Worauf zielt die christliche Hoffnung?

In seinem Kommentar zur neuen Enzyklika Papst Benedikts XVI. arbeitet Weihbischof Dr. Andreas Laun die Verankerung der christlichen Hoffnung sowohl in Gott als auch in der tiefen Sehnsucht des Menschen nach Gerechtigkeit heraus. Der Glaube an das Letzte Gericht ist Hoffnung und nicht Quelle von Angst und Schrecken; denn die Menschwerdung Gottes hat Gericht und Gnade „ineinandergefügt“. 

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Einladung zum gemeinsamen Nachdenken

Ja, auch diese Enzyklika ist ein typischer „Ratzinger-Text“, in dem der Papst die Menschen zwar lehren, aber nicht als oberster Inhaber des kirchlichen Lehramtes „unfehlbar belehren“ will. Vermutlich würde er auch hier, ähnlich wie bei seinem Buch, Einwände zulassen, wenn jemand meint, solche machen zu müssen. Was der Papst tut, ist eher so zu beschreiben: Er lädt seine Leser ein, mit Ihm über ein wichtiges Thema nachzudenken, auf ihre eigenen Erfahrungen und Empfindungen zu lauschen, die Fragen, die sich daraus ergeben, hochkommen zu lassen und mit Ihm die Antworten, die es gibt, sorgfältig abzuwägen – und alles in das Licht des Glaubens zu stellen. So wird der Leser von der ersten Zeile an hinein genommen in den großen Dialog, den der Papst selbst führt und in dem er mit den Großen der Geschichte und unserer Zeit über das Leben und seine Hoffnung nachdenkt: mit Platon, mit den Juden, mit Protestanten und mit Ungläubigen; er nimmt sie alle ernst und darum hört er auf alle, auch wenn er nicht allen Recht gibt und nicht Recht geben kann. Zu diesem Dialog gehört bei Papst Benedikt immer wieder auch der Blick auf einen Zeugen des Glaubens und damit auch Zeugen der Hoffnung in der Geschichte der Kirche, also auf einen Heiligen. Natürlich vertritt der Papst, wie könnte es anders sein, nicht einen synkretistischen „Antworten-Mix“, sondern die eine, große, von Gott kommende Hoffnung, die Er Seiner geliebten Kirche anvertraut hat.

Die Enzyklika sagt: Die Welt ist hoffnungslos, aber nur ohne Gott! Mit einem Lächeln verbunden, könnte man auch auf gut österreichisch sagen: Der Papst meint, „die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!“ „Nicht ernst“ aber nur deswegen, weil Christus gekommen ist! Darum redet er vor allem von Gott, und die Enzyklika ist eine Art Fortsetzung seines Jesus-Buches und seines Lehrschreibens über „Deus caritas“. Es ist gut, wenn man diese auch gelesen hat.

Wollen wir das eigentlich, ewig leben?

Es geht dem Papst um die große, eine, einzig wichtige Hoffnung, natürlich nicht um die vielen kleinen, alltäglichen, notwendigen und natürlichen Hoffnungen, die den Alltag begleiten: die Hoffnung auf den Parkplatz, auf Erfolg in der Liebe und im Beruf, auf Heilung oder nur auf schönes Urlaubswetter. Das alles, sagt der Papst, ist gut und schön, nur – es genügt einfach nicht! Und Hoffnung, die sich der Mensch selbst zu machen versucht, trägt nicht. Die wirkliche Hoffnung ist nur als Geschenk von Gott zu haben und ohne Ihn undenkbar.

Nach einem ersten Blick auf die biblische Hoffnung, die sich auf das „ewige Leben“ bezieht, und, zur Veranschaulichung, auf die sudanesische Sklavin und spätere Ordensfrau Bakhita, die mit Christus die Hoffnung ihres Lebens gefunden hat, lädt der Papst den Leser zunächst einmal ein, mit ihm und mit Augustinus über die widersprüchliche und ratlose Sehnsucht des Menschen und dabei auch über den Tod nachzudenken:

Es scheint einfach zu sein: Wir wollen das glückliche Leben und fürchten den Tod. Aber: „Wollen wir das eigentlich, ewig leben? Vielleicht wollen viele Menschen den Glauben heute einfach deshalb nicht, weil ihnen das ewige Leben nichts Erstrebenswertes zu sein scheint. Sie wollen gar nicht das ewige Leben, sondern dieses jetzige Leben, und der Glaube an das ewige Leben scheint ihnen dafür eher hinderlich zu sein. Ewig, endlos weiterzuleben scheint eher Verdammnis als ein Geschenk zu sein. Gewiss, den Tod möchte man so weit hinausschieben wie nur irgend möglich. Aber immerfort und ohne Ende zu leben – das kann doch zuletzt nur langweilig und schließlich unerträglich sein? Offenbar gibt es da einen Widerspruch in unserer Haltung: Einerseits wollen wir nicht sterben, aber andererseits möchten wir doch auch nicht endlos so weiterexistieren, und auch die Erde ist dafür nicht geschaffen. Was wollen wir also eigentlich?“ Daraus ergibt sich die nächste Frage: „Was ist das eigentlich, Leben? Und was bedeutet Ewigkeit? Mag sein, es gibt Glücksmomente, die wir uns für immer wünschen, und doch: „Genau besehen wissen wir gar nicht, wonach wir uns eigentlich sehnen, was wir eigentlich möchten. Wir kennen es gar nicht; selbst solche Augenblicke, in denen wir es zu berühren meinen, erreichen es nicht wirklich.“

Versuche ohne Glauben sind gescheitert

Nach dieser ebenso nüchternen wie feinfühligen Analyse der menschlichen Existenz weist der Papst bildhaft die Richtung, in die es zu denken gilt, wenn man die Antwort finden will:

Die ersehnte Ewigkeit wäre dann ein „Augenblick des Eintauchens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Nachher mehr gibt, Augenblick des Lebens, indem wir einfach von der Freude überwältigt werden.“ Der Papst ist sich natürlich bewusst, dass auch er den Himmel nicht beschreiben kann wie der Prospekt eines Reisebüros eine Landschaft. Aber: „In dieser Richtung müssen wir denken, wenn wir verstehen wollen, worauf die christliche Hoffnung zielt und was wir vom Glauben erwarten, von unserem Mitsein mit Christus.

Soweit so gut, auch wenn wir uns den verheißenen Himmel nicht „vorstellen“ können und es beim Nichtwissen bleibt. Aber jetzt ist der Weg frei, der Papst kann sich den Menschen unserer Zeit zuwenden, die ihre Hoffnung auf den Fortschritt setzen, den die Vernunft und das Handeln des Menschen selbst herbeiführen sollen, nicht mehr der Glaube. Vielleicht Illusion, aber doch harmlos? Denn damit hängt die Glaubenskrise der Gegenwart zusammen, die „vor allem eine Krise der christlichen Hoffnung ist“!

Der Papst analysiert sein Gegenüber: Worauf gründet die neue Hoffnung, die die christliche ersetzen soll? Auf den Fortschritt durch Vernunft und Freiheit? Historisch gesehen hat man ihn zu erzwingen versucht einerseits in der Französischen Revolution und andererseits durch die Errichtung der kommunistischen Reiche. Den Ausgang dieser Versuche kennt man, beide sind gescheitert, beide haben eine Blutspur in der Geschichte hinterlassen. So stehen wir neu vor der Frage: Was dürfen wir hoffen?

Wir brauchen die „ganze Vernunft“

Es mag denjenigen, der den Papst noch nicht kennt, überraschen: Zunächst einmal gibt er den Propheten der Vernunft Recht. Wie in fast allen seinen Ansprachen und Schriften, zuletzt in seinem Aufsehen erregenden Regensburger Vortrag, betont er nämlich zustimmend: „Ja, Vernunft ist die große Gottesgabe an den Menschen.“ Eine Entdeckung der Neuzeit, die die Christen endlich annehmen sollten? Keineswegs: „Der Sieg der Vernunft über die Unvernunft ist (und war schon immer) auch ein Ziel des christlichen Glaubens.“ Nachdem der Papst diese Einheit in der Liebe zur Vernunft außer Zweifel gestellt hat, nimmt er seinem Gegenüber, den Ideologen der Vernunft und des Fortschritts, auf ihrer Fahrt in eine gottlose, von Menschen gemachte Welt den Wind aus dem Segel durch seine kritischen Fragen: „Aber wann herrscht die Vernunft wirklich? Wenn sie sich von Gott gelöst hat? Wenn sie für Gott blind geworden ist? Ist die Vernunft des Könnens und des Machens schon die ganze Vernunft?“ So zu fragen, heißt die Antwort des Papstes wissen: Nein, das ist sie nicht, nicht die „ganze Vernunft“. Vielmehr braucht sie eine Ergänzung: durch die Öffnung für den Blick über sich hinaus, durch die Kräfte des Glaubens und durch die Unterscheidung von gut und böse. Nur so wird sie wahrhaft menschlich. Andernfalls führt die „Urteilslosigkeit des Herzens zur Bedrohung für den Menschen und die ganze Schöpfung. Vernunft und Freiheit brauchen ein Maß!

Damit hat der Papst nicht nur gesagt, sondern erklärt, warum das Urteil des hl. Paulus: „Ohne Gott sein heißt, ohne Hoffnung sein!“ richtig ist. Denn ein Reich des Menschen und seiner Vernunft, ein Reich ohne Gott, kennt die Hoffnung nicht und endet im Unglück!

Nur die unbedingte Liebe erlöst

Nach dieser Analyse kehrt der Papst wieder zur spezifisch christlichen Hoffnung zurück: Hoffnung gründet im Glauben, ihr Inhalt ist die Liebe, und Liebe ist Erlösung. So spannend und wichtig die Auseinandersetzung mit der Neuzeit war, dieser Abschnitt ist derjenige, der am tiefsten das Herz des Lesers zu berühren vermag und die eigentliche Antwort gibt auf die Frage, worauf der Christ hofft:

 „Erlöst wird der Mensch durch die Liebe. Wenn jemand in seinem Leben die große Liebe erfährt, ist dies ein Augenblick der ,Erlösung‘, die seinem Leben einen neuen Sinn gibt. Aber er wird bald auch erkennen, dass die ihm geschenkte Liebe allein die Frage seines Lebens nicht löst. Sie bleibt angefochten. Sie kann durch den Tod zerstört werden. Er braucht die unbedingte Liebe. Er braucht jene Gewissheit, die ihn sagen lässt: ,Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn‘ (Röm 8,38-39). Wenn es diese unbedingte Liebe gibt mit ihrer unbedingten Gewissheit, dann – erst dann – ist der Mensch erlöst, was immer ihm auch im Einzelnen zustoßen mag. Das ist gemeint, wenn wir sagen: Jesus Christus hat uns ,erlöst‘.“ Diese Liebe und nur diese Liebe erlöst, keine andere, und nur sie gibt auch die unzerstörbare, erfüllende Hoffnung. Klar ist dabei auch: Das ist eine Aussage über Gott, einen Gott nämlich, „der nicht eine ferne Erstursache der Welt darstellt, denn sein Sohn ist Mensch geworden, und von ihm kann jeder sagen: Ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat (Gal 2, 20)“.

Damit beschreibt der Papst nicht eine Hoffnung, in die man sich kuscheln kann, um dann den Rest der Welt und ihre Nöte zu vergessen. Wie schon in seinem Schreiben über die Liebe Gottes, so auch hier: Christliche Hoffnung ist nicht Heilsegoismus, christliche Hoffnung ist ihrem Wesen gemäß Teilhabe an der Güte Gottes für alle, ist darum Hoffnung und Liebe auch für die anderen.

Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit

Der letzte Teil der Enzyklika behandelt, wie der Papst es nennt, „Schul-, Lern- und Übungs-Orte“ der Hoffnung. Zu diesen „Orten“ rechnet der Papst das Gebet, das Tun und das Leiden, aber, besonders überraschend, auch das Gericht Gottes.

Vor allem mit dem Thema „Gericht Gottes“ korrigiert der Papst behutsam ebenso Fehlentwicklungen, die es auch in der Kirche gegeben hat, wie Fehlauslegungen von Sekten und zugleich auch den Vorwurf, den vor einigen Jahren die Vertreter des so genannten „Kirchenvolks-Begehrens“ mit ihrer Rede von der „Drohbotschaft“ der Kirche erhoben hatten. So schafft sich der Papst selbst die Gelegenheit zu sagen, was Katholiken mit den Begriffen Himmel und Fegefeuer meinen und auch, was sie unter Hölle verstehen.

Auch in diesem Abschnitt bleibt der Papst im Gespräch mit den Zeitgenossen und hört zuerst einmal sorgfältig Adorno und Horkheimer zu, den beiden Philosophen der Frankfurter Schule: Eine Welt, sagen diese, in der ein solches Ausmaß an Ungerechtigkeit, an Leid der Unschuldigen und an Zynismus der Macht besteht, kann nicht Werk eines guten Gottes sein kann. Der Gott, der diese Welt zu verantworten hätte, wäre kein gerechter und schon gar nicht ein guter Gott. Daher bestreiten sie die Existenz eines guten Gottes, aber genauso die Möglichkeit, einen immanenten Ersatz für Gott zu finden, und damit den modernen Fortschrittsglauben. Was bleibt, ist die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“, ein unverständlicher Schrei in die Weltgeschichte hinein, ohne sagen zu können, worauf sich die Sehnsucht bezieht. Im Übrigen würde, sagt Adorno, und der Papst zitiert ihn wörtlich, wirkliche Gerechtigkeit eine Welt voraussetzen, „in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich Vergangene widerrufen wäre“.

