Papstbesuch stärkt die Kirche in Österreich

Nach einer OGM-Umfrage des österreichischen Nachrichtenmagazins „profil“ bewerten 63 Prozent der Österreicher den Papstbesuch vom 7. bis 9. September 2007 für die Entwicklung der katholischen Kirche äußerst positiv. Eine erfreuliche Bilanz und eine entscheidende Hilfe für die von Krisen geschüttelte Kirche in Österreich. Bei der Generalaudienz am 12. September 2007 blickte Papst Benedikt XVI. selbst auf die einzelnen Stationen seiner Reise zurück und fasste deren Bedeutung kurz und prägnant zusammen. Nachfolgend einige Auszüge mit den wichtigsten Gedanken.

Von Papst Benedikt XVI.

Die erste Etappe war bei der Mariensäule, der historischen Säule, die die Statue der Unbefleckten Jungfrau trägt. Dort, wo ich Tausenden von Jugendlichen begegnet bin, habe ich meine Pilgerreise begonnen. Ich versäumte es danach nicht, mich zum Judenplatz zu begeben, um dem Mahnmal der Shoah die Ehre zu erweisen.

Begegnungen mit dem Bundespräsidenten und dem Diplomatischen Corps

Mit Blick besonders auf Europa habe ich erneut meine Ermutigung bekräftigt, den aktuellen Integrationsprozess auf der Grundlage von Werten voranzutreiben, die am gemeinsamen christlichen Erbe inspiriert sind.

Mariazell ist im Übrigen eines der Symbole der Begegnung der Völker Europas im Zeichen des christlichen Glaubens. Wie sollte man vergessen, dass Europa Träger einer Denktradition ist, die Glaube, Vernunft und Gefühl miteinander verbindet? Bedeutende Philosophen haben auch unabhängig vom Glauben die zentrale Rolle des Christentums anerkannt, die es bei der Bewahrung des modernen Bewusstseins vor dem Abdriften in den Nihilismus oder Fundamentalismus einnimmt.

Höhepunkt der Reise in Mariazell

Die Wallfahrt im eigentlichen Sinne habe ich am Samstag, dem 8. September, am Fest Mariä Geburt unternommen, dem das Heiligtum von Mariazell geweiht ist.

Es ist für mich eine große Freude gewesen, als Nachfolger des Petrus zu jenem heiligen und den Völkern Mittel- und Osteuropas so teuren Ort zurückzukehren. Dort habe ich die beispielhafte Unverzagtheit abertausender von Pilgern erlebt, die bei dieser Feier trotz Regen und Kälte dabei sein wollten, mit großer Freude und großem Glauben, und wo ich ihnen das zentrale Thema meines Besuches erläutert habe – „auf Christus schauen“, das Thema, das die österreichischen Bischöfe weise während des neunmonatigen Vorbereitungsweges vertieft hatten. Erst aber mit der Ankunft beim Heiligtum haben wir den Sinn dieses Mottos „Auf Jesus schauen“ in seiner Tiefe erfasst: Vor uns standen die Statue der Gottesmutter, die mit einer Hand auf das Jesuskind zeigt, und oben, über dem Altar der Basilika, das Kreuz. Dort hat unsere Wallfahrt ihr Ziel erreicht: Wir haben das Antlitz Gottes in jenem Kindlein im Arm der Mutter und in jenem Mann mit weit ausgebreiteten Armen betrachtet. Jesus mit den Augen Mariens schauen heißt, dem Gott zu begegnen, der die Liebe ist und für uns Mensch geworden und am Kreuz gestorben ist.

Am Ende der Messe in Mariazell habe ich den Mitgliedern der Pfarrgemeinderäte, die vor kurzem in ganz Österreich neu gewählt worden sind, die „Missio“ übertragen – ein viel sagender kirchlicher Gestus, mit dem ich das große „Netz“ der Pfarreien unter den Schutz Mariens gestellt habe, die im Dienst an der Gemeinschaft und der Mission stehen.

Vesper mit Priestern, Ordensleuten, Diakonen und Seminaristen

Diese Personen strengen sich trotz ihrer menschlichen Grenzen – mehr noch: gerade in der Einfachheit und Demut ihrer Menschlichkeit – an, allen einen Abglanz der Güte und der Schönheit Gottes zu bieten, indem sie Jesus auf dem Weg der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams nachfolgen; drei Gelübde, die gut in ihrer wahren christologischen, nicht individualistischen, sondern beziehungsmäßigen und kirchlichen Bedeutung verstanden werden müssen.

Feierliche Eucharistie im Wiener Stephansdom

Am Sonntagvormittag habe ich in besonderer Weise die Bedeutung und den Wert des Sonntags vertiefen wollen, zur Unterstützung der „Allianz für den Sonntag“. Zu dieser Bewegung gehören auch nichtchristliche Menschen und Gruppen.

Als Gläubige haben wir natürlich tiefe Gründe, um den Tag des Herrn so zu leben, wie es uns die Kirche gelehrt hat. „Sine dominico non possumus! – Ohne den Herrn und ohne seinen Tag können wir nicht leben“, erklärten die Märtyrer von Abitene (im heutigen Tunesien) im Jahr 304. Auch wir Christen des dritten Jahrtausends können nicht ohne den Sonntag leben: ein Tag, der der Arbeit und der Ruhe Sinn gibt, der die Bedeutung von Schöpfung und Erlösung vergegenwärtigt sowie den Wert der Freiheit und des Dienstes am Nächsten zum Ausdruck bringt. … All das ist der Sonntag – bedeutend mehr als ein Gebot!

Wenn die Völker antiker christlicher Zivilisation diese Bedeutung aufgeben und es zulassen sollten, dass der Sonntag zum Wochenende oder zur Gelegenheit weltlicher oder kommerzieller Interessen wird, so würde dies heißen, dass sie beschlossen hätten, der eigenen Kultur zu entsagen.

Zisterzienser-Abtei und Philosophisch-Theologische Hochschule Heiligenkreuz

Ich habe die große Lehre des heiligen Benedikt zum göttlichen Officium in Erinnerung gerufen und dabei den Wert des Gebetes als Gott geschuldeten Dienst des Lobes und der Anbetung für seine unendliche Schönheit und Güte hervorgehoben. Diesem heiligen Dienst darf nichts vorangestellt werden, besagt die Regel des heiligen Benedikt (43,3), damit das gesamte Leben mit seinen Zeiten der Arbeit und der Ruhe in der Liturgie wiederholt und auf Gott ausgerichtet wird.

Auch das Studium der Theologie darf nicht vom geistlichen Leben und vom Gebet getrennt werden, wie gerade der heilige Bernhard von Clairvaux eindringlich betonte, der Vater des Zisterzienserordens. Die Existenz der theologischen Akademie neben der Abtei legt Zeugnis ab für diesen Bund von Glaube und Vernunft, von Herz und Geist.

Begegnung mit Ehrenamtlichen im Wiener Konzerthaus

Die letzte Begegnung meiner Reise war die mit den Ehrenamtlichen und Freiwilligen aus dem sozial-karitativen Bereich. … Der ehrenamtliche Dienst ist nicht nur ein „Tun“, er ist vor allem eine Art zu sein, die aus dem Herzen hervorgeht, aus einer Haltung der Dankbarkeit gegenüber dem Leben, und die dazu antreibt, die empfangenen Gaben „zurückzuerstatten“ und mit dem Nächsten zu teilen. In dieser Hinsicht wollte ich von neuem zur Kultur des ehrenamtlichen Dienstes ermutigen.

Einige weitere ausgewählte Gedanken:

„Dieses Heiligtum der Muttergottes repräsentiert gewissermaßen das mütterliche Herz Österreichs!“

„Abtreibung kann kein Menschenrecht sein – sie ist das Gegenteil davon. Sie ist eine ,tiefe soziale Wunde’, wie unser verstorbener Mitbruder Kardinal Franz König zu betonen nicht müde wurde.“

„Der Dekalog ist zunächst ein Ja zu Gott, zu einem Gott, der uns liebt und uns führt, der uns trägt und uns doch unsere Freiheit lässt, ja sie erst zur Freiheit macht (die ersten drei Gebote). Er ist ein Ja zur Familie (4. Gebot), ein Ja zum Leben (5. Gebot), ein Ja zu verantwortungsbewusster Liebe (6. Gebot), ein Ja zur Solidarität, sozialen Verantwortung und Gerechtigkeit (7. Gebot), ein Ja zur Wahrheit (8. Gebot) und ein Ja zur Achtung anderer Menschen und dessen, was ihnen gehört (9. und 10. Gebot).“

„Europa kann und darf seine christlichen Wurzeln nicht verleugnen. Sie sind ein Ferment unserer Zivilisation auf dem Weg in das dritte Jahrtausend.“

„Wahrheit setzt sich nicht mit äußerer Macht durch, sondern sie ist demütig und gibt sich dem Menschen allein durch die innere Macht ihres Wahrseins. Wahrheit weist sich aus in der Liebe. Sie ist nie unser Eigentum, nie unser Produkt, sowie man auch die Liebe nicht machen kann, sondern nur empfangen und weiterschenken kann. Diese innere Macht der Wahrheit brauchen wir. Dieser Macht der Wahrheit trauen wir als Christen. Für sie sind wir Zeugen.“

„Das Ja zu einem freiwilligen und solidarischen Engagement ist eine Entscheidung, die frei und offen macht für die Not des anderen; für die Anliegen der Gerechtigkeit, des Lebensschutzes und der Bewahrung der Schöpfung. Im Ehrenamt geht es um die Schlüsseldimensionen des christlichen Gottes- und Menschenbildes: die Gottes- und die Nächstenliebe.“

„Ihr, liebe Priester und Ordensleute, leistet einen großen Beitrag: Inmitten von aller Gier, allem Egoismus des Nicht-Warten-Könnens, des Konsumhungers, inmitten des Kultes der Individualität versuchen wir, eine uneigennützige Liebe zu den Menschen zu leben. Wir leben eine Hoffnung, die Gott die Erfüllung überlässt, weil wir glauben, dass er erfüllt.“

„Wo eine ‚kniende Theologie’ getrieben wird, wie sie Hans Urs von Balthasar gefordert hat, da wird die Fruchtbarkeit für die Kirche in Österreich und darüber hinaus nicht fehlen.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Märtyrer des Gewissens

Franz Jägerstätter (1907–1943) ist eine der herausragenden Gestalten des christlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Der junge Bauer und Familienvater aus Oberösterreich verweigerte nicht nur jegliche Unterstützung für die NSDAP, sondern auch das Mitkämpfen in der deutschen Wehrmacht. Dafür wurde er zum Tod verurteilt und hingerichtet. Am 26. Oktober 2007, dem österreichischen Nationalfeiertag, wird er nun im Linzer Mariendom von Kardinal José Saraiva Martins, dem Präfekten der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, im Namen von Papst Benedikt XVI. selig gesprochen. Wie die österreichische Bischofskonferenz hervorhebt, war er ein „Märtyrer des Gewissens“ und ein „Zeuge der Seligpreisungen der Bergpredigt“. Mit der Seligsprechung erkläre die Kirche, „dass Franz Jägerstätter nicht nur zu den bei Gott Vollendeten (Seligen) gehört, sondern dass sein Leben und Handeln in herausragender Weise vorbildhaft ist und damit ein Zeichen Gottes für die gegenwärtige Zeit darstellt“.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Am 9. August 1943 wurde Franz Jägerstätter hingerichtet, weil er sich geweigert hatte, in der deutschen Wehrmacht Adolf Hitler zu dienen, und dafür zum Tode verurteilt worden war. Dazu muss man wissen: Nach eigener Aussage hätte er dem Kaiser gedient und hatte Jahre vor dem Anschluss Österreichs an das Hitlerreich der Einberufung von Seiten des österreichischen Bundesheeres ohne Probleme Folge geleistet. Er war also kein Pazifist, der das Tragen der Waffe in jedem Fall ablehnte. Sein Nein bezog sich auf den Krieg Adolf Hitlers und gründete in einer tiefen Einsicht in das Böse, das der Nationalsozialismus verkörperte, und das Unglück, in das er ganz Europa stürzte. Diese Einsicht verdankte er vor allem einem visionären Traum.

