Aus Angst verschlossen wir uns hinter den Türen

Christoph Kardinal Schönborn legte im Rahmen eines „Gemeinschaftstages der Bischöfe Europas“, der vom 24. bis 29. März 2008 im Heiligen Land stattgefunden hat, ein erschütterndes Bekenntnis ab. Bei einer Predigt im Abendmahlssaal in Jerusalem ging er auf die Enzyklika Humanae vitae ein und sprach im Namen der Bischöfe, die vor 40 Jahren die Königsteiner Erklärung (Deutschland) bzw. die Mariatroster Erklärung (Österreich) veröffentlicht hatten, die Überzeugung aus: Hätten wir die Konsequenzen gekannt, so hätten wir 1968 niemals „Nein“ zu Humanae vitae gesagt! In aller Demut und Ehrlichkeit rief er seinen Mitbrüdern zu: Wir Bischöfe hatten nicht den Mut, Papst Paul VI. kraftvoll zu unterstützen. Wir müssen unsere Sünde bereuen und umkehren. Denn wir alle tragen heute die Last der Konsequenzen dieser Sünde.

Von Christoph Kardinal Schönborn, Wien

Hier im Abendmahlssaal sagte Jesus zu seinen Aposteln: „Dafür seid ihr Zeugen!“ Wofür müssen wir in diesen Tagen Zeugen sein? Was zu bezeugen, sind wir gerufen im Europa von heute? Es ist das, was die Emmaus-Jünger auf ihrem Weg erlebt haben: der griechische Ausdruck dafür ist anastrophe – „Umkehr“. Sie haben sich in Emmaus bekehrt und sind nach Jerusalem zurückgekehrt, nachdem sie Jesus beim Brechen des Brotes erkannt hatten.

Ein Wort des Heiligen Geistes

Ich möchte euch etwas sagen, das ich im Herzen trage. Ich denke, es ist ein Wort des Heiligen Geistes, das ich aussprechen muss. Worin besteht die Schuld Europas? Seine Hauptschuld ist das Nein zum Leben. Vor einigen Tagen antwortete ich im österreichischen Fernsehen einem Journalisten: „Europa hat in den letzten 40 Jahren dreimal Nein zu seiner eigenen Zukunft gesagt.“ Das erste Mal im Jahr 1968 – wir feiern jetzt 40 Jahre – durch das Ablehnen von Humanae vitae. Das zweite Mal im Jahr 1975, als die Abtreibungsgesetze Europa überschwemmt haben. Und nun das dritte Mal: Gerade gestern habe ich die Nachricht bekommen, dass auch in Österreich die Regierung der „homosexuellen Ehe“ zuzustimmen plant. Das ist das dritte Nein zur Zukunft und zum Leben. Und dies ist nicht zuerst eine moralische Sache, sondern eine Frage der Gegebenheiten, der Fakten: Europa ist im Begriff zu sterben, da es Nein zum Leben gesagt hat.

Unser „Nein“ zu Humanae vitae

Gerade dies ist der Ort, wo Jesus uns sein Wort gegeben hat, dass wir die Vergebung unserer Sünden empfangen. Darauf möchte ich hinweisen, weil ich denke, dass das Nein zum Leben auch eine Sünde von uns Bischöfen ist, selbst wenn niemand von uns im Jahr 1968 Bischof war. Heute haben in Deutschland hundert Eltern 64 Kinder und 44 Enkelkinder: Das bedeutet, dass sich die deutsche Bevölkerung – ohne Einwanderung – innerhalb einer Generation halbiert. Wir haben „Nein“ zu Humanae vitae gesagt. Auch wenn wir selbst damals nicht Bischöfe waren, so waren es doch unsere Mitbrüder. Wir hatten nicht den Mut, ein klares „Ja“ zu Humanae vitae zu sagen. Es gibt Ausnahmen: Der damalige Kardinal von Berlin, Kardinal Bengsch, hatte einen prophetischen Text für die deutsche Bischofskonferenz vorbereitet. Aber dieser Text ist verschwunden und erschienen ist die Königsteiner Erklärung, welche die katholische Kirche in Deutschland geschwächt hat, das Ja zum Leben zu sagen.

Das Memorandum von Karol Wojtyla

Es gab noch eine andere Ausnahme, nämlich in Krakau: Eine Gruppe von Theologen hat unter der Leitung des Erzbischofs und Kardinals von Krakau, des vielgeliebten Papstes Johannes Paul II., ein „Memorandum“ geschrieben und an Papst Paul VI. geschickt. Ich denke, dass dieses Zeugnis eines Bischofs der Märtyrerkirche, der schweigenden Kirche, mehr Gewicht hatte, als all die Gutachten, die Papst Paul VI. zu diesem Thema erstellen ließ. Es hat ihm geholfen, diese mutige Entscheidung zu treffen, derentwegen er dann in einer schlimmen Einsamkeit geblieben ist. Auch wenn ich keinen historischen Beweis habe, bin ich mir innerlich sicher, dass dieser Text aus Krakau Paul VI. den Mut gegeben hat, Humanae vitae zu schreiben.

Die Familien des „Weges“ geben Paul VI. Recht

Dann gab es einen „Verrückten“ in Spanien. Er lebte in den Baracken zusammen mit einer „Verrückten“ (ich meine zwei „Verrückte in Christus“: Kiko Arguello und Carmen Hernandez). Die beiden hatten den Mut, gegen den Strom „Ja“ zum Leben, „Ja“ zu Humanae vitae zu sagen. Und wie stark war dieser Strom! Ich erinnere mich an die Veröffentlichung des Spiegel in Deutschland: Auf der Titelseite wurde Papst Paul VI. mit der Pille in der Hand und mit seinem „Nein“ lächerlich gemacht! Aber von diesen „Verrückten in Christus“ her entstand eine Wirklichkeit, die genauso wenig zu negieren ist wie die Wirklichkeit des demographischen Zusammenbruchs Europas: Es sind die Familien des Neokatechumenalen Weges, die uns in diesem Europa das Zeugnis geben, dass Paul VI. Recht hatte, dass das Leben das große Geschenk Gottes und dass das „Ja“ zum Leben eine Bedingung für ein wirkliches Leben, eine Bedingung für ein lebendiges Europa ist.

Unsere Sünde hat die Kirche geschwächt

Aber wir Bischöfe hatten keinen Mut. Aus Angst verschlossen wir uns hinter den Türen, nicht aus Angst vor den Juden (vgl. Joh 20,19), sondern wegen der Presse und auch wegen des Unverständnisses unserer Gläubigen. Weil wir keinen Mut hatten, veröffentlichten wir in Österreich die Mariatroster Erklärung, so wie in Deutschland die Königsteiner Erklärung. Dies hat im Volk Gottes den Sinn für das Leben geschwächt und die Kirche entmutigt, sich für das Leben zu öffnen. Als dann die Welle der Abtreibung kam, war die Kirche geschwächt, da sie den Mut des Widerstands nicht gelernt hatte, einen Mut, wie wir ihn in Krakau gesehen haben und wie ihn Papst Johannes Paul II. während seines ganzen Pontifikats gezeigt hatte, den Mut, JA zu sagen zu Gott, zu Jesus, auch um den Preis der Verachtung. Aus Angst waren wir hinter den verschlossenen Türen. Ich denke, auch wenn wir damals nicht Bischöfe waren, so müssen wir diese Sünde des europäischen Episkopats bereuen, eines Episkopats, der nicht den Mut hatte, Paul VI. kraftvoll zu unterstützen. Denn heute tragen wir alle in unseren Kirchen und in unseren Diözesen die Last der Konsequenzen dieser Sünde.

„Kehrt um und ändert euer Leben!“

„Brüder, ich weiß, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt“, sagt Petrus zu den Juden, seinen Brüdern (Apg 3,17). „Ihr habt aus Unwissenheit gehandelt.“ Wenn wir die Konsequenzen dieses „Nein“ zum Leben gekannt hätten, hätten wir niemals „Nein“ zu Humanae vitae gesagt, hätten wir den Mut gehabt, unsere Brüder zu bestärken: „Habt Vertrauen, glaubt an das Leben!“ Aber wir hatten keinen Mut. „Ich weiß, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, ebenso wie eure Führer. Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten im Voraus verkündigt hat: dass sein Messias leiden werde“ (Apg 3,17f.): dieses Leiden, für das wir mitverantwortlich sind, ist das Leiden des „Nein“ zum Leben. Wir kennen alle aus dem Sakrament der Buße den großen Schmerz, wenn die Sünde der Abtreibung gebeichtet wird, und die Traurigkeit, die aus dem „Nein“ zum Leben hervorgeht. Wir sind mitverantwortlich für diese Traurigkeit Europas.

„Bereut also und ändert euer Leben“, sagt Petrus zu den Juden. Und er fügt hinzu: „Kehrt um und ändert das Leben, damit eure Sünden vergeben werden und so der Herr Zeiten des Aufatmens kommen lässt“ (Apg 3,19).

Leiden eines Charismas wird fruchtbar

Welchen Trost haben wir für Europa? Ich sage Euch meine Erfahrung als Bischof, als armer Sünder. Ich sehe die Familien des Neokatechumenalen Weges, der Gemeinschaften: Personen, die durch Katechese und Umkehr den Mut gefunden haben, „Ja“ zum Leben zu sagen, so wie sie sind, mit ihren Gaben und ihren Schwächen – dank eines Charismas, das zwei „Verrückte“ vom Herrn empfangen und angenommen haben. Sie nahmen dieses Charisma an und hatten den Mut, die Leiden eines solchen Charismas zu tragen. Wie viele Leiden! Aber heute haben wir in der Kirche das Privileg, das Geschenk, Gemeinschaften mit Familien zu haben, mit wahren, großen Familien, so wie sie viele von uns in ihrer Jugend – auch in ihrer eigenen Familie – kennen gelernt haben. Sechs, zehn, zwölf Kinder – es war normal.

