Das „Ruhegebet“ nach dem hl. Johannes Cassian

„Entgrenzung erfahren“, diesen Weg möchte der Psychologe, Theologe und Priester Dr. Peter Dyckhoff suchenden Menschen aufzeigen. Er führt in das sog. „Ruhegebet“ ein, wie wir es beim hl. Johannes Cassian finden. Dabei handelt es sich um einen Schriftsteller aus der alten Kirche (360-435), der in den sog. „Unterredungen mit den Vätern“ seine Erfahrungen mit den Mönchen in der ägyptischen Wüste wiedergab. Dyckhoff ist einer der wenigen zeitgenössischen Theologen, die es verstehen, den heutigen Menschen an die Tradition der christlichen Mystik heranzuführen. Die ungeheure Nachfrage nach seinen zahlreichen Veröffentlichungen zeigt, dass er auf brennende Fragen Antwort gibt und tatsächlich auf den Durst der menschlichen Herzen eingeht. Er selbst ist einem solchen inneren Verlangen gefolgt und hat sich mit 40 Jahren auf den Weg zum Priestertum gemacht. Seine eindrucksvolle Berufungsgeschichte spiegelt die Suche nach Gott und nach dem tieferen Sinn des Lebens wider.

Von Peter Dyckhoff

Schon lange übe ich den Zen-Buddhismus und die Praxis des Nen-bu-tzu (die Namensanrufung bei den Buddhisten), was mir bei der Betreuung psychisch Kranker hilft. Nun bin ich zum Ruhegebet geführt worden. Gott sei Dank! „Tutte le strade conducono a Roma. – Alle Wege führen nach Rom.“ Von Buddha zu Jesus Christus. Ein schöner Weg (P. Fiorenzo Reati).

Vielen Menschen durfte ich seit 1971 den Weg zum Ruhegebet zeigen und sie ein Stück auf diesem Weg begleiten. Ich versuchte Mut zu machen, wenn es nicht weiterzugehen schien. Aber auch die Freude, die sich dem ernsthaft Suchenden schenkt, durfte ich mit ihnen teilen.

Johannes Cassian (ca. 360-435) war über 60 Jahre alt, als er die 30 Jahre zuvor mit verschiedenen Mönchsvätern in der ägyptischen Wüste geführten Gespräche zu einer Schrift zusammenfasste (24 Unterredungen mit den Vätern). Es ist verständlich, dass die Frucht seines zum Gebet gewordenen Lebens in die Verarbeitung der Texte einfloss. Seine eigene Lebens- und Gebetserfahrung mit dem Ruhegebet und die damit verbundene große Weite seines Bewusstseins ergänzten ganz selbstverständlich die früheren Gebetsanweisungen seiner Lehrer, zu denen vor allem Evagrius Pontikus (345-399) gehörte. Als großes, zusammenhängendes, ausgereiftes geistliches Erbe sind seine Gebetsanweisungen (9. und 10. Unterredung) zu verstehen, die somit nicht mehr als Stufen der Entwicklung und Annäherung an das Wesentliche zu begreifen sind, sondern ganzheitlich und allumfassend.

Das tiefste Anliegen Cassians ist es, dass der Betende in allem und durch alles in seinem Leben eine Begegnung mit dem Schöpfer erfährt, dem Urgrund allen Seins, mit Gott, der die Liebe ist. Cassian möchte seine Schüler in eine solche Weite des Bewusstseins führen, in der jede Wahrnehmung zu einer Gottesbegegnung wird.

Was im Wege steht…

Im Gegensatz zur orthodoxen Kirche in Russland und der Tradition auf dem Berg Athos, wo bis heute das Hesychastische Gebet bzw. Ruhegebet in voller Blüte steht, geriet es im Westen durch eine zunehmende „Verkopfung“ in Vergessenheit. Hinzu kommt, dass die christliche Theologie sich bewusst zeitweilig von Gebetsweisen absetzte, die ihre Parallelen im Sufitum und im Hinduismus haben. Johannes Cassian gehört zwar nicht zu den größten Rhetorikern und geistlichen Schriftstellern des Christentums – er war jedoch ein Mann von höchster geistig-spiritueller Begabung mit einem tiefen Sinn für das Mystische. Nach langem Schweigen und langer Zurückgezogenheit schrieb er erst am Ende seines Lebens die Essenz seiner Gebetserfahrungen nieder: das Ruhegebet.

Der Einfluss der Spiritualität Cassians auf sehr viele geistliche Schriftsteller war von herausragender Bedeutung. Die meisten bekannten sich aber in früheren Jahrhunderten nicht öffentlich in ihren Werken zu Cassian, da dieser Ansätze der Lehre des Origenes vertrat. Und mit jemandem, der mit dem Kirchenbann belegt wurde, will man – auch indirekt – nicht in Verbindung gebracht werden… Der hl. Benedikt wie auch bedeutende Theologen und Ordensstifter der späteren Zeit haben sich jedoch am cassianischen Gedankengut orientiert: Dominikus, Ignatius von Loyola, Johannes vom Kreuz, Theresa von Avila, Franz von Sales, Thomas von Aquin. Diese frühe mönchische Spiritualität hat als eine Quelle christlichen Lebens ihre Bedeutung und Aktualität bis heute nicht verloren. Unsere christliche Gegenwart ist von tiefer Sehnsucht nach Verankerung im Glauben und Gotteserfahrung erfüllt und sucht nach alten christlichen Quellen mit überzeugenden Wegen.

