixa davon, dass durch diese Politik die Frauen zu „Gebärmaschinen“ degradiert würden: Sie gebären die Kinder und geben sie sofort in staatliche Obhut.

4. Triftige Gründe gegen Kinderkrippen und für das Müttergehalt

Außer Streit steht: Es gibt Fälle, in denen eine Kinderkrippe mehr oder weniger lang nötig ist. Darum muss es sie geben; und es muss alles getan werden, um ihre strukturellen Nachteile so gering wie möglich zu halten. Dies vorausgesetzt, gilt: Nicht nur ein guter Grund, viele Gründe sprechen gegen die Förderung von Kinderkrippen und für ein „Müttergehalt“, das mit Blick auf die Väter auch „Erziehungsgehalt“ genannt werden könnte.

Zu nennen ist, wie schon im letzten Heft ausgeführt, das Kindeswohl, das Wohl der Frau, das Wohl des Landes, die Reduzierung der Abtreibungen und nicht zuletzt auch das Interesse der Kirche: Ohne Familie wird die Kirche scheitern, sie wird den Glauben nicht weitergeben können und noch schwerer als bisher junge Männer für das Priesteramt gewinnen.

Zum Argument für das Kindeswohl, aber auch das des Landes und der Frauen gehört das Zeugnis von Michail Gorbatschow. Er schrieb:

„In den letzten Jahren unserer schwierigen und heroischen Geschichte haben wir es versäumt, den besonderen Rechten und Bedürfnissen der Frauen, die mit ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau und mit ihrer unerlässlichen erzieherischen Funktion zusammenhängen, genügend Beachtung zu schenken. Heute engagieren sich die Frauen in der wissenschaftlichen Forschung, arbeiten auf allen Baustellen, in der Industrie und im Dienstleistungssektor und sind schöpferisch tätig und haben daher nicht genügend Zeit, um ihren täglichen Pflichten zu Hause nachzukommen – dem Haushalt, der Erziehung der Kinder und der Schaffung einer familiären Atmosphäre. Wir haben erkannt, dass viele Mängel in unserer Moral, der Kultur, der Produktion zum Teil durch die Lockerung der familiären Bindungen und die Vernachlässigung der Verantwortung verursacht werden. Dies ist ein paradoxes Ergebnis unseres ernsthaften und politisch gerechtfertigten Wunsches, die Frau dem Mann in allen Bereichen gleichzustellen. Mit der Perestroika haben wir angefangen, auch diesen Fehler zu überwinden. Aus diesem Grund führen wir jetzt Debatten über die Frage, was zu tun ist, um es den Frauen zu ermöglichen, zu ihrer eigentlichen weiblichen Lebensaufgabe zurückzukehren … Eine der dringendsten sozialen Aufgaben … ist es, das Wohlergehen der Familie zu verbessern und ihrer Rolle in der Gesellschaft weiteren Raum zu geben."[9] Und: Alkoholismus ist Folge der „Entmutterung der Mütter."[10]

Die Berichte aus anderen, ehemals kommunistischen Ländern mit der gleichen Kollektiverziehung bestätigen das Urteil Gorbatschows. Allein dieses Zeugnis müsste genügen, um alles zu tun, die Krippen-Unterbringung der Kinder auf das absolut unvermeidliche Minimum zu reduzieren.

Die Alternative zur Kinderkrippe ist das Müttergehalt, wie immer es gestaltet und benannt wird. Feministinnen scheint die Idee gefährlich, weil dadurch ihrer Meinung nach weibliche Autonomie behindert werde. Aber das Gegenteil ist wahr! Man muss den Müttern Geld geben, wie man es auch jedem anderen Menschen gibt, der eine für die Allgemeinheit wichtige Aufgabe erfüllt; nur dann sind Frauen unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaft frei und autonom! Manfred Spieker fasst treffend zusammen: „Elterngeld, Erziehungsurlaub, Berücksichtigung von Ehe und Familie im Steuerrecht und Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht sind deshalb notwendig. Sie werden erst dann der Erziehungsleistung gerecht, wenn sie nicht nur symbolisch sind, sondern in Richtung eines Erziehungsgehalts weiterentwickelt werden und Erziehung als Beruf anerkennen. Erst dann lassen sie der Familie die Freiheit, zwischen einem Familienmanagement – in der Regel durch die Mutter in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes – und einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit zu wählen."[11]

Gegen alle neuen Tendenzen, Kinder und Eltern zu verstaatlichen und die Freiheit trotz der Erfahrungen im 20. Jahrhundert wieder zu beschneiden,[12] müssen die Freiheit der Eltern und das Elternrecht heute neu verteidigt werden. Wenn jemand am Abgrund steht, ist der Schritt zurück ein Fortschritt, hat Erzbischof Dyba treffsicher wie so oft gesagt! Was Europa braucht, ist ein zurück zum Naturrecht, das ja nicht „Sondergut“ der Kirche ist, sondern die vernünftige Basis für jeden Dialog mit Andersdenkenden, auch über Kinderkrippen und Müttergehalt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Platon: Die Gesetze, 804D und 460C.
[2] Vgl. Jan-Olaf Gustafsson: Wie Kindertagesstätten eine Nation zerstören können. In: Medizin und Ideologie 1/2007, 28-32.
[3] Vgl. Johannes Messner: Das Naturrecht. Innsbruck 1960, 481.
[4] Summa Theologica III qu. 68 a. 10.
[5] Johannes Messner, a.a.O., 484.
[6] 2. Vatikanisches Konzil: Gravissimum educationis Nr.1 und 2.
[7] Vgl. Familie und Beruf. Über einige Tabus der Vereinbarkeitsdebatte. In: Anton Rauscher (Hg.): Der Sozialstaat und die Herausforderung der Globalisierung. Köln 2007, 73-100; 87.
[8] Manfred Spieker: Ein Krippenplatz für jedes dritte Kind? in: F.A.Z. 14.4.07.
[9] Michail Gorbatschow: Perestroika. München 1987, 147f.
[10] Christa Meves: Geheimnis Gehirn. Gräfelfing 2005, 130.
[11] Manfred Spieker: Familie und Beruf. Über einige Tabus der Vereinbarkeitsdebatte, a.a.O., 90.
[12] Belege dafür bei Manfred Spieker, a.a.O., 88.