Das Seminar „Redemptoris Mater“ formt Berufungen

Während wir uns heute in einer europäischen Wüste befinden, sehen wir hier Gemeinschaften mit Familien. Und ich sehe die Früchte. Wie dankbar bin ich, dass wir das Seminar „Redemptoris Mater“ haben, angesichts der Armut an Berufungen! Hier haben wir Berufungen und ich sehe, wie gut diese begleitet werden. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie gut die Seminaristen menschlich und geistlich in den Gemeinschaften des Neokatechumenalen Weges geformt werden. Warum? Weil sie hier Familien haben und erfahren können, was Vaterschaft bedeutet. Ich selbst komme aus einer geschiedenen Familie, meine Eltern waren geschieden, mein Großvater war geschieden, meine zwei Brüder sind geschieden. Ich kenne die Wirklichkeit der Scheidung. Wo soll man die priesterliche Vaterschaft lernen, wenn es in den Familien keine Beispiele für Vaterschaft gibt? Aber hier lernen es die Seminaristen, dank des engen Kontaktes mit den Familien des „Weges“.

Ich hatte eben den Fall eines jungen Priesters, der aus dem Seminar „Redemptoris Mater“ kam. Er hatte mit einer Frau gesündigt. Wir Bischöfe kennen alle eine solche Situation: Ein Priester geht weg, weil er ein Verhältnis angefangen hat. Er verlässt das Priesteramt. Doch diesen Priester haben die Familien in Wahrheit und Güte aufgenommen und so seine Berufung gerettet. Vor Ostern kam er voller Freude zu mir und sagte: „Ja, ich habe gesündigt, aber ich hatte den Mut, diese Beziehung zu verlassen und zurückzukehren.“ Es sind die Familien, die diese Berufung und diesen Priester gerettet haben!

Ohne Familien hat die Kirche keine Zukunft

Ich bin überzeugt, dass der Herr der Kirche dieses Charisma geschenkt hat. Es ist nicht das einzige, es gibt viele Charismen. Aber es ist ein Charisma, das uns zeigt, dass es in der Kirche ohne Familien, ohne das „Ja“ zum Leben keine Zukunft gibt. Deshalb möchte ich den Familien des Neokatechumenalen Weges für ihr Zeugnis danken, besonders für ihren Mut und ihre Bereitschaft, sich überall hin senden zu lassen. So ging beispielsweise eine Familie aus Wien mit neun Kindern in die Mission nach Istanbul, in die Türkei! Diese Familien zeigen uns, was Auferstehung ist.

Dank für die kirchliche Anerkennung

An diesem Ort möchte ich Papst Paul VI., Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. dafür danken, dass sie nach der Weisung des hl. Apostels Paulus (1 Kor 14) die Unterscheidung der Charismen vorgenommen und festgestellt haben: „Das ist von Gott.“ Ein solches Wort bedeutet nicht automatisch, dass die Begründer oder Träger eines Charismas heilig sind. Es ist eine Einladung auch an sie, sich zu heiligen. Und vielleicht werden sie tatsächlich heilig. Aber, wie der hl. Thomas von Aquin erklärt, sind die Charismen Gnaden, gratis gegeben für die Kirche und zum Aufbau der Kirche. Sie sind also vor allem ein Geschenk an die Kirche, und im Neokatechumenalen Weg sehe ich ein solches Geschenk.

Spannungen sind Teil der notwendigen Umkehr

Dieser Weg wird nicht immer gut angenommen. In all unseren Diözesen, in denen es den Neokatechumenalen Weg gibt, kennen wir Spannungen. Oft sagt man, der Weg spalte die Pfarreien. Auch ich bin nicht immer sehr mutig, um die Schwachen, die Verfolgten zu stützen. Aber ich kann dazu einen Gedanken äußern: In einem lebenden Körper gibt es immer Spannungen, nur in einem toten gibt es keine mehr. Und diese Spannungen sind auch ein Teil der notwendigen Umkehr. Das entschuldigt nicht die menschlichen Fehler, die immer wieder vorkommen. Aber wenn das Evangelium der Umkehr verkündet wird, werden Spannungen geschaffen, die unvermeidbar sind. Wir Bischöfe müssen uns fragen, ob diese Spannungen nicht auch heilsam sein können, weil sie uns wachrütteln, weil sie uns erlauben, uns zu fragen: Was will Gott von uns?

An diesem heiligen Ort möchte ich bitten, dass der Herr auch durch verschlossene Türen eintrete und uns Mut verleihe. Uns hat in den letzten 40 Jahren der Mut zum „Ja zum Leben“ gefehlt. Möge uns der Herr den Mangel an Mut verzeihen und uns mit Kraft erfüllen, wie er sie den Aposteln gegeben hat, als er sie von diesem Ort ausgesandt hat.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Der Papst „verführt“ die französische Nation

Wieder ist es Papst Benedikt XVI. gelungen, eine heikle Mission mit grandiosem Erfolg zu Ende zu führen. Selbst der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, der Pariser Kardinal Andre Vingt-Trois, sah dem Papstbesuch in seinem Land mit großen Bedenken entgegen. Doch Benedikt XVI. absolvierte seine 10. Auslandsreise mit solcher Bravour, dass er selbst seine größten Kritiker in ehrfürchtiges Staunen versetzte. Noch am Tag seiner Ankunft empfing die linksgerichtete Tageszeitung „Liberation“ den Papst mit dem Gruß auf der Titelseite: „Mission impossible“ – „Mission unmöglich“. Doch sie hatte sich getäuscht. Schon nach wenigen Stunden mussten die Medien eingestehen: Dem Papst ist es geglückt, unser säkularisiertes Land mit seinem Charme und seinen unübertrefflichen Worten zu „verführen“.

Von Thomas Maria Rimmel

Ermutigung der Gläubigen

Papst Benedikt XVI. hielt bereits bei seiner Verabschiedung in Lourdes einen Rückblick auf seine Reise nach Frankreich und nahm selbst eine erste Auswertung vor. Die zwei Stationen Paris und Lourdes verglich er in poetischer Art – wie er sie übrigens bei dieser Reise ständig an den Tag gelegt hatte – mit den zwei Tafeln eines Diptychons. „Die erste Tafel stellt Paris dar“, so der Papst. Und er kam zunächst auf die Heilige Messe zu sprechen, die er am Samstag, den 13. September mit etwa 260.000 Gläubigen auf dem Platz vor dem Invalidendom feierte. „Dort habe ich ein Volk lebendiger Christen getroffen – stolz und stark in ihrem Glauben –, die ich anspornen wollte, weiterhin entschieden nach der Lehre Christi und seiner Kirche zu leben“, so der Papst. Die Gläubigen aufzumuntern, war sein erstes Ziel. Er nahm die vielfältigen Probleme der katholischen Kirche in Frankreich ernst, fand aber vor allem lobende und zukunftsweisende Worte.

Den Glauben an die Gegenwart des Herrn in der Eucharistie machte er zu seinem Herzensanliegen. In seiner Predigt auf der Esplanade des Invalides rief er den Menschen zu: „Umgeben wir das Sakrament des Leibes und des Blutes des Herrn, das Allerheiligste Sakrament der wirklichen Gegenwart des Herrn für seine Kirche und für die gesamte Menschheit, mit größter Verehrung. Vernachlässigen wir nichts, um ihm unsere Ehrfurcht und unsere Liebe zu zeigen! Schenken wir ihm die größten Ehrerbietungen.“

Nichts wird je den Priester ersetzen

Unermüdlich warb der Papst für den Priester- und Ordensberuf, besonders bei den Begegnungen mit jungen Menschen. „Gestattet mir hier“, so bat Benedikt XVI. in Paris, „einen Aufruf zu machen voller Vertrauen auf den Glauben und die Großzügigkeit der Jugendlichen, die sich die Frage über die Ordens- oder Priesterberufung stellen: Habt keine Furcht! Habt keine Furcht, Euer Leben Christus zu schenken!“ Und um seinen Appell zu verstärken, fügte er hinzu: „Nichts wird je den Dienst der Priester im Leben der Kirche ersetzen. Nichts wird je eine Messe für das Heil der Welt ersetzen! Liebe junge und weniger junge Leute, die Ihr mich hört, lasst den Anruf Christi nicht unbeantwortet.“ Gleichzeitig rief er zur Intensivierung des missionarischen Geistes und zu neuen Anstrengungen in der Evangelisierung auf. „Die Kraft der Liebe ist stärker als das Böse, das uns bedroht“, so lautete seine Botschaft. Ebenso nützte er das Treffen mit Priestern, Ordensleuten und Seminaristen, wie es im Rahmen seiner Reisen bereits zur festen Tradition geworden ist, zur Ermutigung: „Ich wollte sie in ihrer Berufung zum Dienst für Gott und an den Nächsten bestärken.“ Die Bischöfe forderte er auf, Katholiken, die den außerordentlichen Ritus bevorzugen, herzlich in der Kirche aufzunehmen. Zum Thema Ehe und Familie erinnerte er sie an die Grundlagen der katholischen Lehre, nach denen eine Segnung „illegitimer Verbindungen“ nicht zugelassen werden darf.