Henri Nouwen: „Das Ruhegebet ist eine vorzügliche Wegweisung für alle Menschen, die mitten in unserer angespannten und überfüllten Welt nach einer ruhigen Zeit suchen und nach einem umfassenden, Sicherheit bietenden Beisammensein mit Gott.“

Wie Cassian in seiner Zeit durch seine gelebte Spiritualität und seine Werke, die Wissen und Erfahrung verbinden, für viele ein großer Anstoß war, so dürfte auch sein Ruhegebet eine Herausforderung an uns sein, aus der Grauzone, der Routine des Alltags und der Mittelmäßigkeit des Glaubens herauszutreten.

Gebet der Hingabe

Im Sinne von Cassian bedeutet Beten, alles aufzugeben: Gedanken, Gottesbilder, Vorstellungen, den eigenen Willen… Evagrius Pontikus lehrte Cassian das Ruhegebet, ein rein geistliches Gebet, frei aller Bildlichkeit. Gott darf nicht irgendwie vorgestellt oder vor Augen geführt werden. Es geht um ein völlig bildloses Anschauen – „mit den reinen Blicken der Seele“. Cassian beschreibt genau die Methode des Gebetes. Ein einziger kurzer Satz wird als Mittel benutzt, die nötige Stille zu erlangen. Die Fülle der Gedanken wird durch die strenge Armut eines einzigen Verses mehr und mehr reduziert. Dieser Prozess tiefer Ruhe für Körper, Geist und Seele reinigt das Nervensystem und die Psyche. Er führt somit letztlich zur Reinheit des Herzens. Durch die Übung des Ruhegebetes wird die Reinheit des Herzens zu einem andauernden Zustand, der einen entscheidenden Wendepunkt auf dem spirituellen Weg des Christen darstellt. Das Ruhegebet vermittelt intuitive Erkenntnis der Einfachheit und führt letztlich zu einem erfahrungsmäßigen Wissen um Gott.

Freude am Einfach-Dasein wird im Gebet erlebt. Wenn aller „Besitz“ aufgegeben und alles losgelassen wird, dann steht der Betende in absoluter Einfachheit vor Gott. Der Geist kann ganz einfach und leicht in der strengen Armut einer kurzen Anrufung schwingen, bis jener Glückszustand erreicht ist, den das Evangelium „selig“ nennt. So ist auch die erste Seligpreisung zu verstehen: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3). Im Ruhegebet leben, ja, atmen wir die Armut immer mehr. Es ist die einfache, in sich selbst schwingende Ruhe, die den Reichtum der ganzen Schöpfung in sich enthält, die Ruhe, von der auch am siebten Schöpfungstag Gott selbst spricht.

Entgrenzung erfahren…

Die Gotteserfahrung führt zu einer Aufhebung der Grenzen: „Was in der Tat kann vollkommener oder höher sein, als die Bewusstwerdung Gottes in einem so kurzen Gebet zu erreichen und sogar durch das Dahin-strömen-Lassen eines einzigen Verses alle sichtbare Begrenzung zu überschreiten und gleichsam alle Gebetszustände in kurzen Worten zusammenzufassen?“ (10. Unterredung, 12) Die Wüstenväter wussten, dass diese Art des Betens eine große Herausforderung darstellt: Die meisten Menschen können nur sehr schwer begreifen, dass die Wahrheit und das Wesentliche so einfach sind. Aus dieser Erkenntnis heraus wurden ihre Schüler erst nach langer Vorbereitung und Prüfungen in die tieferen Geheimnisse des Gebetes eingeführt. Das Ruhegebet trägt wesentlich dazu bei, das Leben in tieferen Dimensionen des Seins zu erfahren und eine Beständigkeit des Herzens zu erlangen. Das Ruhegebet kommt der Sehnsucht nach Ganzheit entgegen, nach Integration von Geist, Seele und Körper, nach Erkenntnis und Bewältigung des dunklen Schattens im Menschen. Er wird frei von unnötigem Ballast, durchlässig für den Geist Christi, so dass er seinen eigenen Weg erkennen, gehen und bejahen kann.

Dieses Gebet ist ein einfaches und müheloses Gebet, das zur wirklichen, unerschöpflichen Kraftquelle führt. Es ist ein Mittel, die Reinheit des Herzens und der Seele zu erlangen. Durch die Praxis, die ständige schweigende Wiederholung der Gebetsformel, richtet sich der Geist ganz auf Gott aus, damit Er sich uns schenken kann. Das Ruhegebet bereitet den Boden, um sowohl in tieferen Gebeten mit Gott Gemeinschaft zu erfahren als auch generell Leben besser zu bestehen. Es ergibt sich ein Wechsel zwischen Ruhe und Aktivität, wie wir ihn als zu Grunde liegende Ordnung in der gesamten Schöpfung erleben.