Das Gericht Gottes ist Hoffnung

Zunächst stimmt der Papst erwartungsgemäß zu, er hat es ja selbst auch gesagt: Niemand kann einen innerweltlichen Ersatz für Gott finden, der Versuch hat in der Geschichte immer zu den größten Grausamkeiten und Zerstörungen des Rechts geführt, und niemand kann bürgen dafür, dass es nicht wieder dazu kommt, unter welchen ideologischen Verbrämungen auch immer. Einverstanden mit Adorno ist der Papst auch darin: Gerechtigkeit fordert die Gutmachung des vergangenen Leidens, und ebenso stimmt er mit Dostojewski überein: Die Missetäter können am Ende nicht neben den Opfern an der Tafel des ewigen Hochzeitsmahls sitzen, als ob nichts gewesen wäre!

Und die christliche Antwort, wie lautet sie? Sie besteht, sagt der Papst und überrascht damit wohl viele seiner Leser, in der Botschaft vom Gericht Gottes: „Gott weiß, Gerechtigkeit zu schaffen auf eine Weise, die wir nicht erdenken können und die wir doch im Glauben ahnen dürfen. Ja, es gibt die Auferstehung des Fleisches und es gibt Gerechtigkeit im Sinne des Widerrufs des vergangenen Leidens, die Gutmachung, die das Recht herstellt. Daher ist der Glaube an das Letzte Gericht zuerst und vor allem Hoffnung, die Hoffnung, deren Notwendigkeit gerade im Streit der letzten Jahrhunderte deutlich geworden ist. Und der Papst fügt hinzu, und auch dies ist überraschend: „Ich bin überzeugt, dass die Frage der Gerechtigkeit das eigentliche, jedenfalls das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist.“ Und noch einmal: „Das Bild des Letzten Gerichts ist zuallererst nicht ein Schreckbild, sondern Bild der Hoffnung, für uns vielleicht sogar das entscheidende Hoffnungsbild.“ Und um auch den Einwand Dostojewskis zu beantworten: „Das Gericht Gottes ist Hoffnung, weil es Gerechtigkeit und zugleich Gnade ist: Die Unterscheidung ist wichtig: Denn wäre es bloß Gnade, die alles Irdische vergleichgültigt, würde uns Gott die Frage nach der Gerechtigkeit schuldig bleiben, die für uns entscheidende Frage an die Geschichte und an Gott selbst. Wäre es bloße Gerechtigkeit, würde es für uns alle am Ende nur Furcht sein können.“ Also bleibt am Ende wieder die Angst? Nein, sagt der Papst: „Die Menschwerdung Gottes in Christus hat beides, Gericht und Gnade, ineinandergefügt“: Gott wird Gerechtigkeit schaffen, und darum wirken wir alle unser Heil ,,mit Furcht und Zittern“ (Phil 2, 12). Aber die Gnade lässt uns hoffen und zuversichtlich auf den Richter zugehen, den wir als unseren ,,Advokaten’’, parakletos, kennen (vgl. 1 Joh 2,1)!

Zusammenfassen lässt sich das Schreiben des Papstes folgendermaßen (auch wenn es noch besser ist, man liest es selbst): Zur Hoffnung, die von Gott kommt, gibt es keine andere Hoffnung in Konkurrenz oder Alternative zu ihr, die „genauso gut“ wäre. Sie ist so einzigartig, wie Gott selbst einzigartig ist und keine anderen Götter neben sich dulden kann. Dies zu bestreiten, ist nicht nur zwecklos, sondern auch gefährlich. Auf den Hunger und Durst des Menschen nach Gerechtigkeit antwortet Gott mit Seinem Gericht, in dem Gerechtigkeit und Barmherzigkeit vereint sind.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Reifestufen der ehelichen Liebe

Lange Zeit war eines der wichtigsten Werke Karol Wojtylas im Buchhandel nicht mehr auf Deutsch erhältlich. Gemeint ist die ethische Studie mit dem Titel „Liebe und Verantwortung“.[1] Auf der Grundlage des polnischen Textes hat Dr. Josef Spindelböck dieses wichtige Buch neu übersetzt. Im Frühjahr 2007 konnte die deutsche Neuausgabe schließlich im Verlag St. Josef herausgegeben und damit dieser Schatz wieder einem breiten Leserkreis zugänglich gemacht werden.[2] Der St. Pöltener Bischof DDr. Klaus Küng, zugleich „Familienbischof“ in Österreich, schrieb in seinem Vorwort, „die Argumente des Verfassers“ seien „auch fünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen weiterhin gültig“ und vermittelten „einen hermeneutischen Schlüssel zur Lehre Papst Johannes Pauls II.“. Nachfolgend eine Zusammenfassung des entscheidenden II. Kapitels von „Liebe und Verantwortung“.

Von Josef Spindelböck

Entstehung des Buches „Liebe und Verantwortung“

Als Studentenseelsorger betreute Karol Wojtyla viele junge Paare und Familien und lernte darum, wie er schreibt, durch „indirekte Erfahrung“, d.h. durch das Gespräch mit den Betroffenen, durch ihre seelsorgliche Begleitung und Beratung die Lebenssituation jener Menschen kennen, die sich entweder auf die Ehe vorbereiteten oder schon in ehelicher Gemeinschaft verbunden waren. An der Katholischen Universität Lublin, wohin er als Ethikprofessor berufen wurde, hielt er 1957-1959 spezielle Vorlesungen zu diesem Thema, woraus dann die polnische Erstausgabe der ethischen Studie „Liebe und Verantwortung“ entstand, welche 1960 veröffentlicht wurde.[3] Karol Wojtyla war damals bereits seit zwei Jahren Weihbischof von Krakau.

Ziel und Anliegen des Werkes

Karol Wojtyla geht von den Lebenserfahrungen der Menschen aus und zeigt auf, dass die Lehre der Kirche nicht etwas dem Menschen in seiner natürlichen Verfasstheit Fremdes ist, vielleicht sogar ein Störfaktor, der der Entfaltung der Liebe und des Lebens entgegen steht, sondern dem tiefsten Wesen des Menschen entspricht. Die Gebote Gottes, die mit der ehelich-sexuellen Liebe verbundenen sittlichen Normen, werden so als positive Wegweisungen für das Ziel der natürlichen und übernatürlichen Vollendung des Menschen erschlossen. Dass dies ohne die Gnade Gottes nicht gelingen kann, ist kein Argument dafür, die natürlichen Voraussetzungen gleichsam zu überspringen. Vielmehr gilt das Axiom: „Die Gnade baut auf der Natur auf“ (gratia supponit naturam). Dies war für den Ethiker, Priester und Bischof Karol Wojtyla stets ein Leitgedanke. Sein Hauptanliegen aber war es, deutlich zu machen, dass Gottes Weisungen für den Menschen eine wirkliche Hilfe sind, ein Weg zum Glück und zum ewigen Heil.

Naturordnung ist mehr als bloß Biologie

Karol Wojtyla fragt nach der ursprünglichen Bedeutung der ehelichen Liebe in der „Ordnung der Natur“. Dabei arbeitet er heraus, dass die Sexualität nicht von der personalen Liebe getrennt werden kann und die bloß biologische Ordnung übersteigt.[4]

Die biologisch-naturwissenschaftliche Sichtweise abstrahiert von wesentlichen Momenten der existenziellen Naturordnung; die Person als solche kommt nicht mehr in den Blick und auch nicht mehr die innere Finalität (Zielbezogenheit) der ehelichen Liebe als gegenseitige Hingabe und Einheit der Personen. So wie die Sexualität insgesamt wird auch die Person als solche in einer isolierten Betrachtung mehr und mehr zum bloßen Objekt; die Person verliert ihren Subjektcharakter und wird zur manipulierbaren „Sache“. Die Sexualität wird depersonalisiert und nicht mehr als Ausdruck tiefster personaler Liebe gesehen, sondern auf ein Maximum an gegenseitiger Lust und Befriedigung reduziert oder nur in der biologischen Funktion der Fortpflanzung gesehen, welche nicht mehr als Beginn der Existenz eines neuen Menschen in den Blick tritt, sondern als rein empirisch-funktionaler Vorgang, der ebenso gut durch andere Techniken (z.B. die künstliche Befruchtung) ersetzt werden könnte.

Reifestufen der bräutlich-ehelichen Liebe

Im zweiten Kapitel von „Liebe und Verantwortung“ behandelt Karol Wojtyla die Wesenselemente der Liebe zwischen Mann und Frau.[5] Auf dem Weg einer „metaphysischen Analyse der Liebe“ bewegt er sich von einer Reifestufe zur anderen nach oben, bis er das eigentliche Wesen der bräutlich-ehelichen Liebe erreicht.

• Liebe als Wohlgefallen

Die Liebe von Mann und Frau hat fürs erste und grundlegend etwas mit gegenseitiger Anziehung zu tun, mit einem Bewusstsein von der Attraktivität des anderen. Das ist biologisch so grundgelegt und soll natürlich auch affektiv und vor allem personal vertieft werden. Die „Liebe als Wohlgefallen“ öffnet gleichsam die Tür, um von der Ebene sinnlicher Wahrnehmung zu einer ganzheitlichen Sicht der menschlichen Person vorzustoßen.

Zusammenfassend stellt Karol Wojtyla hier fest: „Das Wohlgefallen, auf welches sich diese Liebe stützt, kann seinen Ursprung nicht nur in einer Reaktion auf die sichtbare und sinnenfällige Schönheit haben, sondern soll auch und vor allem in einer vollen und tiefen Anerkennung der Schönheit der Person bestehen."[6]

• Liebe als Begehren

Eine zweite Stufe der Liebe zwischen Mann und Frau ist die Liebe als Begehren. Diese Form der Liebe erstrebt den anderen als Ziel, insofern der Mann für die Frau bzw. die Frau für den Mann als Gut wahrgenommen wird. Davon zu unterscheiden ist ein bloß sinnliches Begehren (concupiscentia), das sich nur auf die Sexualität richtet und die Person übersieht. Damit wird der Mensch des jeweils anderen Geschlechts instrumentalisiert und in seiner Würde nicht anerkannt. Nach Karol Wojtyla hat der Mensch darauf zu achten, dass das sinnliche Begehren gegenüber dem liebenden Verlangen „nicht vorherrscht und alles Übrige überwältigt, was die Liebe umfasst“.[7] Nicht die Verdrängung des sinnlichen Begehrens ist zielführend, sondern dessen Integration in die personale Dimension der Liebe zwischen Mann und Frau.

• Liebe als Wohlwollen

Ein weiterer wesentlicher Schritt in der Liebe zwischen Mann und Frau führt über das Begehren hinaus hin zur Liebe des Wohlwollens. Dazu schreibt Karol Wojtyla: Die „Liebe des Begehrens schöpft das Wesen der Liebe zwischen den Personen nicht aus. Es genügt nicht, eine Person als Gut für sich selbst zu begehren; man muss auch und vor allem nach dem Gut für jene Person verlangen. Diese kompromisslos altruistische Ausrichtung des Willens und der Gefühlsempfindungen wird in der Sprache des heiligen Thomas von Aquin amor benevolentiae (Liebe des Wohlwollens) oder kurz benevolentia genannt, was (wenn auch nicht mit absoluter Genauigkeit) unserem Begriff des Wohlwollens entspricht. Die Liebe einer Person zu einer anderen Person muss wohlwollend sein, oder sie wird nicht wahr sein. Vielmehr wird sie überhaupt nicht Liebe sein, sondern nur Egoismus."[8]

Hier handelt es sich um jene Liebe, die nicht primär danach fragt, was es mir selber bringt, wenn ich eine bestimmte Person liebe, sondern die sich in selbstloser Weise der anderen Person zuwendet und deren Glück und Wohl erstrebt. Freilich wäre es unangemessen, einen absoluten Gegensatz zwischen der Liebe als Begehren und der Liebe als Wohlwollen aufzustellen, da die Liebe zwischen Mann und Frau beide Momente in sich enthält und enthalten darf, sofern nur die rechte Ordnung der Hingabe gewahrt ist.