Aktive Rolle der Kirche in der Gesellschaft

Beim Treffen mit Intellektuellen und Wissenschaftlern schloss der Papst seine Rede mit den Worten: „Quaerere Deum – Gott suchen und sich von ihm finden lassen, das ist heute nicht weniger notwendig denn in vergangenen Zeiten. Eine bloß positivistische Kultur, die die Frage nach Gott als unwissenschaftlich ins Subjektive abdrängen würde, wäre die Kapitulation der Vernunft, der Verzicht auf ihre höchsten Möglichkeiten und damit ein Absturz der Humanität, dessen Folgen nur schwerwiegend sein könnten. Das, was die Kultur Europas gegründet hat, die Suche nach Gott und die Bereitschaft, ihm zuzuhören, bleibt auch heute Grundlage wahrer Kultur.“ Deutlicher hätte Benedikt XVI. den Säkularismus, der Glaube und Religion völlig in die Privatsphäre abschieben möchte, nicht verurteilen können. Und doch kam es bislang nicht zum großen Aufschrei, wie er eigentlich gerade in Frankreich zu erwarten gewesen wäre. Gleich bei seiner Begrüßungsrede griff der Papst das Anliegen des Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy auf, der angeregt hatte, über die strikte Trennung von Staat und Kirche neu nachzudenken. Gleichzeitig forderte er im Zeitalter der „positiven Laizität“ das Recht der Kirche ein, sich aktiv in den gesellschaftlichen Diskurs einmischen zu dürfen. Für ihn ist es grundlegend, „einerseits auf die Unterscheidung zwischen politischem und religiösem Bereich zu bestehen, um sowohl die Religionsfreiheit der Bürger als auch die Verantwortung des Staates, die er ihnen gegenüber hat, zu gewährleisten, und sich andererseits deutlicher der unersetzlichen Funktion der Religion für die Gewissensbildung bewusst zu werden und des Beitrags, den die Religion gemeinsam mit anderen zur Bildung eines ethischen Grundkonsenses innerhalb der Gesellschaft erbringen kann“.

Das reiche kulturelle Erbe Frankreichs

Einfühlsame Worte fand der Papst für die „geliebte“ französische Nation. Er hob ihr reiches kulturelles Erbe hervor und betonte, wie sehr er ihre großen Denker schätze. So eroberte er mit seiner gewählten Ausdrucksweise und seinem gewinnenden Lächeln die Herzen der Menschen. Während er in Paris durchaus selbstbewusst und fordernd auftrat, zeigte er in Lourdes vor allem seine tiefe Spiritualität und auch seine Emotionen. Wie er sich in die Schar der Pilger einreihte, war ergreifend. Das Wunder von Lourdes, so der Papst, bestehe vor allem in einer inneren Veränderung der Menschen. Die Pilger erlangten einen neuen Blick auf Gott, die anderen und sich selbst. Auf der Heimfahrt seien sie oft „von einer kleinen Flamme namens Hoffnung, Mitgefühl, Zärtlichkeit beseelt“. Seine Meditationen über die Gottesmutter, die Eucharistie oder den Sinn des Leidens klangen wie Poesie. Ein berührender Höhepunkt war seine ausführliche Betrachtung über das Lächeln Mariens. „Die Tränen, die sie am Fuß des Kreuzes vergossen hat, haben sich zu einem Lächeln gewandelt, das durch nichts mehr ausgelöscht werden kann, und dennoch bleibt ihr mütterliches Mitleid uns gegenüber unverändert bestehen. Das hilfreiche Eingreifen der Jungfrau Maria im Laufe der Geschichte bestätigt das und hört nicht auf, im Volk Gottes ein unerschütterliches Vertrauen zu ihr zu wecken.“ Und an die Kranken gerichtet, fand er die tröstenden Worte: „Dieses Lächeln, ein wahrer Widerschein der Zärtlichkeit Gottes, ist die Quelle einer unbesiegbaren Hoffnung.“ Und seinen Rückblick auf der Generalaudienz am 17. September beschloss Benedikt XVI. mit dem Hinweis auf „unsere Pilgerreise hin zur endgültigen Heimat“, „die der Himmel ist. In Wirklichkeit sind wir alle Pilger. Wir brauchen die Mutter, die uns führt, und in Lourdes lädt uns ihr Lächeln dazu ein, mit großem Vertrauen weiterzugehen, im Bewusstsein, dass Gott gut ist, dass Gott die Liebe ist.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Joseph, sag ein herzhaftes „Ja“!

Bei seiner Predigt anlässlich der Überreichung der Goldenen Rose in Altötting am 15. August dieses Jahres brachte Joachim Kardinal Meisner durch persönliche Erinnerungen seine tiefe Verbundenheit mit Papst Benedikt XVI. zum Ausdruck. Als Päpstlicher Legat hob er im Rahmen eines feierlichen Pontifikalamts die missionarische Bedeutung Altöttings hervor, das „zu den großen europäischen Wallfahrtsorten“ gehöre. Nachfolgend der erste Teil sowie der Abschluss seiner begeistert aufgenommenen Predigt.

Von Joachim Kardinal Meisner, Köln

Als Gesandter des Heiligen Vaters darf ich heute Unserer Lieben Frau von Altötting die Goldene Rose aus dem Vatikan nach Altötting bringen. Es ist die persönliche Gabe des Heiligen Vaters an die Muttergottes von Altötting, die von seiner frühesten Lebenszeit an neben seiner leiblichen Mutter zu seiner geistlichen Mutter geworden ist.

Nimm die Marienikone mit ins Konklave!

Noch kurz vor dem Konklave besuchte ich Kardinal Ratzinger in seiner Wohnung in Rom und brachte ihm eine kleine Marienikone, die man bequem in die Tasche stecken konnte. Ich erinnerte ihn daran, dass er in seiner Lebensbeschreibung seine Mutter als eine „Alleskönnerin“ beschreibt. So etwas kann man auch von Maria sagen: sie ist mit der Gnade Gottes eine „Alleskönnerin“. Ich sagte ihm, dem Kardinal, er solle sich diese kleine Ikone in die Soutanentasche stecken. Wenn dann im Konklave eine Mehrheit für ihn deutlich werden sollte, dann möge er uns nicht weglaufen, sondern er möge dann mit der Hand in die Tasche seiner Soutane greifen, um die Marienikone anzufassen, und sich vergewissern: Joseph, du bist nicht allein, ganz im Gegenteil! Von diesen beiden Müttern umgeben und gehalten von ihren beiden guten Händen sollte er dann – wenn es Gott fügt – ein herzhaftes „Ja“ sagen zu dem, was im Konklave geschehen wird. Gott hat es so gefügt, und Kardinal Ratzinger hat „Ja“ gesagt, und es wurde uns Papst Benedikt XVI. geschenkt.

Bischofsring, goldener Rosenkranz und Goldene Rose

Die Päpste haben im Laufe der Geschichte wichtige Mariengnadenorte der Welt durch die Verleihung der Goldenen Rose geehrt. Nun bringe ich von Papst Benedikt XVI. die Goldene Rose zu Unserer Lieben Frau in sein geliebtes Altötting. Hier ist Maria den Bayern eine Bayerin und den Deutschen eine Deutsche. Sie gehört zu uns und wir zu ihr. Und indem der Heilige Vater ihr die Rose schenkt, sind wir alle mit beschenkt und ausgezeichnet. Nachdem der Papst bei seinem Besuch in Altötting vor beinahe zwei Jahren der Muttergottes seinen Bischofsring geschenkt hat und einen goldenen Rosenkranz, kommt nun als drittes die Goldene Rose von ihm dazu. Das erinnert an das Magnifikat, in dem Maria sagt: „Der Herr hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig“ (Lk 1,49). Er hat in Papst Benedikt XVI. auch Großes an euch Bayern und an unserem Vaterland getan. Erweisen wir uns dessen würdig!

Wir verteidigen den Papst!

Bei der Abschlussaudienz des neu gewählten Papstes Johannes Paul II. für seine polnischen Landsleute 1978 sagte der polnische Primas Kardinal Wyszynski: „Heiliger Vater, wenn wir nun in die Heimat zurückkehren, werden wir – und das versprechen wir hier feierlich – niederknien und für Sie Löcher in die Steine beten.“ Das sollten wir für Papst Benedikt XVI. auch tun!

Als der Abt von Heiligenkreuz in Österreich nach dem Papstbesuch vor einem Jahr gefragt wurde, worin der Grund liege, dass sein Kloster so viele geistliche Berufungen und die klösterliche Fakultät so viele Priesteramtskandidaten zur Ausbildung habe, antwortete er schlicht: „Wir tun eigentlich nichts Besonderes. Aber drei Dinge tun wir ganz selbstverständlich: Wir schämen uns unserer Berufung nicht. Darum tragen wir das Ordensgewand immer und überall, wo wir auch sind. Wir verehren die Muttergottes im Rosenkranzgebet, und wir verteidigen den Papst.“ Das wäre eine gute Antwort der bayerischen Christen auf die Verleihung der Goldenen Rose: Wir bemühen uns um einen „un-verschämten“ Glauben, wir beten täglich den Rosenkranz, und wir verteidigen den Papst – wo immer er angegriffen wird.

Botschaft der DDR wird päpstliche Nuntiatur

Maria definiert sich als Magd des Herrn und nicht als Dame von Nazareth. Der Engel jedoch kennzeichnet ihr Wesen aus der Perspektive Gottes ganz anders, indem er sagt: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“ (Lk 1,28). Die Kirche feiert heute Maria als die von Christus glorreich in den Himmel Aufgenommene. Wer sich wie Maria Gott überlässt, der wird auch von Gott ganz übernommen. Wer sich wie Maria als Magd oder Knecht Gottes versteht, wird von Gott erhöht, wie er Maria groß gemacht und zu sich in den Himmel aufgenommen hat. Wo der Mensch Gott in seinem Leben Gott sein lässt, dort wird der Mensch groß. Wo aber der Mensch sich selbst zum Gott macht, dort verliert er Wert und Würde. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron“ (Lk 1,52), singt Maria im Magnifikat. Haben wir das nicht alle in den letzen zwanzig Jahren in Mittel- und Osteuropa erlebt, wo man eine Zivilisation ohne Gott aufbauen wollte und der Mensch dabei verloren ging?