Irrtum des Gewissens oder Zeugnis für „Recht und Wahrheit“?

Nun, ab dem 26. Oktober 2007 wird ihn die Katholische Kirche als einen ihrer „Seligen“ verehren. Abgesehen davon, dass ich bei Selig- oder Heiligsprechungsakten den kirchlichen Behörden, die den Fall studiert und alle Für und Wider abgewogen haben, vertraue und vor allem dem Letzturteil des Heiligen Vaters: Ich halte diese Entscheidung für sachlich richtig in jeder Hinsicht. Für die ganze Kirche, nicht nur für Europa, ist sie von größter Bedeutung!

Daher freue ich mich darüber, obwohl ich verstehe, dass diese Seligsprechung für manche Menschen auch schwer ist anzunehmen: Sie meinen nämlich, damit würden mit zwingender Logik ihre Väter verurteilt, die am Krieg teilnahmen. Schwer anzunehmen ist sie auch für jenen Militär-Seelsorger, der behauptet, Jägerstätter sei zwar tapfer gestorben, wäre dabei aber einem Irrtum seines Gewissens gefolgt. Etwas abfällig spricht er dann sogar von einem „gemachten Jägerstätter-Kult“ und glaubt zu wissen, dass auch andere Priester „hinter vorgehaltener Hand“ redeten wie er.

Die katholische Lehre über den Krieg

Um Klarheit in diese Frage zu bringen und gleichzeitig um die Bedeutung dieser Seligsprechung richtig würdigen zu können, muss man sich die katholische Lehre über den Krieg vor Augen halten und das, was sie über den Pazifismus sagt. Wie sich Christen im Krieg verhalten sollen oder gar, wenn sie zum Dienst mit der Waffe gerufen werden, war vom Anfang der Kirche an ein Problem. Sehr bald unterschied man an Hand von einigen Kriterien die verschiedenen „Kriege“ und Situationen, mit denen Christen im Kriegsfall konfrontiert sein können, um ihnen zu helfen, sich richtig zu entscheiden. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die katholische Lehrentwicklung über den Krieg in etwa zusammengefasst. Was den Pazifismus und die Weigerung, Kriegsdienst zu leisten, betrifft, lautete die Antwort: Es gibt den legitimen und sogar verpflichtenden Dienst des Soldaten, es gibt eine legitime Kriegsdienst-Verweigerung, die der Staat anerkennen sollte, und es gibt eine verpflichtende Verweigerung des Kriegsdienstes. Dieser „katholische Pazifismus“, wie man ihn nennen könnte, ist die Folge von drei Gesichtspunkten, wobei der Punkt zwei und drei jeden Menschen, nicht nur Katholiken, betrifft:

Erstens darf ein Geistlicher niemals zur Waffe greifen. Er sollte viel eher bereit sein, sein Leben hinzugeben, als fremdes Blut zu vergießen. Zweitens darf der Christ auf gar keinen Fall auch dann, wenn es sich um eine gerechtfertigte Verteidigung handelt, unmoralische Kampfmittel einsetzen, auch nicht im Rahmen des militärischen Gehorsams – wie etwa den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, von Terrorismus oder Vergewaltigungen und Folter. Drittens, so die katholische Lehre, darf der Christ an keinem Unrecht mitwirken, erst recht nicht an einem so großen wie dem eines ungerechten Krieges. Es ist klar, dass diese Lehre eine Diskussion darüber auslöst, wie der Einzelne die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit mit verbindlicher Sicherheit erkennen kann. Aber: Der Grundsatz mag schwer anwendbar sein, er ist dennoch wahr und katholische Lehre.

Aus dieser Lehre ergibt sich, wie leicht zu verstehen ist, ein „katholischer Pazifismus“, der durchaus verpflichtend ist, auch wenn er in manchen Fällen zu heroischen Taten verpflichtet.

Ablehnung eines objektiv unmoralischen Kriegsdienstes

Jägerstätter ist ein Märtyrer im Namen dieser katholischen Lehre, die er bis zu ihrer äußersten Konsequenz verstanden und gelebt hat, so gerne sicher auch er selbst, nicht nur sein Bischof und seine Freunde, einen moralisch annehmbaren Ausweg gefunden hätte. Darum, wegen dieser seiner Treue zur Lehre der Kirche, stellt ihn uns die Kirche zu Recht als Vorbild vor Augen. Worin der „Gewissensirrtum“ des Franz Jägerstätter bestanden haben soll, ist angesichts dieser Lehre unerfindlich.

Von größter Bedeutung für die ganze Kirche ist er deswegen, weil er eine sonst kaum bekannte, kaum bewusste und auch schwierige Lehre der Kirche durch seinen Tod in helles Licht getaucht hat – vergleichbar etwa, wie dies eine Gianna Molla Beretta bezüglich Abtreibung getan hat oder andere Heilige in Bezug auf Vergewaltigung und Keuschheit. In Franz Jägerstätter ist ein oft übersehener Teil der katholischen Lehre über den Krieg sozusagen „Fleisch und Blut“ geworden! Ab dieser Seligsprechung zeigt die Kirche ihren Gläubigen als Vorbilder nicht nur heilige Soldaten, sondern auch Heilige, die einen objektiv unmoralischen Kriegsdienst abgelehnt haben.

Klare Einsicht verpflichtet

Steckt in dieser Heiligsprechung die Verurteilung aller Kriegsteilnehmer? Nein, so pauschal und so einfach ist die Sache nicht. Ich erinnere mich an einen meiner Lehrer, einen stillen, sanften Mann, der uns erzählte: Er war zwar „dabei“, aber er habe immer nur in die Luft geschossen, durch ihn könne kein Mensch gestorben sein. Das waren sein Widerstand und seine Überlebensstrategie. Solche mag es mehr gegeben haben, als man weiß, und andere haben auf andere Weise Wege gesucht, die Zeit und den Krieg zu überleben, ohne sich mitschuldig zu machen. Zudem: Wieviele Menschen hatten damals wenigstens ansatzweise die klare Einsicht, die Franz Jägerstätter in seinem prophetischen Traum zuteil geworden war? Und nicht zuletzt: Haben die Menschen mit der Gnade der späten Geburt das Recht, aus der sicheren Distanz der Zeit anderen Vorwürfe zu machen, weil sie nicht zum Martyrium bereit waren?

Zweifache Bitte an den neuen Seligen

Unabhängig davon, wer unsere Vorfahren waren und wie sie die Zeit überstanden haben: Wir alle haben Grund zur Dankbarkeit, wenn Jägerstätter selig und heilig gesprochen wird. Bitten sollten wir ihn um zwei Dinge: Er möge uns die Gnade erbitten, den Teufel zu erkennen, auch wenn er heute weder mit rotem noch mit braunem, sondern mit einem neu gefärbten Pelz die Leute in die Irre führt. Und er soll für uns um die Gnade des Mutes eintreten, damit wir Heutigen nach seinem Vorbild Gott mehr gehorchen als den „demokratischen Mehrheiten“ und ihrer politischen Korrektheit, zumal uns diese, zumindest vorläufig noch, nicht mit dem Tod, höchstens mit Ausgrenzung und Diskriminierung bedrohen.

Franz Jägerstätter – ein Mann, wie ihn jede Zeit dringend braucht. In seinem Abschiedsbrief drückte er noch seine Dankbarkeit dafür aus, für Jesus leiden und sterben zu dürfen, und bittet nur noch darum, das nächste Fest Maria-Himmelfahrt bereits im Himmel mitfeiern zu dürfen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
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Der prophetische Traum vom Januar 1938

Deutlicher als viele seiner Zeitgenossen erkannte Franz Jägerstätter die völlige Unvereinbarkeit des christlichen Glaubens und des verbrecherischen Systems des Nationalsozialismus. Seine klare Einsicht verdankte er unter anderem einem visionären Traum, über den er in seinen Aufzeichnungen berichtet. Ausgehend von der Frage, ob man Katholik und Nationalsozialist gleichzeitig sein könne, führt Jägerstätter aus:[1]

Eine sehr ernste Frage der Zeit, kann man beides zu gleicher Zeit sein? Als einst in Österreich die Sozialdemokraten stark am Ruder waren, sagte uns die Kirche, ein Sozialdemokrat kann unmöglich auch Katholik sein. Und Jetzt? Will nun gleich zu Beginn ein kurzes Erlebnis schildern, was ich in einer Jännernacht 1938 erlebte. „Erst lag ich fast bis Mitternacht im Bett ohne zu schlafen, obwohl ich nicht krank war, muss aber dann doch ein wenig eingeschlafen sein, auf einmal wurde mir ein schöner Eisenbahnzug gezeigt, der um einen Berg fuhr, abgesehen von den Erwachsenen strömten sogar die Kinder diesem Zuge zu und waren fast nicht zurückzuhalten, wie wenige Erwachsene es waren, welche in selbiger Umgebung nicht mitfuhren, will ich am liebsten nicht sagen oder schreiben.