• Liebe in Gegenseitigkeit

Ein wesentliches Moment der bräutlichen und ehelichen Liebe ist die Wechselseitigkeit der Zuwendung und Hingabe: Liebe ist keine Einbahnstraße, sondern ist ein Geben und Empfangen. Im Hinblick auf diese Gegenseitigkeit im Erstreben eines gemeinsamen Gutes betont Karol Wojtyla in Anlehnung an Aristoteles: „Wenn es sich um ein wirkliches Gut handelt (d.h. um ein sittlich ehrenwertes Gut), dann ist die Gegenseitigkeit etwas Tiefes, Reifes und nahezu Unzerstörbares. Wenn andererseits die Gegenseitigkeit nur durch das Eigeninteresse, die Nützlichkeit (d.h. durch ein utilitaristisches Gut) oder die Lust hervorgerufen wird, dann ist sie oberflächlich und unbeständig."[9] Und weiter heißt es: „Denn die Liebe kann nur als eine Einheit Bestand haben, in der ein reifes ‚Wir‘ einen klaren Ausdruck findet; sie wird nicht bestehen als eine Kombination von zwei Egoismen, als deren Folge die zwei ‚Ich‘ klar sichtbar sind. Die Struktur der Liebe ist jene einer interpersonalen Gemeinschaft."[10]

• Sympathie und Freundschaft

Sympathie kann die Wege ebnen für das Zueinander und Miteinander von Mann und Frau. Doch kann die eheliche Liebe nicht allein auf der Sympathie gründen, die ein primär emotionales Gepräge hat. Sie muss die Person des anderen bejahen. Dazu Karol Wojtyla: „Wie festgestellt wurde, besteht die Freundschaft in einem vollen Einsatz des Willens gegenüber einer anderen Person im Hinblick auf das Gut jener Person. Es besteht daher die Notwendigkeit, dass die Sympathie zur Freundschaft heranreift, und dieser Vorgang verlangt normalerweise Zeit und Überlegung. Solange sie innerhalb der Grenzen der Sympathie verbleibt, beruht die Haltung gegenüber der anderen Person und ihrem Wert auf Emotion: Hier ist es nötig, den Wert der Emotion mit der objektiven Erkenntnis vom Wert jener Person und einer diesbezüglichen Überzeugung zu ergänzen."[11]

Auch hier gilt also nicht die Alternative „Sympathie oder Freundschaft“, sondern es geht in der Beziehung von Mann und Frau um ein Weiterreifen von gegenseitiger Sympathie hin zu echter personaler Begegnung und Hingabe in wahrer Freundschaft des Herzens.

• Bräutliche Liebe als Hochform der Liebe zwischen Mann und Frau

Erst wenn die sog. „bräutliche Liebe“ als Liebe von tiefster personaler Hingabe zwischen Mann und Frau gegeben ist, sind die beiden fähig, den Bund der Ehe miteinander einzugehen. Genau diese bräutliche Hingabe bringt das gegenseitige „Ja-Wort“ im ehelichen Konsens zum Ausdruck: „Die bräutliche Liebe unterscheidet sich von allen Aspekten oder Formen der Liebe, welche bis jetzt analysiert wurden. Ihr entscheidendes Merkmal ist die Hingabe der eigenen Person an die andere. Das Wesen der bräutlichen Liebe ist die Selbsthingabe, die Übergabe des eigenen ‚Ichs‘. Das ist etwas anderes als Wohlgefallen, Begehren und sogar Wohlwollen, und es bedeutet mehr. Dies alles sind Wege, auf denen eine Person von sich aus dem anderen entgegengeht, aber keiner von ihnen kann sie in ihrem Bestreben für das Gut des anderen so weit führen, wie das die bräutliche Liebe tut. ‚Sich selbst an den anderen hinzugeben‘ ist mehr als bloß ‚zu wollen, was gut ist‘ für den anderen – auch wenn als Resultat dessen ein anderes ‚Ich‘ so wird, als wäre es mein eigenes, wie es in der Freundschaft geschieht. Die bräutliche Liebe ist etwas davon Unterschiedenes und bedeutet mehr als all jene Formen der Liebe, die wir bis jetzt analysiert haben, sowohl was das individuelle Subjekt betrifft, d.h. die Person, die liebt, als auch soweit es die interpersonale Vereinigung angeht, welche die Liebe schafft. Wenn die bräutliche Liebe in diese interpersonale Beziehung eingeht, ergibt sich noch mehr als bloße Freundschaft: Zwei Menschen geben sich selbst einander hin."[12]

Die bräutlich-eheliche Liebe ist somit die Vollendung und Überbietung aller einzelnen Reifestufen der Liebe. Sie hebt sie gleichsam in sich auf und veredelt sie auf eine einzigartige Weise. Wiederum zeigt sich, dass alle Dimensionen der menschlichen Person Beachtung finden und auch unvollkommenere Weisen der Begegnung zwischen Mann und Frau in die Hochform der bräutlichen Liebe integriert werden. Es würde zur Theologie der Ehe und Familie gehören, die Offenheit der ehelichen Liebe für die Liebe Gottes aufzuzeigen. Dies geschieht in der ethischen Studie „Liebe und Verantwortung“ nur soweit, als es methodisch innerhalb des Rahmens der philosophischen Ethik durchführbar ist.[13] In der „Theologie des Leibes“, wie sie Johannes Paul II. vor allem in seinen Mittwochskatechesen entwickelt und vorgelegt hat, ist er darauf näher eingegangen.[14]

Ausblick

Diese kurzen Ausführungen zum zweiten Kapitel von „Liebe und Verantwortung“ möchten zugleich eine Einladung zur gründlichen Lektüre dieses wichtigen Werkes sein.[15] Die Kapitelübersicht: (1) Die Person und der sexuelle Trieb; (2) Die Person und die Liebe; (3) Die Person und die Keuschheit; (4) Die Gerechtigkeit gegenüber dem Schöpfer; (5) Sexualwissenschaft und Ethik.

Wenn 2008 das 40-Jahr-Jubiläum von „Humanae vitae“ begangen wird, dann kann gerade ein Werk wie „Liebe und Verantwortung“ helfen, den Sinngehalt dieses prophetischen Lehrschreibens Pauls VI. neu herauszustellen.[16] Diesbezüglich meint Bischof Küng zu den Ausführungen Karol Wojtylas: „Die Begründungen, die er verwendete, waren vor allem naturrechtlicher und personalistischer Art. … Sie können auch eine Hilfe sein, um manche Missverständnisse zu überwinden, die sich nach der Veröffentlichung der Enzyklika Humanae vitae unter jenen, die den Inhalt dieses päpstlichen Lehrschreibens ablehnen, verbreitet und verfestigt haben.“

Unser Wunsch: Möge es vielen gelingen und letztlich von Gott geschenkt werden, dass sie die menschliche Liebe und insbesondere die ehelich-familiäre Liebe im größeren Zusammenhang des göttlichen Gebotes der Liebe sehen und soweit als möglich mit Gottes Gnade verwirklichen, um menschliche Erfüllung und ewiges Heil in Gott zu finden! – „Heilige Jungfrau und Gottesmutter Maria, Mutter der schönen Liebe, bitte für uns!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Karol Wojtyla: Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, München 1979, 19812 (Kösel).
[2] Karol Wojtyla (Johannes Paul II.): Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie. Auf der Grundlage des polnischen Textes neu übersetzt und herausgegeben von Josef Spindelböck, St. Pölten 2007 (Verlag St. Josef).
[3] Vgl. zum persönlichen und ideengeschichtlichen Hintergrund des Werkes: George Weigel: Witness to Hope. A Biography of Pope John Paul II, New York 1999, 139-144.
[4] Vgl. dazu Karol Wojtyla: Liebe und Verantwortung, 79-84 („Der Sexualtrieb und die Existenz“).
[5] Vgl. ebd.,109-149.
[6] Ebd., 120.
[7] Ebd., 122.
[8] Ebd., 124.
[9] Ebd., 129.
[10] Ebd., 131 f.
[11] Ebd., 137.
[12] Ebd., 142 f.
[13] Vgl. ebd., Kapitel IV: Die Gerechtigkeit gegenüber dem Schöpfer, 307 ff.
[14] Vgl. Johannes Paul II. (hrsg. und eingel. v. Norbert und Renate Martin): Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Katechesen 1979-1981, Vallendar-Schönstadt 1985; Die Erlösung des Leibes und die Sakramentalität der Ehe. Katechesen 1981-1984, Vallendar-Schönstadt 1985; Die Familie – Zukunft der Menschheit. Aussagen zu Ehe und Familie 1978-1984, Vallendar-Schönstadt 1985.
[15] Vgl. Karol Wojtyla: Liebe und Verantwortung, 109-149.
[16] Vgl. Paul VI.: Enzyklika „Humanae vitae“ über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens, 25. Juli 1968.

Prophetischer Aufruf des Papstes zur Einheit

Was Papst Benedikt XVI. den Bischöfen aus der Ukraine bei ihrem „Ad-limina“-Besuch im vergangenen September vorgetragen hat, klingt im ersten Moment eher selbstverständlich als aufregend. Wer aber die Verhältnisse in der Ukraine und anderen Ländern kennt, in denen verschiedene katholische Riten nebeneinander existieren, versteht sofort, dass es sich bei den Worten des Papstes um einen geradezu revolutionären Vorstoß handelt. Bislang nämlich kann von einer Zusammenarbeit der Riten auf der Ebene des konkreten kirchlichen Lebens keine Rede sein. Obwohl sich die Kirchen beider Riten mit dem Nachfolger Petri eins wissen, gibt es kaum ein gemeinsames Zeugnis für den Glauben an Jesus Christus. Die nachdrückliche Einladung des Papstes zur intensiven Zusammenarbeit zielt letztlich darauf ab, Ost- und Westkirche näher zusammen zu bringen. Es ist die einzigartige Chance der katholischen Kirche in der Ukraine, beispielhaft einen gemeinsamen Weg aufzuzeigen. Damit kann sie in besonderer Weise zu einem Schlüssel für die Ökumene mit der Orthodoxie werden.

Von Papst Benedikt XVI.

Am 24. September 2007 empfing Papst Benedikt XVI. im Rahmen des „Ad-limina“-Besuchs die erste Gruppe der Bischöfe des lateinischen Ritus der Ukraine. Auf Einladung des Papstes nahmen an der Begegnung auch die griechisch-katholischen Bischöfe des Landes teil. Zu Beginn der Audienz richteten die Kardinäle Marian Jaworski im Namen der Bischöfe des lateinischen Ritus und Lubomyr Husar im Namen der griechisch-katholischen Bischöfe Grußworte an den Papst. Im Folgenden einige Auszüge aus der anschließenden Ansprache des Papstes:

Einheit in der Vielfalt der Riten

Die heutige Begegnung rückt die Schönheit und den Reichtum des Geheimnisses der Kirche ins Licht. Die Kirche ist – daran erinnert das Zweite Vatikanische Konzil – „Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe“; als solche hat sie „der einzige Mittler Christus … hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst. … Diese Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“ (Lumen gentium, 8). In der Vielfalt ihrer Riten und historischen Traditionen verkündet und bezeugt die eine katholische Kirche in jedem Winkel der Erde denselben Jesus Christus, Wort des Heils für jeden Menschen und für den ganzen Menschen. Deshalb besteht das Geheimnis der Wirksamkeit aller unserer pastoralen und apostolischen Pläne vor allem in der Treue zu Christus. Von uns Hirten wie von allen Gläubigen wird gefordert, mit ihm im Gebet und im fügsamen Hören auf sein Wort eine tiefe und beständige Vertraulichkeit mit ihm zu leben: Das ist der einzige Weg, den wir gehen müssen, um in jedem Bereich Zeichen seiner Liebe und Werkzeuge seines Friedens und seiner Eintracht zu werden.

Voraussetzung für den ökumenischen Dialog

Ich bin sicher, dass es euch, liebe und verehrte Brüder, beseelt von diesem Geist, nicht schwer fällt, zwischen den lateinischen und den griechisch-katholischen Bischöfen eine herzliche Zusammenarbeit zu intensivieren, zum Wohl des ganzen christlichen Volkes. So könnt ihr eure Pastoralpläne und eure apostolischen Aktivitäten koordinieren und damit immer das Zeugnis jener kirchlichen Gemeinschaft geben, die auch unverzichtbare Voraussetzung für den ökumenischen Dialog mit unseren orthodoxen Brüdern und denen der anderen Kirchen ist. Insbesondere erlaube ich mir, euch den Vorschlag für wenigstens ein jährliches Treffen zu machen, bei dem die Bischöfe des lateinischen Ritus mit denen des griechisch-katholischen Ritus zu einer passenden Aussprache zusammenkommen, um die Seelsorgearbeit immer harmonischer und wirksamer zu gestalten. In bin überzeugt, dass die brüderliche Zusammenarbeit zwischen den Bischöfen Ermutigung und Ansporn sein wird, in der Einheit und im apostolischen Enthusiasmus zu wachsen, und auch einen nützlichen ökumenischen Dialog fördern wird.

Die zweite Gruppe der Bischöfe des lateinischen Ritus der Ukraine empfing Papst Benedikt XVI. am 27. September. Unter anderem sagte er in seiner Ansprache:

Von der Vorsehung gewollte Chance

Euer pastorales Wirken, verehrte Brüder, erstreckt sich auf ein Gebiet, in dem Katholiken des lateinischen und des griechisch-katholischen Ritus zusammenleben, gemeinsam mit anderen Gläubigen, die den Grund ihres Lebens in dem einen Herrn Jesus Christus finden. Auch unter Katholiken ist die Zusammenarbeit nicht immer leicht, ist es doch normal, dass wegen der Verschiedenheit der jeweiligen Traditionen unterschiedliche Sensibilitäten zutage treten. Aber kann man es nicht als eine von der Vorsehung gewollte Chance ansehen, dass da zwei in ihren Traditionen unterschiedliche Gemeinschaften zusammenleben, die aber voll katholisch sind und beide gewillt, dem einen Kyrios zu dienen und sein Evangelium zu verkünden?