Ich werde nicht vergessen: Als ich mit Papst Johannes Paul II. 1991 nach Tirana, der Hauptstadt Albaniens, reiste, wurden wir in der dortigen Nuntiatur aufgenommen. Über der Tür entdeckte ich das Wappen der DDR. Auf meine erstaunte Frage bekam ich die Antwort: „Bis vor einem Jahr war dieses Haus noch die Botschaft der DDR.“ Jetzt aber ist es die päpstliche Botschaft. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron“ – so deutlich wie hier habe ich das nirgendwo erlebt. Damals hatte der Mensch weithin seine Krone als Kind Gottes und seine Würde als Bruder und Schwester Jesu Christi verloren und galt nur noch als Funktionär einer Ideologie, die den Menschen verachtete, weil sie Gott nicht kannte. Darum kennt Maria so genau die Menschen, weil sie so intensiv und umfassend Gott kennt. Deswegen kommen seit Jahrhunderten die Menschen nach Altötting mühselig und beladen mit ihren Sorgen und Bitten zu Maria. Hier wissen sie sich verstanden, hier wissen sie sich angenommen, hier wissen sie sich geliebt.

Altötting und die Zukunft Europas

Altötting gehört zu den großen europäischen Wallfahrtsorten. Europa lebt bis heute noch von Jesus Christus, den uns Maria gebracht hat. Nehmen wir aus Europa all das weg, was noch an Christus erinnert, die Kathedralen und Basiliken, die Kirchen und Klöster, die Wallfahrtsorte und Gnadenstätten, nehmen wir aus unseren Kirchen und Museen all die Bilder und all die Statuen heraus, die auf Christus und Maria hinweisen, nehmen wir die christlichen Krankenhäuser, Altenheime und Kinderheime weg, was bleibt dann von Europa noch übrig? Die schönsten Menschenbilder Europas sind Marienbilder. Europa ist dabei, sich von seinen Wurzeln abzuschneiden. Was bleibt dann noch übrig? Es vertrocknet, es verdorrt. Ist das nicht ein Bild für unsere Gesellschaften in Europa? Hölderlin sagt: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ Der Mensch als Ebenbild Gottes braucht Gott, damit er nicht missbraucht und manipuliert wird. Menschlichkeit ohne Göttlichkeit verkommt im Chaos. Das heutige Fest der Aufnahme der allerseligen Jungfrau Maria in den Himmel ist das Programm Gottes für ein schon auf Erden gesegnetes Leben des Menschen. Maria in ihrer Vollendung ist die Einladung Gottes an uns. – Wohlan, nehmen wir sie an!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Päpstliches Dekret zur Verleihung der „Goldenen Rose“ in Altötting

Von Benedikt XVI. Papst

Es ist Uns bekannt, dass das Heiligtum Altötting vielerorts in hoher Achtung steht, besonders aber bei den Gläubigen in Bayern. Altötting gilt als das Herz Bayerns. Denn dort finden sich häufig zahlreiche Pilger ein, um die himmlische Mutter zu verehren und um göttliche Gnaden für Leib und Seele zu erflehen. Dort wird ein uraltes Gnadenbild der Gottesmutter aufbewahrt, das die Gläubigen an sich zieht und ihre Frömmigkeit entflammt.

An jenem Ort nämlich können die Menschen, die dorthin kommen, geistliche Gnadenerweise erlangen, und dies unter der segensreichen Mithilfe der Kapuzinerbrüder, zu denen der hl. Bruder Konrad von Parzham zählt, jenes wunderbare Vorbild aus der franziskanischen Familie, der auch Uns am Herzen liegt.

Oftmals überkommt Unser Herz die Erinnerung an Unsere erste Pilgerfahrt, als Wir zusammen mit dem überaus geliebten Vater diesen heiligen Ort freudig aufsuchten und Zeichen der Frömmigkeit erlebten. Seitdem haben Wir dort oft, jüngst auch in Begleitung des Bruders, Unsere Gebete der himmlischen Mutter dargebracht, die durch ihre mütterliche Fürsorge nicht nur Unsere Schritte, sondern die der Christenheit lenkt, da sie im oft dunklen und stürmischen Meer der Geschichte wie ein Stern den Weg weist (vgl. Spe salvi, 49).

Damit nun dieses Heiligtum in besonders angemessener Weise herausgehoben werde, wünschen Wir nichts zu unterlassen, was diesen Ort schmückt und ehrt. Deshalb übergeben und schenken Wir mit großer innerer Anteilnahme kraft dieser Urkunde die aus Gold gefertigte Rose. Sie soll dort von nun an aufbewahrt werden als Zeichen und sichtbares Zeugnis Unserer besonderen Wertschätzung, mit der Wir das Ansehen dieses Heiligtums mehren wollen.

Diese Rose wird am kommenden Hochfest der Aufnahme der Seligen Jungfrau Maria in den Himmel Unser ehrwürdiger Bruder, der Erzbischof von Köln, Joachim Kardinal Meisner, übergeben, um damit seine und Unsere fromme Verehrung gegenüber der Jungfrau Maria zu bekunden. Unser ehrwürdiger Bruder Wilhelm Schraml, Bischof von Passau, wird die Goldene Rose dankbar und freudig in Empfang nehmen.

Was Wir aber in der feierlichen Zeremonie der Segnung der Rose von Gott, dem Vater des Erbarmens, erfleht haben, das erbitten Wir nun wieder von ihm, damit er es allen Menschen guten Willens reichlich zuteil werden lasse.

Aus dem Vatikan, unter dem Fischerring, am 1. Juli 2008, im vierten Jahre Unseres Pontifikates

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2008
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400-jähriges Jubiläum von Siluva

Im September feierte Litauen das 400-jährige Jubiläum der Marienerscheinungen von Siluva (Schiluwa). Hunderttausende von Gläubigen nahmen an den Festlichkeiten teil. Voraus gingen am 6. und 7. September ein Eucharistischer Kongress und ein nationaler Jugendtag. Darauf folgten eine Woche lang Wallfahrten verschiedener Berufsgruppen und religiöser Gemeinschaften. Am 12. September fand ein Krankentag und am 13. September ein großer Familientag statt. Höhepunkt war schließlich das Pontifikalamt am 14. September, zu dem Papst Benedikt XVI. den Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner als seinen persönlichen Legaten entsandte. Sowohl im Dekret des Papstes als auch in der Predigt des Kardinals wurde die Bedeutung unterstrichen, welche die Weltkirche den Ereignissen von Siluva beimisst. Gleichzeitig brachte die katholische Kirche mit diesem Akt der Aufmerksamkeit dem litauischen Volk von höchster Stelle ihre Wertschätzung und ihre hohe Erwartung an sein Glaubenszeugnis im vereinten Europa zum Ausdruck. Nachfolgend einige Abschnitte aus der Predigt des Kardinals (vgl. zur Geschichte und Bedeutung der Ereignisse in Siluva den ausführlichen Artikel von Erich Maria Fink in Kirche heute 11/2007).

Von Joachim Kardinal Meisner, Köln

Die helfende Mutter im Hintergrund

In den glanzvollsten Augenblicken des Lebens Jesu, etwa bei der wunderbaren Brotvermehrung in der Wüste oder beim Wandeln über den See oder bei der Auferweckung des Jünglings von Nain oder bei seiner Verklärung auf dem Berge Tabor oder beim Triumph vor den Toren Jerusalems am Palmsonntag bleibt Maria im Hintergrund. Sie ist nicht anwesend. Aber in den Stunden der Gefahr und des Leidens Jesu steht Maria im Vordergrund, so bei der Herbergssuche in Bethlehem oder auf der Flucht nach Ägypten oder auf seinem tragischen Leidensweg in Jerusalem und schließlich am Kreuz von Golgotha, wo ihr Herz brach. Sie hat nicht für sich selbst gelebt, sondern nur für den Herrn und damit für die Erlösung der Menschheit. Auch für ihre Erscheinungen auf Erden hat sie nicht dicht bewohnte Städte und berühmte Kathedralen oder Basiliken gewählt, sondern einsame Plätze, die nicht viele Besucher kennen. Auch hat sie sich nicht wichtigen Persönlichkeiten oder gelehrten Theologen gezeigt, sondern einfachen Leuten und Kindern, also denen, die niemand besuchen will. Sie möchte auch, dass besonders diese Menschen zu ihr kommen. Ihr fehlt eigentlich alles, was die Welt als „Glück“ bezeichnet.

In der Bedrohung des litauischen Volkes

Genauso ist es hier vor 400 Jahren in Siluva gewesen. Nach den tragischen Ereignissen von 1532, als das Muttergottesbild wegen der calvinistischen Bedrohung hier vergraben werden musste, erschien 76 Jahre später, im Jahre 1608, in einer völlig unkatholischen Umgebung die Muttergottes Hirtenkindern, die ihre Schafe außerhalb von Siluva weideten. Das geschah an jener Stelle, wo der letzte katholische Pfarrer vor 76 Jahren das Bild der Gottesmutter verborgen hatte. Maria wurde vor den Kindern sichtbar und weinte in Sorge um ihre Kinder, und die Bevölkerung antwortete mit ihrer Bekehrung zur katholischen Kirche. Auf die Vision eines 100-jährigen Blinden hin wurde dann die vom letzten katholischen Pfarrer Holubka 1532 verborgene Eisentruhe mit dem Bild der Gottesmutter gefunden. Bald erfolgten auch die ersten Wunderheilungen an diesem Bild. Seitdem gehört Maria von Siluva zu den großen Patronen Ihres litauischen Volkes, die mit ihm durch Licht und Dunkel, durch hoch und tief gegangen ist. Sie blieb bei den Menschen Tag und Nacht, und darum ist Siluva zu einem Ort des Trostes, der Ermutigung und der Orientierung für Ihr Volk geworden.