„Bete und arbeite“

Gebet und Arbeit – im ausgewogenen Wechsel – helfen, nach und nach Belastungen und Sorgen abzubauen und eine größere Stabilität wachsen zu lassen. Die aus dem Ruhegebet gewonnene tiefe Ruhe und Innerlichkeit nehmen wir mit in unseren Alltag, so dass die Grenzen fließend werden, bis sie sich ganz auflösen und unser Leben, unser Empfinden, Denken, Sprechen und all unser Tun zu einem beständigen Gebet wird. Wir erfahren eine tiefere Ruhe und

• werden frei von allem, was unsere Aufmerksamkeit ungut fesselt;

• Sorgen um private oder berufliche Anliegen wie auch nur die Gedanken daran nehmen ab;

• alles dumme und unnötige Geschwätz, vornehmlich alles Gerede über andere, hört auf;

• emotionale Verwirrung lässt die Seele nicht mehr zu;

• alle Sucht nach Befriedigung unserer rein egoistischen Bedürfnisse wird von der Wurzel her ausgerottet.

Die aus dem Ruhegebet gewonnene Ruhe kann nicht nur helfen, den Alltag kraftvoller und sicherer zu bestehen, sondern sie schenkt auch das Gefühl der letzten Geborgenheit in Gott und somit Mut zum Loslassen. Durch den geistlichen Schulungsweg erfährt der Übende innerhalb seiner menschlichen Begrenzungen mehr und mehr eine unbewegliche Ruhe des Geistes und gleichzeitig eine Reinigung des Nervensystems und Bewusstseins (Reinheit des Herzens). Wie in einem inneren Reinigungsvorgang wird er von allem befreit, was nicht zu ihm gehört und seinem Entwicklungsweg nicht entspricht. Das Gebet wird mehr und mehr im Fortschreiten auf Gott zu einem unaussprechlichen Schwingen, und es entgrenzt den Betenden auf sein liebendes Entgegenkommen und seine unendliche Barmherzigkeit.

Man sollte häufig, jedoch kurz, beten, damit das Gleichgewicht zwischen Ruhe und Aktivität immer neu hergestellt wird, denn alle Lebensprozesse können nur durch einen ausgewogenen Rhythmus wachsen. Das nämlich ist der wahre Geist der Hingabe: dass der Betende zwischen beidem wechselt.

Hingabe schafft Rettung

Die Grundhaltung in diesem Gebet ist die eines Empfangenden, der sich vertrauend und „willenlos“ auf Gott verlässt. Die Hingabe des eigenen Willens an Gott wird eingeübt, damit – gestärkt durch seine Gabe – mit neuer Willenskraft unsere Aufgaben wieder angegangen werden können. Folgen wir den Anweisungen Cassians, breitet sich eine große und innere Ruhe aus. Diese Ruhe wird zum Schutz gegen neue Störfaktoren, leitet eine Entgrenzung auf Gott ein und stabilisiert Geist und Körper. Dem Suchenden, der tief in seinem Herzen nach dem Einssein mit Gott verlangt, wird eine Gebetsformel anvertraut. Cassian empfiehlt in seiner 10. Unterredung die folgende „formula pietatis“:

Deus, in adiutorium meum intende. Domine, ad adiuvandum me festina. (Gott, komm mir zu Hilfe. Herr, eile mir zu helfen! – Ps 70,2).

Das Gebet der Hingabe muss langsam eingeübt werden und dem Lebensrhythmus angemessen sein. Mit der Anrufung bezeugt der Beter, dass er Gott als seinen Helfer und Heiland anerkennt und ständig neu seine Liebe benötigt – sowohl in harten und traurigen Zeiten als auch in Zeiten der Zufriedenheit und des Erfolgs. Aus Tiefen herausgezogen, in der rechten Mitte bewahrt zu bleiben und von ungesunden Höhen wieder auf den lebenswahrhaftigen Grund zurückgeführt zu werden, ist Grundanliegen eines jeden Menschen, der in seiner Begrenztheit alle Zeit auf die Hilfe und Barmherzigkeit Gottes angewiesen ist. Das Gebet wandelt sich unaufhörlich; entsprechend dem Grad der Reinheit, den die Seele erreicht hat, wie auch nach der Gestimmtheit – mag diese sich spontan einstellen oder durch äußere Einflüsse hervorgerufen sein. Auf den weiteren Stufen dieses Gebetesweges erfährt der Betende einen geistigen Fortschritt. Sein Verstehen größerer Zusammenhänge und seine aus Intuition erworbene Klugheit lassen die eigenen Grenzen transparent werden und erweitern langsam sein Bewusstsein.

Es ist heilsam, von der Begrenztheit des „eigenen Hauses“, das heißt von den Pflichten, Sorgen, Gewohnheiten wie auch dem Glücklichsein durch kreative Pausen Abstand zu nehmen, indem Distanz und damit Überblick gewonnen wird, um erfrischt mit neuen Ideen und neuem Schwung zurückzukehren. Durch das Ruhegebet ver-lassen wir uns nicht auf ein grenzenloses Nichts, sondern es ist ein Sich-Verlassen auf Jesus Christus. Aus dieser Hingabe schöpfen wir neue Energie, Mut und auch die Freude, unseren Lebensauftrag neu durch Ihn und mit Ihm und in Ihm zu erfüllen.

Fazit

• Bei uns im Westen geriet – im Gegensatz zur orthodoxen Kirche und der Tradition auf dem Berg Athos – das Hesychastische Gebet durch eine zunehmende „Verkopfung“ in Vergessenheit. Erst allmählich entdeckt man auch bei uns den unschätzbaren Wert des Ruhegebetes.