„Liebe Mütter in Deutschland!“

Die „Kölnische Rundschau“ veröffentlichte am 14. Februar 2007 folgenden „Offenen Brief“ einer in Schweden äußerst populären Erziehungsexpertin.[1]

Von Anna Wahlgren  

Liebe Mütter in Deutschland!

Schweden ist das große Vorbild für Sie in Deutschland, wo es um Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, um höhere Geburtenzahlen und um so genannte frühkindliche „Bildung“ in staatlichen Kinderkrippen. So höre und lese ich bei meinen zahlreichen Kontakten nach Deutschland. Deutsche Politikerinnen, Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen werden nicht müde, das schwedisch-skandinavische Familienmodell zur Nachahmung anzupreisen. Deshalb wende ich mich heute an Sie mit einer dringenden Warnung:

Schweden ist kein kinderfreundliches Land! Der schwedische Wohlfahrtsstaat taugt nicht als Modell für Familienfreundlichkeit, denn Kinder und alte Menschen werden beiseite geschoben, und es geht ihnen schlecht dabei. Kleine Kinder, ganztags fremdbetreut, lachen wenig, sie spielen nicht frei, fantasievoll und unbekümmert. Unsere Kindertagesstätten entpuppen sich nach 25-jähriger Erfahrung als das größte soziale und wirtschaftliche Desaster. In den Schulen herrscht Gewalt, Eltern und Lehrer werden bedroht, jedes dritte Kind leidet an einer psychologischen Störung; Depressionen, Alkohol- und Drogenprobleme unter Jugendlichen nehmen in beängstigender Weise zu. Jedes Jahr begehen 100 Kinder Selbstmord.

Wie konnte es dazu kommen? Zuerst wurde der Ruf der Nur-Hausfrauen in den Schmutz gezogen, um ihnen dann ihre Rechte zu entziehen. Dann wurde der durchschnittlichen Familie mit nur einem Einkommen die Existenzmöglichkeit genommen durch Änderungen in der Besteuerung. Massive Propaganda für ein frühes Weggeben der Kinder in Tagesstätten hat bewirkt, dass junge Eltern häufig einen totalen Mangel an Selbstvertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten als Eltern haben. In den Gesetzesbüchern ist das Wort Familie durch das Wort Haushalte ersetzt worden. Enorme Beträge werden in das System der Kindertagesstätten investiert. Doch diejenigen, die ihre Kinder selbst aufziehen wollen, erhalten nichts.

In Deutschland beobachte ich in letzter Zeit auffallend ähnliche Tendenzen. Unsere Kinder in Schweden verlieren ihr Zuhause und ihre Familien viel zu früh. Deshalb appelliere ich an Euch deutsche Mütter: Rettet Euren Kindern wenigstens die ersten drei Jahre! Gebt Eure unter Dreijährigen nicht ohne Not in institutionelle Betreuung!

Keine fremde Person ist in der Lage, Eurem Kind die Liebe und Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, die der liebenden Verbindung zwischen Euch und Eurem Kind entspricht. Kinder wollen den Alltag mit uns teilen, nicht nur besondere Augenblicke an zwei kurzen Stunden nach Feierabend.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Anna Wahlgren ist Mutter von neun Kindern und Schwedens populärste Erziehungsexpertin. In ihrem Buch „Kleine Kinder brauchen uns“ (Beltz Verlag, 394 S., 19,90 Euro) plädiert sie leidenschaftlich dafür, Kinder mindestens die ersten drei Jahre zu Hause zu behalten und mit Zuwendung und kleinen Aufgaben so eng wie möglich ins Familienleben zu integrieren. Ihren „Offenen Brief“ schrieb sie an das Familiennetzwerk Deutschland.

Papstausstellung in Altötting

Am 1. Mai 2007 eröffnete Diözesanbischof Wilhelm Schraml in Altötting eine Ausstellung über Leben und Wirken des Papstes. Anlass waren der 80. Geburtstag Benedikts XVI. am 16. April 2007 sowie sein letztjähriger Besuch in Bayern.

Von Br. Marinus Parzinger ofmcap  

Die Ausstellung mit Titel: „Bei der Mutter sind wir zu Hause!“ – sie stellt die Verbindung des Papstes zum großen Marienwallfahrtsort Altötting heraus – gliedert sich in drei Bereiche:

• die Wegstrecke von der Kindheit bis zur Papstwahl;

• die besonderen Beziehungen des Papstes zu Altötting von Kindheit an; 1934 Nachfeier zur Heiligsprechung von Br. Konrad, 1980 mit Papst Johannes Paul II. in Altötting, 500 Jahre Marienwallfahrt Altötting 1989, 400-jähriges Bestehen der Marianischen Männerkongregation Altötting 1999, mit den Regensburger Fußpilgern 2001, private Besuche wie 2002, Verleihung der Ehrenbürgerwürde 2006;

• die eindrucksvolle Begegnung in Altötting am 11. September 2006 anlässlich der Pastoralreise nach Bayern.

Neben Bild- und Texttafeln, die vielfach Papst Benedikt selbst zu Wort kommen lassen, sind Exponate zu sehen, wie z.B. das Messgewand, das Papst Benedikt am 11. Sept. 2006 trug, oder der Pilgerstab, der ihm 1999 von der MC überreicht worden war.

Auf drei Bildschirmen laufen verschiedene Videosequenzen zum Leben des Heiligen Vaters oder zum Altötting-Besuch am 11. September 2006:

• Stationen im Leben des Papstes von der Kindheit bis zur Priesterweihe, 22 min.;

• Stationen im Leben des Papstes v. d. Bischofsweihe bis zum Papstamt, 12 min.;

• der Papst und die besonderen Beziehungen zu Altötting, 15 min.;

• der Besuch des Papstes am 11. September in Altötting, 22 min.