Zeugnis für die anderen Christen

Die Einheit der Katholiken, unbeschadet der Verschiedenheit der Riten, und die Bemühung, diese Einheit in jeder Umgebung zu bekunden, zeigen das echte Antlitz der katholischen Kirche und ist ein sehr beredtes Zeichen auch für die anderen Christen und für die ganze Gesellschaft. Aus eurer Analyse ergibt sich eine Reihe von Problemen, deren Lösung eine unverzichtbare Synergie der Kräfte für eine erneuerte Verkündigung des Evangeliums erforderlich macht. Die langen Jahre der atheistischen und kommunistischen Herrschaft haben in den heutigen Generationen sichtbare Spuren hinterlassen. Sie sind gleichfalls Herausforderungen, die euch, liebe Brüder, auf den Plan rufen und mit Recht im Zentrum eurer pastoralen Sorgen und Pläne stehen.

Enthusiasmus in der Ökumene

„Ut unum sint“! Das Gebet Christi im Abendmahlssaal ist in der Kirche als Aufforderung zur unermüdlichen Suche nach der Einheit ständig zu vernehmen. Wenn sich die Gemeinschaft innerhalb der katholischen Gemeinden festigt, wird es leichter sein, einen fruchtbaren Dialog zwischen der katholischen Kirche und den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zu führen. Der ökumenische Anspruch wird von euch nachdrücklich wahrgenommen, lebt ihr doch seit Jahrhunderten mit unseren orthodoxen Brüdern zusammen und trachtet, mit ihnen im Alltag in einen Dialog einzutreten, der viele Aspekte des Lebens umfasst. Mögen die Schwierigkeiten und Hindernisse, ja selbst gelegentliche Misserfolge euren Enthusiasmus, weiter in diese Richtung zu gehen, nicht bremsen. Mit Geduld und Demut, mit Liebe, Wahrheit und Öffnung des Herzens wird der Weg, der gegangen werden soll, weniger schwierig, vor allem dann, wenn die grundlegende Sichtweise nicht aufgegeben wird, nämlich die Überzeugung, dass alle Jünger Christi aufgerufen sind, in seinen Spuren zu wandeln, indem sie sich von seinem Geist, der in der Kirche immer am Werk ist, fügsam leiten lassen.

Bereits am 29. November 2006 kam Papst Benedikt XVI. bei seiner Predigt im türkischen Marienwallfahrtsort Ephesus auf die Notewendigkeit der Zusammenarbeit unter den verschiedenen Riten zu sprechen:

Zeichen und Instrument des Friedens

Frieden für das ganze Menschengeschlecht! Möge Jesajas Prophezeiung sich bald erfüllen: „Er spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg“ (Jes 2,4). Wir alle brauchen diesen universellen Frieden, und die Kirche ist nicht nur gerufen, der prophetische Bote zu sein, sondern noch mehr, das „Zeichen und Instrument“ dieses Friedens zu sein.

Vor dem Hintergrund des universellen Friedens wird die Sehnsucht nach voller Gemeinschaft und Übereinstimmung zwischen allen Christen noch tiefer und stärker. Bei der heutigen Feier sind katholische Gläubige verschiedener Riten anwesend, und das ist ein Grund, um Gott froh zu preisen. Diese Riten sind nämlich ein Ausdruck der Vielfältigkeit, mit der die Braut Christi geschmückt ist, vorausgesetzt, dass wir zusammenkommen in Einheit und im gemeinsamen Zeugnis. Beispielhaft muss die Einheit unter den Mitgliedern der Bischofskonferenz sein, in der Gemeinschaft und im gemeinsamen pastoralen Engagement.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2008
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Antwort auf die Forderungen des Moskauer Patriarchats

Das Spannungsverhältnis zwischen katholischer und russisch-orthodoxer Kirche fand unter dem Pontifikat Johannes Pauls II. seinen beredtesten Ausdruck darin, dass Patriarch Aleksij II. trotz wiederholter Einladung des Papstes durch die russischen Staatsoberhäupter bis zuletzt nicht bereit war, ihn in Russland zu empfangen. Die historischen Zerwürfnisse mit der polnischen Kirche mögen dafür mit ausschlaggebend gewesen sein. Zugespitzt hatten sich die Beziehungen aufgrund der Errichtung von ordentlichen Diözesen im Jahr 2002. Nach der Wahl Benedikts XVI. trat eine merkliche Entspannung ein. Nun wollte auch der Vatikan dem Moskauer Patriarchat entgegenkommen: Der bei den Orthodoxen sehr wenig geliebte Erzbischof und Metropolit Tadeusz Kondrusiewicz wurde durch den jungen Italiener Paolo Pezzi F.S.C.B. ersetzt. Prompt reagierte die orthodoxe Seite: Sie fordert die Aufhebung der katholischen Diözesen in Russland. Pfarrer Erich Maria Fink, der seit dem Beginn des Jahres 2000 im Ural arbeitet, zeigt in einer sehr eingehenden Analyse die Situation der katholischen Kirche in Russland auf. Auf historischem Hintergrund versucht er eine Antwort auf die Fragen zu geben: Wie sollte die katholische Kirche auf die Forderung der russisch-orthodoxen Kirche eingehen? Was könnte sie im Gegenzug von Moskau erwarten?

Von Erich Maria Fink

Apostolische Administraturen für den lateinischen Ritus

Im Zug von Perestroika und Glasnost ergab sich Anfang der 90er Jahre für die katholische Kirche plötzlich die Möglichkeit, in Russland aktiv zu werden und kirchliche Strukturen aufzubauen. Noch unter Michail Gorbatschow errichtete Papst Johannes Paul II. am 13. April 1991 für den lateinischen Ritus zwei Apostolische Administraturen, eine für den europäischen Teil Russlands mit Sitz in Moskau und eine für den asiatischen Teil mit Sitz in Nowosibirsk. Als Administratoren wurden Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz in Moskau und Bischof Joseph Werth S.J. in Nowosobirsk eingesetzt.

Als sich die pastoralen Aktivitäten der katholischen Kirche während der kommenden Jahre in alle Richtungen ausweiteten, wandten sich die beiden Bischöfe zusammen mit dem Apostolischen Nuntius in Russland, Erzbischof John Bukowski, an den Papst und baten ihn um die Ernennung von Weihbischöfen für die beiden Administraturen. Bereits im Hinblick auf die künftige Kirchenstruktur wurde am 31. Mai 1998 Bischof Jerzy Mazur S.V.D. nicht als Weihbischof für Nowosibirsk, sondern für die Stadt Irkutsk im asiatischen Teil Russlands, am 7. Juni 1998 Bischof Klemens Pickel in analoger Weise für die Stadt Saratow im Europäischen Russland geweiht. Ein Jahr später, am 18. Mai 1999, wurde für Bischof Mazur in Irkutsk eine neue Apostolische Administratur geschaffen, nämlich diejenige für den lateinischen Ritus in Ostsibirien. Mit päpstlichem Dekret vom 10. November 2000 wurde die schon am 21. Mai 1938 errichtete Apostolische Präfektur von Karafuto unter die Leitung von Bischof Mazur gestellt. Das Gebiet, zu dem auch die Südliche Sakhalin-Insel und die Kuril-Insel gehören, war am 18. Juli 1932 als Mission sui juris aus dem in Japan gelegenen Apostolischen Vikariat Sapporo ausgegliedert und sechs Jahre später zur Präfektur erhoben worden. Am 10. April 2002 änderte sie ihren Namen von Karafuto auf Yuzhno Sakhalinsk. Bis zur Ernennung von Bischof Mazur als Administrator unterstand sie offiziell der Jurisdiktion des Bischofs von Sapporo in Japan. Im Europäischen Russland wurde ein entsprechender Schritt am 23. November 1999 vollzogen. Saratow wurde von Moskau abgetrennt und als Apostolische Administratur für die südliche Region des europäischen Teils von Russland errichtet.

„Eiszeit“ nach der Errichtung einer Diözesanstruktur

Auf Wunsch verschiedener Verantwortlicher der katholischen Kirche in Russland erhob Papst Johannes Paul II. mit der Apostolischen Konstitution „Russia intra fines“ vom 11. Februar 2002 schließlich die vier Administraturen in Moskau, Saratow, Nowosibirsk und Irkutsk zu ordentlichen Diözesen. Dabei richtete er Moskau als Metropolitan-Erzbistum ein, dem die übrigen drei Diözesen als Suffraganbistümer zugeordnet sind. Erzbischof und Metropolit in Moskau wurde Tadeusz Kondrusiewicz. Auf die Errichtung einer ordentlichen katholischen Hierarchie in Russland reagierte die russisch-orthodoxe Kirche äußerst verstimmt. Sie kritisierte scharf, dass sie von den Plänen nicht im Vorfeld unterrichtet worden war, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Die katholische Seite hatte nämlich lediglich am 4. Februar 2002 die russische Regierung über die Pläne zur Errichtung der vier Diözesen informiert. Daraufhin hatten die politischen Verantwortlichen in Moskau von dem Schritt abgeraten und empfohlen, „diese Frage mit der russisch-orthodoxen Kirche zu regeln“. Nachdem der Schritt vollzogen war, betonte die russische Regierung, es sei bedauerlich, dass eine so wichtige Entscheidung „ohne die gebührende Berücksichtigung der Meinung der russischen Seite getroffen wurde“. Das Handeln des Vatikans berge das Risiko „ernsthafter Komplikationen“ zwischen dem Heiligen Stuhl und der russisch-orthodoxen Kirche. In einer Erklärung des Moskauer Patriarchen Aleksij II. und des Heiligen Synods der russisch-orthodoxen Kirche hieß es, dass die Vorgehensweise Roms die Fähigkeit des christlichen Westens und des christlichen Ostens, „als zwei große Zivilisationen um des Wohlergehens Europas und des Friedens willen zusammenzuwirken, in Gefahr gebracht“ habe.

Gleichzeitig wurde der Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper, offiziell „ausgeladen“. Für den 21./22. Februar war nämlich ein Russlandbesuch des Kardinals vorgesehen. Er sollte in Moskau auch mit Patriarch Aleksij II. zusammentreffen. Der Leiter des Departements für kirchliche Außenangelegenheiten im Moskauer Patriarchat, Metropolit Kyrill (Gundjajew) von Smolensk und Kaliningrad, ließ verlauten, es gebe derzeit „nichts, über das wir sprechen könnten“. So führte die Errichtung der vier römisch-katholischen Diözesen in Russland zu einer regelrechten „Eiszeit“ in den Beziehungen zwischen der orthodoxen Landeskirche und dem Vatikan. In der Zurückweisung der neuen katholischen Kirchenstruktur bediente sich die russisch-orthodoxe Kirche auch staatlicher Hilfe. So verweigerten die Behörden Erzbischof Kondrusiewicz eine neue Aufenthaltsgenehmigung und versuchten, ihn von seiner Diözese fernzuhalten. Erst diplomatische Interventionen westlicher Staaten und des Europarats, die die Regierung daran erinnerten, dass auch in Russland die Religionsfreiheit ein von der Verfassung geschütztes Grundrecht sei, führten zu einer Klärung im Sinn der katholischen Kirche. Dagegen beharrten die Behörden auf der Ausweisung von Bischof Jerzy Mazur, die sie im April 2002 vorgenommen hatten. Ein Jahr später lenkte der Vatikan ein und ernannte mit Datum vom 17. April 2003 Jerzy Mazur zum Bischof von Elk in Polen. Damit war der Weg frei, Irkutsk neu zu besetzen. Mit der Leitung der Diözese wurde ebenfalls am 17. April Cyryl Klimowicz betraut. Er stammt aus Kasachstan, wurde 1980 in Polen zum Priester geweiht, war seit 1990 Pfarrer in Weißrussland und von 1999 an Weihbischof der Erzdiözese Minsk-Mohilev.

Verteidigung der Entscheidung durch den Moskauer Erzbischof

Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz verteidigte die Errichtung der Diözesen von Anfang an mit großem Nachdruck. Er verwies auf die Geschichte und bezeichnete die Errichtung katholischer Diözesen als „Akt der historischen Gerechtigkeit“. Er erklärte, dass schon seit dem Mittelalter katholische Diözesen auf russischem Territorium existiert hätten. Darüber hinaus habe Zarin Katharina II. (1729-1796) sogar ohne Konsultationen mit Rom Bischöfe in Weißrussland ernannt. Zar Paul I. (1751-1801) habe den Erzbischof von Mogilew Podolskij zum Oberhaupt der katholischen Kirche in Russland mit Sitz in Sankt Petersburg erhoben. Es habe also in der russischen Kirchengeschichte schon seit langer Zeit eine katholische Kirchenstruktur und einen Metropolitansitz gegeben. Diese Struktur habe Papst Johannes Paul II. mit der Errichtung der vier neuen Diözesen wiederhergestellt. Aus Respekt vor der russisch-orthodoxen Kirche habe der Vatikan den katholischen Diözesen jedoch die Namen von Heiligen und nicht die von Städten gegeben. Statt des Begriffs „Erzdiözese Moskau“ verwende der Vatikan den Titel „Erzdiözese der Gottesmutter in Moskau“. Entsprechend heißen die übrigen drei Diözesen „Bistum St. Clemens von Saratow“, „Bistum St. Josef von Irkutsk“ und „Bistum Heilige Menschwerdung von Nowosibirsk“.