Dann sagte mir auf einmal eine Stimme: „Dieser Zug fährt in die Hölle.“ Gleich darauf kam es mir vor, als nähme mich jemand bei der Hand. „Jetzt gehen wir ins Fegefeuer“, sagte dieselbe Stimme zu mir. Was ich da für ein Leiden geschaut und verspürte war furchtbar, hätte mir diese Stimme nicht gesagt, daß wir ins Fegefeuer gehen, so hätt ich nicht anders geglaubt, als ich würde mich in der Hölle befinden. Es waren wahrscheinlich nur Sekunden vergangen, während ich dies alles geschaut. Dann hörte ich noch ein Sausen, sah ein Licht und alles war weg. Weckte dann gleich meine Frau und erzählte ihr alles, was sich zugetragen hatte.

Bis zu jener Nacht konnte ich natürlich nie recht glauben, dass die Leiden im Fegefeuer so groß sein könnten. Anfangs war mir dieser fahrende Zug ziemlich rätselhaft, aber je länger die ganze Sache ist, desto entschleierter wird mir auch dieser fahrende Zug. Und mir kommt es heute vor, als stellte dieses Bild nichts anderes dar als den damals hereinbrechenden oder schleichenden Nationalsozialismus mit all seinen verschiedenartigen Gliederungen wie z.B. N.S.D.A.P,  N.S.W,  N.S.F,  HJ. usw. Kurz gesagt, einfach die ganze Nationalsozialistische Volksgemeinschaft, alles, was für sie opfert und kämpft. …

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
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[1] Quelle: Erna Putz (Hg.): Franz Jägerstätter: Gefängnisbriefe und Aufzeichnungen, Passau-Linz, Veritas Verlag 1987, 124f.

Feldzug gegen den Bolschewismus?

Mitzukämpfen, dass Hitler die ganze Welt beherrschen könne, betrachtete Franz Jägerstätter als persönliche Schuld und schwere Sünde. Auch der Krieg gegen Russland brachte ihm keine Gewissensentlastung. Er schrieb zum angeblichen Feldzug gegen den Bolschewismus:[1]

Es ist eben sehr traurig, wenn man immer wieder von Katholiken hören kann, dass dieser Krieg, den Deutschland führt, vielleicht doch nicht so ungerecht ist, weil doch damit der Bolschewismus ausgerottet wird. Es ist wahr, dass gerade jetzt die meisten unserer Soldaten im ärgsten Bolschewistenlande stecken, und alle, die sich in diesem Lande befinden und sich zur Wehr setzen, einfach unschädlich und wehrlos machen wollen. Und nun eine kurze Frage: Was bekämpft man in diesem Lande, den Bolschewismus oder das russische Volk? Wenn unsere katholischen Missionäre hinauszogen in ein Heidenland, um sie zu Christen zu machen, sind die auch mit MG und Bomben vorgegangen, um sie durch diese Mittel zu bekehren und zu bessern? Die meisten dieser edlen Kämpfer für das Christentum schrieben in die Heimat, wenn sie nur genug Mittel hätten zum Austeilen, dann ging es halt viel schneller vorwärts ... Wenn man ein wenig in der Geschichte Rückschau hält, so muss man immer wieder fast dasselbe feststellen: Hat ein Herrscher ein anderes Land mit Krieg überfallen, so sind sie gewöhnlich nicht in das Land eingebrochen, um sie zu bessern oder ihnen vielleicht gar etwas zu schenken, sondern sich für gewöhnlich etwas zu holen. Kämpft man gegen das russische Volk, so wird man sich auch aus diesem Lande so manches holen, was man bei uns gut gebrauchen kann. Denn kämpfte man bloß gegen den Bolschewismus, so dürften doch diese anderen Sachen, wie Erze, Ölquellen oder ein guter Getreideboden, gar nicht so stark in Frage kommen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
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[1] Quelle: Erna Putz (Hg.): Franz Jägerstätter: Gefängnisbriefe und Aufzeichnungen, Passau-Linz, Veritas Verlag 1987, 124f.

Der Abschiedsbrief vom 9. August 1943

Kurz vor seiner Hinrichtung am 9. August 1943 konnte Franz Jägerstätter einen Abschiedsbrief niederschreiben und durch Pfarrer Jochmann aus Brandenburg seiner Familie zukommen lassen. In aller Frühe war Jägerstätter von Berlin nach Brandenburg/Havel gebracht worden. Zu Mittag wurde ihm mitgeteilt, dass sein Todesurteil bestätigt sei und um 16 Uhr vollstreckt würde. In den verbliebenen Stunden verfasste er die nachfolgenden Zeilen, bevor er als erstes von 16 Opfern enthauptet wurde. Pfarrer Jochmann, der längere Zeit mit ihm verbracht hatte, war von der Ruhe und Gefasstheit des Todeskandidaten zutiefst beeindruckt. Noch am selben Abend sagte er zu österreichischen Ordensfrauen, in Franz Jägerstätter sei er dem einzigen Heiligen seines Lebens begegnet. Auszug aus dem Abschiedsbrief:[1]

Gott zum Gruß Herzallerliebste Gattin. Und alle meine Lieben. …

Heute früh um zirka halb 6 Uhr hieß es sofort anziehen, das Auto wartet schon, und mit mehreren Todeskandidaten ging dann die Fahrt hierher nach Brandenburg, was mit uns geschehen wird, wussten wir nicht. Erst zu Mittag teilte man mir mit, dass das Urteil am 14. bestätigt wurde und heute um 4 Uhr nachmittags vollstreckt wird. Will euch nun kurz einige Worte des Abschiedes schreiben. Liebste Gattin und Mutter. Bedanke mich nochmals herzlich für alles, das Ihr in meinem Leben alles für mich getan, für all die Liebe und Opfer, die Ihr für mich gebracht habt, und bitte Euch nochmals, verzeiht mir alles, was ich Euch beleidigt und gekränkt habe, sowie Euch auch von mir alles verziehen ist. …

Möge Gott mein Leben hinnehmen als Sühn-Opfer nicht bloß für meine Sünden, sondern auch für andere.

Liebste Gattin und Mutter. Es war mir nicht möglich, Euch von diesen Schmerzen, die Ihr jetzt um meinetwegen zu leiden habt, zu befreien. Wie hart wird es für unsren lieben Heiland gewesen sein, dass er durch sein Leiden und Sterben seiner lieben Mutter so große Schmerzen bereiten musste und das haben sie alles aus Liebe für uns Sünder gelitten. Ich danke auch unserem Heiland, dass ich für ihn leiden durfte und auch für ihn sterben darf. Und vertraue auch auf seine unendliche Barmherzigkeit, daß mir Gott alles verziehen hat und mich auch in der letzten Stunde nicht verlassen wird. Liebste Gattin denke auch daran, was Jesus denen verheißen hat, für die, welche die 9 Herz-Jesu-Freitage halten. Und auch jetzt wird dann Jesus in der heiligen Kommunion noch zu mir kommen und mich stärken auf der Reise in die Ewigkeit. In Tegel hatte ich auch noch die Gnade, viermal die hl. Sakramente zu empfangen. Grüßet mir auch noch herzlich meine lieben Kinder; ich werde den lieben Gott schon bitten, wenn ich bald in den Himmel kommen darf, auch für Euch alle ein Plätzchen anzuschaffen. Habe in der letzten Woche die Himmelmutter noch öfter gebeten, wenn es Gottes Wille ist, dass ich bald sterbe, dass ich das Fest Maria Himmelfahrt schon im Himmel mitfeiern darf. …

Und nun alle meine Lieben lebet alle wohl und vergesset meiner nicht im Gebet. Haltet die Gebote und wir werden uns durch Gottes Gnade bald im Himmel wiedersehn!

Jesu Herz, Maria Herz und mein Herz seien ein Herz verbunden für Zeit und Ewigkeit.

Maria mit dem Kinde lieb, uns noch allen Deinen Segen gib!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
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[1] Quelle: Erna Putz (Hg.): Franz Jägerstätter: Gefängnisbriefe und Aufzeichnungen, Passau-Linz, Veritas Verlag 1987, 124f.

Franz Jägerstätter 1907-1943 – Kurzbiographie des neuen Seligen

Kindheit in Armut und Hunger

Franz Jägerstätter wurde am 20. Mai 1907 in St. Radegund, Oberösterreich (Diözese Linz), als Kind der ledigen Bauernmagd Rosalia Huber geboren. Sie und der Vater des Kindes, Franz Bachmeier, waren als Dienstboten zu arm, um heiraten zu können. Die Erziehung übernahm die Großmutter, Elisabeth Huber, eine liebevolle, fromme und vielseitig interessierte Frau. Die materielle Not während des 1. Weltkrieges war in der Region groß. Wegen seiner Armut wurde Franz in der Schule bei der Benotung benachteiligt. Diese Ungerechtigkeit schmerzte ihn mehr als der Hunger. Die Situation verbesserte sich schlagartig, als seine Mutter 1917 den Bauern Heinrich Jägerstätter heiratete, der bei der Hochzeit das Kind seiner Frau adoptierte. Inspiriert durch den (Adoptiv-) Großvater interessierte sich Franz als Heranwachsender für Bücher, darunter auch für religiöse Literatur. Lesen, sich informieren bezeichnete er später seinem Patensohn gegenüber als etwas sehr Wichtiges: „Wer nichts liest, wird sich nie so richtig auf die eigenen Füße stellen können, wird nur zu leicht zum Spielball der Meinung anderer.“

Religiöser Aufbruch in der Ehe

Von seinem Adoptivvater erbte er den Bauernhof. Doch arbeitete er von 1927 bis 1930 im Abbau von Eisenerz in der Steiermark. Dort erfuhr er sich geistig und religiös entwurzelt und machte eine Glaubens- und Sinnkrise durch. 1933 wurde er Vater einer unehelichen Tochter Hildegard. 1935 lernte er Franziska Schwaninger kennen, sie heirateten am Gründonnerstag 1936. Die Ehe wurde zum Wendepunkt in seinem Leben. In der Folge sei er ein anderer geworden, so die Nachbarn. Franz und Franziska beteten miteinander und die Bibel wurde zum Lebensbuch des Alltags. Franziska über diese Zeit: „Wir haben einer dem anderen weiter geholfen im Glauben.“ Franz war ab 1941 auch Mesner in St. Radegund. Aus der Ehe gingen drei Töchter hervor, Rosalia (*1937), Maria (*1938) und Aloisia (*1940).