Für Lehrer und Schulklassen werden Arbeitsblätter angeboten, die den Ausstellungsbesuch vorbereiten bzw. vertiefen können. Die Blätter sind methodisch-didaktisch abwechslungsreich gestaltet. Sie können die Nachhaltigkeit des Ausstellungsbesuches steigern:

• das Wappen des Papstes;

• die besondere Beziehung zum Wallfahrtsort Altötting;

• Papst Benedikt am 11. September 2006 in Altötting.

Der Eingang zur Ausstellung befindet sich vom Kapellplatz her ins Romanische Portal der Stiftspfarrkirche (rechts vom gewohnten Kircheneingang). Die Ausstellung erstreckt sich über einen Teil des Kreuzgangs der Stiftspfarrkirche. Sie ist der Öffentlichkeit bei freiem Eintritt zugänglich und täglich von 9.00 – 17.00 Uhr für Besucher geöffnet. Eine Broschüre über Papst Benedikt für 2,50 Euro gilt zugleich als Eintrittskarte in die neue Schatzkammer, u.a. mit dem goldenen Rössl (auf der anderen Seite des Kapellplatzes).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2007
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Auf dem Weg zum neuen Gender-Menschen (Teil I)

Die bekannte Schriftstellerin Gabriele Kuby stellt überzeugend dar, dass die Kinderkrippen-Pläne der Bundesregierung nicht nur psychologische oder pädagogische Fragen aufwerfen, in denen man auch als Christ unterschiedlicher Meinung sein kann. Sie sind Teil eines umfassenden politischen Programms, welches seit 1999 das sog. „Gender Mainstreaming“ („Gender“ bedeutet die Auflösung der Geschlechtsidentität von Mann und Frau) offiziell als „durchgängiges Leitprinzip und Querschnittsaufgabe der Bundesregierung“ durchzusetzen versucht und deshalb auch die „Verstaatlichung der Erziehung“ vorantreibt.[1] Auf zunehmend totalitäre Weise wird die Gesellschaft an einem Menschenbild ausgerichtet, das mit dem christlichen Glauben unvereinbar ist. Wir veröffentlichen den aufrüttelnden Beitrag von Gabriele Kuby in drei Teilen. In einem ersten Schritt zeigt sie, dass die Verstaatlichung der Erziehung kommunistische Wurzeln hat und eine Politik ist, die sich gegen die Bedürfnisse der Kinder, der Mütter und der Gesellschaft richtet. Im nächsten Heft werden die systematische Diffamierung der Mutterschaft und die damit verbundene familienfeindliche Politik beleuchtet. Im dritten Teil wird eindrucksvoll aufgezeigt, dass Gender Mainstreaming durch die planvolle Sexualisierung der Jugend vom Kleinkindalter an durchgesetzt wird und was dies für uns Christen bedeutet.

Von Gabriele Kuby

Vor kurzem machte ich einen Besuch bei einer befreundeten jungen Frau, deren dreijährige Tochter ich zum ersten Mal sah. Ich war schon in der Wohnung, als Sima abends vom Kindergarten nach Hause kam, wo Papa sie abgeholt hatte. Sie spähte mich aus der Entfernung misstrauisch an. Anstatt meine ausgestreckte Hand zu ergreifen, schlug sie nach mir. Sie trat auch nach Mama, als diese sie ausziehen wollte. Immer wieder stieß sie völlig unmotivierte, gellende Schreie aus. Mama wusste sich nicht zu helfen. Sie hatte gerade ihren Hochschulabschluss geschafft und war, schwanger mit dem zweiten Kind, zu Hause. Sie war froh, dass Sima den ganzen Tag im Kindergarten war, denn „wir tun uns nicht gut“. Sie fand, Sima habe einen schwierigen Charakter.

Sima war noch kein Jahr alt, als sie tagsüber zu einer Pflegemutter kam, die selbst ein kleines Kind hatte. Alles schien gut zu gehen. Sima gewöhnte sich an die Pflegemutter und hatte einen Ersatzbruder. Als sie zwei Jahre alt war, musste Mama zum Studium ein Jahr ins Ausland. Sie konnte doch jetzt wegen des Kindes nicht alles hinwerfen, auch wenn sie das am liebsten getan hätte. Aber die berufliche Situation ihres Partners war unsicher, so musste sie zur Existenzsicherung der Familie ihren Abschluss machen. Also blieb nichts anderes übrig: Sima musste sich von Tagesmutter und Tagesbrüderchen trennen und mit ins Ausland. Alle zwei Monate kam jemand anders zu Hilfe, um Sima zu betreuen, während Mama studierte. Mama hat nun ihr Examen, würde gerne loslegen im Beruf, aber sie bekommt bald ihr zweites Kind. Unfroh sitzt sie zwischen Baum und Borke.

Wie wird Sima, die in den ersten drei Lebensjahren kein Urvertrauen entwickeln konnte, sich in der Pubertät verhalten? Wie wird sie sich verhalten, wenn Mama oder Papa im Alter ihre Hilfe brauchen?

Die Grundausstattung mit Liebe

Nach einem Jahrhundert der Tiefenpsychologie wissen wir, dass die ersten drei Lebensjahre von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit sind. Wackelt das Fundament, dann wackelt die Persönlichkeit zwischen Aggression und Depression, Minderwertigkeit und Machtgelüsten. Die Defizite werden mit Ersatzbefriedigungen gefüllt, die zur Sucht entgleiten können. Traumatische Erfahrungen, wie zum Beispiel die frühe Trennung von der Mutter, werden in Leib und Seele gespeichert und können – verdrängt ins Unbewusste – neurotische Verwerfungen der Persönlichkeit bewirken. Um lieben zu können und im Laufe des Lebens immer mehr lieben zu lernen, muss ein Mensch die Erfahrung gemacht haben, dass er geliebt wird. In den Augen und den Armen eines Du erlebt er sich als ganz bejaht, als Quelle der Freude für den anderen. Ich bin liebenswert, ich bin einzigartig, ich bin gewollt, ich bin schön, ich bin gut, jubelt es dann in der Seele des so Angeschauten. Ich bin dem anderen sogar so viel wert, dass er für mich Opfer bringt. Er ist für mich da. Er ist am Anfang des Lebens sie – die Mutter.