Gegen eine europäische Gottentfremdung

Seit 400 Jahren hat Gott dem litauischen Volk Maria in Siluva als Wegbegleiterin und Hilfe bei der Befreiung von all den dunklen Mächten und Gewalten, die den Menschen von Gott abkoppeln, gegeben. Sie ist der Übergang von der Gottentfremdung in die Gottfähigkeit und damit in die Weltfähigkeit. Denn nur wer Gott kennt, der kennt auch den Menschen. Und nur, wer um den Himmel weiß, der versteht auch etwas von der Erde. Siluva 2008 – also 400 Jahre nach den Erscheinungen – heißt, heute noch eine Gebets- und Bußrevolution gegen eine europäische Entgottung der Welt und eine Gottentfremdung der Menschen zu entfachen. „Wo die Not am größten ist, dort ist Gottes Hilfe am nächsten“, das ist eine uralte Erfahrung des Gottesvolkes in der Vergangenheit. Maria ist die Person gewordene Hilfe Gottes der Christen. Sie ist die Bundeslade, die in den Stürmen steht und die uns nie untergehen lässt. Sie ist gleichsam das mütterliche Gesicht der Hilfe Gottes. Darum trat Maria immer in den großen Notzeiten der Kirchengeschichte auf den Plan.

„Was Maria in Siluva gesagt hat, das glaubt!“

Vor 400 Jahren kam sie hier vor Ort über die Hirtenkinder von Siluva in die Geschichte eures Volkes, und sie ist nicht mehr von euch weggegangen. Sie ging mit den Verschleppten nach Sibirien und half ihnen dort zu leben und zu sterben. Und sie verblieb bei den trauernden Angehörigen im Mutterland und half ihnen, weiterhin zu vertrauen und zu glauben. Wir brauchen Maria in Gegenwart und Zukunft in unseren Häusern und Gruppen, in unseren Gemeinden und Gemeinschaften. Denn sie bringt den Herrn selbst mit ins Haus. Wo man sie vor der Tür lässt, verwehrt man auch dem Herrn den Eingang in unserer Mitte. Wie ihre Kirchen und Kathedralen inmitten unserer Städte und Dörfer stehen und ihre Bilder in den Kirchen, Häusern und Museen hängen, brauchen wir Maria in der Kultur Litauens, wenn Litauen Litauen bleiben soll. Sonst würde alles christuslos, glaubenslos und hoffnungslos. Wir brauchen um unseretwillen Maria in unserer Mitte. Ihr Blick auf Johannes unter dem Kreuz ist auf uns alle gerichtet. Denn in Johannes sind wir alle, ist die Kirche Maria anvertraut. Sie kann uns unzweifelhaft Wegweisung in den Wirrnissen der Zeit geben. Wie sie damals den Tischdienern bei der Hochzeit zu Kana sagte: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5), so kann die Kirche heute sagen: „Was Maria uns jetzt sagt und hier vor 400 Jahren unserem Volk in Siluva gesagt hat, das glaubt!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2008
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Geschichte des Marienwallfahrtsortes Siluva in Litauen

1457 ließ der Diplomat Petras Gedgaudas in Siluva eine Kirche bauen. Von einer seiner Reisen nach Rom brachte er der Kirche ein Bild der Gottesmutter mit, die das Jesuskind auf dem Arm trägt. Dort wurde fortan die Gottesmutter verehrt.

Aus: Pressestelle des Erzbistums Köln

Als Siluva 1532 auf Druck des örtlichen Adligen Zabiela calvinistisch werden musste, verbarg der Gemeindepfarrer Jonas Holubka das Muttergottesbild, liturgische Geräte und wichtige Dokumente in einer eisernen Truhe, die er unter einem nahe gelegenen Felsen verbarg. 80 Jahre später war auch der letzte Katholik in Siluva verstorben.

Aber dann ereignete sich in der nun völlig calvinistischen Umgebung ein Wunder. An einem Sommertag des Jahres 1608 erschien die Gottesmutter Hirtenkindern, die ihre Schafe außerhalb von Siluva bei einem Felsen hüteten, wo Pfarrer Holubka vor 86 Jahren das Bild der Gottesmutter verborgen hatte, um es vor den calvinistischen Bilderstürmern zu bewahren. Der calvinistische Katechet Mikalojus Fiera und der calvinistische Lehrer Saliamonas Grocijus verboten den Kindern, über die Erscheinung zu reden. Sie aber berichteten Eltern und Nachbarn von der Erscheinung der weinenden Gottesmutter. Die Einwohner versammelten sich daraufhin bei dem Felsen, wo die Gottesmutter erschienen war. Als der Pastor erschien, um die „katholischen Machenschaften“ zu unterbinden, wurde er selber Zeuge der Erscheinung der weinenden Gottesmutter, die genau so erschien, wie die Kinder es beschrieben hatten.

Die Einwohner von Siluva und der Umgebung bekehrten sich daraufhin wieder zur katholischen Kirche. Diese Bekehrung war so gewaltig, dass 10 Jahre später, am Fest Mariä Geburt, mehr als 11.000 Menschen die heilige Kommunion am Ort der Erscheinung empfingen. Auf die Vision eines 100-jährigen Blinden hin wurde unter dem Felsen die von Pfarrer Holubka 1532 verborgene Eisentruhe mit dem Bild der Muttergottes, den liturgischen Geräten und den Urkunden gefunden. Bald folgten die ersten Wunderheilungen.

Es erfolgte dann der Bau einer Kirche für das Gnadenbild, die mehrfach umgebaut und erweitert wurde. Am 17. August 1775 wurde die Marienerscheinung von Siluva durch ein Dekret von Papst Pius VI. als authentisch anerkannt. 1903 wurde der damals berühmteste litauische Architekt Antanas Vivulskis mit dem Bau einer neuen Kapelle beauftragt. Sie wurde am 8. September 1924 eingeweiht und wird heute jährlich von mehr als 100 000 Pilgern besucht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2008
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Sydney – ein brennender Dornbusch

Im Rahmen einer Fahrt der JUGEND 2000 hat Pfr. Erich Maria Fink am XXIII. Weltjugendtag in Australien teilgenommen. Was er in Sydney erleben durfte, vergleicht er mit dem brennenden Dornbusch. Er zeigt auf, wie die Gotteserscheinung am Fuß des Berges Sinai die heilsgeschichtliche Bedeutung des Jugendtreffens in Australien erschließen kann. Mit seiner Deutung verbindet er einen Impuls für die Teilnehmer, ihren Sendungsauftrag nach dem Weltjugendtag in ihren Heimatländern zu verwirklichen.

Von Erich Maria Fink

Wie bei anderen Auslandsreisen des Papstes gingen auch in Australien dem Besuch kritische Medienberichte voraus. Mit jedem Hinweis auf den kommenden Weltjugendtag wurden Ausführungen über irgendwelche Missbrauchsfälle durch katholische Geistliche oder andere Negativschlagzeilen verknüpft. Doch wie bereits in den USA oder nun in Frankreich schaffte es Benedikt XVI. auch in Australien, die anfangs vorhandene Skepsis in kurzer Zeit zu zerschlagen. Eine regelrechte Euphorie für dieses Fest des Glaubens und des Friedens machte sich breit. Über zehn Seiten hinweg und manchmal sogar mehr berichteten die Tageszeitungen eine Woche lang begeistert über die Invasion der jungen Menschen aus aller Welt. Genau so etwas habe Sydney gebraucht, die Jugendlichen hätten dem Kontinent eine Freude und ein Gefühl von Gemeinschaft vermittelt, wie es auch einer Olympiade nicht gelungen sei. Gleichzeitig kam das entscheidende Zeugnis des Weltjugendtags auch in der Öffentlichkeit an: Die jungen Menschen haben ihre innere Freiheit, ihre Liebe und ihr Engagement für Gerechtigkeit von Jesus Christus empfangen, der allein die Welt in der Kraft des Heiligen Geistes zum Guten verwandeln kann.

Hauch eines neuen Pfingsten

Die Vorbereitung des Jugendtreffens mit dem Papst lag offensichtlich in guten Händen. Wohl nie zuvor gab es einen Weltjugendtag, der in all seinen Beiträgen, Zeugnissen und Programmelementen so durchdacht und aus einem Guss gestaltet war wie in Sydney. Inhaltliche und organisatorische Ausfälle waren eigentlich nicht zu beobachten. Und vom Auftakt in der Hafenanlage Barangaroo bei Darling Harbour bis zum abschließenden Höhepunkt auf dem Gelände der Randwick Rennbahn atmete der Weltjugendtag den Geist Johannes Pauls II., der diesen Pilgerweg der jungen Kirche rund um den Globus vor 23 Jahren begonnen und mit seiner prophetischen Spiritualität über zwei Jahrzehnte hinweg geformt hatte. Bereits beim Rückblick auf die vergangenen Weltjugendtage wurden im Vorprogramm zur Eröffnungsmesse die Akzente gesetzt. Sympathische junge Gläubige legten mitreißende Zeugnisse ab, prägnant und für alle unmittelbar verständlich, wie ein Priester aus Italien, der auf einem Weltjugendtag seine Berufung entdeckte, ähnlich eine Schönstattschwester, die zum Liebesbündnis mit der Gottesmutter fand, oder ein Mädchen, das im Rahmen des Weltjugendtags in Köln bei einer eucharistischen Anbetung im Anschluss an die hl. Messe in einem Klassenzimmer zum ersten Mal die tiefe Gewissheit von der Gegenwart des Herrn im heiligsten Sakrament erlangte. Ob Fragen über das Ehesakrament und das Ideal der vorehelichen Reinheit oder die Botschaft der hl. Sr. Faustine über die Göttliche Barmherzigkeit, all das wurde mit einer solchen Klarheit und Selbstverständlichkeit bei den großen Veranstaltungen vor Hunderttausenden von Teilnehmern vorgestellt, dass ein ganz neues Bild von Kirche sichtbar wurde, allein schon in dieser mutigen Art von Bekenntnis der Hauch eines neuen Pfingsten.