Zweifel am Nationalsozialismus

Den Nationalsozialisten, die in Österreich 1938 die Macht übernahmen, verweigerte Franz Jägerstätter von Anfang an jede Zusammenarbeit oder Unterstützung, denn Christentum und Nationalsozialismus waren für ihn völlig unvereinbar. 1940 wurde er zum Militärdienst einberufen, auf Betreiben der Heimatgemeinde aber zweimal unabkömmlich gestellt. Einer weiteren Einberufung wollte er nicht mehr Folge leisten, denn mitzukämpfen und zu töten, dass Hitler die ganze Welt beherrschen könne, sah er als Sünde an. Die Mutter, Verwandte und auch befreundete Priester versuchten, ihn umzustimmen. Seine Frau Franziska hoffte zwar auch auf einen Ausweg, stand aber zu ihm in seiner Entscheidung: „Wenn ich nicht zu ihm gehalten hätte, hätte er gar niemanden gehabt.“

Einsamer Gewissenskampf

Nach der erneuten Einberufung meldete sich Franz Jägerstätter am 1. März 1943 bei seiner Stammkompanie in Enns, erklärt aber sofort: „dass er auf Grund seiner religiösen Einstellung den Wehrdienst mit der Waffe ablehne, dass er gegen sein religiöses Gewissen handeln würde, wenn er für den nationalsozialistischen Staat kämpfen würde; … er könne nicht gleichzeitig Nationalsozialist und Katholik sein; … es gebe Dinge, wo man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen; auf Grund des Gebots ‚Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst‘ dürfe er nicht mit der Waffe kämpfen. Er sei jedoch bereit, als Sanitätssoldat Dienst zu leisten“ (Aus der Begründung des Reichskriegsgerichtsurteils vom 6. Juli 1943).

Sogar den Linzer Bischof Fließer hatte Jägerstätter um Rat gefragt. Über dieses Gespräch schrieb der Bischof noch 1946: „Ich habe umsonst ihm die Grundsätze der Moral über den Grad der Verantwortlichkeit des Bürgers und Privatmannes für die Taten der Obrigkeit auseinandergesetzt und ihn an seine viel höhere Verantwortung für seinen privaten Lebenskreis, besonders für seine Familie, erinnert.“ Dazu notierte Jägerstätter: „Immer wieder möchte man einem das Gewissen erschweren betreffs Gattin und Kinder. Sollte die Tat, die man begeht, vielleicht dadurch besser sein, weil man verheiratet ist und Kinder hat? Oder ist deswegen die Tat besser oder schlechter, weil es tausend andere Katholiken auch tun?“

Heiligmäßiges Martyrium

Franz Jägerstätter hatte keinerlei Kontakt mit Gruppen oder Einzelpersonen des Widerstandes. Erst im Linzer Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis erfuhr er, dass auch andere den Militärdienst verweigerten. Das war ihm eine große Ermutigung, vor allem die Mitteilung des Gefängnisseelsorgers Kreutzberg in Berlin, dass ein Jahr vor ihm der österreichische Priester Franz Reinisch mit derselben Begründung den Kriegsdienst verweigert habe. Franz Jägerstätter war sich im Klaren, dass er am „ganzen Weltgeschehen nichts ändern“ könne, aber er wollte „wenigstens ein Zeichen sein, dass sich nicht alle von dem Strom mitreißen ließen“. Orientierung und Hilfe schöpfte er aus der Bibel und aus dem Vorbild von Gestalten wie Thomas Morus oder Klaus von Flüe.

Wegen Wehrkraftzersetzung wurde Franz Jägerstätter zum Tod verurteilt und am 9. August 1943 in Brandenburg/Havel enthauptet. Die beiden Seelsorger, Pfarrer Kreutzberg in Berlin und Pfarrer Jochmann in Brandenburg, sahen in ihm einen Heiligen und Märtyrer. Im Jahre 1965 verwies Erzbischof Thomas D. Roberts SJ (1939 bis 1958 in Bombay, Indien) bei der Arbeit an der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils in einer schriftlichen Eingabe auf die einsame Gewissensentscheidung Franz Jägerstätters: „Märtyrer wie Jägerstätter sollen nie das Gefühl haben, dass sie allein sind.“

Freispruch nach 54 Jahren

Am 7. Mai 1997, 54 Jahre nach seiner Hinrichtung, wurde das Todesurteil gegen Jägerstätter vom Landgericht Berlin aufgehoben. Die Aufhebung kommt einem Freispruch gleich und bedeutet moralische und juristische Rechtfertigung seiner Handlung. Das Landesgericht ging davon aus, dass der Zweite Weltkrieg nicht dem Volk, sondern dem nationalsozialistischen Machtstreben gedient habe. Wer sich wie Jägerstätter einem Verbrechen widersetze, könne kein Verbrecher sein.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
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Ein sensationelles Buch kommt nach Deutschland

Das neue Buch von Mutter Teresa[1] hat es bereits auf die Titelseite des amerikanischen Magazins „Time“ geschafft. Und diese Zeitschrift gilt als das journalistische Leitmedium der Welt. Warum schenkt die Öffentlichkeit diesem Buch eine solche Aufmerksamkeit? Warum empfinden Menschen unserer Zeit die Enthüllung des inneren Lebens einer katholischen Ordensschwester als eine solche Sensation? Zunächst berichtet Bernhard Meuser, der Verleger des katholischen Pattloch Verlages, „welch eine wunderbare kleine Geschichte sich im Hintergrund ereignete hatte“, bis es ihm gelungen war, zeitgleich mit den anderen Übersetzungen auch die deutsche Fassung herauszubringen. The making of … „Komm, sei Mein Licht!“, so nennt er den nachfolgenden Beitrag. In einem zweiten Artikel vermittelt er auf meisterhafte Weise den Inhalt des Buches selbst.

Von Bernhard Meuser

Eine ungeheuerliche Indiskretion?

Ein Freund hatte mir einen heißen Tipp gegeben: „Sieh zu, dass Du Dir die deutschen Rechte an dem Mutter-Teresa-Buch sicherst, das gerade in den Vereinigten Staaten erscheint. Es ist eine Sensation. Der Inhalt wird dich umwerfen.“

„Umwerfen“, „Sensation“ – das sind starke Worte. In Verlagen sind sie gewissermaßen Alltag. Gleich serienweise reichen hoffungsfrohe Autoren ihre Manuskripte herein und versichern in ihrem Begleitschreiben, ihre Erkenntnisse seien „nicht weniger als sensationell“. Daher begegnet man dem Sensationellen mit Kühle und professioneller Zurückhaltung.

„Ein Buch über Mutter Teresa“, versuchte ich meinem Freund herunter zu holen, „was soll daran sensationell sein?“

„Nicht über Mutter Teresa, sondern von Mutter Teresa“, blieb mein Freund am Drücker.

„Quatsch“, konterte ich, „das ist eine Falle. Wenn ich eines weiß, dann dies, dass Mutter Teresa nie ein Buch geschrieben hat. Dazu hatte sie keine Zeit. Außerdem hasste sie es, zu schreiben.“

„Natürlich hat sie sich nicht in den Himalaya zurückgezogen und ihre Memoiren aufgezeichnet. Es handelt sich um einen Parallelfall zu Therese von Lisieux.“

„Du meinst, sie wurde aufgefordert etwas zu schreiben?“ – „Ja, oder sie musste ihrem verzweifelten Herzen Luft machen. Dazu schrieb sie Briefe an Priester. Und diese ganzen geheimen Aufzeichnungen kommen jetzt zu ihrem 10. Todestag heraus.“

Mich beschlich ein unangenehmes Gefühl: „Aber ist das nicht eine ungeheuerliche Indiskretion? Ein Mensch wendet sich in seiner Not an einen Priester, womöglich noch im Vertrauen auf das Beichtgeheimnis – und nun bläst man es von den Dächern, weil irgendwelche skrupellosen amerikanischen Buchmagnaten das große Geschäft dahinter wittern.“

Der Orden selbst übt diesen „Verrat“

Mein Freund ließ den Einwand nicht gelten: „Auf den ersten Blick sieht es so aus. Wieder und wieder bat Mutter Teresa selbst, man möge doch bestimmte Aufzeichnungen und Briefe von ihr vernichten. Aber das tat sie nicht, weil sie eitel war oder weil sie irgendwelche Details ihrer Biographie vor der Öffentlichkeit verstecken wollte. Sie hatte nur ein einziges Motiv: Niemand sollte je auf den Gedanken kommen, sie – Mutter Teresa – sei wichtiger als ER, dessen demütiges Werkzeug sie sein wollte. Ihre ‚Anpassungsprobleme‘ sollten niemand die Sicht auf Jesus nehmen, dem sie in zärtlicher Liebe ergeben war.“

Ich blieb hartnäckig: „Trotzdem hauen es die Amis mit ihrer Bestsellermaschinerie jetzt raus!“

„Nicht die Amis hauen es raus – der Orden selbst tut es!“

Mir blieb die Spucke weg. Ich war einigermaßen darüber im Bilde, dass Mutter Teresa die schöpferischste und fruchtbarste Ordensgründerin des 20. Jahrhunderts war – gleich vier Gemeinschaften mit mehreren tausend Mitgliedern nahmen von ihr ihren Ausgang. Wie sollte ausgerechnet die Gemeinschaft, die für ihre strenge Disziplin bekannt war, diesen „Verrat“ (so empfand ich es noch immer) begangen haben: „Die Gemeinschaft selbst – das kann ich nicht glauben!“

„Doch“, klärte mich mein Freund auf, „die geheimen Aufzeichnungen von Mutter Teresa blieben geheim, bis die Priester sie dem Zweck zuführten, wofür sie diese, gewissermaßen in einem prophetischen Akt, vor dem Flammen bewahrten. Als es nämlich um die Seligsprechung von Mutter Teresa ging, spielten diese Papiere eine Schlüsselrolle.“ – „Aber, warum bleiben sie nicht im ‚inner circle‘? Warum setzt man Mutter Teresa jetzt einer öffentlichen Debatte aus?“

Jetzt war es an meinem Freund Vermutungen anzustellen: „Ich habe zwei Theorien: Es gab undichte Stellen in Rom. Plötzlich schwirrten diese Gerüchte durch die Welt, ‚Mutter Teresa hatte eine Nachtseite‘, hatte ,Brüche in der Biographie‘, Mutter Teresa hatte ,ihren Glauben an Gott verloren‘ und so weiter. Die andere Theorie ist ebenso schlüssig: Es gibt nichts zu verbergen. Die seelischen Abgründe, die Höllen der Gottesferne, die Mutter Teresa durchwanderte, das ist nicht der biographische Makel einer Heiligen, das ist die eigentliche Kontur ihres spirituellen Profils …“

Manuskript jagte kalten Schauer über den Rücken

Ich wusste genug, um für diesen Titel kämpfen zu wollen. Die „Teresas“, wie man die „Missionaries of Charity“ oft liebevoll nennt, hatten das Manuskript einer internationalen Lizenzagentur anvertraut und mit „doubleday“ bereits einen der renommiertesten amerikanischen Verlage gewonnen. Innerhalb von Stunden lag das zu diesem Zeitpunkt streng geheime Manuskript auf dem Verlagsschreibtisch in München. Schon die erste Durchsicht der 500 Seiten jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Ich hatte es mit einem einzigartigen Dokument zu tun, einem Buch, wie ich es in den langen Jahren meiner Verlagsarbeit noch nie auf dem Schreibtisch hatte. Sofort alarmierte ich das gesamte Verlagshaus: „Ich weiß, ihr könnt das Wort nicht mehr hören. Aber dieses eine Mal ist es wirklich ein Sensation!“

Natürlich interessierte sich im deutschsprachigen Raum gleich eine Reihe von Verlagen für den Titel. Hinter irgendwelchen Verlagsschreibtischen musste es Menschen geben, denen es ähnlich wie mir ergangen war und die – fast hätte ich gesagt – Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um dieses Buch zu bekommen. Es ergab sich innerhalb von Tagen ein dramatischer Bieterwettstreit, der sich immer mehr hochschaukelte. Ein Anruf beim befreundeten Corpus-Christi-Priester Pfr. Thomas Maria Rimmel, der wiederum einen Kontakt zum Corpus-Christi-Verantwortlichen Pfr. Andreas Geschwind herstellte, brachte schließlich den Durchbruch für Pattloch. Die Corpus-Christi-Priestergemeinschaft, soviel sollte man wissen, war die letzte Gründung von Mutter Teresa. Durch die unvergessliche Hilfe dieser Priester wurde Pattloch der Verlag, dem man die deutsche Edition anvertrauen wollte.