Wenn von katholischer Seite beteuert wurde, es habe sich bei dem Verwaltungsakt lediglich um eine Normalisierung der römisch-katholischen Kirchenstrukturen in Russland gehandelt und man verstehe die heftigen Reaktionen der russisch-orthodoxen Kirche nicht, so entsprach diese Einschätzung zumindest nicht ganz den Tatsachen. Denn einerseits musste mit einer heftigen Ablehnung dieser Entscheidung gerade zum damaligen Zeitpunkt gerechnet werden, andererseits stellen sich auch die geschichtlichen Fakten ein wenig anders dar. Die russisch-orthodoxe Kirche hatte die Errichtung von katholischen Diözesen auf „orthodoxem Boden“ immer kategorisch abgelehnt. In entsprechender Weise wurden solche Pläne von den russischen Behörden in der Vergangenheit grundsätzlich untersagt. Tatsächlich wurden die Katholiken in Russland gleichsam von außen betreut. Während des Russischen Reiches bis 1917 gab es ein katholisches Bistum in der Kleinstadt Tiraspol in Transnistrien, einem heute unter russischem Einfluss stehenden Teil von Moldawien. Diese Diözese umfasste neben Georgien, Armenien, Süd- und Ostukraine das gesamte südliche Russland. Zur Jurisdiktion des Erzbischofs von Mohilev in Weißrussland gehörten außer Weißrussland das gesamte nördliche Russland, Sibirien und Kasachstan. Der Bischof von Mohilev residierte zwar, wie Erzbischof Kondrusiewicz hervorhob, in Sankt Petersburg, doch trug er den Titel von Mohilew, das seinerzeit eine unbedeutende Kleinstadt außerhalb des traditionellen russischen Territoriums war. Nach der kommunistischen Revolution von 1917 waren für Russland zwar die beiden Diözesen Mohilew und Tiraspol verblieben. Doch bereits 1919 bzw. 1920 verließen deren Bischöfe das Land. 1926 unternahm der Heilige Stuhl den Versuch, auf dem Gebiet der Sowjetunion eine geheime Hierarchie aus über einem Dutzend von Administratoren und Vikaren zu etablieren, die zum Teil im Geheimen die Bischofsweihe empfingen. Doch muss dieses Unternehmen letztlich als gescheitert betrachtet werden. Im Fernen Osten hatte Rom am 1. Dezember 1921 das Apostolisches Vikariat Sibirien gegründet und am 2. Februar 1923 zum Bistum Wladiwostok erhoben. Nominell umfasste es ganz Russland. Karol Sliwowski wurde zum Bischof ernannt und am 28. November 1923 im chinesischen Harbin geweiht. Unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion jedoch wurde er in ein abgelegenes Dorf verbannt, wo er am 5. Januar 1933 verstarb, ohne sein Bischofsamt je ausgeübt zu haben. Die Diözese Wladiwostok, die bis heute nicht offiziell aufgehoben worden ist, stellt so gesehen vor dem Jahr 2002 die einzige Diözese der katholischen Kirche auf russischem Boden dar, die aufgrund der besonderen Umstände aber nicht als geschichtliches Argument für unsere Zeit herangezogen werden kann.

Versetzung von Metropolit Kondrusiewicz nach Minsk

Der Heilige Stuhl sucht bis heute nach Wegen, um den Schaden, der durch die Errichtung der Diözesen im Verhältnis zur russisch-orthodoxen Kirche entstanden ist, in Grenzen zu halten. Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz ist bekanntlich immer ein sehr entschiedener Verfechter der Diözesanstrukturen geblieben. Von russisch-orthodoxer Seite wurde er sehr kritisch betrachtet und eher gemieden. In den russischen Medien jedoch fand er ein ausgesprochen breites Echo. Durch seine Stellungnahmen, die mit großem Interesse aufgenommen wurden, verhalf er der katholischen Kirche in Russland zu Anerkennung und Autorität. Mehr und mehr kam auch die orthodoxe Seite an dieser Entwicklung im öffentlichen Leben nicht vorbei und begann, den Dialog mit der katholischen Kirche ernsthafter zu führen. Dennoch entschied sich der Vatikan im Juni 2007, Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz aus Moskau abzuziehen, um der russisch-orthodoxen Kirche entgegenzukommen. Am 10. Mai 1989, auf dem Höhepunkt der Perestroika, war Tadeusz Kondrusiewicz für das weißrussische Minsk zum Apostolischen Administrator im Rang eines Titularbischofs ernannt worden, um vor allem die Seelsorge der polnischstämmigen Bevölkerungsanteile sicherzustellen. Nun kehrte er als Metropolit von Minsk-Mohilev nach Weißrussland zurück. Am 21. September ernannte Papst Benedikt XVI. Paolo Pezzi F.S.C.B. zu seinem Nachfolger. Im Rahmen der Bischofsweihe von Pezzi am 27. Oktober 2007 wurde vor allem seine Verbindung zu „Comunione e Liberazione“ in den Vordergrund gestellt und hervorgehoben, dass sich diese Bewegung sehr intensiv mit der Orthodoxie beschäftigt und zahlreiche freundschaftliche Beziehungen zu ihr unterhält.

Als Reaktion auf dieses Versöhnungsangebot der katholischen Kirche erinnerte die russisch-orthodoxe Kirche sofort an den eigentlichen Kern ihres Problems. Metropolit Kyrill forderte den Vatikan auf, die katholischen Diözesen in Russland aufzuheben. Nur so könne es eine weitere Annäherung zwischen den beiden Kirchen geben. Die Errichtung der vier katholischen Bistümer durch Johannes Paul II. im Jahr 2002 sei ein „Fehler“ gewesen, der „den orthodox-katholischen Dialog beschädigt“ habe. Das Patriarchat werde die vier katholischen Bistümer auf russischem Gebiet niemals anerkennen, da sie gegen das Territorialprinzip der Kirchenverwaltung verstießen. Der Status der katholischen Diözesen in Russland müsse auf den Zustand des Jahres 2000 zurückgestuft werden. Wörtlich sagte er: „Wir werden die Präsenz regulärer katholischer Diözesen auf dem Gebiet von Russland immer in Frage stellen und sie als eine Herausforderung gegen die gemeinsame Idee ansehen, wonach das territoriale Prinzip der Kirchenverwaltung zu beachten ist.“

Ökumenische Verantwortung

Von katholischer Seite wird immer wieder als Argument vorgebracht, dass das Moskauer Patriarchat in Westeuropa selber Diözesen eingerichtet habe. Metropolit Kyrill erklärte kürzlich dazu, diese orthodoxen Diözesen in der Diaspora seien nicht „regulär“. Sie würden auch keine örtliche Jurisdiktion besitzen: „Sie wurden eingerichtet, um die Seelsorge für die Menschen in der Diaspora zu garantieren.“ Es wäre richtiger, die orthodoxen Diözesen in Westeuropa „Apostolische Administraturen“ zu nennen, sofern es bei den Orthodoxen einen solchen Ausdruck gäbe: „Wir besitzen aber nur das Konzept von Eparchie oder Diözese.“ Schon früher wies er darauf hin, dass seine Kirche das Prinzip des „kanonischen Territoriums“ streng respektiere. So würden die russischen Bischöfe beispielsweise für Großbritannien bewusst für Titularsitze ernannt.

Metropolit Kyrill betrachtet in diesem Sinn die Struktur von Apostolischen Administraturen für die pastorale Betreuung der Katholiken des lateinischen Ritus in Russland als „absolut angemessen“, während er eine Diözesanstruktur für „absolut unangemessen“ hält. Denn bei der Definition der bischöflichen Jurisdiktion sei das territoriale Prinzip entscheidend. Ein Bischof sei an sein Diözesangebiet gebunden. An die katholische Kirche gerichtet glaubt er: „Die fundamentale Bedeutung dieser Idee in Zweifel zu ziehen, widerspricht unserer gemeinsamen kirchlichen Tradition.“

Von katholischer Seite müssen wir zugestehen, dass es für die pastorale Arbeit in den Pfarreien vollkommen unerheblich ist, ob der zuständige Ordinarius Diözesanbischof ist oder als Bischof eine Apostolische Administration leitet. Auch im öffentlichen Leben bedeutet eine Diözesanstruktur keine Stärkung und keinen kirchenpolitischen Vorteil. Wenn Bischof Werth nach der Errichtung der Diözesanstrukturen meinte, unter den russischen Katholiken herrsche „Genugtuung“ darüber, dass die Kirchenstrukturen erstmals nach der Oktoberrevolution von 1917 wieder voll hergestellt seien, so ist dies – was das Empfinden der Gläubigen betrifft – gewiss nicht an den Begriff der ordentlichen Diözese gebunden.

Sicherlich können wir als Katholiken darauf hinweisen, dass das Prinzip des „kanonischen Territoriums“ nur innerhalb der jeweiligen Konfession gilt. Aber aus ökumenischer Verantwortung heraus könnten wir genau in diesem Punkt unsere grundsätzliche Anerkennung der russisch-orthodoxen Kirche schon jetzt signalisieren. Wir sollten unsere kirchlichen Strukturen so einrichten, wie sie aussehen würden, wenn wir mit unserer Schwesterkirche bereits eine volle sichtbare Einheit erreicht hätten. Die Darlegungen von Metropolit Kyrill wären dann weitgehend zutreffend.

Deshalb sollte die katholische Kirche ernsthaft darüber nachdenken, wie sie auf die jüngsten Forderungen der russisch-orthodoxen Kirche eingehen könnte. Anknüpfend an die Überlegungen von Metropolit Kyrill bräuchte sie nicht einmal unbedingt auf den Begriff der Diözese verzichten. Aber sie müsste deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie sich als „Gast“ in einem orthodoxen Stammland mit gültiger apostolischer Hierarchie versteht. So könnte sie auf den Anspruch „ordentlicher“ Diözesen verzichten und feststellen, dass sie sich nur für die Katholiken des lateinischen Ritus im Sinn von Personalpfarreien bzw. eben Personaldiözesen verantwortlich weiß. Dazu könnte man sogar in Erwägung ziehen, für Bischöfe in Russland Titularsitze zu erwählen, wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Wir sollten auch keine Angst davor haben, eine entsprechende Erklärung oder Maßnahme des Vatikans könnte als Schwäche ausgelegt werden. Vielmehr käme es darauf an, dieses Mal einen solchen Schritt zunächst gemeinsam mit der russisch-orthodoxen Kirche abzuklären. Erst wenn feststeht, dass die angedachte Lösung vom Moskauer Patriarchat tatsächlich akzeptiert würde, sollte sie als offizielle Entscheidung in der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Auftrag zur Evangelisierung

Unsere Verantwortung als katholische Kirche in Russland besteht meines Erachtens vor allem darin, Menschen, die sich der katholischen Weltkirche mit dem Nachfolger des hl. Petrus anschließen möchten, eine solche Möglichkeit und geistliche Heimat vor Ort zu bieten. Die Initiative darf nicht von oben ausgehen, sondern man muss sie ohne besondere Werbemaßnahmen völlig frei von unten her wachsen lassen. Wird sie von einer übergeordneten kirchlichen Instanz aus forciert, der noch gar keine kirchliche Basis zugrunde liegt, so liegt der Verdacht auf kirchenpolitische Absichten und auf Beweggründe wie die des Proselytismus nahe. Entspricht die Seelsorge aber einer Antwort auf das Bedürfnis der Menschen, so ist das Recht auf Religionsfreiheit gefragt. In Russland gibt es in allen Bevölkerungsschichten ein gewaltiges Interesse am Papst und an einer Weltkirche, welche über nationalen Interessen steht. Gerade die Verweigerung des Patriarchen, Papst Johannes Paul II. in Russland zu empfangen, hat das Papsttum ungeheuer bekannt und populär gemacht. Die Stärken der katholischen Kirche werden unmittelbar mit dem Petrusamt in Verbindung gebracht, ob es sich beispielsweise um die Antworten auf die aktuellen Probleme im sozialen Bereich oder um die verständliche Sprache in der Liturgie handelt. Die Menschen verstehen, welchen Schatz die katholische Kirche mit dem Dienstamt der Einheit und der Wahrheit besitzt. Wenn Gläubige danach suchen und verlangen, dürfen wir ihnen diese Güter im Grunde genommen nicht vorenthalten.