• Cassian beschreibt einfach und nachvollziehbar diese Gebetsweise, die heute von vielen Menschen wieder mit Begeisterung und Erfolg praktiziert wird.

• Das Ruhegebet stellt eine Herausforderung dar, aus der Grauzone, der Routine des Alltags und der Mittelmäßigkeit des Glaubens herauszutreten.

Literaturtipps: Peter Dyckhoff: Ruhegebet, Don Bosco Verlag, München 2009.

Ders.: Einübung in das Ruhegebet, Don Bosco Verlag, München 2006 (2 Bände).

Ders.: Bete ruhig. Betrachtung und Ruhegebet, Don Bosco Verlag, München 2005.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Bewegende Berufungsgeschichte

Von Erich Maria Fink

Ein wertvoller Beitrag zum „Jahr des Priesters“ ist die Autobiographie, die der bekannte Seelsorger und Buchautor Peter Dyckhoff vorgelegt hat. In einem bewegenden Zeugnis schildert er seinen wechselvollen Weg zum Priestertum. 1937 wurde er in ein mittelständisches Unternehmen, eine Textilfirma mit etwa 250 Angestellten, hineingeboren. Nach dem plötzlichen Unfalltod seines Vaters musste er die Leitung des elterlichen Betriebs übernehmen. Erst mit 40 Jahren gelang es ihm, die Geschäftsführung abzugeben und einen Neuanfang zu machen. Er studierte Theologie an den Universitäten Münster, Innsbruck und Brixen, wo er 1981 zum Priester geweiht und als Kooperator angestellt wurde. In Südtirol arbeitete er zunächst als Krankenhausseelsorger und Sterbebegleiter. Doch bald wurde er zur Betreuung der Pilger in den niederrheinischen Marienwallfahrtsort Kevelaer berufen. 1985 kam er als Gemeindepfarrer in die Diözese Hildesheim, wo er 1989 den Aufbau und die Leitung der bischöflichen Bildungsstätte „Haus Cassian“ im Weserbergland übernahm. Zehn Jahre später kehrte er in seine Heimatdiözese Münster zurück. In Senden kaufte er sich ein abgelegenes Bauernhaus und ging in die Einsamkeit. 2006 wurde er mit einer Doktorarbeit über das sog. „Ruhegebet“ beim hl. Johannes Cassian (ca. 360-435) promoviert. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen zur Mystik und zur christlichen Gebetspraxis, welche ihn als Spezialisten auf dem Gebiet der Spiritualität ausweisen. Mit seinen etwa 15 Büchern ist er heute einer der erfolgreichsten christlichen Autoren.

Schon mit 16 Jahren verspürte Peter Dyckhoff den brennenden Wunsch, Priester zu werden. Doch wieviele Schwierigkeiten und Widerstände stellten sich ihm in den Weg! Auch persönliche Unsicherheiten ließen ihn schon am Beginn seines Studiums zwischen Theologie und Psychologie hin und herschwanken. Dazu kamen sein Verantwortungsgefühl und das ehrliche Bemühen, seiner Familie gerecht zu werden. Zur entscheidenden Herausforderung aber wurde die starke Persönlichkeit seiner Mutter. Offen und lebendig schildert Dyckhoff, wie er um seine Berufung gerungen und sich aus dieser Umklammerung befreit hat.

Erst nach dem Tod seiner Mutter fand er ein blaues Buch, in das sie diesen Kampf aus ihrer Sicht niedergeschrieben hat, zum Teil in Form von Briefen an ihren Sohn, die sie nie abgeschickt hatte. Peter Dyckhoff benützte nun diese Aufzeichnungen seiner Mutter und kombinierte sie in genialer Weise mit seinen eigenen Erinnerungen. So ist es nur folgerichtig, dass er als Autor seiner Biographie sowohl seine Mutter als auch sich selbst nennt: „Marie Charlotte Dyckhoff – Peter Dyckhoff“ und das Buch unter den Titel gestellt hat: „Das Blaue Buch. Vom Loslassen und Wiederfinden“ (Augsburg 2009, geb., 176 S., ISBN 978-3-86744-087-5).

Es ist ein „Glücksfall“, dass das ergreifende Zeugnis einer solchen Frau in die Hände eines so einfühlsamen und geübten Schriftstellers „gefallen“ ist. Die gelungene Verknüpfung wird als einzigartige und reife Frucht in die Geschichte der christlichen Literatur eingehen. Gleichzeitig ist das „gemeinsame“ Bekenntnis von Mutter und Sohn eine leuchtende Orientierung in den dunklen Unsicherheiten unserer Zeit. Es kann den Menschen helfen, sich durch Schicksalsschläge und Verirrungen nicht entmutigen zu lassen, sondern sich in die liebenden Hände Gottes fallen zu lassen und in seiner Nähe ganz sich selber zu werden. Die erfrischende Offenherzigkeit und befreiende Aufrichtigkeit dieser Lebensbeschreibung sind ein Geschenk für Kirche und Welt von heute.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Europas innere Zerreißprobe