Ein Himmelfahrtskommando

Als schließlich die erlösende Nachricht kam „Herzlichen Glückwunsch, der Titel geht an Sie!“, wurde mir deutlich, auf welches Himmelfahrtskommando wir uns da eingelassen hatten. Wir hatten Anfang Juli. Auf den 5. September war der weltweit parallele Erscheinungstermin festgesetzt. Einen anderen Termin gab es nicht. Am 5. September war der 10. Todestag der Heiligen von Kalkutta. An diesem Tag würden alle relevanten Medien der Welt über Mutter Teresa berichten – und natürlich würden sie auf die Sensation eingehen, ihr dunkles, geheimnisvolles Buch, ihre Aufzeichnungen, nach denen nichts mehr sein würde wie vorher. Wir mussten den 5. September erreichen! Dieser Tag würde unser D-day werden. An diesem Tag würden die Menschen in die Buchhandlungen streben. Würden wir nur 14 Tage später kommen, würde die Bugwelle des Interesses verebbt sein. Keine Zeitung, keine Radiostation, kein Fernsehsender würde noch einmal „die wahre Geschichte der Mutter Teresa“ erzählen wollen.

Aber – wie sollten wir das schaffen? Uns blieben nicht einmal zwei Monate, um das mächtige Werk zu übersetzen, es zu lektorieren, die deutsche Version von den „Teresas“ approbieren zu lassen, es zu setzen, es zu drucken, es in den Handel auszuliefern und es pressemäßig zu promoten. Für einen Buchverlag sind zwei Monate nichts. Von der Idee zum fertigen Buch dauert es oft zwei Jahre und mehr – und wir hatten nicht einmal zwei Monate!!! Wir mussten also einen Countdown bauen, bei dem es auf jede Stunde ankam. Alles musste Hand in Hand gehen. Pannen durfte es nicht geben. Das wichtigste war, einen erstklassigen Übersetzer zu finden, der tief im katholischen Glauben verankert ist. Der Text war so komplex und erforderte hochspezielle Vorkenntnisse, dass übersetzerischer Standard nicht genügte. Ein paar Telefonate später war er gefunden: Kathrin Krips-Schmidt in Berlin opferte kurzerhand ihren Urlaub, um für die nächsten Wochen nur noch eines zu machen: 14 Stunden am Tag Mutter Teresa.

„No way!“ – „So geht das nicht!“

Ich hatte Kathrin Krips-Schmidt eine Empfehlung gegeben, die ich später noch bitter bereuen sollte: „Übersetzen Sie ruhig relativ frei. Wir müssen den Geist, nicht den Buchstaben treffen!“ Schon trafen die ersten Kapitel ein. Ich lektorierte den Text – so schnell und gleichzeitig intensiv, wie es mir möglich war. Mit einem Aufatmen schickte ich die ersten sechs Kapitel per E-mail an das „Mother-Teresa-Center“ in Tijuana, Mexico. Wunderbar, dachte ich, der Countdown scheint aufzugehen!

Da hatte ich die Rechnung allerdings ohne die Schwestern gemacht. „No way!“ signalisiert Mexiko, als ich am nächsten Tag meinen Mail-Account öffnete: „So geht das nicht! Viel zu frei übersetzt. Und im Übrigen lassen wir uns nicht hetzen!“ Mir schoss das Blut in den Kopf! Damit würde unser Countdown platzen. Wir würden zu spät kommen. Das Buch würde in einem medialen Loch versinken; es hätte nur noch die Chance, die üblichen 5.000 Verdächtigen zu erreichen, nicht aber das breite Publikum. All meine verzweifelten Mails und Telefonate („Nennen Sie mir unbedingt eine Person in Deutschland!“) fruchteten nichts. Ich musste lernen, dass P. Kolodiejchuk und die Schwestern vier Jahre an dem Buch gearbeitet hatten, dass einige Texte in der Gemeinschaft gewissermaßen in heiligem Gebrauch waren, und dass Sr. Ozana, Sr. Elia und die anderen Mitarbeiter des Mutter-Teresa-„braintrusts“ in Tijuana jedes Wort auf die Goldwaage legten.

Novene zu Mutter Teresa: „Sie muss mitspielen!“

Es half nichts. Wir mussten noch einmal von vorne beginnen: Wort für Wort, Zeile für Zeile. Verschiedene Mitarbeiterinnen aus dem Verlag halfen bei diesem minutiösen Abgleich der verschiedenen Sprachversionen. „Sind Sie religiös?“ – fragte ich die junge Dame mit den Tattoos auf dem Oberarm, die neben mir in den Abgründen eines mystischen Textes versank. „Wenn ich ehrlich bin – nicht einmal getauft“, gab sie beschämt zu, „aber es interessiert mich total“. So lasen wir dann von den Leiden der Abwesenheit Gottes, von scheinbar unerwiderter Liebe zu Jesus, von den notwendigen Qualen des Leerwerdens, um Gott in sich Raum geben zu können – und ich dachte: Mystik versteht jeder. Weil sie so einfach und so radikal ist. Langsam, ganz langsam ging es voran. Je tiefer man in den Text ging, desto größere Hürden bauten sich auf. In den Anfangsjahren sprach Mutter Teresa noch kein besonders gutes Englisch. Unsere „hilfreichen“ Verbesserungen wurden von den Schwestern zurückgewiesen: „Nein, das muss so heißen! So wollte sie es! Es klingt auch im Englischen komisch!“

Trotz aller Anstrengungen sah ich den Erscheinungstermin in weite Ferne rücken. Realistische Mitarbeiter klopften mir auf die Schultern: „Vergiss es, das schafft ihr nie!“ Ich war am Verzweifeln. Es brauchte ein kleines Wunder, dass unser verwegener Plan doch noch aufgehen würde. Schwester Lumena, eine in Deutschland arbeitende Schweizer „Teresa-Schwester“, schickte mir eine Novene zu Mutter Teresa und gab mir den entscheidenden Hinweis: „Sie muss mitspielen. Sonst wird das nichts.“ Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. So war es in der Tat. All unser verbohrtes Planen, Machen und Tun war einfach lächerlich. Entweder gab es den Segen des Himmels dazu. Oder wir würden besser einpacken.

Die wunderbare Wende

So fügte ich mich in den Gang der Dinge und schrieb an einem Samstag im August eine Mail an Sr. Elia, mit der ich mich heftig „gefetzt“ hatte, um nur ja den Drucktermin halten zu können. Obwohl der Text ein bisschen persönlich ist, gebe ich ihn wieder, weil sonst das kleine Wunder nicht verständlich wird, das sich in der Folge ereignete: „Lb. Sr. Elia, ich habe viel über den unglücklichen Verlauf der Dinge nachgedacht – und viel darüber gebetet. Und ich habe mich zuletzt gefragt: Was würde Jesus tun? Ich glaube, er würde wünschen, dass wir uns versöhnen und uns zu verstehen versuchen. Ich möchte Sie um Vergebung bitten, wenn ich schlecht von Ihnen gedacht habe – und das habe ich, ich muss es gestehen, in der Tat. Ich konnte kein Verständnis aufbringen, dass Sie nicht in der Lage sein sollten, einen Text zeitgerecht zu approbieren. Ich dachte: Erst werden die Textrechte international so spät angeboten, dass wir hier wirklich Tag und Nacht und an den Wochenenden durcharbeiten müssen, um das Buch rechtzeitig zum 5. September noch herauszubringen und dem Heiligen Vater überreichen zu können – und dann ist die Zusage des Rechteagenten ,das geht quasi über Nacht‘ nicht einzuhalten. Ich muss aber lernen, wie heilig Ihnen dieser Text ist, wie sehr Sie damit und daraus leben, darüber forschen und beten … Ich bitte Sie also um Vergebung. Nun bin ich leider vollkommen ratlos und müde. Ich habe in den letzten 14 Tagen meine Familie nicht ganz viel gesehen – und muss am Montag eingestehen, dass wir wohl den gebuchten Drucktermin absagen müssen …“

Kaum hatte ich die Mail in den Orbit gejagt, kam ein Anruf aus Tijuana. Ob ich denn die Mail nicht bekommen hätte? „Nein, ich habe zuhause gearbeitet – da kann ich die Mails an meine Firmenadresse nicht abrufen.“ Ja, dann könne ich ja noch nicht wissen, dass Sr. Elia quasi schon im Flugzeug nach Deutschland sitze. Am Montag würde sie in München eintreffen! …

Ich jagte ein Stoßgebet zum Himmel!!! Alles war wieder auf Anfang. Jetzt würde es gehen! Das Spiel, das ich schon verloren glaubte – mit Gottes Hilfe würden wir das Ding noch einmal umdrehen. Ich wusste, es würde gehen, auch wenn wir schon hoffnungslos hinter unserem Zeitplan zurücklagen.