Dies aber müsste sowohl für die Form des lateinischen wie für die des byzantinischen Ritus gelten. Die Frage nach katholischen Gemeinden, die nach ostkirchlichem Ritus ausgerichtet sind, ist eines der heikelsten Themen der Russlandmission. Bis heute können unierte Gläubige in Russland keine Pfarreien registrieren lassen. Im Rahmen eines Entgegenkommens hinsichtlich der Diözesanstrukturen, läge ein offenes Gespräch über dieses Thema mit der russisch-orthodoxen Kirche auf der Hand. Denn wenn die bisherigen katholischen Bistümer im Sinn von Personaldiözesen für den lateinischen Ritus verstanden würden, dann wäre es ein Widerspruch, wenn ihre Bischöfe gleichzeitig für die katholischen Gläubigen des byzantinischen Ritus zuständig wären. Es müsste also eine eigene Verwaltung der katholischen Seelsorge nach ostkirchlichem Ritus eingerichtet werden. Bislang liegt dieser Bereich tatsächlich aber in der Verantwortung eines ordentlichen Diözesanbischofs für den lateinischen Ritus. Am 18. Januar 2005 hatte der Papst Bischof Joseph Werth S.J. zum Ordinarius für die Katholiken des byzantinischen Ritus in Russland ernannt.

Solche Gemeinden wären und sind gewiss eine große Herausforderung für die russisch-orthodoxe Kirche. Aber darf man darin nur die Gefahr der Spaltung sehen? Sollte man nicht den Heiligen Geist durch das Bedürfnis der Menschen sprechen lassen? Die Entstehung solcher Gemeinden könnte im Gegenteil als Weg zur Einheit verstanden werden. Sie wäre nämlich einerseits ein gewaltiger Impuls für die Orthodoxie, die ökumenischen Bemühungen um die Herstellung einer vollen sichtbaren Einheit ernst zu nehmen und zielstrebig weiterzuverfolgen. Andererseits könnten die unierten Gemeinden vor Ort aufzeigen, dass eine orthodoxe Kirche, welche sich in die Einheit mit dem Nachfolger Petri begäbe, eigentlich nichts an Eigenständigkeit verlieren würde. Genau diese positive Sicht der unierten Kirchen stellte neulich Papst Benedikt XVI. heraus, als er die griechisch-katholischen Bischöfe der Ukraine zur Begegnung mit den lateinischen Bischöfen im Rahmen deren „Ad-limina-Besuchs“ nach Rom eingeladen hatte. Lange Zeit wurde die unierte Kirche nur als Hindernis auf dem Weg der Ökumene dargestellt. Gewiss sind sich heute alle Seiten einig, dass die politisch bedingte Brester Union von 1596 einen unglücklichen Verlauf genommen und die entstandene Spaltung in unierte und orthodoxe Christen des byzantinischen Ritus eigentlich niemand gewollt hat. Unsägliches menschliches Leid ist aus ihr hervorgegangen. Wie tief die Wunden bis heute sitzen, kann sich ein Außenstehender kaum vorstellen. Und dennoch dürfen deswegen am wenigsten die unierten Christen selbst gebrandmarkt werden. Zunächst hat Papst Johannes Paul II. gegen allen Widerstand aus Moskau den Leidensweg gewürdigt, den die unierte Kirche in der Ukraine unter der sowjetischen Herrschaft auf heroische Weise gegangen ist. Die griechisch-katholische Kirche, wie sie durch eine Verfügung von Maria Theresia aus dem Jahr 1773/1774 heute offiziell genannt wird, ging daraus gestärkt hervor und erlebt heute eine regelrechte Blüte. So dürfen wir nun in die Zukunft blicken und die Chance erkennen, welche das Zeugnis der unierten Kirche für den ökumenischen Dialog bietet. Um jedoch einen echten Beitrag leisten zu können, bedarf es gerade von Seiten der Unierten einer gewaltigen Großherzigkeit im Umgang mit Kirchengütern und Besitzständen. Gleichzeitig kann sich ein positiver Zeugnischarakter nur in dem Maß entfalten, als zunächst die katholischen Kirchen der verschiedenen Riten durch konkrete Zusammenarbeit vor Ort sichtbar machen, dass sie gemeinsam die eine Kirche Christi bilden.

Die Tradition der katholischen Ostkirche in Russland

Im 20. Jahrhundert wurde mehrfach der Versuch unternommen, unter den russisch-orthodoxen Gläubigen unierte Gemeinden zu gründen, um nach ukrainischem Vorbild auch eine russisch-katholische Kirche zu errichten. Diese Experimente sind nicht nur gescheitert, sie können auch nur sehr bedingt ein Vorbild für unsere Zeit sein. Gleichzeitig aber zeigt ihre Geschichte, dass die offizielle Betreuung von Katholiken des ostkirchlichen Ritus in Russland eine feste Tradition hat.

1917 existierte in Moskau eine kleine Gemeinde des byzantinischen Ritus, die sich von der Orthodoxie abgespalten und der katholischen Kirche angeschlossen hatte. Sie wurde einem Apostolischen Exarchen unterstellt, hatte aber keinen Bestand, da sie in einem geschichtlich sehr ungünstigen Zeitpunkt gegründet wurde. Der Exarch P. Leonty Leonid Fedorov M.S.U., der keine Bischofsweihe besaß, wurde eingesperrt und starb am 7. März 1935 an den Folgen der Haft. Er wurde am 27. Juni 2001 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen.

Der griechisch-katholische Metropolit Andrej Sheptyckyi von Lviv ernannte am 17. September 1939 seinen Bruder, Abt Klymentiy Sheptyckyi M.S.U., zum neuen Exarchen für Russland und Sibirien. Am 22. November 1941 erfolgte die päpstliche Bestätigung. Ähnlich wie sein Ordensbruder Leonty Leonid Fedorov M.S.U. starb Exarch Klymentiy, der ebenfalls kein Bischof war, am 1. Mai 1951 im Gefängnis von Wladimir. Auch er wurde am 27. Juni 2001 selig gesprochen.

1939 traf unter dem Pseudonym Makovski der aus Kazan stammende Jesuit Viktor Novikov in Russland ein. Nach 1942 war er Exarch für die russischen Katholiken in Sibirien. Er soll 1943 zum Bischof geweiht worden sein. Die Weihe ist jedoch nicht sicher belegt.

Eine Sonderstellung nimmt der russisch-orthodoxe Bischof Varfolomey Remov ein, der 1921 als Assistenzbischof von Moskau geweiht wurde. Er konvertierte 1932 geheim zur katholischen Kirche und wurde am 3. Juli 1933 von Pius XI zum Titularbischof von Sergievo und Weihbischof des Apostolischen Administrators Neveu für den byzantinischen Ritus ernannt, ohne dass diese Ernennung je veröffentlicht wurde. Am 26. Juni 1935 wurde der nach außen hin immer noch orthodoxe Bischof hingerichtet.

Heute gibt es Spannungen innerhalb der unierten Gemeinden in Russland, da ein Teil ihrer Priester von der russischen Orthodoxie konvertiert ist. Diese verkündeten 2004 die Wiederherstellung des unierten Exarchates, wobei der Heilige Stuhl diesen Schritt aus Rücksicht auf die russisch-orthodoxe Kirche nicht anerkannte.

Gescheitert ist auch der Versuch des damaligen ukrainisch-katholischen Statthalters von Lviv, Erzbischof Volodymyr Sterniuk, für Russland einen eigenen Bischof des byzantinischen Ritus zu installieren. Im Herbst 1990 erteilte er in seiner Residenz in Lviv „sub conditione“ dem apostatischen russisch-orthodoxen Bischof Vinkentiy Chekalin die Bischofsweihe. Dieser war 1988 Bischof einer orthodoxen Splittergruppe und erst am 31. März 1990 Bischof der autokephalen ukrainisch-orthodoxen Diözese Solnechnogorsk geworden. Seine Einsetzung erfolgte ohne päpstliches Mandat und war Ursache erheblicher Irritationen zwischen dem Moskauer Patriarchat und dem Hl. Stuhl. Der eigenmächtige Schritt von Erzbischof Sterniuk führte 1991 zu dessen Emeritierung. Chekalin verließ das Land Richtung Australien und kehrte auch Rom den Rücken.

Eine Gründung 1994, die vor allem von polnischen Priestern in Moskau betrieben wurde, musste nach energischen Protesten des orthodoxen Patriarchen Aleksij II. schon nach einem Jahr wieder eingestellt werden.

Darüber hinaus gab es 1928 die Gründung einer katholischen Ostkirche unter den Exilrussen in China. Ihr Zentrum war die von Russland aus gegründete nordchinesische Stadt Harbin. Bis heute berufen sich mehrere Gemeinden in Australien und Amerika auf diese Denomination (vgl. Beitrag S. 18f.).

Ausblick

Das Ziel, das uns bei allen Überlegungen vor Augen stehen muss, ist die Herstellung der sichtbaren Einheit zwischen den verschiedenen katholischen und orthodoxen Kirchen, vor allem zwischen römisch-katholischer und russisch-orthodoxer Kirche. Die Gläubigen sollten unabhängig davon, zu welcher Gemeinde sie offiziell gehören, unter den verschiedenen Formen des Gottesdienstes vollkommen frei wählen können. Es sollte ihnen möglich sein, an der Liturgie sowohl des lateinischen als auch des byzantinischen Ritus teilzunehmen und die Sakramente zu empfangen.

Für den Fall einer Einigung der Orthodoxie mit Rom sollte schon jetzt der Weg dafür geebnet werden, die unierten Ostkirchen mit den heute noch getrennten orthodoxen Kirchen auch hierarchisch wieder zusammenzuführen. Außerdem wäre es hilfreich, im Licht der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils die katholischen Ostkirchen als Brücke zwischen römisch-katholischer Kirche und den orthodoxen Kirchen zu betrachten. Für die Ukraine jedenfalls sieht Großerzbischof Lubomyr Husar von Lemberg den Status der griechisch-katholischen Kirche in der Mitte zwischen der römischen und der orthodoxen Kirche.

Es wäre fruchtbar, unter den Gläubigen die Atmosphäre der strikten Trennung zu überwinden und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich gleichzeitig mit Moskau und mit Rom verbunden zu fühlen. Der Moskauer Patriarch Aleksij I. hatte 1964 eine Lösung beschlossen, die in diese Richtung ging, nämlich die Möglichkeiten für Orthodoxe und unierte Katholiken zur Teilnahme an der Eucharistie in der jeweils anderen Konfession ohne Infragestellung der eigenen Kirchenzugehörigkeit zu gestatten. Vor allem die griechisch-orthodoxe Kirche hatte damals den Patriarchen gezwungen, die Lösung wieder rückgängig zu machen. Der Patriarch knüpfte in gewisser Weise an eine Tradition an, die bereits kurz vor der Brester Union von 1596 in der orthodoxen Kirche gewachsen war, als sie von einem katholischen Staatsoberhaupt regiert wurde. Die unter polnischer Herrschaft stehenden orthodoxen Bischöfe betrachteten sich als autorisiert, die sakramentale Gemeinschaft mit der polnischen katholischen Kirche aufzunehmen, die ihrerseits eine sakramentale Gemeinschaft mit den bisherigen orthodoxen Brüdern nicht ausschloss. Beide Seiten empfanden um 1590, dass sie eine Brücke zwischen zwei getrennten Kirchen bilden könnten. Nach der kirchenrechtlichen Entwicklung, die 200 Jahre später einsetzte, nahm man die Trennung der beiden Kirchen allerdings ernster – und zwar auf beiden Seiten.

Um angemessene Entscheidungen in diesen heiklen Fragen treffen zu können, sollte die katholische Kirche immer von der Überzeugung ausgehen, dass es die erhoffte Erneuerung des Christentums in Russland letztlich nur mit und durch die russisch-orthodoxe Kirche geben wird. Die in Fatima verheißene Bekehrung Russlands kann nicht an der orthodoxen Kirche vorbei erfolgen, sondern bedeutet im Sinn des hl. Seraphim von Sarow vielmehr eine geistige Auferstehung der orthodoxen Kirche. Nach unserer Erwartung wird sich die Bekehrung Russlands allerdings erst dann erfüllt haben, wenn russisch-orthodoxe und römisch-katholische Kirche sichtbar eins geworden sind. Katholische Gemeinden in Russland, ob im lateinischen oder byzantinischen Ritus, werden in diesem Prozess immer nur helfende und unterstützende Funktion haben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2008
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Russisch-katholische Kirche in China

In Russland erfolgte kein Aufbau einer katholischen Ostkirche vergleichbar mit der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine. Allerdings gibt es ein interessantes Beispiel unter Exilrussen in China, die sich unter Pius XI. dem Petrusnachfolger angeschlossen haben. Der ursprünglich russisch-orthodoxe Priester Rostislav Kolupaev hat eine umfangreiche Arbeit über diese unierte Kirche vorgelegt. Die Beschäftigung mit dem Thema führte ihn zur katholischen Kirche. Inzwischen gehört er der katholischen Diözese der Gottesmutter in Moskau an. Pfarrer Erich Maria Fink stellt die Ergebnisse in einer kurzen Zusammenfassung vor.