Der Sohn Gottes zwischen Himmel und Erde

In der Tiefe meines Herzens wurde ich während des Kreuzwegs am Freitag berührt. Gestaltet wurde er von einer Gruppe von Darstellern auf eine sehr realistische Weise. Ort des Geschehens war die Innenstadt von Sydney, die zu einer großen Bühne wurde, auf der nicht nur Hunderttausende von Jugendlichen über Großbildschirme, sondern auch Millionen von Menschen über das Fernsehen das Erlösungswerk Christi mitverfolgen konnten. Aus mehreren Hubschraubern fingen die Kameras das Szenarium vor einer grandiosen Kulisse ein, die Skyline von Sydney, die Harbour-Bridge mit dem Spiel der untergehenden Sonne im Wasser des Ozeans. Der Weg begann mit einer kurzen Szene des letzten Abendmahls bei der prächtigen Marien-Kathedrale. Der Papst selbst beschloss diese Station, indem er die Gebete vorsprach. Mit Bedacht wurde die Kunstgalerie für die Todesangst Jesu im Garten Getsemane und die berühmte Oper von Sydney für die Auslieferung Jesu durch Pilatus gewählt. Ebenso treffend wurde die Rolle des Simon von Cyrene von einem australischen Ureinwohner übernommen, den der Weg auf einem Boot über das Wasser zu den auf Barangaroo versammelten Jugendlichen führte. Nun trug Jesus sein Kreuz vor den Augen der Teilnehmer mitten durch die Menge hinauf nach Golgotha, das sich auf dem äußersten Ende der Anlage auf einem Landvorsprung befand, der ein wenig ins Meer hinausragt. Bis zu diesem Augenblick war der Kreuzweg, der sich über mehrere Stunden hinzog, für die Jugendlichen zum Teil etwas mühsam. So konnte ich beispielsweise beobachten, wie sich in der VIP-Abteilung neben unserem Feld zwei Töchter einer anglikanischen Familie über Make-up sowie andere oberflächliche Dinge unterhielten und der religiösen Feier mit dem Rücken zum Bildschirm demonstrativ wenig Aufmerksamkeit schenkten. Als aber „Jesus“ durch die Menge schritt, streckten sie plötzlich neugierig ihre Köpfe empor. Im Augenblick der Kreuzigung schließlich wurden sie so ergriffen, dass sie als Erste auf die Knie sanken und bis zum Ende in dieser Haltung verharrten, mit ihnen die ganzen Jugendlichen um mich herum. Per Handy teilte mir jemand genau dasselbe Phänomen aus einem anderen Teil der Stadt mit. Auch dort stand ein Großbildschirm, auch dort fielen alle Zuschauer auf die Knie, ohne dass sie jemand dazu aufgefordert hätte.

Mose vor dem brennenden Dornbusch

In diesem Augenblick fühlte ich mich an Mose in der Wüste Sinai erinnert. Mit einem Mal wurde mir klar: Die Jugendlichen hatten Sydney in einen gewaltigen brennenden Dornbusch verwandelt, durch den sich Gott offenbaren konnte. Mose, das sind die unzähligen Zuschauer, die vielleicht nur aus Neugierde den Fernseher eingeschaltet oder sich nach dem Jesusdarsteller umgeschaut hatten. Dann aber spürten sie: Hier geschieht etwas Übernatürliches. Gott selbst zeigt seine Gegenwart in der „Aufführung“ seiner größten Liebestat. Das Feuer, das brennt und den Dornbusch nicht verbrennt, ist nun der vor dem dunklen Nachthimmel und dem fast unsichtbar gewordenen Wasser des Meeres im Scheinwerferlicht hell aufleuchtende, zwischen Himmel und Erde hängende, hingeopferte Leib Jesu Christi am Kreuz, der Gottessohn, der auf den Bildschirmen ganz Australiens sichtbar wird und den Menschen in Erinnerung ruft: Ich bin da für euch! Eine unmittelbare Fortsetzung fand diese Gotteserscheinung bei der Gebetsvigil am Samstagabend. Wieder ist es der Leib Christi, der aufleuchtet, dieses Mal aber real gegenwärtig in der Eucharistie. Die ganze Altaranlage war einzigartig auf den Augenblick der Aussetzung hin konzipiert, sodass die überdimensionalen Strahlen, die Kerzen, ja die ganze Altarinsel sich mit dem Lichtermeer auf dem riesigen Platz verbanden. Und es war zu spüren, dass nun die Jugendlichen selber, die die Kerzen trugen und in schweigender Anbetung gläubig vor dem Allerheiligsten verharrten, Teil des Feuers geworden waren, Zeugen der Gegenwart Gottes unter den Menschen.

Sendungsauftrag an die Jugendlichen

Durch diese geistliche Erfahrung wurde ich in der Überzeugung bestärkt, dass der Sendungsauftrag der Jugendlichen für die Zeit nach dem Weltjugendtag vor allem darin besteht, brennender Dornbusch für die Kirche und für die Welt zu werden, ein Feuer, durch das Gott den Menschen zeigen kann: Ich bin da für euch! Wie dies geschehen kann, hat der Weltjugendtag deutlich gemacht. Es ist ein entscheidender Weg der Neuevangelisierung, dass Jugendliche sich um Jesus in der Eucharistie versammeln und durch ihren Glauben ein sichtbares Feuer der Gemeinschaft mit dem „Emmanuel“ – „Gott mit uns“ entzünden. Genau das geschieht bei den „Prayerfestivals“ der JUGEND 2000 oder beim „Nightfever“ der Gemeinschaft Emmanuel. Und es ist für mich eine Freude, wie sich der Kreis schließt: Die Monstranz mit dem Allerheiligsten wird während der ganzen Zeit eines „Prayerfestivals“ auf eine hölzerne Pyramide in der Mitte des Saals gestellt, die von oben bis unten mit Kerzenlaternen geschmückt ist. Diese Pyramide wird „brennender Dornbusch“ genannt. So kann gerade das Symbol des brennenden Dornbuschs die besondere Betonung der eucharistischen Anbetung mit dem Programm der Weltjugendtage, wie sie Johannes Paul II. den Jugendlichen mit auf den Weg gegeben hat, verbinden. Denn die Weltjugendtage lassen die Metropolen der Welt wahrhaft zu einem brennenden Dornbusch werden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2008
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Komm, wir gehen für unser Volk

Vor zehn Jahren, am 11. Oktober 1998, wurde die Karmelitin und Märtyrin Teresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein) von Papst Johannes Paul II. in Rom heilig gesprochen. Dies nimmt P. Notker Hiegl OSB aus dem Benediktinerkloster Beuron zum Anlass, auf die einzigartige Bedeutung dieser großen Frau für unsere heutige Zeit hinzuweisen. Ihre ehrliche Suche nach der Wahrheit führte sie zum Glauben an Jesus Christus. Im Geheimnis des Kreuzes entdeckte sie den Sinn der stellvertretenden Hingabe ihres Lebens. Johannes Paul II. erkannte darin ein leuchtendes Vorbild für das christliche Abendland und erklärte sie zur Mitpatronin Europas. Gleichzeitig arbeitet Pater Hiegl eine weithin unbekannte Seite ihres Lebens heraus: die entscheidende Formung ihrer Berufung im Kloster Beuron, insbesondere durch die geistliche Freundschaft mit Erzabt Dr. Raphael Walzer OSB, der sie bis in die dramatischen Auseinandersetzungen mit dem Regime der Nationalsozialisten hinein begleitete.

Von Notker Hiegl OSB

Edith Stein wurde am 12. Oktober 1891 als Kind jüdischer Eltern in Breslau geboren. Sie studierte Philosophie und fand nach langem Suchen den verlorenen Gottesglauben wieder. Schließlich wandte sie sich der katholischen Kirche zu und wurde am 1. Januar 1922 getauft. Ihren Lehrberuf und ihre wissenschaftliche Arbeit verstand sie fortan als Gottesdienst. 1933 trat sie in den Kölner Karmel ein. Im Sinne des von ihr gewünschten Ordensnamens Teresia Benedicta vom Kreuz opferte sie ihr Leben für das deutsche und das jüdische Volk. Wegen der Judenverfolgung verließ sie Deutschland und fand am Silvestertag 1938 Aufnahme im Karmel von Echt in den Niederlanden. – Soweit der Einführungstext zu ihrem Gedenktag am 9. August aus dem Schott-Messbuch.

Verhaftung im Karmel

Am Sonntag, den 2. August 1942, melden sich zwei SS-Männer an der Klosterpforte der Karmelitinnen in Echt. Sie wollen Sr. Teresia Benedicta sprechen. Die Priorin empfängt die beiden Herren im Sprechzimmer. Sr. Teresia Benedicta wird gerufen. Der führende SS-Mann sagt knapp: „Innerhalb von fünf Minuten müssen Sie mit uns gehen.“ Die Karmelitin antwortet, das könne sie nicht so ohne weiteres, denn sie lebe hier in strengster Klausur. „Öffnen Sie das Gitter und gehen Sie mit!“ erwidert barsch der SS-ler. Sr. Teresia Benedicta hinter dem schützenden Gitter weiß, wie schwer es aufzubrechen wäre, und sagt etwas spöttisch: „Das müssen Sie mir schon vormachen.“ In grobem Ton befiehlt er nun: „Rufen Sie die Oberin!“ Diese versucht zu verhandeln. Schließlich geben die SS-Männer der Nonne Sr. Teresia Benedicta und ihrer leiblichen Schwester, der Pfortenhelferin Rosa Stein, zehn Minuten Zeit. Als Sr. Teresia Benedicta geholt wird, sagt sie zu den andern Schwestern im Chor nur noch: „Betet für mich!“ Dann wird in aller Hast ein kleines Bündel zusammengepackt. Rosa steht völlig verstört an der Klosterschwelle. Die Schwester packt sie an der Hand: „Komm, wir gehen für unser Volk.“

Martyrium in Auschwitz

Die katholischen Bischöfe der Niederlande hatten es gewagt, von der Kanzel herab gegen die Verfolgung und Verschleppung der Juden zu protestieren. Bisher hatte man auf die getauften Juden Rücksicht genommen. Jetzt aber sollten als Vergeltung auch sie, vornehmlich die katholischen Ordensleute und Geistlichen, festgenommen werden. Die Aktion sollte an diesem einen Tage im ganzen Land durchgeführt werden.