Die Schwester im weißblauen Sari leistet ganze Arbeit

Und plötzlich war sie da, im Verlag: Sr. Elia. Jung, großgewachsen, im typischen weißblauen Sari, eine strahlende, gewinnende und gleichzeitig demütige Erscheinung. Die seltsame Mitarbeiterin, die da Zimmer 304 im Münchner Verlagsgebäude bezog, wurde von den Mitarbeitern bestaunt wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Zum Essen konnte man sie nicht einladen; nicht einmal einen Snack oder einen Kaffee nahm sie an. Jeden Tag brachte sie ihr Wasser und ihre bescheidene Mahlzeit mit. Als sie nach etlichen Tagen das Haus verließ, hatte sie unter den mehr oder weniger gläubigen Mitarbeitern, die sie mit frommen Bildern und Texten versorgt hatte, etliche tief beeindruckte Freunde gewonnen. Sr. Elia war eine Predigt ohne Worte. Und sie hatte ganze Arbeit geleistet. Das Buch stand. Die Druckmaschinen konnten anlaufen. Am 5. September würde P. Brian Kolodiejchuk dem Hl. Vater in Rom ein deutsches Exemplar des Buches in die Hand drücken. Die Medien würden berichten. Die Leute würden in die Buchhandlungen kommen – und nicht ahnen, welch eine wunderbare kleine Geschichte sich im Hintergrund ereignete hatte.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Brian Kolodiejchuk: Mutter Teresa – Komm, sei mein Licht – Die geheimen Aufzeichnungen der Heiligen von Kalkutta. Pattloch Verlag, 448 Seiten, € 19.95 (D) ISBN 978-3-629-02197-7.

„Ich vertraue seiner Liebe“

Auf wenigen Seiten erschließt uns Bernhard Meuser den Inhalt des neuen Buches über Mutter Teresa.[1] Als Herausgeber der deutschen Fassung leitete er selbst die Übersetzungsarbeiten. Ohne jegliche Schwärmerei, doch persönlich tief ergriffen, führt er den Leser in das Geheimnis einer – so glaubt er – neuen „Kirchenlehrerin“ ein. Wer sich auf die erschütternde Geschichte dieser vertrauenden Seele einlässt, erlebt eine innere Läuterung und Bekehrung.

Von Bernhard Meuser

Nein, das amerikanische Magazin „Time“ hatte Unrecht, als es am 3. September 2007 mit dem Bild von Mutter Teresa und dem Titel „The Secret Life of Mother Teresa“ aufmachte und in einem achtseitigen Dossier befand, ihr Buch sei in der ganzen Geschichte des Christentums nur mit zwei Büchern zu vergleichen: mit den „Confessiones“ des hl. Augustinus und mit „Der Berg der sieben Stufen“ von Thomas Merton. „Der Berg der sieben Stufen“ ist gewiss ein hinreißendes Buch – es handelt von der Konversion und dem Ordenseintritt des amerikanischen Trappistenmönchs –, aber ob es in 100 Jahren noch irgendeinen Menschen interessiert, ist mehr als fraglich.

Eines der großen Bücher der Christenheit

Nein – „Mutter Teresa: Komm, sei mein Licht“ spielt in einer anderen Liga. Wenn man es denn mit anderen Büchern in der 2000-jährigen Geschichte der Christenheit vergleichen will, reichen die Finger einer Hand: Augustinus: „Confessiones“, Teresa von Avila: „Vida“, Johannes vom Kreuz: „Die dunkle Nacht“; John Henry Newman: „Apologia pro vita sua“ – und: Therese von Lisieux: „Geschichte einer Seele“ (dem nach der Bibel meistgelesenen Buch in französischer Sprache). Wegen diesem Buch wird man Mutter Teresa heilig sprechen. Ja, man darf sogar die Prophezeiung wagen: Wegen diesem Buch wird Mutter Teresa eines Tages die vierte Frau in der Geschichte der Kirche sein, der man den Ehrentitel einer „Kirchenlehrerin“ verleiht. Dann werden es vier – nur vier (!) in 2000 Jahren – sein: Katharina von Siena und die drei Teresas – die von Avila, die von Lisieux und die von Kalkutta. Nach dem Buch ist nichts mehr so wie vor dem Buch.

Die Welt glaubte Mutter Teresa zu kennen wie kaum eine andere ihrer „Ikonen“. Ihr weitläufiges, ungeheuer aktives Leben schien wie ein offenes Buch zu sein: Mutter Teresa – wie sie sich zu einem Sterbenden herabbeugt, wie sie ein halbverhungertes Kind in Armen hält, wie sie eine Einrichtung für Aidskranke eröffnet, wie sie – klein, demütig, und doch das personifizierte Weltgewissen – ihre berühmte Nobelpreisrede hält. Mutter Teresa schien die Liebe selbst zu sein und der lebendige Beweis, dass totale Verbundenheit mit Gott eine weltverwandelnde Kraft hat.

Nachdem sie erst Pater Werenfried van Straaten, der „Speckpater“ und Gründer von „Kirche in Not“, 1959 in Indien entdeckte und im Westen populär machte und dann der englische Agnostiker und Filmemacher Malcolm Muggerigde seine Objektive auf die kleine albanische Ordensfrau lenkte, konnte die medienscheue Mutter Teresa keinen Schritt mehr machen, der nicht von (meist heimlichen) Kameras und Mikrofonen begleitet wurde. „Ohne Muggeridge“, der sich über Mutter bekehrte und katholisch wurde, schrieb  die „Time“ im Jahr 1997, „hätte die Welt vielleicht nie von Mutter Teresa erfahren.“ Schon 1971 prophezeite ihr Muggeridge den Friedensnobelpreis, den sie tatsächlich 1979 erhielt. Hätte Muggeridge gewusst, was Mutter Teresa über sein „Lob“ dachte, er hätte den Mund nicht aufgemacht. Unter nichts litt sie mehr, als ihre Armen verlassen zu müssen, durch die Welt zu jetten und Ehrungen zu empfangen. Sie tat es nur Jesus zuliebe. „Meine Fahrt in die USA“, bekannte sie bereits 1960 gegenüber Erzbischof Périer, „war der schwerste Akt des Gehorsams, den ich Gott gegenüber jemals leisten musste.“

Die große Unbekannte

Muggeridge filmte nur die Außenseite. Die Bücher beschrieben nur die Außenseite. Selbst die Schwestern, mit denen sie täglich zusammen war, kannten nur die Außenseite. Schwester Nirmala, ihre Nachfolgerin, bekannte nach ihrem Tod: „Ich war seit 1958 mit Mutter (zusammen) und kann bezeugen, dass sich keiner von uns vorstellen konnte, was Mutter innerlich durchmachte ...“ Es ist, als hätten sie (und wir alle) bis jetzt nur die Spitze eines Eisberges gesehen – ein Achtel vielleicht oder auch nur ein Zehntel, wer weiß. In der gesamten christlichen Geschichte der Mystik und Spiritualität ist mir kein Fall bekannt, in dem man von jetzt auf plötzlich alle Urteile über einen großen Menschen revidieren, alle Einschätzungen über ihn ändern, alle Bücher über ihn umschreiben muss.

Wenn je das Wort Paradigmenwechsel angebracht war, dann hier. Das Buch „Mutter Teresa“ wird jetzt noch einmal neu aufgeschlagen, nachdem wir ihre „Confessiones“ kennen. Es mag sein, dass wir Mutter Teresa für eine Heilige des 20. Jahrhunderts gehalten haben – für den ultimativen Gutmenschen, irgend etwas in dieser Kategorie. Gewiss war sie auch eine heroische Sozialarbeiterin. Was sie darüber hinaus war, das beginnen wir jetzt erst zu ahnen. Auch Franziskus hat man lange missverstanden. Noch heute ist er für 95 Prozent der Leute ein „Naturapostel“. Mutter Teresa wird keine Heilige der Vergangenheit, sie wird die Heilige des 21. Jahrhunderts sein. Sie wird auch nicht mehr länger bloß die Heilige der armen Leute von Kalkutta sein. Sie wird unsere Heilige sein, die Heilige der geistig Armen in den Metropolen der westlichen Welt. Mutter Teresa rückt uns auf eine erschreckende Weise nahe. Nicht in unserer konsumistischen Saturiertheit (obwohl wir das auch gebrauchen könnten). Das würden wir ertragen. Nein, sie attackiert uns viel intimer. Sie trifft uns in unserer Leere. In unserem Zynismus. Unserer Eiseskälte. Unserem Liebesverrat. Unserem Gottesverrat. Darin wird sie unsere Patronin.

„Da ist nichts in mir“

Das mit der „Spitze des Eisberges“ kann man ruhig wörtlich nehmen. Wer je dachte, in der Seele von Mutter Teresa habe es warm und behaglich ausgesehen, Licht und Liebe hätten sie durchflutet, wird schockiert sein. Die Skala reicht von: „Beten Sie für mich, denn in meinem Inneren ist es eiskalt“ (im Dezember 1955 an Erzbischof Périer) bis: „Ich glaube nicht, dass ich eine Seele habe. Da ist nichts in mir“ (Exerzitien mit P. Picachy SJ, März 1959). „Der Platz Gottes in meiner Seele ist leer. In mir ist kein Gott“ (vermutlich 1961 an P. Neuner SJ). Solche Bemerkungen sind keine peinlichen „Ausrutscher“ einer überstrapazierten Heldin der Nächstenliebe. Über einen Zeitraum von 50 Jahren hinweg sind sie der Grundtenor ihres geistlichen Lebens. Immer wieder schreibt sie den Priestern, die ihr nach Kräften zu helfen versuchten: „Keine Gebete keine Liebe, keinen Glauben – nichts als den Schmerz der unablässigen Sehnsucht nach Gott“ (1962 an P. Neuner SJ). Sogar ihr berühmtes Lächeln muss sie sich abringen: „Beten Sie nur, dass ich nach außen hin die Freude bewahren kann. Ich täusche die Menschen mit dieser Waffe – selbst meine Schwestern“ (1960 an P. Picachy).

Spätestens an diesem Punkt möchte man entsetzt aufschreien: Ja, ist das denn alles nicht wahr – dass alle, die in ihrer Nähe waren, bezeugen, Mutter Teresa sei keine Minute ohne Gebet gewesen („Beten heißt für mich, 24 Stunden lang eins mit dem Willen Jesu zu sein, für ihn, durch ihn und mit ihm zu leben“), sie habe die Perlen ihres Rosenkranzes geradezu „massiert“? War das ein bewusster Akt der Täuschung, wenn sie keine zwei Minuten irgendwo sein konnte, ohne dass sie von Jesus sprach, für Jesus warb, die Liebe zu Jesus über alles stellte: „Ich diene Jesus 24 Stunden am Tag. Was immer ich tue, es wird für ihn getan, und er gibt mir die Kraft dazu. Ich liebe ihn, wenn ich die Armen liebe, und durch ihn liebe ich die Armen.“ Oder: „Liebt Jesus mit einem großen Herzen. Dient Jesus mit Freude, räumt alles beiseite, was euch Sorgen macht, und vergesst es. Damit ihr das tun könnt, müsst ihr liebevoll wie Kinder beten.“ Sollte es auf Verstellung und Lüge beruhen, dass jeder, der in ihre Nähe kam, sie für einen durch und durch von Gott erfüllten Menschen halten musste?