Dr. Michael Stickelbroeck, Ordinarius für Dogmatik und ökumenische Theologie in St. Pölten, arbeitet in seinem Beitrag sehr treffend die Situation des heutigen Europa heraus. Nach den Worten des damaligen Kardinals Joseph Ratzinger befindet es sich in einer „inneren Zerreißprobe“: Einerseits hat in Europa „das Christentum seine wirksamste Gestaltwerdung erlebt, aber zugleich ist in Europa eine Kultur gewachsen, die den radikalsten Widerspruch nicht nur gegen das Christentum, sondern gegen die religiösen und moralischen Traditionen der Menschheit überhaupt darstellt“. Dieser Konflikt scheint sich heute mehr und mehr zuzuspitzen. Durch das aktuelle Kreuz-Urteil ist er plötzlich ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit getreten. Dies bietet die Chance, sich neu mit den christlichen Grundlagen Europas auseinanderzusetzen.[1]

Von Michael Stickelbroeck

Zwischen christlichem Erbe und atheistischem Humanismus[2]

Für die Väter des vereinigten Europa – Adenauer, Schumann, de Gasperi – stand fest, dass dieses Europa eine Grundlage brauchte. Diese sahen sie in der christlich-abendländischen Kultur und Werteordnung. Diese Überzeugung war ihnen durch die Einsicht erwachsen, dass die Diktaturen Hitlers und Stalins auf einer Abschaffung Europas beruhten und es so das Gebot der Stunde war, zu seinem Erbe zurückkehren.

Als es dann tatsächlich zum europäischen Einigungsprozess kam, wurde schnell klar, dass die leitenden Perspektiven dabei in erster Linie wirtschaftlicher Natur waren. Die Frage nach den geistigen Grundlagen dieser Einigung wurde dabei ausgespart, was noch bis in die Entwürfe zur europäischen Verfassung nachklingt.[3]

Inzwischen hat sich im westlichen Europa ein atheistischer Humanismus breitgemacht, dessen Vertreter, die laici, wie man italienisch sagt, mit den christiani, die das christliche Erbe in Europa bewahrt sehen wollten, um die Identität des Kontinents ringen.

Verlust der unveräußerlichen Rechte der Person

Gerade aus der Interpretation der individuellen  Freiheitsrechte, wie sie der atheistische Humanismus vorlegt, erwachsen in unserer Zeit Gefahren für die Würde des Menschen und die Unverfügbarkeit seiner Grundrechte. Es scheint immer mehr aus dem Blick zu geraten, dass diese Grundrechte aus eigenem Recht existieren und dem Gesetzgeber als übergeordnete Werte vorgegeben sind.[4] Wo man diese Grundlagen, die ein unveräußerliches Recht der Person voraussetzen, zur Disposition stellt, indem man ihre Gültigkeit vom demokratischen Konsens abhängig macht, dort verliert sich die Rechtstaatlichkeit der Demokratie. So gibt es heute gerade auf dem Gebiet des Lebensschutzes, des so genannten medizinischen Fortschritts, der genetischen Manipulation eine bedenkliche Erosion der Menschenwürde, die den Staat als solidarische Rechtsgemeinschaft in Frage stellt.[5]

Es sind vor allem die Möglichkeiten der Selbstmanipulation, die ein deutliches Missverhältnis zwischen technischem Können und einer Option für die Moral offenbaren. Die technizistische Mentalität verweist die Moral, die den Menschen vor der Willkür von Gruppeninteressen schützt, ins Subjektive, in den Bereich des Privaten. Technische Überwachungssysteme können die Sicherung des Menschen als moralischer Person nicht leisten.[6]

Verbannung der Religion ins Private

Ein Umschlag der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Nachteil der bekennenden Christen kann auch aus der Stoßrichtung des radikalen Laizismus erwachsen, der Gott in Europa aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannen und ins rein Private abdrängen möchte.

Ein Beispiel für laizistisches Denken ist das Buch „La revanche de Dieu“ von Gilles Kepel, Professor am Institut d‘Etudes Politiques in Paris. Darin äußert Kepel eine starke Besorgnis angesichts der Wiederkehr der Religionen und damit auch vormoderner geistiger und politischer Kräfte.[7] Schutz gegen fundamentalistische und integralistische Gefahren gewähre nur der Laizismus französischer Prägung.[8]

„Die These der laizistischen Aufklärungskultur Europas ist, dass nur die Normen und Inhalt eben der Aufklärungskultur die Identität Europas bestimmen dürfen und dass daher zu Europa grundsätzlich jeder Staat gehören kann, der seinerseits diese Kriterien annimmt… Zu der neuen, allein von der Aufklärungskultur her bestimmten Identität gehört demgemäß dann auch, dass Gott nichts im öffentlichen Leben und nichts mit den Grundlagen des Staates zu tun hat."[9]

In diesem Zusammenhang muss die Ausblendung des Gottesbezugs in der zuerst geplanten und nicht zustande gekommenen europäischen Verfassung erwähnt werden.

Verleugnung der christlichen Wurzeln

Unter der Vorgabe, eine Erwähnung der christlichen Wurzeln Europas verletze die Gefühle der vielen Nicht-Christen in Europa, hat man es dabei belassen, den Kirchen im Artikel 52 lediglich institutionelle Rechte zu gewährleisten.