Von Erich Maria Fink

Geschichtlicher Hintergrund

Ende des 19. Jahrhunderts besetzte Russland die nördliche Mandschurei und baute die sog. Transmandschurische Eisenbahn. 1898 wurde an dieser Strecke als Bahnstation die Stadt Harbin gegründet. Besonders nach der Oktoberrevolution flohen viele Russen dorthin und trugen zum Aufblühen der Stadt bei. 1932 wurde Harbin von japanischen Truppen besetzt. Nach der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg übernahm zunächst die Sowjetunion die Stadt, 1946 wurde sie von der Kommunistischen Partei Chinas erobert. Heute leben in der Stadt etwa drei Millionen Einwohner.

In den 20er Jahren kam es unter den Exilrussen in Harbin zur Gründung einer mit Rom unierten Ostkirche. Den Auslöser bildete 1923 die Entscheidung des orthodoxen Oberpriesters Konstantin Koronin, sich der katholischen Kirche anzuschließen. Zwei Jahre später folgte ihm sein Vater Ioann Koronin, der ebenfalls Oberpriester war. Schließlich traten im Mai 1928 drei weitere orthodoxe Geistliche über. Es waren der Archimandrit Nikolaj Alexeev, der Priester Sacharij Kowaljov sowie der Diakon Georgij Gitz. Die Verbindung zum Heiligen Stuhl stellte Erzbischof Celso Costantini her. Mit der Vollmacht eines Apostolischen Gesandten trat er als offizieller Vermittler zwischen diesen ehem. orthodoxen Geistlichen und dem Nachfolger Petri auf. Um diese Priester formierte sich eine Gemeinde, die sich bezeichnenderweise den hl. Fürsten Wladimir als Patron erwählte, auf den die Taufe Russlands bei Kiew im Jahr 988 zurückgeführt wird. Aufnahme fand die neue Pfarrei in der römisch-katholischen Pfarrkirche des hl. Stanislaus in Harbin, die von Pfarrer A. Ostrowskij geleitet wurde.

Errichtung eines russisch-katholischen Exarchats

Bereits am 20. März 1928 wurde für die neue Gruppe von Gläubigen in Harbin ein eigenes katholisches Exarchat gegründet. Zum Ordinarius des „Apostolischen Exarchats für die Russen des slawisch-byzantinischen Ritus und alle Gläubigen des östlichen Ritus“ wurde am 31. März 1928 Archimandrit Fabian Abrantowitsch M.I.C. ernannt. Im Juni wurde er von Papst Pius XI. in Privataudienz empfangen und reiste im August nach China ab. In Harbin traf er am 6. November 1928 ein. Bei seiner Ankunft zählte die Gemeinde 18 Personen. Nach und nach entwickelten sich die Strukturen des Exarchats. Es entstanden das Lyzeum des hl. Nikolaus für die Ausbildung von Jungen mit einer eigenen Hauskirche, ein College beim Kloster der Ursulinerinnen sowie ein Heim für Mädchen unter der Leitung der Franziskanerinnen im alten Harbin. Die städtischen Behörden wie auch die Öffentlichkeit nahmen die neuen Institutionen sehr wohlwollend auf. Die Bildungs- und Sozialprogramme des Exarchats waren geschätzt und unter der Bevölkerung sehr beliebt.

Ausweitung auf Schanghai

Im Jahr 1935 wurde in Harbin ein Marianer Kloster (MIC) im östlichen Ritus gegründet. Damals gehörten dem Klerus des Exarchats fünf Priester und Ordenspriester, ein Ordensdiakon und vier Mönche an, dazu kamen 12 Schwestern der Ursulinerinnen (Ursulinen) und 14 Schwestern der Franziskanerinnen. Die Anzahl der Gläubigen war inzwischen auf 150 Personen gewachsen. Im Jahr 1945 lebten über 500 russische Kinder auf Kosten des Exarchats. Außerdem hatte sich das Exarchat auf Schanghai ausgeweitet. Es bildeten sich neue Kirchenstrukturen wie z.B. die Pfarrei des hl. Nikolaus, zu der damals etwa 200 Personen zählten. Daneben entstanden verschiedene Erziehungseinrichtungen für Kinder: ein Heim und eine Schule für Jungen, die von Ordensschwestern aus Irland getragen wurden sowie eine Schule für russische Mädchen. Allerdings wurde 1939 die Verantwortung für die Mission in Schanghai dem östlichen Zweig des Jesuitenordens übertragen. Von 1931 bis 1943 gab das Exarchat eine eigene Zeitschrift heraus, sie hieß „Katholischer Bote der russischen Diözese des slawisch-byzantinischen Ritus in der Mandschurei“. Außerdem veröffentlichte das Exarchat verschiedene Bücher. Seit 1939 wurde das Exarchat von Archimandrit Andrej Zikoto M.I.C. geleitet.

Untergang in den Wirren des Kommunismus

Mit dem Einmarsch der sowjetischen Roten Armee in die Mandschurei im Jahr 1945 begannen verschiedenartigste Repressalien. Der Machtantritt der Kommunisten in China führte schließlich zur fast vollständigen Auswanderung der russischen Bevölkerung. Im Jahr 1948 wurden der Apostolische Verwalter des Exarchats, Andrej Zikoto, der Direktor des Lyzeums, der Ordenspriester Iosif Germanowitsch, sowie die Priester Pawel Schalej und Pawel Portnjagin und die Lektoren P. Martschischin und W. Wlassov-Waldenberg verhaftet. Mit Unterstützung von internationalen Organisationen konnten von Ende 1948 bis Mai 1949 die verbliebenen russischen Emigranten aus China evakuiert werden. Den Jesuiten gelang es unter der Leitung von P. Fjodor Wilkokk, die wertvollsten russischen Bücher sowie über 100 Ikonen aus Schanghai zu retten. Sie wurden in die USA gebracht und fanden in der Hauskirche des russischen Zentrums namens „Wladimir Solowjov“ an der Katholischen Fordam‘s Universität in New York Verwendung.

Pfarreien in Australien und Südamerika

Die russischen Katholiken des byzantinischen Ritus gelangten außer in die USA auch nach Australien und Südamerika. Dort lebt das Exarchat bis heute in verschiedenen Gemeinden fort, die sich auf die russischen Katholiken des byzantinischen Ritus in Harbin berufen. In der Fortsetzung der Traditionen des Exarchats von Harbin verstehen sich folgende Pfarreien: das Russische Katholische Zentrum in Melbourne (Australien), die Kirche der hl. Apostel Petrus und Paulus in Buenos Aires (Argentinien), die Kirche der Verklärung Christi in Buenos Aires (Argentinien) und die Kirche Mariä Verkündigung in Sao Paolo (Brasilien).

Weltweit zählt die Kirchengemeinschaft der russisch-katholischen Kirche etwa 3.500 Gläubige. Neben den genannten Zentren unterhält sie 31 russisch-katholische Gemeinden in den USA, drei in Frankreich, eine in Deutschland (München) und eine in Italien. In Russland selbst gibt es derzeit zwei Pfarreien in Moskau, eine in Sankt Petersburg und zwei in Sibirien. Um die Ausbildung eines eigenen Klerus zu gewährleisten, wurde 1929 in Rom das Russicum begründet, welches unter der Aufsicht der Jesuiten steht und sich heute besonders auch dem Dialog mit der orthodoxen Kirche verpflichtet weiß.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2008
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Das Glaubenszeugnis des litauischen Volkes

In diesem Jahr feiert Litauen das 400-jährige Jubiläum der Marienerscheinungen von Schiluwa. Wir haben im vergangenen November ausführlich darüber berichtet. Eine Vertiefung findet der Blick nach Litauen durch das Zeugnis eines litauischen Bischofs, das die Geschichte dieses Landes noch einmal beleuchtet und eine tiefe christliche Hoffnung ausstrahlt. Bischof Jonas Kauneckas ist Oberhirte der Diözese Panevezys. Er kam am 10. Oktober 2007 in die Gebetsstätte Wigratzbad, um sich, wie er sagte, „bei der Gottesmutter für ihre Hilfe zu bedanken“. Nachfolgend seine leicht gekürzte Predigt.

Von Bischof Jonas Kauneckas, Panevezys

Ein Kommunist gibt die Antwort

Wie unterscheidet sich Litauen von anderen Ländern? Welches besondere Merkmal zeichnet dieses Land aus? Ein Kommunist, der litauische Schriftsteller Baltu`´sis, gibt eine treffende Antwort. Aus seinen Kindheitserinnerungen schildert er folgende Szene: Eines Tages kehrte er mit seinen Eltern aus der Stadt Riga in Lettland nach Litauen in seine Heimat zurück – mit Pferd und Schlitten. Es ist tiefer Winter – beißende Kälte. Es schneit ohne Unterlass. Plötzlich hält der Vater das Pferd an. Die Mutter ruft: „Was machst du da? Bitte fahr doch weiter! Wir erfrieren ja!“ Der Vater antwortet: „Schau, das Kreuz! Schau doch, Mutter! Schaut alle! Das Kreuz! Wenn das Kreuz da ist, so ist das schon Litauen!“ Diese Erzählung entstammt der Feder eines Kommunisten, obwohl es in der Sowjetzeit verboten war, über das Kreuz zu schreiben. Doch auch er fand offensichtlich kein besseres Erkennungszeichen für Litauen als das Kreuz.

Vernichtung der Kreuze durch die Sowjets

Es sind drei Kreuze, die das Leben eines Menschen in Litauen ständig begleiten: das Kreuz in den Wohnungen an der Wand, das Kreuz am Tor oder an der Tür des Hauses und schließlich das Kreuz an den Straßen und Kreuzungen. So war es zumindest vor der sowjetischen Besatzung. Laut Statistik befand sich an den litauischen Straßen durchschnittlich alle 50 Meter ein Kreuz, das sind 20 Kreuze pro Kilometer. Die Sowjets haben Millionen Kreuze vernichtet. Der weltberühmte Kreuzberg beispielsweise wurde achtmal zerstört. Sobald die Kommunisten – ob auf Friedhöfen, an den Straßen oder in Gebäuden – Kreuze abrissen, bauten die Menschen sofort wieder neue auf. Selbst die Sowjets mussten im berühmten Freilichtmuseum, das der Kultur Litauens gewidmet ist, in jedem Haus und Hof Kreuze anbringen. Ansonsten hätten die Besucher darin Litauen nicht wiedererkannt.

Völkermord an der litauischen Nation

Kreuzritter, Germanen, Russen, Deutsche, Schweden, Polen und sogar Mongolen haben Jahrhunderte lang gegen das litauische Volk gekämpft. Sie versuchten den litauischen Geist auszulöschen. Litauen war einmal ein sehr großes Land, es reichte vom Baltischen bis zum Schwarzen Meer. Davon ist heute nur ein kleiner Teil übrig geblieben. Litauen wurde viele Male nicht nur besetzt und vernichtet, sondern sogar auch verkauft. Dies geschah zuletzt durch den deutschrussischen Pakt in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Nach diesem „Kaufvertrag“ kostete jeder Litauer sieben Deutsche Mark. Doch niemand protestierte, die christliche Welt unternahm nichts zur Verteidigung des verkauften Litauens. Die Folgen waren verheerend. Ein Drittel der gesamten litauischen Bevölkerung wurde von den Sowjets nach Sibirien verschleppt, Tausende wurden in Kerkern getötet.

Unausrottbarer Glaube

Fast bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war der Glaube völlig verboten. Als Litauen vor 17 Jahren die Unabhängigkeit erlangte, gab es keine religiösen Bücher und Bibeln mehr, nur noch handgeschriebene Gebetbücher. Und dennoch waren nach der Volkszählung vom Jahr 2000 mehr als 80% der Bevölkerung katholisch und 90% getauft. Die Kreuze stehen wieder. Papst Johannes Paul II. bedankte sich beim litauischen Volk für sein Glaubenszeugnis, als er bei seiner Reise nach Litauen 1993 auch den Kreuzberg besuchte, den einzigen dieser Art auf der ganzen Welt. Der amerikanische Kardinal Cushing sagte: „Den Glauben der Litauer konnte niemand auf der Welt überbieten.“ Nicht umsonst ist die litauische Flagge gelb, grün und rot. Die Farben stehen für Glaube, Hoffnung und Liebe. Der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg meinte: „Alle, die die Litauer zu besiegen versuchten, kannten den litauischen Geist schlecht. Der Litauer ist still, aber seine Stille ist so stark wie das Eisen. Er ist still, aber er unterwirft sich nicht, er verbeugt sich nicht. Der Litauer kann ‚Nein‘ sagen und sein ‚Nein‘ kann man nicht zerbrechen.“

Stark durch Christi Blut

Woher kommt diese Stärke? Die Litauer sind stark durch das Kreuz und durch das Blut Christi.

Als die russischen Gendarmen die Kirchen Litauens zu zerstören versuchten, leisteten die Litauer bis zum Blutvergießen Widersand. Ein Vater kehrte beinahe totgeschlagen, blutüberströmt nach Hause zurück. Er wusch sein Gesicht und das Wasser, das im Gefäß zurückblieb, war dunkelrot. Die Mutter rief die Kinder: „Schaut, Kinder, wie das Blut Christi! Christi Blut garantiert, dass wir siegen werden.“ So hatten wir unsere Hoffnung immer auf Christi Kreuz und Blut gesetzt und viele große Gegner besiegt.