Lächeln und Verzweiflung, äußere Emphase und innere Leere, leidenschaftlicher Glaube und vereiste Gefühle. Wie man es dreht – es passt nicht zusammen. Die Psychologen – würde man sie befragen – wären schnell bei der Hand, würden von einer gespaltenen Persönlichkeit sprechen. Nur – wenn Mutter Teresa eines nicht war, dann gespalten. Sie war einer der eindeutigsten und effizientesten Menschen, die das 20. Jahrhundert gesehen hat. Sie hat halt „die dunkle Nacht der Seele“ durchgemacht, raunen die Mystik-Spezialisten und verweisen auf Johannes v. Kreuz und gleich ein Dutzend anderer Heiligen der Kirche. Aber nach jeder Nacht kommt doch ein Morgen, oder? Doch bei Mutter Teresa dauerte die Nacht 50 Jahre bis in ihren qualvollen Tod hinein an. Sie ist im inneren Dunkeln in ein Dunkel hinein gestorben. P. Brian Kolodiejchuk MC, der Herausgeber, spricht zu Recht von einer einzigen „intensiven und anhaltenden spirituellen Agonie“ – einem Todeskampf also.

Der Schlüssel: Das Privatgelübde

Mutter Teresa gibt uns glücklicherweise selbst einen Schlüssel an die Hand, um das Drama ihrer Seele (?) ohne Gott (?) in Umrissen zu erahnen. Es ist kurz vor Ostern des Jahres 1959, dass der Jesuit P. Pichachy den Schwestern Ignatianische Exerzitien hält. Seit über zehn Jahren lebt Mutter Teresa in der „Nacht“. Während dieser Exerzitien verteilt Picachy einige hektografierte Blätter mit Fragen. An den Rand notiert Mutter Teresa: „Ich glaube es war an diesem Tag im Jahr 1942, dass ich mich Gott gegenüber unter Strafe einer Todsünde verpflichtete, ihm nichts zu verweigern. Dies ist es, was alles in mir verbirgt.“

Da ist er – der Schlüssel! Man muss 17 Jahre zurückgehen, in die Zeit, in der Mutter Teresa noch im Loretokonvent lebt und nichts von ihrer zukünftigen Berufung ahnt. Da geht also eine 32 Jahre junge, begeisterte, das Absolute wollende Ordensfrau her und will Gott „etwas sehr Schönes“ geben; sie macht – sagen wir es ruhig so krass – einen deal mit Gott. Sie legt ein Privatgelübde ab. Sie spielt alles oder nichts. Sie will, was die Liebe will: alles. Und sie lässt sich auf eine Verrücktheit ein, wie sie nur die Liebe begeht. Sie stellt dem anderen – Gott – einen Blankoscheck aus: „… ihm nichts zu verweigern!“

Ich erinnere mich noch, dass mir ein weiser geistlicher Lehrer einmal sagte: „Man muss sich genau überlegen, um was man Gott bittet. Er macht das.“ Das Geheimnis, der Schlüssel zu Mutter Teresa besteht in einer sehr simplen, aber bestürzenden Annahme: Der andere, Gott, spielte mit! Dergleichen ist in bürgerlicher Religion nicht vorgesehen, in der man Mystik in Wochenendkursen für € 360,– zzgl. Unterk./Verpfl. buchen kann – Erleuchtung inklusive. Im Falle echter Mystik – im Fall einer Mutter Teresa also – fliegen uns die Teile solcher Plastikreligion um die Ohren. Mystik ist ein unsteuerbarer Einbruch von oben, ist ein manchmal scheinbar anarchisches Eingreifen Gottes, ist Schauder erregendes Agieren von der anderen Seite her. „Wilt thou refuse to do this for me?“ – „Willst du dich weigern, das für mich zu tun?“ – von Stund an ist diese „Stimme“ der geheime Refrain, der sich durch Mutter Teresas Leben zieht. In ungeheurer Konzentration geht es nur noch um das eine: „dass ich Gott nicht zurückweise“ – „Beten Sie für mich, dass ich Gott in dieser Stunde nichts verweigere!“ Wilt thou refuse me? Noch in der tiefsten Trostlosigkeit gibt sie den Reflex auf das Privatgelübde von 1942: „Ich will, dass er mit mir und in mir völlig freie Hand hat.“

Eine zärtliche, große Liebe zu Jesus

Das Drama der Leiden und Abwesenheiten Gottes versteht man nur, wenn man die Phasen der unerhörten, beglückenden, ja betörenden Anwesenheiten Gottes in der Seele von Mutter Teresa wahrnimmt. Die Zeit vom September 1946, als sie auf der Zugreise nach Darjeeling ihre „Berufung in der Berufung“ erfuhr, bis zur tatsächlichen Gründung ihrer Gemeinschaft im Jahr 1948 war eine Zeit mystischer Begnadungen, die man in ihrer Verbindung aus glühender Intensität und zärtlicher Innigkeit am besten mit denen von Therese von Lisieux vergleicht. Mit „My own Spouse“, gar mit „My little one“, wendet sich Jesus an Mutter Teresa, und sie erwidert: „My own Jesus“. Es entwickelt sich eine Liebesgeschichte von berückender, leuchtender Schönheit, die wohl bis in ekstatische Momente mystischer Vereinigung führte (worüber es jedoch nur diskrete Andeutungen gibt).

Es fallen Sätze, bei denen einem der Atem stockt: „Ich möchte ihn lieben, wie er noch nie geliebt wurde – mit einer tiefen, persönlichen Liebe.“ Die Gewalt göttlicher Präsenz versetzte eine kleine Frau, die von sich immer behauptete, sie sei nichts Besonderes, sie habe keine herausragenden Gaben, in die Lage, in kürzester Zeit alle kirchlichen Sicherungs- und Beharrungsmomente außer Kraft zu setzen und „Sein Werk“ in die Tat umzusetzen. Was wollte ER? Mutter Teresa erhielt den Auftrag, eine Gemeinschaft zu gründen, um den Ärmsten der Armen zu dienen und „das Dürsten Jesu zu stillen“.

Und nun geschieht das, was wir von außen her als die große tragische Wendung im Leben der Mutter Teresa empfinden. Während „Sein Werk“ auf Anhieb einschlägt, sich idealistische junge Frauen ihrer Gemeinschaft anschließen, während sich wahre Wunder ereignen und Gnade und Segen geradezu mit Händen zu greifen sind, wird es dunkel in Mutter Teresas Seele – für 50 Jahre, eine kurze Lichtphase ausgenommen. Und Sie? Sie sagt: „Ich finde keine Worte, um die Abgründe meiner Dunkelheit mitzuteilen. Trotz allem – bin ich seine Kleine – & ich liebe ihn – nicht für das, was er gibt – sondern für das, was er nimmt …“ Ein anderer Hiob, preist sie Gott aus nacktem Glauben heraus. Andere werden sagen: Was ist das für ein sadistischer Gott, sie so allein zu lassen, sie so zu vergessen, alle ihre Hoffnung zu vernichten! Sie aber liebt, liebt Gott gegen den Augenschein Gottes und wird so zur großen Zeitgenossin ihres Jahrhunderts, des schrecklichsten in der Geschichte der Menschheit, des Jahrhunderts, in dem ein anonymer Jude an die Wände des Warschauer Ghettos die Worte schrieb: „Ich glaube an die Sonne auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott auch wenn er schweigt.“

Der Schrei

Jemand hat einmal gesagt, das Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch, sei das Bild des 20. Jahrhunderts gewesen. In der Tat verdichten sich in den leeren Augenhöhlen und der Rundung des Mundes Angst und Entsetzen eines ganzen Zeitalters: Aus diesem Bild schreien Millionen wehrloser Opfer in den Konzentrationslagern und GULAG´s; es schreien die Soldaten in den Schützengräben während der Gasangriffe; es schreien die Flüchtenden in den Feuerwalzen bombardierter Städte. In Mutter Teresas Zimmer in Kalkutta hing über Jahrzehnte das Gegenstück zu Munch: der Durstschrei Jesu.

Über keine Facette des Evangeliums hat Mutter Teresa tiefer meditiert als über die Passionsszene bei Johannes (19,28), in der Jesus sagt: „Mich dürstet“. Würde man das Leben Jesu noch einmal aus solchen facettenhaften Ureinsichten der Heiligen zusammensetzen, so wäre dies das Stück von Mutter Teresa. Im Jesus der Golgatha-Szene ist es Gott selbst, der schreit. Es ist, als käme Gott in den anonymen Schrei des Edvard Munch hinein; es ist, als würden auf einmal nicht mehr nur die gequälten Menschen schreien. Es ist, als ob aus der Masse der Leidenden der eine göttliche Leidende in allen und für alle schreien würde.

Der Schrei des Gekreuzigten ist bei Mutter Teresa aber viel mehr als nur der ekstatische Notschrei der gepeinigten Kreatur. Er ist der Schrei des Erlösers nach hingebungsvoller, persönlicher Liebe durch die Menschen. Noch in ihrem Testament schärft Mutter Teresa ihren Schwestern ein: „,Ich habe Durst!‘ ist ein viel tiefgehenderes Wort, als wenn Jesus einfach gesagt hätte: ,Ich liebe euch!‘ Solange ihr nicht auf sehr intime Weise wisst, dass Jesus Durst nach euch hat, wird es euch unmöglich sein, zu erfassen, was er für euch sein will, noch wer ihr für ihn sein sollt. Den Durst Jesu zu löschen, der unter uns lebt, ist der einzige Daseinsgrund und das einzige Ziel unserer Kongregation.“ Das Dürsten Jesu aus der Passionsszene führt Mutter Teresa zusammen mit dem „Ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben“ (Mt 25,35) aus der Gerichtsrede Jesu, die in dem bestürzenden Satz mündet: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Jesus lebt in den Ärmsten der Armen – er schreit in ihnen nach unserer Liebe.

So erst entsteht dieses explosive Gemisch, das von Mutter Teresa an neu in der Kirche da ist und gelebt wird als Bekehrung zu den Armen. Mit der Vehemenz einer Prophetin hat Mutter Teresa immer die doppelte Gegenwart Jesu verkündigt: in der heiligen Eucharistie und in den Armen. Eines geht nicht ohne das andere.