Als Sr. Teresia Benedicta und ihre Schwester einsteigen, sind bereits andere Opfer im SS-Wagen. In Roermond kommen neue hinzu, weiter geht es zum Lager Westerbork. In der Frühe des 7. August heulen die Lagersirenen auf. 987 Juden werden von hier weggebracht. Eine lange Fahrt durch Deutschland. Einige Leute wollen Edith Stein im Zug gesehen haben. In Schifferstadt bei Speyer wird ein mit Bleistift geschriebener Zettel aus dem Zug geworfen. Eine ehemalige Schülerin fängt ihn auf. Der Zug endet in Auschwitz. Von Zeugen werden auf der Selektionsrampe noch Schwestern im Klosterhabit gesehen. Die Nonnen werden für die Gaskammer bestimmt. Es muss gleich nach der Ankunft gewesen sein, möglicherweise am 9. August. Nun erfüllte sich, was Sr. Teresia Benedicta schon 1930, zwölf Jahre vor ihrer Ermordung schrieb: „Wir haben nicht zu urteilen und dürfen auf Gottes unergründliche Barmherzigkeit vertrauen. Nach jeder Begegnung, in der mir die Beeinflussung fühlbar unmöglich ist, verschärft sich mir die Dringlichkeit des eigenen Holocaustum.“

Atheistische Jugendzeit in jüdischer Familie

Am 9. August 1995, 53 Jahre nach Edith Steins Tod, wurde von Erzabt Hieronymus Nitz an der Kirchenvorplatzmauer in Beuron feierlich eine Gedenktafel zu Ehren der Märtyrin enthüllt. Bereits früher war in Beuron ein Weg nach ihr benannt und eine Edith-Stein-Gesellschaft gegründet worden. Was verbindet diese Heilige mit Beuron? Wer war diese Frau? Edith Stein wurde am 12. Oktober 1891 in einer orthodox-jüdischen Familie in Breslau geboren. Sie war noch keine zwei Jahre alt, als ihr Vater starb. Die Verantwortung für ihre Erziehung und die ihrer zehn Geschwister fiel ganz auf ihre Mutter, Auguste Stein. Diese bemühte sich, ihre Kinder im Sinn der religiösen Bräuche des Judentums zu erziehen. Alle jüdischen Feiertage wurden streng befolgt. Und dennoch: Im Rückblick auf ihre Jugend bekennt Edith Stein, dass sie vom dreizehnten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr Atheistin war. Das außerordentlich begabte Mädchen konzentrierte ihre Energie auf ihre intellektuelle Entwicklung; das Unsichtbare, Übersinnliche ignorierte sie vollkommen.

Weichenstellungen beim Studium

Im März 1911 schrieb sich die 20-jährige Edith Stein zunächst als Studentin an der Universität in Breslau ein, mit dem festen Entschluss, die Wahrheit zu suchen. Dieses Streben musste unweigerlich in Gott enden. Sie selbst kam später zu der Einsicht: „Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, ob ihm das nun deutlich ist oder nicht.“ Während ihres Studiums entdeckte sie die Schriften des großen Phänomenologen Edmund Husserl. Phänomenologie ist die philosophische Methode, die vorurteilsfrei alle Aspekte der Wirklichkeit zu erforschen versucht. Im Herbst 1913 verließ Edith Stein Breslau, um an der Universität Göttingen ihr Studium direkt bei Husserl fortzusetzen. Hier lernte sie Husserls Privatdozent Adolf Reinach kennen. Er und seine Gattin waren ebenfalls jüdischer Abstammung, jedoch bereits vom Christentum angezogen. Von besonderer Bedeutung war für Edith Stein außerdem die Begegnung mit Max Scheler. Auch er war ein konvertierter Jude und ganz von der Schönheit der katholischen Glaubenswelt erfüllt. Durch diese beiden Männer zerbrach für die junge Suchende die Schranke des rationalen Vorurteils, hinter der sie aufgewachsen war, und die Welt des Glaubens stand plötzlich offen vor ihr.

Zeugnisse echten Glaubens

Sehr schlichte Phänomene spielten nun in ihrem Werdegang eine entscheidende Rolle: „Manchmal waren wir noch vormittags in Husserls Seminar (in Freiburg) und übernachteten in den Schwarzwald-Bergen. Einmal nahm uns ein Bauernhof auf dem Feldberg auf, und es machte einen tiefen Eindruck auf uns, dass der katholische Hausvater morgens mit den Knechten Andacht hielt...“ Sie erinnerte sich auch an eine Reise nach Frankfurt. Während eines kurzen Besuchs im dortigen Dom „kam eine Frau mit ihrem Marktkorb herein und kniete zum kurzen Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas ganz Neues. In die Synagogen und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertrauten Gespräch. Das habe ich nie vergessen können.“

Christus im Geheimnis des Kreuzes

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914-1918) trug das seine zu Edith Steins Suchen nach Gott bei. Sie war eine begeisterte Patriotin und hielt es deswegen für selbstverständlich, dem Vaterland ihre Dienste als Hilfsschwester in einem Seuchenlazarett in Mährisch-Weisskirchen zur Verfügung zu stellen. Dabei wurde sie mit der Frage nach dem Sinn des Leidens und Sterbens konfrontiert. Zurückgekehrt nach Freiburg hielt sie Kontakt zu den inzwischen evangelisch konvertierten Reinachs. Ende November 1917 erhielt sie die Nachricht, dass Adolf Reinach gefallen war. Husserl bat sie, ihn bei der Beerdigung zu vertreten. Schweren Herzens übernahm sie diesen Auftrag in der Erwartung, eine verzweifelte Witwe anzutreffen. Doch ihre Überraschung war groß: Anna Reinach hatte erkannt, dass der Tod ihres Mannes nicht sinnlos war, sondern dass ihn dieser mit dem erlösenden Kreuzestod Christi verband. Edith Stein war tief beeindruckt von der gefassten, wahrhaft christlichen Haltung, die Frau Reinach zeigte. Jahre später erzählte sie einem Jesuiten: „Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Es war der Augenblick, in dem mein Unglaube zusammenbrach, das Judentum verblasste und Christus aufstrahlte, Christus im Geheimnis des Kreuzes.“

In der Schule der hl. Teresa von Avila

Fünf weitere Jahre vergingen, bis Edith Stein den entscheidenden Schritt zur Taufe unternahm. Die Gnadenstunde ereignete sich im Sommer 1921. Edith Stein war auf Ferien in Bergzabern in der Pfalz bei ihrer Freundin Hedwig Conrad-Martius, die dort zusammen mit ihrem Mann ein großes Obstgut unterhielt. Eines Abends, als sie allein im Haus weilte, ging sie an den Bücherschrank ihres Gastgebers. Das erste Buch, das ihr „zufällig“ in die Hände fiel, war eine Lebensbeschreibung der hl. Teresa von Avila. Sie fing an zu lesen und konnte das Buch nicht niederlegen, bis sie es am Ende einer durchwachten Nacht beendet hatte. Sie schloss das Buch mit den Worten: „Das ist die Wahrheit.“ Ihre eigenen religiösen Erfahrungen hatte sie durch diese Heilige bestätigt gefunden. Die Kreuzesbotschaft ist die höhere und absolute Wahrheit, die man durch akademisches, intellektuelles Rationalisieren allein nicht erreichen kann. Sie hatte auf ihrer Suche nach der Wahrheit endlich ihr Ziel erreicht. Am folgenden Tag kaufte sie sich einen Katechismus und ein Schott-Messbuch, um sich auf den gefundenen Glauben vorzubereiten. Am 1. Januar 1922 wurde sie getauft und nahm den Taufnahmen Teresia an. Damit bezeugte sie nicht nur ihre Dankesschuld an die Heilige von Avila, sondern deutete auch schon die Absicht an, wie Teresa von Avila im Karmel ihre Heimat zu finden.

Der Weg nach Beuron

Bis zu ihrem Eintritt in den Karmel folgte zunächst eine Lebensepoche voller öffentlicher und wissenschaftlicher Tätigkeit. In ungeahnter Weise begann sie als katholische Frauenrechtlerin und Philosophin zu wirken.

Am 21. Februar findet ihre Firmung statt, die der Bischof von Speyer, Ludwig Sebastian, in einer Privatkapelle vornimmt. Der Besuch in Speyer ist für Edith Stein ein wichtiger Moment. Ihre Habilitation als Professorin in Göttingen wird abgelehnt, weil sie eine Frau ist. Sie wäre die erste in Deutschland gewesen. Nun beginnt sie Thomas von Aquin zu lesen und zu studieren. Bei den Dominikanerinnen in Speyer nimmt sie den Posten einer Deutschlehrerin für das Lehrerinnenseminar an. In dieser Zeit wird die Begegnung mit dem Jesuiten Erich Przywara für ihre weitere Entwicklung ausschlaggebend. Er gewinnt sie für die Übertragung der englischen Briefe und Tagebücher Newmans ins Deutsche. Die Übersetzung erscheint 1928 in München. Allmählich wird sie als Philosophin in ganz Deutschland und über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Außerdem schlägt ihr Erich Przywara vor, nach Beuron zu gehen. Hier begegnen sich zwei kongeniale Seelen: der Beuroner Erzabt Dr. Raphael Walzer und Frau Dr. Edith Stein.