„Das Muttergehirn“

Wer die Diskussion der letzten Monate verfolgt hat, der weiß inzwischen, dass die Gehirnforschung, die Bindungsforschung, die psychologische Forschung, die medizinische Forschung und die verheerenden Folgen der Großexperimente in kommunistischen Ländern einschließlich der DDR alle dafür sprechen, dass das Kind am besten gedeiht, wenn es in den ersten drei Jahren ganz in der Obhut der eigenen Mutter ist.[2]

Die Grundausstattung mit Liebe bekommt der Mensch normalerweise von der Mutter. Für den Liebesschub von der Mutter zum Kind sorgt die staunenswerte hormonelle Programmierung. Die Neurobiologin Louann Brizendine, ausgebildet an den Eliteuniversitäten Amerikas und heute Professorin für Neuropsychiatrie an der University of California, erklärt für jeden verständlich, wie sich die Frau durch Mutterschaft für immer verändert, „weil sich buchstäblich ihr Gehirn wandelt“.[3] In der Schwangerschaft erhöht sich der Progesteronspiegel, was ähnlich beruhigend wirkt wie Valium; während der Geburt werden Euphorie erzeugende Hormone ausgeschüttet, beim Stillen werden Mutter und Kind mit dem Glückshormon Oxytocin überschwemmt. Schon in den ersten Stunden nach der Geburt erkennen sich Mutter und Kind am Herzschlag, am Geruch, an der Stimme, und besiegeln dieses Erkennen im Blick der Liebe. Das Gehirn der Frau wird zu einem „Muttergehirn“ (Brizendine), bei dem der Beschützinstinkt jeden anderen Impuls in den Schatten stellt.

Seismographische Kommunikation zwischen der Mutter und dem Kind legt den Grund für menschliche Sensibilität. Nach und nach werden aus den Lauten, mit denen sie sich verständigen, Worte, und das Kind lernt zuerst von der Mutter die Sprache. Es lernt sie nicht vom Fernseher, vielmehr kommt es mit Sprachdefiziten in die Schule, wenn es zwar Sprechen hört, aber nicht gemeint ist und nicht antworten kann.

Ist es nicht zum Staunen: Die biologischen Abläufe drängen die Frau, eine liebende, fürsorgliche Mutter zu sein und so die besten Voraussetzungen für die Gehirnentwicklung des Säuglings und Kleinkindes und die gesamte weitere Persönlichkeitsentwicklung zu schaffen: Urvertrauen, Gemeinschaftsfähigkeit, Lernlust, Intelligenz, Gesundheit.[4] In keiner anderen Beziehung macht die Natur das Lieben so leicht wie zwischen Mutter und Kind.

Anders als das Tier muss der Mensch dem biologischen Hormonprogramm allerdings nicht gehorchen. Weil wir als einziges Geschöpf mit Willensfreiheit ausgestattet sind, sind wir dem Instinkt nicht unterworfen. Der Preis der Freiheit ist hoch: Was bei der Mutter eine Weigerung auf dem Boden einer freien Entscheidung sein kann, wird bei der Tochter und deren Tochter zu einer zugefügten Beschneidung der Freiheit. Aus dem emotional unterversorgten Baby kann eine „Mangelmutter“ werden. Sie hat selbst so wenig Liebe bekommen, dass es ihr schwer fällt, den hormonellen Impulsen zu folgen, wenn sie Mutter wird.

Keine Mutter ist perfekt und keine muss perfekt sein, denn Kinder halten sehr viel aus, um die Liebe zu den Eltern zu retten. Aber noch existiert das Wort Mutter und mit ihm das Ideal der Frau, die in der Liebesvereinigung mit ihrem Mann den Samen des neuen Lebens in sich aufnimmt, ihn in ihrem Leib wachsen lässt, das Kind trägt und gebiert, es stillt und liebkost, hegt und pflegt, beschützt und tröstet, fördert und lehrt, um es Schritt für Schritt in größere Freiheit zu entlassen, bis er oder sie reif ist, als eigenständiger Mensch in die Welt zu gehen und von der eigenen Freiheit den rechten Gebrauch zu machen.

Bindungsschäden

Wird das Kind vorzeitig von der Mutter getrennt, so lässt die hormonell vorprogrammierte emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind nicht nur das Kind leiden, sondern auch die Mutter. Sie überlässt ein schluchzendes Kleinkind nicht gerne einer Ersatzperson. Und sie will auch nicht, dass das Kind zu jemand anderem „Mama“ sagt. Das Kind tastet mit seelischen Saugnäpfen nach einer Person, an die es sich binden kann. Wenn die Mutter nicht zur Verfügung steht, dann dockt es an einer Ersatzperson an. Gelingt das in Kleingruppen mit einer „gut ausgebildeten“ Betreuerin für drei bis vier Kleinkinder, dann, so heißt es, entstehen keine auffälligen emotionalen Schäden. Aber was ist der Preis? Je besser die Bindung an die Fremdbetreuerin, umso geringer der emotionale Schaden beim Kind, aber umso geringer auch die Bindung an die eigene Mutter.

Betreuerinnen wechseln. Sie sind meist für mehr als vier Kinder da und sie haben nicht das instinktive Sensorium für das Kind wie die Mutter. Anstatt aus sicherer Geborgenheit die Welt erforschen zu können, mit der Mutter durch ein unsichtbares Gummiband verbunden, muss es in der Kleingruppe um seinen Platz kämpfen. Spätestens nach zwei Jahren Krippe und unter den besten Bindungsbedingungen an eine fremde Person wird diese Bindung durchtrennt. Bis das Kind drei Jahre alt ist, hat es bereits zweimal Trennung durchlitten: von der Mutter und von der Ersatzperson.

Ist das die seelische Ausstattung, die Kinder brauchen, um in einer Zeit, die alle Bindungen zu zerreißen droht – die Bindung an die Eltern, an den Ehepartner, an die Heimat, an Gott –, lebenstüchtig zu werden? „Alle erzieherischen Fertigkeiten der Welt können das Fehlen einer Bindungsbeziehung nicht ausgleichen. Alle Liebe der Welt kann nicht durchdringen, wenn die psychische Nabelschnur, die durch die Bindung des Kindes geschaffen wird, fehlt.“ So schreibt der amerikanische Familientherapeut Gordon Neufeld in seinem Buch „Unsere Kinder brauchen uns“.[5] – Natürlich braucht das Kind auch die Bindung an den Vater, je älter es wird, umso mehr. Beim Kleinkind kann und muss der Vater die Mutter ergänzen, aber er kann sie nicht ersetzen.