Joseph Ratzinger kommentiert dazu in einem Vortrag von 2005, dem letzten vor seiner Wahl zum Papst: „Doch das bedeutet, dass sie im Leben Europas einen Platz im Bereich des politischen Kompromisses haben, während ihre inhaltliche Prägung im Bereich der Grundlagen Europas keinerlei Raum findet."[10]

Dem christlichen Glauben wird im Namen des Pluralismus das Recht abgesprochen, als Gestaltprinzip des gesellschaftlichen Lebens wirksam zu sein. Dem entspricht es, dass der Glaube an Gott immer weniger auf der öffentlichen Bühne zur Sprache kommt. In dem mit Marcello Pera herausgegebenen Buch „Ohne Wurzeln“ heißt es:

„Und es (sc. Europa) hat im Zusammenhang dieser Weise von Rationalität eine Kultur entwickelt, die in einer bisher nirgendwo in der Menschheit gekannten Weise Gott aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt, sei es, dass er ganz geleugnet, sei es, dass seine Existenz als unbeweisbar, unsicher und daher eben dem subjektiven Entscheiden zugehörig als jedenfalls öffentlich irrelevant eingestuft wird. Diese rein funktionale Rationalität … hat zugleich eine Erschütterung des moralischen Bewusstseins mit sich gebracht… So hat in Europa einerseits das Christentum seine wirksamste Gestaltwerdung erlebt, aber zugleich ist in Europa eine Kultur gewachsen, die den radikalsten Widerspruch nicht nur gegen das Christentum, sondern gegen die religiösen und moralischen Traditionen der Menschheit überhaupt darstellt. Daraus erklärt sich die innere Zerreißprobe, in der sich Europa befindet."[11]

Totalitäre Züge des relativistischen Pluralismus

Durch neue, von der EU normierte Gesetzestexte wird unter dem Stichwort „Antidiskriminierung“ eine Gleichwertigkeit aller Standpunkte eingeführt, die „universale Toleranz gegenüber jeder religiösen, weltanschaulichen und sexuellen Option“.[12]

Im gesellschaftlichen Diskurs hat alles den gleichen Rang. Alles muss sein können, kein Lebensentwurf, keine religiöse Einstellung darf höher bewertet werden als die anderen. Der relativistische Pluralismus lässt alles gelten, bis auf eins: Dass eine Instanz aufsteht mit der Aussage, nicht alles ist gleich; es gibt absolute Werte und Verbote, die immer und überall gelten.[13]

Dass die Toleranz gegenüber einer solchen Position schnell an ein Ende kommt, wurde spätestens im Jahre 2004 deutlich, als der damalige italienische Kulturminister Rocco Buttiglione das Amt als EU-Justizkommissar nicht antreten durfte, weil er in Fragen der Familienethik eine nicht-relativistische Haltung bekundete. Unter dem sehr breit gefassten Begriff der Diskriminierung ist eine Tendenz festzustellen, das Diskriminierungsverbot gegen die öffentliche freie Meinung der Kirche und ihrer Vertreter durchzusetzen. Wie lange wird man noch behaupten dürfen, eine homosexuelle Liaison sei nicht der Ehe gleichzustellen? Und widerspricht es nicht dem von unbekannter Autorität zum Imperativ gemachten Gender-Mainstreaming, wenn die Kirche daran festhält, nicht das Recht zu haben, Frauen zu Priestern zu weihen?[14]

Nach diesem Blick auf die Veränderungen der politischen Verhältnisse stellt sich die Frage: Stehen wir in Europa am Vorabend eines totalitären Demokratismus?

Dies wäre dann der Fall, wenn der radikale Laizismus zur Staatsdoktrin erhoben würde und als einzig moralisch verpflichtende Handlungsmaxime eine falsch verstandene Toleranz übrig bliebe – die Zustimmung zur Gleichwertigkeit des Wertlosen, des Unwertigen.

Verabsolutierung der Menschenrechte als neue „Religion“

Mit der Entschließung vom 29. Juni 2007 über „Staat, Religion, Säkularität und Menschenrecht“ avanciert der Europarat immer mehr zur einzig gültigen moralischen Instanz in Europa. „Menschenrechte“ heißt dabei das Prinzip aller Moral. Menschenrechte als das Maß aller Dinge. Danach hätten sich alle zu richten. Es wird verlangt, dass alle öffentlich relevanten Gruppen in den Staaten ihr Menschenbild daran normieren. Folgende Punkte werden in dem Dokument festgestellt:

1. „Die Religion des Einzelnen oder die Wahl, keine Religion zu haben“, ist absolute „Privatangelegenheit“. Im öffentlichen Agieren und im gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess hat Religion keinen Platz. Dem religiös denkenden Bürger wird abverlangt, auf der Bühne der politischen Wirksamkeit von dieser Voraussetzung abzusehen.

„Wo die Ausübung der Religion mit den Menschenrechten oder dem öffentlichen Interesse in Konflikt zu geraten scheint, ist es die erste Pflicht der Regierungen, den demokratisch ausgedrückten Willen der Bürger zu respektieren.“

2. Es heißt weiter: „Die religiöse Freiheit ist durch die Europäische Konvention der Menschenrechte geschützt.“ Wo Religion im Spiel ist, stößt Freiheit allerdings schnell an ihre Grenzen, „denn religiöse Grundsätze, die in der Praxis eine Verletzung der Menschenrechte implizieren, sind inakzeptabel“. Für die liberale und offene Gesellschaft gibt es demnach Grundsätze, die inakzeptabel sind. Der geronnene, zum Gesetz gewordene ethische und religiöse Relativismus muss sich vor allem am Dogma der Kirche stoßen, in dem katholisches Christentum seine verbindliche Glaubensregel findet.