Doch nun ist der schreckliche Liberalismus mit all seinen Folgen auch nach Litauen hereingebrochen: Unsittlichkeit, Prostitution, Arbeitslosigkeit und Armut. Nie hatte ich in meinem Leben Angst gehabt. In der Sowjetzeit war ich Kämpfer, ich war Mitglied des Komitees für die Verteidigung der Rechte der Gläubigen. Ich hatte mich damals nie gefürchtet! Wusste ich doch, dass man uns mit Gewalt nicht besiegen kann. Jetzt aber habe ich Angst um die Zukunft Litauens. Doch wir wollen auch im Kapitalismus stark bleiben! Stark im Glauben, stark mit dem Kreuz, stark mit der Marienverehrung, mit dem Rosenkranz in der Hand.

Der Rosenkranz ist unsere Hoffnung

Unsere einzige Hoffnung ist das Gebet. Die Gottesmutter verspricht in Fatima: Mit dem Rosenkranz könnt ihr siegen! Man betet in Litauen den Rosenkranz in jeder Kirche, vor der hl. Messe, an jedem Sonntag und in vielen Kirchen sogar täglich. Besonders teuer ist das Rosenkranzgebet den Kranken. Es gibt ihnen die Kraft, das Kreuz der Krankheit zu tragen.

Ein kommunistischer Arzt sagte einmal zu seiner Mutter über den Rosenkranz: „Gib mir dieses Spielzeug, damit ich es wegwerfe!“ – „Ja, mein Sohn, was gibst du mir dann, damit ich geduldig und stark bleiben kann?“ Am nächsten Morgen gab der Sohn der Mutter den Rosenkranz zurück: „Meine Mutter, ich kenne keinen Menschen, der so geduldig und stark ist, wie du. Die ganze Nacht habe ich darüber nachgedacht. Ich finde keine andere Waffe für dich, als den Rosenkranz.“ Solche kranken Mütterchen haben in Litauen bereits tausendmal gesiegt. Und sie werden mit dem Rosenkranz weiter siegen. In der Heiligen Schrift lesen wir: Wenn in Sodom und Gomorra zehn Leute die Treue gehalten hätten, so wären diese Städte nicht verloren gegangen. In Litauen gibt es in jeder Siedlung mehr als zehn Fromme und Treue. Jeden Sonntag wird in allen Kirchen das Allerheiligste zur Anbetung ausgesetzt. Jeden Tag beten Hunderte, ja Tausende den Rosenkranz. Litauen hat tausende Retter. Darum bin ich davon überzeugt, dass in Litauen der Glaube siegen wird. Das ist meine Hoffnung.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2008
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Liturgie als Spiel

Papst Benedikt XVI. bekennt sich zur Liturgiereform, wie sie die katholische Kirche vor einigen Jahrzehnten vollzogen hat. Gleichzeitig schaut er realistisch genug auf die bisherige Entwicklung zurück, um zu erkennen, dass im Zug der Erneuerungen das Gespür für das eigentliche Wesen der Liturgie oftmals verloren gegangen ist. Wenn Romano Guardini von der Liturgie als „Spiel“ spricht, dann läuft er keineswegs Gefahr, den Ernst des christlichen Gottesdienstes einzubüßen. Überraschenderweise gelingt es ihm gerade durch die Betrachtung der Liturgie unter dem Aspekt des Spiels, uns die Augen für ihren tiefsten Sinn zu öffnen. In unserer Reihe veröffentlichen wir nun die vierte Folge aus dem Vortrag, den P. Dr. Johannes Nebel FSO am 28. April 2007 in Wigratzbad gehalten hat. Er geht auf das „Liturgische Symbol“ und die „Liturgie als Spiel“ ein, d.h. auf den vierten und den fünften der insgesamt sieben Schritte, mit denen sich Romano Guardini dem „Geist“ der Liturgie anzunähern versuchte.

Von Johannes Nebel

Verbindung von Geistigem und Körperlichem

Guardini sucht die Ausgewogenheit, indem er zwei entgegengesetzte Extrempositionen beim Namen nennt. Deren eine trennt zwischen Geistigem und Körperlichem in einer Weise, dass nur noch das Geistige zählt: Vertreter dieser Geisteshaltung betonen mit Vorliebe z.B. Gott, der die Herzen kennt, oder die Anbetung, die in Geist und Wahrheit erfolgen muss – zwei in der Tat wichtige Wahrheiten, die aber hier in den Dienst einer zu spirituellen, zu einseitig nur auf das Innenleben fixierten Haltung gestellt werden. Entgegengesetzt hierzu ist die Geisteshaltung, die das Leibliche nur als direkten Ausdruck des Geistigen verstehen will. Das führt dann dazu, dass jede einzelne Geistesregung sofort und spontan nach einem neuen leiblichen Ausdruck verlangt. Was für Vertreter dieser Einstellung wichtig ist, sind z.B. Originalität und „Authentizität“ im persönlichen Sich-Geben und auch im liturgischen Ausdruck, oder auch größtmögliche Harmonie zwischen liturgischen Gesten und individuellem Charakter. Hier wird gegenüber dem Anliegen der „Kultur“ der Stellenwert der „Natur“ überbetont, oder anders ausgedrückt, man begnügt sich mit „Stil“ im allgemeinen Sinne – sofern man nicht auch ihn aufgibt – aufkosten der Notwendigkeit des eigentlichen liturgischen „Stils“.  Die Liturgie wird hier ständig pastoralen Erfordernissen angepasst. Während die erstgenannte Geisteshaltung, die auf spirituelle Innerlichkeit Wert legt, den Zusammenhang zwischen Leib und Geist nicht erkennt, weiß die zweite Geisteshaltung nicht um den nötigen Abstand zwischen beidem. Diese beiden Mängel werden für Guardini ausgeglichen im Begriff vom liturgischen Symbol.

Was ist ein liturgisches Symbol?

Gemäß Guardini betont das Symbol das Verankert-Sein der Liturgie in gewachsener Form, in gewachsener Kultur, in gewachsenem Stil. Was ist ein Symbol? Guardini fasst seinen Symbol-Begriff als eindeutigen körperlichen Ausdruck von Geistigem, und zwar einen Ausdruck, der wesensnotwendig ist, sich also nicht bloßer Übereinkunft verdankt. Er schreibt: „Das wahre Symbol entsteht als natürlicher Ausdruck eines wirklichen, besonderen Seelenzustandes. Zugleich muss es sich aber … über das Nur-Besondere erheben. Es darf nicht nur einmalige seelische Inhalte ausdrücken, sondern muss etwas über die Seele überhaupt, über das Menschenleben an sich sagen."[1] Dies gilt zunächst für die menschliche Gebärdensprache (Stehen, Knieen, Hände falten, Sich-an-die-Brust-Schlagen etc.), die sich dann aber ausweitet auf den dinglichen Bereich: So setzt eine Patene die geöffnete Handfläche fort, eine Weihrauchwolke den nach oben gerichteten Gebetssinn, eine Kerze die Opfergesinnung.

Die Frage nach Zweck und Sinn

Das liturgische Symbol ist die Seele des liturgischen Stiles. Die Welt der Symbole schenkt der Liturgie einerseits die Strenge und Konsequenz ihres Stils, doch Guardini ist so ausgewogen, dass er dem Strengen wiederum ein Gegenstück hinzufügt, das sich ebenfalls der Symbolwelt verdankt: die Liturgie als Spiel. Dazu unterscheidet er zunächst einmal zwischen „Zweck“ und „Sinn“, indem er sagt: „Zweck und Sinn sind die beiden Formen der Tatsache, dass ein Daseiendes Grund und Recht zum eigenen Sein und Wesen hat. Unter der Rücksicht des Zweckes fügt sich ein Ding in eine Ordnung ein, die über es hinausgreift; unter der Rücksicht des Sinnes ruht es in sich selbst. Was ist nun der Sinn des Seienden? Dass es sei und ein Abbild sei des unendlichen Gottes."[2]  

Kultische Dimension der Liturgie

Die Liturgie hat nur untergeordnet einen Zweck, nämlich die Vermittlung von Gnaden. Doch wie die Notriten bei Todesgefahr zeigen, kann man auf die liturgische Umkleidung bis auf ein Minimum verzichten. Daher kann für den bloßen Zweck die liturgische Form fast ganz wegfallen; sie ist nicht zweckgebunden. Doch sie hat einen Sinn. „Sie ist nicht Durchgang zu einem außerhalb liegenden Ziel“, schreibt Guardini, „sondern eine in sich ruhende Welt des Lebens. Übersieht man das, dann müht man sich ab, in der Liturgie allerlei erzieherische Absichten zu finden, die wohl irgendwie hineingelegt werden mögen, aber nicht wesentlich sind.[3] Gerade Kardinal Ratzinger stellt im ersten Teil seines Buches „Der Geist der Liturgie“ in stringenten Gedankengängen heraus, dass Gott Ursprung und Ziel der Liturgie und die kultische Dimension daher ihr grundlegendster Wesenszug ist. Allein wegen der zentralen Ausrichtung auf die Verherrlichung Gottes kann die Liturgie nicht primär einen Zweck haben; aber genau diese Ausrichtung macht ihren Sinn aus.

Das Spiel ist zweckfrei

Blickt man nun auf das Spiel des Kindes, so sieht man Ähnliches: Das Spiel ist frei von Zwecken, aber doch zutiefst sinnerfüllt, als bloßer Ausdruck der Lebendigkeit vor Gott. Auch die Kunst ist zweckfrei und zugleich sinnerfüllt: Ihr Sinn liegt für Guardini darin, die Kluft zwischen Ideal und Realität des menschlichen Lebens zu überwinden. Spiel und Kunst aber werden von der Liturgie aufgegriffen: Denn die Liturgie führt die Realität des Lebens und das Streben der Kunst in eine Einheit des übernatürlichen Kindseins vor Gott zusammen und offenbart sich somit als heiliges Spiel.

Unabänderliche Regeln

„Spiel“ heißt freilich nicht beliebige Freizügigkeit: Guardini weist gerade darauf hin, dass im zweckfreien Bereich der „bittere Ernst“ der Regelhaftigkeit und des Formzwanges härter ist als im zweckgebundenen Bereich: Unabänderlich stehen im Herzen der Kinder die Regeln, denen sie bei ihrem Spiel folgen – zumindest für die Dauer des Spieles –, unabänderlich ist ebenso der Formwille, den der Künstler bei der Gestaltung eines Kunstwerkes hat, unabänderlich ist daher auch die liturgisch gewachsene Form. „Die Größe der Liturgie“, so Kardinal Ratzinger, „beruht gerade ... auf ihrer Unbeliebigkeit“,[4] und zwar einer historisch gewachsenen Unbeliebigkeit: „Die Kirche betet nicht in eine mythische Allzeitlichkeit hinein: Sie darf ihre Wurzeln nicht verlassen und erkennt das wirkliche Reden Gottes gerade an der Konkretheit seiner Geschichte, an Ort und Zeit, an die Er uns knüpft und die uns alle aneinanderknüpfen. Zum Ritus gehört das diachronische Element, das Beten mit den Vätern und den Aposteln… Riten sind daher nicht nur Inkulturationsprodukte… Sie sind Gestalten apostolischer Überlieferung und ihrer Entfaltung in den großen Traditionsräumen."[5]

Zwischen Strenge und Unbeschwertheit

Daraus erklärt sich auch, warum eine Liturgiereform, wie sie die katholische Kirche vor einigen Jahrzehnten vollzogen hat, immer mit geistigen Kämpfen verbunden ist. Ganz offen sagt Kardinal Ratzinger in dieser Hinsicht zur päpstlichen Vollmacht über die Liturgie: „Auch der Papst kann nur demütiger Diener ihrer rechten Entwicklung und ihrer bleibenden Integrität und Identität sein.[6] Es gibt hier also Strenge, und doch ist diese Strenge umfangen von einer noch grundlegenderen Unbeschwertheit, nämlich von der Freiheit von einem knechtenden Zweckgefüge. Im Sinne der Liturgie als eines heiligen Spiels bedeutet daher das Feiern der Liturgie für Guardini, „getragen von der Gnade, geführt von der Kirche, zu einem lebendigen Kunstwerk werden vor Gott, mit keinem andern Zweck, als eben vor Gott zu sein und zu leben“;[7] es heißt, „das Wort des Herrn erfüllen und ,werden wie die Kinder‘; einmal verzichten auf das Erwachsensein, das überall zweckhaft handeln will, und sich entschließen, zu spielen so wie David tat, als er vor der Bundeslade tanzte."[8]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2008
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[1] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Ausgabe: R. Guardini: Vom Geist der Liturgie. Zur aktuellen Situation, mit einem Nachwort von Hans Maier, Herderbücherei 1049, Freiburg 1983, 81.
[2] Ebd., 92f.
[3] Ebd., 96.
[4] J. Ratzinger/Papst Benedikt XVI.: Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg 2000, 143.
[5] Ebd., 141.
[6] Ebd., 143.
[7] R. Guardini: Vom Geist der Liturgie, 104.
[8] Ebd.

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