„Gleichaltrigenorientierung“

Selbst wenn Eltern das Liebesband zu ihren Kindern in den ersten Lebensjahren fest geknüpft haben, ist die Beziehung zu den heranwachsenden Kindern massiven Zerreißproben ausgesetzt. Wenn jedoch Bindungsschäden aus dem Kleinkindalter da sind, stehen die Chancen schlecht, eine liebevolle Beziehung zum Kind bewahren zu können. Gordon Neufeld nennt „die Gleichaltrigenorientierung“ als Grund und erklärt: „Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wenden sich junge Menschen, um Anleitung, Vorbilder und Führung zu finden, nicht an Mütter, Väter, Lehrer und andere verantwortliche Erwachsene, sondern an Menschen, die von Natur aus nie für die Elternrolle vorgesehen waren – ihre eigenen Altersgenossen. Sie lassen sich nicht mehr lenken, unterrichten und entwickeln keine Reife mehr, weil sie aufgehört haben, dem Beispiel Erwachsener zu folgen“ (S. 8). „In Gleichaltrigenbeziehungen gibt es keine bedingungslose Liebe und Akzeptanz, es fehlt der Wunsch zu umhegen …, die Bereitschaft für das Wachstum und die Entwicklung des anderen Opfer zu bringen“ (S. 12). Wieviele Eltern weinen selbst in intakten Familien über die Entfremdung von ihren Kindern, wenn sie in die Pubertät kommen.  Da Kultur nur vertikal, von einer Generation zur nächsten, weitergegeben werden kann – Tradition kommt vom lateinischen Wort „tradere“ = übergeben, anvertrauen, überliefern, mitteilen, lehren –, ist hier der Angelpunkt des Kulturzusammenbruchs, in dem wir uns befinden.

Noch schwingt bei dem Wort Mutter die Erinnerung an hingebungsvolle, opferbereite, dienende Liebe mit – alles Reizworte, die bei Zeitgeisthörigen die Diffamierung dessen auslösen, der sie gebraucht. Aber ist Hingabe bis zur Bereitschaft, die Interessen des anderen vor die eigenen zu stellen, nicht der Prüfstein der Liebe? Dieses Ideal aufzugeben, gefährdet die Existenz des Einzelnen, der Familie, der Gesellschaft. Denn der Einzelne, die Familie und die Gesellschaft sterben, wenn die Quelle der Liebe versiegt.

Elternfreude

Kleine Kinder, ich weiß es von meinen eigenen dreien, strotzen vor Lebensfreude und Kreativität, wenn sie bekommen, was sie brauchen. Sie füllen das Haus mit Lachen und Weinen, sie schaffen für die Eltern die Welt neu mit ihrer bedingungslosen Liebe und ihrem grenzenlosen Vertrauen. Sie verlangen Hingabe und Opfer, so wie auch wir durch Hingabe und Opfer unserer Eltern Mensch geworden sind. (Jeder Mangel und jede Verletzung, die wir erlitten haben, sollte uns Aufruf sein, nicht das Gleiche unseren Kindern zuzufügen.) Aber welche Freude und Erfüllung, im Werden eines Menschen die wichtigste Person zu sein als Mutter und als Vater. Ob das Leben einen Sinn hat? Ja! Ja, es hat Sinn, das Leben weiterzugeben, dem Leben zu dienen. Es ist die erste Berufung des Menschen, denn zuerst einmal muss er existieren, bevor er Kultur schaffen oder „Karriere machen“ kann. Unsere erste Berufung als Frau ist die Mutterschaft, die zweite der Beruf. Wenn genügend Frauen die erste Berufung verweigern, stirbt ein Volk aus. Die demographischen Zahlen sind ideologieresistent.

Auch der Gottgeweihte hat keine andere Berufung, als nämlich durch hingebungsvolle, dienende Liebe zum geistlichen Vater und zur geistlichen Mutter zu werden. Hat nicht jeder Hochachtung vor Menschen, die ihre erste Berufung erfüllen?

Beruf oder Berufung?

Im schönen Wort Beruf steckt das Wort Berufung. Wenn der Beruf Berufung ist, dann ist die Entscheidung, wie wir unsere Lebensenergie einsetzen, nicht das Ergebnis von Selbstverwirklichungsambitionen und Karriereplanung, sondern von einem beständigen Horchen auf den Willen Gottes. Es ist eine religiöse Lebenshaltung, die im Chaos dieser Zeit zu der Erfahrung führen kann, dass es einen Plan für mein Leben gibt, dessen Erfüllung inneren Frieden schenkt. Die Karrierefrau sagt: „Ich will wachsen.“ Die Mutter sagt: „Du sollst wachsen.“ Das Fragen nach Berufung löst diesen Widerspruch auf, weil im Hören auf Gottes Willen der Egoismus überwunden wird und gedeihliche Lebenssituationen entstehen – für mich und für die Menschen, für die ich verantwortlich bin. Dabei geht es nicht nur um die großen Weichenstellungen, sondern auch um die alltäglichen. Meine Erfahrung war, dass die Entscheidung, die Bedürfnisse der Kinder an erste Stelle zu setzen, zur Folge hatte, dass sich die anderen Notwendigkeiten gefügt, „adaptiert“, haben. Nicht das Kind muss der Karriere weichen, sondern der Beruf muss sich an die Bedürfnisse des Kindes anpassen. Dieses „adaptive Modell“ wird, laut Prof. Hans Bertram, von 60 Prozent der Frauen bevorzugt.[6] Dazu müssen Politik und Wirtschaft die Voraussetzungen schaffen.