3. Die Menschenrechte sind das neue Dogma der heutigen europäischen Gesellschaft. Es erlaubt keine Kritik, keine Infragestellung. In einer ethisierenden Zivilreligion nehmen sie die höchste Stelle ein. Demnächst sollen die Menschenrechte in die Charta der Grundrechte der EU[15] aufgenommen werden. Für alle Länder, die den „vereinfachten Vertrag“ als Ersatz für die gescheiterte europäische Verfassung, ausgehandelt im Juni 2007, ratifizieren, wird diese dann zwingend. Was beinhaltet diese Charta konkret?

• Die Charta diskriminiert das Recht jedes Menschen auf Leben, denn nicht berücksichtigt werden die ungeborenen Kinder, die immer Opfer der Abtreibung werden können, und auch nicht die Alten und Kranken, denn man hat die Klausel der vorigen Konvention gestrichen. Danach durfte „niemand absichtlich getötet werden“. Die Tür zur Euthanasie und zum verordneten Selbstmord (unter ärztlicher Assistenz) ist damit für alle geöffnet.

• Es gibt ein Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen (Art. 9), wobei es nicht mehr nötig ist, sich festzulegen, ob man einen Mann oder eine Frau heiraten will. Alle gleichgeschlechtlich Orientierten werden damit vor dem Staat den Bund der Ehe schließen und in den Genuss der entsprechenden Rechtsgüter kommen können. Dazu zählt auch das Recht, Kinder zu adoptieren. Sie werden es um so mehr tun können, da sie wegen des „Rechts auf freie sexuelle Orientierung“ keine Diskriminierung zu erwarten haben (Art. 21).

• Bei der Erziehung ihrer Kinder haben die Eltern die „demokratischen Werte“ (Art. 14) zu respektieren.

• Betont wird auch die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau „in allen Bereichen“, was die Religion einschließt (Art. 23). Hier könnte sich in Zukunft die Strafverfolgung wegen widerrechtlicher Diskriminierung gegen kirchliche Amtsträger herausdrehen lassen, da die Kirche es für Frauen ausschließt, durch Weihe zu den geistlichen Ämtern zu gelangen.

• Es wird eine völlige Privatisierung der Religion verordnet, denn Religion gefährdet die Freiheit in der Gesellschaft. Darum muss „eine Vereinbarung getroffen werden, die den religiösen Gemeinschaften eine Einmischung in Fragen, die rein weltlich bleiben müssen, untersagt“.

„Wo die Ausübung der Religion mit den Menschenrechten oder dem öffentlichen Interesse in Konflikt zu geraten scheint, ist es die erste Pflicht der Regierungen, den demokratisch ausgedrückten Willen der Bürger zu respektieren.“

Dies sind die wesentlichen Marksteine auf dem Weg zu einer neuen Dogmatik, wie sie die Religion der Menschenrechte hervorbringt. Sie duldet keinen Widerspruch und verbannt Geltungsansprüche, die sich aus religiösen Ambitionen speisen, in die Sakristei.

Es ist nicht schwer zu erkennen, wie sich auf dieser Ebene nach und nach eine „Diktatur des Relativismus“ breitmacht, die Kardinal Ratzinger dann wieder in seiner Ansprache vor dem Konklave, das ihn zum Papst gewählt hat, angesprochen hat.

Frage nach den christlichen Wurzeln Europas

Europa ist heute der Schauplatz des Aufeinanderpralls von zivilisatorischen Gegensätzen geworden, bei dem nicht zuerst und vor allem Islam und Christentum aufeinander stoßen. Der eigentliche Gegensatz besteht heute nicht zwischen den verschiedenen religiösen Kulturen, sondern zwischen diesen Kulturen und der radikalen Emanzipation des Menschen von Gott im Namen einer funktionalen Rationalität und einer ungebundenen Freiheit.[16]

Papst Benedikt XVI. ist stark bewegt von der zerstörerischen Kraft einer von Gott abgekoppelten Wissenschaft und Vernunft, aber auch davon, dass Europa „mit der Verdrängung des christlichen Gottes seine Friedensfähigkeit verlieren könnte“.[17]

„Nötig ist zur Friedensfähigkeit neben Kenntnissen vom anderen und Toleranz aber auch eine Selbstvergewisserung, die den eigenen Wurzeln nachspürt und diese für eine neue, gerechte Völkerordnung fruchtbar macht."[18]

Um einen dauerhaften Frieden, der auf dem Recht gegründet ist, zu gewährleisten, wird Europa auf seine christlichen Wurzeln zurückkommen müssen. Es wird großer Anstrengungen bedürfen, um die fortschreitende „kulturelle Amnesie“, die J. B. Metz für Europa diagnostiziert hat, zu überwinden.[19] Seit Ende der 90er Jahre hat unser jetziger Papst wesentliche Eckpunkte einer solchen Rückbesinnung auf das Erbe Europas benannt:

Unbedingtheit der Menschenwürde

Zu einer rechtsstaatlichen Ordnung in Europa gehört die Unbedingtheit, mit der die Menschenwürde als Grundpfeiler jeder staatlichen Gesetzgebung zu achten ist. Damit sind unveräußerliche Rechte der Person verbunden, die nicht vom Gesetzgeber geschaffen noch dem Bürger zuerkannt werden, sondern die als Recht per se existieren. Die Gültigkeit der personbezogenen Grundwerte steht über jeglichem politischen Handeln und verweist letztlich auf den Schöpfer: Nur er kann Werte festlegen, die sich auf das menschliche Wesen stützen und die unantastbar sind.