Erzabt Dr. Raphael Walzer als geistlicher Bruder

 Zur Feier der Osterliturgie im Jahre 1928 ist Edith Stein zum ersten Mal in Beuron. Ihre Privat-Exerzitien gehen bis zum 12. April. Es sollen noch weitere 15 Aufenthalte hier im Klosterdorf werden. Raphael Walzer, der am 27. März 1888 in Ravensburg geboren wurde, kann als einer der großen christlichen Männer Deutschlands im 20. Jahrhundert bezeichnet werden. Seinem Doktorat in Philosophie fügt er die Promotion in Theologie hinzu. Am 25. Januar 1918 fällt die Wahl zum Nachfolger für Erzabt Ildefons Schober auf den jungen Pater Raphael. Als er gewählt wird, ist er erst 29 Jahre alt. Am 11. Februar 1918, dem Fest der hl. Scholastika, der Schwester des hl. Benedikt, wird er mit „Alters-Dispens“ zum Abt geweiht. Beuron wird damals Anziehungspunkt für so bekannte Persönlichkeiten wie Romano Guardini, Max Scheler, Martin Heidegger, Gertrud von le Fort und „notabene“ Edith Stein. Der Erzabt erkennt in Edith Stein „eine der größten Frauen unserer Zeit“ und sagt später über sie: „Selten habe ich eine Seele getroffen, die so viele und so hohe Eigenschaften in einem Geist vereinigt hatte. Dabei war sie die Einfachheit und Natürlichkeit in Person. Sie war ganz Frau geblieben, mit zartem, ja mütterlichem Empfinden, ohne irgend jemand bemuttern zu wollen. Mystisch begnadigt, im wahren Sinn des Wortes, hat sie nicht den Schein des Gesuchten und Überlegenen an sich getragen. Sie war schlicht mit einfachen Menschen, gelehrt mit Gelehrten, ohne alle Überhebung, mit Suchenden eine Suchende.“

Öffentliche Wirksamkeit

Edith Stein fühlte sich vom Erzabt als Person ernst genommen. Es war anders als bei Husserl, von dem sie etwas enttäuscht war. Der Erzabt versuchte, sie dazu zu bewegen, vermehrt in der Öffentlichkeit aufzutreten. Er war der erste, der ihre philosophische und geistliche Qualität voll erkannte und förderte. Er spornte sie an, keine Möglichkeit der öffentlichen Wirksamkeit ungenützt verstreichen zu lassen. So mehren sich die Vortragsreisen und Veröffentlichungen. Ihren Wunsch, in den Karmel einzutreten, muss sie für Jahre zurückstellen. Sie hält Vorträge in Nürnberg, Speyer, Salzburg, Bendorf, Heidelberg, Ludwigshafen, Münster, Wien, Köln, Zürich, Essen, Augsburg, Berlin und Paris, in einigen Städten sogar des Öfteren. Sie spricht vor allem zu Themen im Bereich der Frau, Bildung und Erziehung sowie über das Verhältnis von Natur und Gnade, was sie anhand christlicher Frauenbilder aufzeigt. Angesichts der zunehmenden Macht der Nationalsozialisten erfolgt nach jahrelangem öffentlichen Wirken mit Genehmigung des Beuroner Erzabtes Raphael Walzer der Eintritt in den Kölner Karmel: „Seitdem es mir unmöglich war, sie in der Welt zurückzuhalten, lief sie geradewegs in den Karmel wie ein Kind, das sich in die Arme seiner Mutter wirft.“

Sr. Teresia Benedicta a Cruce im Karmel

Am 15. April 1934, dem Gut-Hirten-Sonntag, fand im Karmel zu Köln das große Fest der Einkleidung von Edith Stein statt. Sponsa Christi – Braut Christi. Erzabt Raphael Walzer war von Beuron gekommen, um ein feierliches Pontifikalamt zu halten. Er fungierte auch als Brautvater. Ebenso waren der gelehrte Katholik Peter Wust, ein Schriftsteller-Kollege, und Hedwig Conrad-Martius anwesend. Im festlichen Ornat hatte der Erzabt zusammen mit vielen Geistlichen die Braut-Geschmückte des Herrn an die Tür des Karmels geleitet, wo mit schwarzem Schleier verhüllte Schwestern mit Kerzen in den Händen die Gottes-Braut empfingen. Das weiße Brautkleid wurde durch das herb-schöne braune Ordensgewand eingetauscht und der lederne Gürtel um die Taille geschlungen. Auf ihren Wunsch erhielt sie den Namen Sr. Teresia Benedicta a Cruce (vom Kreuz): „Teresia“ als Dank an die Karmel-Reformerin von Avila, „Benedicta“, um ihre Verbindung zum benediktinischen Beuron kundzutun, aber auch als „Gekreuzigte“ durch ihr Ringen um die Wahrheit, sowie als „Gesegnete“ vom Kreuz her, „a cruce“, das noch auf sie zukommen sollte. Am 21. April 1935 legte sie ihre einfache Profess ab. Wieder sprach sie mit Erzabt Raphael über Gegenwart und Zukunft. Sie richtete einen Mahn-Brief über die Verhältnisse der Juden in Deutschland an den Vatikan, jedoch ohne Erfolg. Bedrückt kehrte der Erzabt in sein Kloster zurück, das äußerlich mit über 300 Mönchen in Blüte stand. Ob seiner Verbindung zu dieser berühmten Jüdin stand Dr. Raphael Walzer bereits auf der „Abschussliste“ der Gestapo. Am 2. November 1935 musste er aus Deutschland fliehen, um seiner Verhaftung zu entgehen. Er zog sich zunächst nach Schaffhausen zurück, zwei Jahre später verlor er in Abwesenheit sein Amt. Sein weiterer Fluchtweg führte ihn über Frankreich nach Algerien. Nur noch das geschriebene Wort verband ihn seither mit der Karmelitin. Die Zeit der persönlichen Begegnung war zu Ende.

Bewegte Karmel-Jahre in Köln

Am Heiligen Abend 1936 ließ sich Ediths Schwester Rosa Stein ebenfalls taufen. Edith war im Karmel weiterhin schriftstellerisch tätig. Es erfolgte die Veröffentlichung ihres wichtigsten Buches mit dem Titel: „Kreuzeswissenschaft“. Schwer wurde das Jahr 1938. Es gab wieder eine jener Hitlerwahlen, gegen die sich schon Jahre zuvor Erzabt Raphael öffentlich gestellt hatte. Sr. Teresia Benedicta a Cruce war der Ansicht, man sollte mit Nein stimmen, selbst wenn dies äußerlich vergeblich sei. Die Nazis taten alles, um die Wahlgesinnung der Nonnen zu erkunden. Scheinheilig wurde eine Wahlurne im Kloster aufgestellt, damit die Schwestern ihre Klausur nicht verlassen müssten. Der Wahlvorsitzende erklärte am Schluss des Wahlgangs: „Es haben laut Wahlliste nicht alle gewählt. Dr. Stein fehlt noch. Sie hat bisher nicht gewählt.“ Mit eiserner Ruhe sagte die Oberin: „Sie ist nicht arisch.“ Die drei Wahlherren fuhren theatralisch zusammen. Dann rief der eine: „Schreiben Sie hin: Sie ist nicht arisch!“ Am 21. April, am Donnerstag in der Osterwoche, durfte Sr. Teresia Benedicta a Cruce ihre Ewige Profess ablegen. Nun war sie vollwertiges Mitglied des Konvents. Am 1. Mai folgte ihr Schleierfest, sie erhielt den großen schwarzen Schleier der Karmelitinnen. Damit war ihr der Kölner Karmel zur endgültigen Heimat geworden. Nur scheinbar. Die Unsicherheit nahm zu. Am 31. Dezember 1938 kam die Ausreisegenehmigung in den Echter Karmel nach Holland. Noch am selben Tag wurde sie über die Grenze gebracht.

Bedeutung für die Kirche heute

Die Karmelitin hat ihr Holocaustum mit dem Gekreuzigten nicht vor einer vollbesetzten Arena „zelebriert“ wie etwa der 86-jährige Bischof Polykarp von Smyrna, auch nicht schriftlich, wie es auf bewegende Weise der Jesuitenpater Alfred Delp vollzogen hat. Sie vollendete ihr Ganzopfer in der Gleichförmigkeit mit dem Gekreuzigten: im Schweigen, ohne Zeugen, in äußerster Verdemütigung unbekleidet hineingehend in die Gaskammer, allein und weggeworfen. Christsein in Reinkultur, ganz reduziert und konzentriert auf das Eigentliche, auf das Wesentliche. Es steht konträr zu unserem Zeitgeist am Anfang des 21. Jahrhunderts: der allgegenwärtigen Leidens- und Todesverdrängung, der Hinwendung zum Rationalismus, zum Egalismus und Relativismus, wo alles der Beliebigkeit anheim gegeben wird, der Geistesblindheit, die unfähig ist, Stellvertretung und Sühne auch nur als Idee zu begreifen. Der stellvertretende Hineingang in die Gaskammer „für ihr Volk“, für Juden wie Christen, steht in vollkommenem Gegensatz zur Ideologie der autonomen Selbstverwirklichung, die der tiefsten Wahrheit des Menschen nicht im Geringsten ansichtig wird. Wie Sr. Teresia Benedicta a Cruce ihr stellvertretendes Ganzopfer bis zum letzten Atemzug existentiell verwirklicht hat, ist das bleibende Vermächtnis dieser Heiligen: dass der Mensch in seiner ganzen Existenz auf Hingabe, auf Gottes- und Nächstenliebe im Leben und im Sterben, angelegt ist. Von den mit Jesus und wie Jesus Geschlagenen, Dornengekrönten, Gekreuzigten aber lebt die Kirche, lebt die Welt. Durch sie überlebt die Kirche, überlebt die Welt. Deshalb die Erinnerung an das Leben dieser großen Frau auch im Jahre 2008.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2008
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