Krippe, Kälte, Kollektiv

Die Diffamierung der Mutter mit den drei Ks Kinder, Küche, Kirche gehört zum Grundwortschatz der Meinungsmacher. Ist es verachtenswert, wenn sich eine Frau einige Jahre hauptberuflich um die eigenen kleinen Kinder kümmert, für familienerhaltende gemeinsame Mahlzeiten sorgt, sich der Glaubensweitergabe an die Kinder annimmt, wenn sie unentgeltlich Gutes tut, wofür der Staat Milliarden ausgeben muss, wenn Frauen dafür keine Zeit mehr haben? Nein, da ist ein Job, zum Beispiel als Betreuerin von fremden Kindern in der Krippe, doch weit respektabler. Da kann man dann das Geld verdienen, um für die eigenen Kinder die staatliche subventionierte Fremdbemutterung zu bezahlen. Dort werden dann die überlebenswichtigen drei Ks durch drei neue ersetzt: Krippe, Kälte, Kollektiv. Oder könnte man das Problem dadurch lösen, dass man den Fremdmüttern samt ihren fremden Kindern Oxytocin verabreicht?

Verantwortungssplitting

Die beste Voraussetzung, um den Anforderungen der Existenzsicherung, den Bedürfnissen der Kinder und der beruflichen Entfaltung beider Partner – in dieser Reihenfolge! – gerecht zu werden, ist eine gute Ehe, die flexibles Verantwortungssplitting ermöglicht, je nach Situation in einer Welt der sicheren Krisen. Die dazu nötige Überwindung starrer Rollenfixierungen ist längst geschehen. Dazu brauchen wir kein Gender Mainstreaming.

Ein Argument für die Krippenerziehung ist immer wieder: Kinder brauchen glückliche Mütter. Stillschweigend wird dabei unterstellt, dass die Mutter nur glücklich sein kann, wenn sie berufstätig ist. Aber welche Mutter ist glücklich, wenn sie fühlt, dass sie dem Kind nicht geben kann, was das Kind in seiner jeweiligen Entwicklungsstufe braucht? Kein beruflicher Erfolg kann das wettmachen. Was wird zählen, wenn die Berufsarbeit vorbei ist, wenn die Kräfte nachlassen, wenn der Tod in Sicht kommt und die Lebensbilanz gezogen wird: die verflossene Karriere oder die Weitergabe des Lebens? Der eigene Erfolg oder die liebevolle Beziehung zu den Kindern? Wer wird uns vor Euthanasie bewahren, wenn in absehbarer Zeit dies in einer heidnischen Gesellschaft als Endlösung der Kostenexplosion und als Erlösung von Leid akzeptiert wird – wenn nicht unsere eigenen Kinder?

Anne Sophie Mutter wurde in einem Interview im Jahr 2007gefragt: „Was ist das Schönste in Ihrem Leben?“ Sie sagte nicht: Die Musik, die Ovationen, die Freunde, nein, sie antwortete: „Mit meinen Kindern zusammen sein.“ Ich kann es bestätigen: Nichts erfreut mich mehr, als mit den drei erwachsenen, selbstständigen Persönlichkeiten, die meine Kinder sind, am Tisch zu sitzen und darüber zu sprechen, was gut und richtig und wahr ist in ihrem Leben, in meinem Leben und in der Welt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Von Gabriele Kuby: (1) Die Gender Revolution. Relativismus in Aktion, 160 S., ISBN 978-3-939684-04-6. (2) Verstaatlichung der Erziehung. Auf dem Weg zum neuen Gender-Menschen, 64 S., ISBN 978-3-939684-09-1.
[2] Studien dazu auf www.familie-ist-zukunft.de
[3] Louann Brizendine: Das weibliche Gehirn, Hamburg 2007, S. 153.
[4] Christa Meves: Geheimnis Gehirn. Warum Kollektiverziehung und andere Unnatürlichkeiten für Kleinkinder schädlich sind, Gräfelfing 2005.
[5] Gordon Neufeld/Gabor Maté: Unsere Kinder brauchen uns. Die entscheidende Bedeutung der Kind-Eltern-Bindung, Bremen 2006.
[6] Hans Bertram: Nachhaltige Familienpolitik, 2005. Studie im Auftrag des Familienministeriums.

Jerusalem – Rom – Fatima

Paul Badde ist für die Entdeckung von vergessenen Schätzen der katholischen Kirche bekannt. Einer davon ist die sog. „Advocata“, eine Marienikone in Rom. Nicht, dass niemand um dieses Bild gewusst hätte, doch ist es Badde auf einzigartige Weise gelungen, dessen Bedeutung neu herauszuarbeiten und die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit für dieses uralte Zeugnis hingebungsvoller Verehrung der Gottesmutter zu gewinnen. Nachfolgend nimmt uns der weltbekannte Journalist mit auf seine heilsgeschichtliche Entdeckungsreise und spannt den Bogen von Jerusalem über den Monte Mario in Rom nach Fatima. Er lässt den Marienerscheinungsort aus der neueren Zeit im Licht der altehrwürdigen Advocata-Ikone aufleuchten. Gleichzeitig deutet er die Botschaft von Fatima in unvoreingenommener und begeisternder Weise auf dem Hintergrund seiner persönlichen Beobachtungen. Ein edler Beitrag zum 90jährigen Jubiläum von Fatima.

Von Paul Badde

Die Advocata ist keine Anwältin im üblichen Sinn, sondern ein uraltes Bild auf brüchigem, von Würmern fast schon zerfressenem Holz. Dennoch habe ich sie entdeckt, als ich gerade wieder einmal einen Anwalt nötig hatte. Das Handy klingelte, als ich vor ihr stand, und ich schaltete es gleich aus. Sonst störte uns kein Geräusch. Jahre zuvor hatte ich mir vorgenommen, dieses Bild aufzusuchen, sobald ich nach Rom kommen würde, seit Bernhard Maria, ein Mönch vom Zionsberg, sie uns in Jerusalem ans Herz gelegt hatte. Da hatten wir gerade in einem verwinkelten Haus hinter dem Viertel der Armenier ein dunkles Bild Marias auf Hirschleder entdeckt, von dem der syrische Erzpriester unter Schwüren versicherte, dass es von Lukas, dem Evangelisten, selber stamme. War der Anspruch nicht lächerlich? „Ach, eine Lukas-Ikone“, lächelte Bernhard Maria hingegen nur. Er kannte zwölf solcher Bilder, nach dem Augenschein und Hörensagen, von denen sich das ehrwürdigste in Rom befinden sollte, in einem Kloster auf dem Monte Mario.