Der Schrei und die Liebe

Wieso aber musste das Leben dieser großen Liebenden aber in der Gemeinschaft mit Jesus selbst zum „Schrei“ werden; warum musste „My own Jesus“ seine geliebte „little one“ so ausplündern, so innerlich entleeren, so aller Freude und aller fühlbaren Gegenwart Gottes berauben und den Qualen einer ungestillten Sehnsucht überlassen, dass der geradezu kreatürliche Seufzer dokumentiert ist: „Was tust Du, Mein Gott, jemand so Kleinem an?“

Die Frage führt uns in das Geheimnis der Liebe, wie es sich in der Erlösung zeigt. Das Letzte der Liebe ist das Kreuz. Mutter Teresa weiß, dass dies ein Grundgesetz in allen Dingen ist. Leiden ist nicht das Gegenteil von Liebe, sondern die Tiefe von Liebe. Irgendwann ist der Ernstfall der Liebe; irgendwann wird sie auf Herz und Nieren geprüft: „Wahre Liebe tut weh. Sie muss immer weh tun. Es muss schmerzlich sein, jemand zu lieben; schmerzhaft, ihn zu verlassen, man möchte für ihn sterben. Wenn Menschen heiraten, müssen sie alles aufgeben, um einander zu lieben. Die Mutter, die einem Kind das Leben schenkt, leidet viel. … Das Wort ,Liebe‘ ist so missverstanden und so missbraucht.“

Gott geht in seiner Liebe dorthin, wo es ganz weh tut – in die Sünde. Er, der ohne Sünde ist, macht sich so gemein mit der Sünde, dass er – wie Mutter Teresa sagt – „vom Vater verstoßen wird“, weil Gott „die Sünde nicht akzeptieren kann“. Wir werden erlöst, weil Gott selbst sich an den gottverlassenen Ort der Sünde begibt und uns am Kreuz von der Sünde erlöst. Ausgerechnet den, der ans Kreuz ging zu lieben, hatte sich Mutter Teresa ausgesucht; ihn wollte sie „lieben, wie er noch nie geliebt wurde – mit einer tiefen, persönlichen Liebe.“ Das erinnert an die beiden Zebedäussöhne, die sich im Markusevangelium ein Vorrecht für das Leben im Reich Gottes erbaten; Jesus aber wies sie zurück: „Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde?“ (Mk 10,38).

Mitgehen in die Gottverlassenheit Gottes

Was Jesus den Zebedäussöhnen vorenthielt, das lud er dieser verrückten kleinen Frau auf, die sich so verwegen, ja grenzenlos in ihren Erlöser verliebte, dass sie alle Wege mit ihm gehen wollte. Er nahm sie mit. Er mutete ihr die eigene Armut und Verlassenheit zu. Bald verstand sie: Man muss ganz arm, „… muss vollkommen leer sein, damit er das tun kann, was er will …“ oder, wie es an anderer Stelle heißt, damit „… Jesus sein Leben ganz und gar in mir leben kann.“

Was aber war „sein Leben“? Sein Leben war es, an den Ort der äußersten materiellen und geistigen Armut zu gehen. Nennen wir es einmal nicht „Kreuz“, nennen wir es den Ort, wo keine Hoffnung und kein Himmel mehr ist, wo man keine Liebe und keinen Glauben und keinen Gott mehr hat. Das können die Slums von Kalkutta sein. Oder die Drogenquartiere in den Bronx. Es kann aber auch ein Büro in Berlin sein. Oder eine Ehe in einem perfekt eingerichteten Einfamilienhaus. „Trag mich in die Löcher der Armen“, fordert Jesus sie auf.

Zum Zeitpunkt ihrer mystischen Vereinigung mit Jesus hatte Mutter Teresa nie gedacht, dass diese Liebesgeschichte mit Jesus sie einmal die Hölle als Ort eigener Erfahrung beschreiben lassen würde: „Es heißt, dass die Menschen in der Hölle ewige Pein leiden, weil sie Gott verloren haben. … In meiner Seele fühlte ich eben diesen furchtbaren Schmerz des Verlustes – dass Gott mich nicht will – dass Gott nicht Gott ist – dass Gott nicht wirklich ist …“ Im aktiven Mitleiden mit Jesus sollte sie das Wort „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) von innen heraus kennen lernen. Stellvertretend. Für andere. Tiefer hineingenommen, daher auf tiefere Weise beteiligt am Mysterium der Erlösung. Mutter Teresa lebte das Pauluswort: „Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1,24). Das war ihre Freude in der Nichtfreude.

Ihre Gottesferne war keine Schuld, kein Unvermögen, kein Schicksal im klassischen Sinn. Jesus hatte sie dahin einfach mitgenommen. Wenn jemand im Atheismus von heute war und ihn bis zur Neige auskostete, dann Mutter Teresa.

Das Lächeln der Mutter Teresa

Merkwürdig, man liest ein Buch, in dem ein Mensch durch die Hölle geht. Man ist berührt, erschüttert, mitgenommen, aber man wird keine Sekunde heruntergezogen, in Depression gestürzt, in Zweifel und Grübeleien verstrickt. Man muss sich an eine bestimmte Sprache gewöhnen, findet manche Ausdrücke rätselhaft und dunkel, aber in allen Worten Mutter Teresas findet sich nicht ein falscher Ton. Sie ist absolut authentisch. Das Buch der Abwesenheiten Gottes vibriert vor göttlicher Präsenz. Man legt es aus der Hand – und ist vielleicht ein Stück weit bekehrt, mindestens aber gebessert. Man fühlt Sehnsucht, Gott nahe zu kommen, Wehmut ihm nicht besser zu dienen.

Aber was ist mit den Rufen aus der Tiefe der Gottesferne? Oft finden sie sich eingebunden, so merkwürdig es klingt, in Gebete: „Ich fürchte mich, all diese schrecklichen Dinge aufzuschreiben, die meine Seele durchstreifen. – Sie müssen Dich verletzen“, spricht sie Jesus an, im gleichen Brief, in dem sie bekennt: „Ich bete nicht mehr“, um gleich danach in größter Innigkeit den Gebetsfaden wieder aufzunehmen. Nein, gezweifelt habe sie nie. Nur gekämpft. Nur unsäglich gelitten unter seiner Abwesenheit. Die abgründigsten Feststellungen eigener innerer Leere stehen mitten zwischen dem Lob der Gnade Gottes, die Mutter Teresa ringsum, nur nicht in sich, entdeckt und hymnisch preist. Eben noch sagt sie, der Himmel sei „allseitig verschlossen“; im selben Brief aber heißt es: „Ich sehne mich danach, ihn mit dem letzten Tropfen Blut in mir zu lieben. … Ich kann nicht sagen, ich sei zerstreut – mein Herz & mein Verstand sind normalerweise immer bei Gott.“ Eben noch klagt sie darüber, dass sie zu Nichts geworden ist, dass kein Gefühl sie mehr bewegt und keine Liebe in ihr ist – und im nächsten Moment steht sie vor ihren Schwestern, befeuert sie mit glühenden Worten, spricht von der „zärtlichen Liebe“, den „lebendigen Wundern“, ermahnt sie: „Versucht Jesu Liebe zu sein, Jesu Erbarmen, Jesu Gegenwart.“ Die Worte kommen wie von selbst; sie fließen einfach durch sie hindurch. Denn sie ist leer. Sie setzt dem Wirken Gottes keinen Widerstand entgegen. Sie ist reines Instrument.

Und ihr Lächeln, von dem sie doch bekennt, es sei eine „Maske“ gewesen, mit der sie selbst ihre Schwestern getäuscht habe? Ja, es entsprang dem Willen, aber einem Willen von letzter Lauterkeit, demselben Willen, der Mutter Teresa 1942 auf die verrückte Idee brachte, IHM etwas „sehr Schönes zu schenken.“ Sie hatte nichts mehr zu geben. Sie war leer. Also schenkte sie zuletzt dieses „große Lächeln“. Es war Ausdruck ihrer vollkommenen Hingabe: „Beten Sie, Pater, dass ich einfach an diesen beiden Worten ,Ja‘ und ,Lächeln‘ festhalte.“ Ihr Lächeln war nicht falsch. Es hatte Platz neben ihrer Verzweiflung. Es beanspruchte ein verwegenes Recht auf Dasein – wie erstes Grün, das durch den Schnee bricht. So ist sie in Erinnerung geblieben: als die Frau, die lächelte, obwohl sie, wie wir heute wissen, menschlich gesehen nichts zu lächeln hatte. Und doch kam niemand von ihr zurück, der ihr berühmtes Wort nicht wahr gefunden hätte: „Lass nicht zu, dass jemand unglücklicher von dir geht, als er zu dir gekommen ist.“ Eines wusste Mutter Teresa: Dieser Satz gilt auch von Gott.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Brian Kolodiejchuk: Mutter Teresa – Komm, sei mein Licht – Die geheimen Aufzeichnungen der Heiligen von Kalkutta. Pattloch Verlag, 448 Seiten, € 19.95 (D) ISBN 978-3-629-02197-7.

Zum Gedenken an Arnold Guillet †

Arnold Guillet wurde am 28. Januar 1922 in Zürich als erstes von fünf Geschwistern geboren. Seine Kindheit und Jugendzeit waren von schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem frühen Tod seines Vaters im Jahr 1935 geprägt. In der Ungewissheit, ob oder wann die Schweiz in den um sie herum tobenden Zweiten Weltkrieg verwickelt werden würde, rückte er 1942 in die Rekrutenschule ein. Seine Studien – Philosophie, Germanistik und Journalistik – an der Universität Zürich sowie an der nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründeten Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und später in Hamburg verwiesen von Anfang an auf sein späteres Berufsziel.

Seine missionarische und unternehmerische Denkweise drängten ihn, zunächst im Nebenberuf die Auslieferung des Katholischen Digest und in der Folge des Pattloch-Verlags in der Schweiz aufzubauen. Bald kamen weitere Verlage wie Schnell & Steiner, Sebaldus, Echter, Arena, Credo und Morus dazu. Im Zug seiner ersten Eigenproduktionen entstand der Christiana-Verlag, dem er sich seit 1942 vollamtlich widmete. Seine große Leistung lässt sich an der Liste der über eintausend Bücher ermessen, die in diesem Verlag erschienen sind. Er war Verleger im Schoß der Kirche. Gleichzeitig leistete er mit seiner Zeitung „Timor Domini“ einen eigenen Beitrag in der geistigen Auseinandersetzung nach dem II. Vatikanischen Konzil. Die erste Ausgabe erschien am 7. Februar 1972 mit einer Auflage von 150.000 Exemplaren. Den Namen des Blattes wählte er in Anlehnung an das Psalmwort „Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“. Im Editorial ging er jeweils auf die aktuellen Fragen und Probleme ein, die sich in den vergangenen 35 Jahren auf alle Bereiche der kirchlichen Lehre erstreckten.

Arnold Guillet war ein katholischer Verleger aus Berufung, ein glühender Apostel der Neuevangelisierung. Schon in Jugendjahren wollte er Missionar werden. Ohne wirkliche Berufung wäre ein so gewaltiges Lebenswerk, insbesondere der Aufbau des Christiana-Verlags nicht möglich gewesen. Auch „Kirche heute“ ist ihm für die vertrauensvolle und fruchtbare Zusammenarbeit mit seinem Verlag zu tiefem Dank verpflichtet. Gott möge ihm seinen Einsatz in der ewigen Glückseligkeit reichlich vergelten!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2007
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