Der unendlich vertraute, brunnentiefe Blick der Mutter

Morgensonne durchflutet den Kirchenraum auf dem Römischen Hügel, als ich ihn endlich gefunden hatte. Von links dringt der Gesang einiger Stimmen durch ein Gitterfenster in den Altarraum. Daneben schaut durch ein anderes schweres Eisengitter das Bild der Madonna hervor, das wir so lange gesucht haben. Sie schaut traurig, im Schatten des überladenden Schmucks, mit dem Pilger und Liebhaber sie umgeben haben: mit Gold, Edelsteinen, Rosenkränzen. „Einen Moment!“ höre ich da eine leise Stimme hinter dem Bild, „warten sie!“ Links und rechts neben der Madonna klappen zwei kleine Fensterchen auf, dann setzt sich der ganze Rahmen in Bewegung und wird von hinten gedreht. Das geschmückte Bild war die Rückseite, es war nur eine Kopie der wahren Advocata.

Das Bild selbst hingegen ist ganz in diesem Tresor zuhause, aus dem es sich uns nun zuwendet: ohne jeden Schmuck. Ein Lämpchen beleuchtet es von oben. Die Tafel ist etwa eine Elle breit, anderthalb Ellen hoch. Haarrisse durchziehen die Kornfeldfarbe ihrer Haut und die korallroten Lippen, unterbrochen von vielen kleinen restaurierten Inseln. Der Rest war wohl nicht zu retten. Nur dieses Antlitz hat sich zwischen allem Verfall und aller Auflösung in unvergleichlichem Glanz erhalten, als einzigartiges Fragment, unendlich vertraut. Wie das vollmondrunde Gesicht der Mutter vor dem schielenden Blick jedes Neugeborenen, wenn sie sich erstmals über ihn beugt. Sie schaut nicht traurig. Ihre Hände sind mit Gold überzogen und weisen nach rechts, wie zu einem Weg. So beseelt wie in ihrem brunnentiefen Blick scheint kein Mensch aus der Tiefe der Zeit auf uns zuzukommen.

„Habt keine Angst, ich komme vom Himmel!“

Es muss derselbe Blick gewesen sein, mit dem die Jungfrau Maria vor 90 Jahren in Fatima am 13. Mai um die Mittagszeit den drei kleinen Hirtenkindern Lucia, Jacinta und Francisco auf einer Viehweide im Herzen Portugals jede Angst nahm, als sie plötzlich nach einem mächtigen Blitzstrahl aus dem wolkenlosen Himmel über einer kleinen Steineiche, von wunderschönem Licht umstrahlt, vor ihnen schwebte und sagte: „Habt keine Angst!“

Es war ein unglaublicher Anblick und die Kinder wussten schon, noch bevor sie die Frau befragten, woher sie komme, welche Antwort sie erhalten würden: „Vom Himmel!“ Es konnte gar nicht anders sein. Denn auch in Fatima erschien sie als die Advokatin der Gläubigen, der Friedfertigen und der Geplagten. Als die, die ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis retten will. Als die, die alle in ihren liebenden Blick nimmt und zu Christus hinführen möchte.

Riesige Flammen schlagen neben der „Capilinha“ in die Höhe, eine Rauchsäule steigt Tag und Nacht in den ausgewaschenen Himmel Fatimas. So ähnlich muss das Feuer über dem Tempelplatz Jerusalems früher wohl auch gelodert haben, wenn das alte Israel an seinen großen Pilgertagen in die Hauptstadt strömte und das Fett seiner Opfertiere in dunklen Schwaden und Rauchwolken zum Ölberg hinüberzog. Hier sind es die Opferkerzen, die die Portugiesen gleich kiloweise in die Brandroste werfen. Aus allen Landesteilen sind Abertausende von Menschen in den letzten Tagen zu der kleinen Kapelle vor der großen Basilika gepilgert, Männer und Frauen, Alte und Junge, Bauern und Fischer, Ärzte und Priester, mit dem Auto, zu Fuß, auf den Knien, mit riesigen Bündeln auf den Schultern, mit Neugeborenen im Arm und ihren archaischen gegerbten Seefahrergesichtern.

Die blutrote Sonne vor 70 000 Zeugen

Denn nicht Lissabon, sondern Fatima ist die spirituelle Hauptstadt Lusitaniens, es gibt in Europa keinen vergleichbaren Platz. Und jetzt beginnen alle Pilger miteinander den Tag wieder mit dem Rosenkranz. Links vom Kirchturm zeichnet sich die schwarze Silhouette eines Pinienhains in das Rosa des morgendlichen Horizonts, rechts das durchsichtige Muster eines hoch aufragenden Eukalyptuswäldchens. Das silberne Oval des Mondes leuchtet auf die golden schimmernde Christusstatue in der Platzmitte herab. Portugal war 1917 nicht das Land, das es heute ist. Im Jahr 1910 hatten die Revolutionäre von Lissabon ausdrücklich dekretiert, „den Katholizismus in spätestens zwei Generationen vollständig zu erledigen“. Die meisten Kirchen waren schon geschlossen, und die Ordensleute vertrieben, als 1917 mit den Ereignissen von Fatima jene Wende in das Land kam, der dieser Tag heute seinen unvergleichlichen Glanz verdankt.

Diese Geschichte ist wohl dokumentiert und in Grundzügen schnell erzählt. Am spektakulärsten war dabei ein unerklärliches letztes Naturphänomen für etwa zehn Minuten am 13. Oktober, bei dem die Sonne vor 70.000 Zeugen zu kreisen begann und Strahlen in Regenbogenfarben versprühte. Danach verfärbte sie sich blutrot und stürzte im Zickzack den entsetzten Zuschauern entgegen, allerdings nur, um ihre vom vorherigen Regen völlig durchnässte Kleidung in Sekunden zu trocknen.

Unglaublich: Sie bringen freiwillig Opfer für unbekannte andere

Die wörtliche Wiedergabe der Nachrichten der Madonna verdankt sich hingegen ausschließlich dem dritten der Seherkinder: Lucia dos Santos, die erst vor zwei Jahren 98jährig als Karmeliterin in einem Kloster in Nordportugal verstarb. Ihr verdankt sich die Überlieferung der drei berühmten Geheimnisse: der angekündigte frühe Tod der beiden anderen Kinder und ein zweiter Weltkrieg, die „Errettung Russlands“ und ein drittes, das erst nach der Verfügung Johannes Paul II. im Jahr 2000 öffentlich gemacht wurde. Ausführliche Kommentare dieser Vorgänge füllen viele Bände, ebenso zu den Botschaften der Jungfrau an die Kleinen: ihr immer wiederholter Aufruf zur Umkehr und Änderung des Lebens, zur Buße und Sühne und zum Gebet, vor allem des Rosenkranzes.

Durch die endlose Masse schieben sich auch jetzt wieder Menschen auf den Knien über vorbereitete glatte Marmorwege über den Platz, mit Kindern im Arm oder auf dem Rücken, von Verwandten oder Freunden gestützt, manche auf allen Vieren, mit bandagierten Knien, Blinde mit zugenähten verwachsenen Augen, Kranke, junge Männer und alte Frauen, alle mit einem Rosenkranz um die Hände gewunden und dem immer wiederholten Ave Maria auf den Lippen. All dies tun sie freilich nicht um ihrer Wünsche willen oder zur Erhörung ihrer Gebete. Es ist unglaublich: Sie tun es freiwillig auf Wunsch der Jungfrau, zur Sühne für die Sünden unbekannter anderer. Der Opferweg führt sie in die Basilika von Fatima, die „Unserer lieben Frau vom heiligsten Rosenkranz“ geweiht ist, jenem alten abendländischen Gebetsreigen, der in der Wiederholung von fünf Vaterunser und 50 Ave Maria einmal die Kindheit Jesu, sein öffentliches Leben, seine Passion und viertens die Verherrlichung Christi umkreist.

Urbild des Rosenkranzes

Es ist der gleiche Reigen, der mich immer wieder den Weg von Fatima zurück zu dem uralten Lukas-Bild auf dem Monte Mario führt, dessen Lindenholz so zerfressen ist, dass sich das Alter nicht bestimmen lässt. Denn dieses Bild ist das Urbild des Rosenkranzes, den zu beten die Muttergottes in Fatima den Menschen so dringend und flehend ans Herz gelegt hatte. San Domenico di Guzman, dem die Christenheit den Rosenkranz und seine Verbreitung ganz wesentlich verdankt, hat das Bild am 28. Februar 1221 eigenhändig von S. Maria in Tempulo in sein erstes neu gegründetes Frauenkloster getragen. Vor diesem Bild wurden die ersten Rosenkränze gebetet, die über die Lippen gläubiger Menschen gingen. 1575 wanderte es von dort nach SS. Domenico e Sisto an der Piazza Magnanapoli, von dort kam es 1931 auf den Monte Mario. Davor erhellen nur noch Legenden ihren Weg durch das Dunkel der Zeit wie ein Nimbus, von denen eine Schwester Salomona 1656 die schönsten in einer Chronik versammelt hat.

Dass Lukas das Bild im Abendmahlssaal auf dem Zionsberg gemalt habe, war ihr keine Frage. Darum auch dieser Blick, der gesehen hatte, wie ihr Sohn in Armeslänge neben ihr zu Tode gemartert wurde. Musste sie danach nicht selbst zur ersten Ikone ihres Sohnes unter den Aposteln werden? Johannes aber, nicht Lukas, habe das Bild danach aus Jerusalem nach Ephesus gebracht, von wo es später nach Konstantinopel und Europa gelangt sei. – Hier hielt Thomas von Aquin im Mittelalter fest, dass für den Glauben der Christen nicht nur die Heilige Schrift, sondern auch die Überlieferung eine wesentliche Rolle spielte. Als besonderes Beispiel authentischer Traditionen wies er auf die von Lukas gemalten Ikonen hin. Kann er dabei eine andere als die Advocata gemeint haben? Er kannte Rom und war Dominikaner, nur eine Generation nach Dominikus, der diese Ikone seinem Orden einverleibt hatte, die ihren letzten Platz heute auf dem Monte Mario gefunden hat.

Ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende

Das Fragment mit dem Gesicht Marias in der Klausur der Dominikanerinnen ist immer noch ergreifend wie am ersten Tag, als verborgenes Weltwunder. Für alle, die sie kennen, ist es keine Frage, dass sie die schönste aller Madonnenbilder ist. Ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende, sagt sie mit alterslosem Blick. Fängt sie nicht gerade noch einmal an? Die Nonnen aber, die „das süße Bild in unzertrennlicher Gemeinschaft“ verwahren, werden immer älter. Von dreizehn Schwestern sind fünf über 80, eine ist 92. Wasser kommt durch manche Wände, die Leitungen sind alt und brüchig, Schwester Maria Angelica, die Oberin, kann ihre Schulden nicht bezahlen, die Telefone funktionieren nicht. Sie ist dringend auf Spenden angewiesen und weiß sie nur noch herbei zu beten.

Es ist die Insel einer Welt, die – rein soziologisch betrachtet – akuter vom Untergang bedroht ist als die Gletscher der Schweiz. Als ich mein Handy nach unserem ersten Besuch vor der Tür wieder einschaltete, erfuhr ich, dass sich der Fall, für den ich einen Anwalt suchte, gerade von selbst gelöst hatte. Ich drehte mich noch einmal um. Wie atemberaubend schön sie ist! Maria „ist unsere Anwältin bei Gott“, sagte Benedikt XVI. am 11. September letzten Jahres in Regensburg, darum habe sie den Titel „Advocata“ erhalten. Und sie ist den Menschen immer nahe – ob hier in diesem Bild, ob auf dem großen Platz in Fatima, oder in irgendeinem Hinterzimmer, in dem ein unscheinbarer Mensch, die Rosenkranzperlen durch seine Finger gleiten lässt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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