Freiheit, Gleichheit und Solidarität

Wo der Wert und die Würde des Menschen, seiner Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit der Bestätigung des Rechtsstaates eine schriftliche Fixierung finden, impliziert dies ein klares Bild des Menschen, eine moralische Option und den Gedanken des unantastbaren Rechtes der Person. Sie sind alles in allem grundlegende Faktoren für die Identität Europas und müssen deshalb auch in ihren konkreten Folgen garantiert werden. Verteidigt werden können sie nur durch die stete Erneuerung des moralischen Bewusstseins.

Ehe und Familie

Ein weiterer Punkt, der die Identität Europas verkörpert, sind Ehe und Familie. Die Ehe als Grundstruktur der Beziehung von Mann und Frau, die zugleich auch als Urzelle des staatlichen Gebildes gilt, entstand auf der Grundlage des biblischen Glaubens. Die Form des Glaubens und Verzichts, die ihr zugrunde liegt, müssen immer wieder neu erobert werden, was mit Mühe und Leid einhergeht. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn diese Urzelle seines sozialen Gebäudes verschwinden oder grundlegend verändert würde. Die oben erwähnte Grundrechte-Charta spricht zwar vom Anrecht auf Heirat, bietet jedoch keinen konkreten rechtlichen Schutz für die Ehe und Familie.

Achtung vor dem Heiligen

Als dritten Punkt muss man noch einen Aspekt anführen, der für alle Kulturen wesentlich ist: die Achtung vor dem, was dem anderen heilig ist, vor allem die Achtung vor dem, was im höheren Sinne heilig ist. Es ist eine Haltung, die man auch bei Menschen findet, die nicht an Gott glauben. Wo diese Achtung verschwindet, da geht Wesentliches verloren. In heutiger Gesellschaft vermehren sich in diese Richtung Grenzüberschreitungen eines dekadenten Journalismus, der meint, sich auf unbegrenzte Meinungsfreiheit berufen zu können. Es darf jedoch nicht sein, dass Meinungsfreiheit die Ehre und Würde des anderen zerstören. Auch sie muss zurückgekoppelt werden an die Würde und das Recht der Person.

Auch die multikulturelle Gesellschaft kann nicht existieren ohne eine gemeinsame Konstante, ohne Orientierungspunkte, die aus der eigenen Tradition entspringen. Dem Westen ist die Aufgabe gestellt, seinen Selbsthass zu überwinden, der sich auf die eigenen Traditionen bezieht, und dies inmitten einer Vielfalt von Kulturen, die davon überzeugt sind, dass eine Welt ohne Gott keine Zukunft hat. Die Achtung vor dem, was heilig ist, wird einer Gesellschaft nur in dem Maße gelingen, als ihr Gott, der Heilige, nicht fremd ist.[20]

Aufklärung auf dem Boden des Christentums

Weil das Christentum in Europa seine wirksamste kulturelle und intellektuelle Ausprägung gefunden hat, bleibt es in einzigartiger Weise mit diesem Kontinent verflochten. Man muss bedenken, dass die radikale Loslösung vieler heutiger Philosophien von ihren religiösen Wurzeln, mit der die Selbstermächtigung des Menschen einhergeht, letztlich zu seiner, des Menschen, Abschaffung führt. Die rationalistische Philosophie kann nur eine Öffnung zur Wirklichkeit vollziehen, wenn sie den Zusammenhang mit ihren religiösen Wurzeln wieder anerkennt.

Genauso muss der Glaube für den suchenden Menschen Antworten bereithalten, die ihn über die Welt des Selbstgemachten hinausführen. Diese Antworten können nur von einer authentischen Religion herkommen, die mit der Vernunft in Einklang steht.[21]

Die Formulierung der unverletzlichen Menschenrechte, die unter allen Umständen ihre Gültigkeit behalten, ist als positives Resultat der Aufklärung zu werten, die ja selbst auf dem Boden des Christentums erwachsen ist. So hat sie geholfen, sittliche und rechtliche Prinzipien aufzustellen, deren Gültigkeit auch für Nichtchristen einlösbar ist.

Hier liegt der Grund, warum der Glaube die Aufklärung nicht hinter sich zu lassen hat. Das Christentum, das immer einen Primat der Vernunft gegenüber dem bloßen Brauchtum der Religion gekannt hat, leistet selbst immer wieder Aufklärung und ist darum deren Zwilling. Allerdings muss sie sich von dem atheistischen Humanismus lösen, mit dem sie oftmals gepaart ging.

Wo es um das gemeinsame Handeln von Christen und Atheisten, um den Einsatz für Würde und Gerechtigkeit geht, dort steht der Atheist nach Flores d‘Arcais vor einer schwierigen Aufgabe:

„Er muss sich der unausweichlichen Tatsache stellen, dass praktizierte Solidarität und der Primat des Du verlangen, sich selbst zu opfern, damit die gleiche Würde nicht nur Rhetorik bleibt. Und dieses Opfer gelingt in der Regel nur dem, der an das Andere im Sinne eines Gottvaters glaubt.[22]

Erstaunlich ist, dass selbst ein Atheist zu solchen Einsichten kommt! Der christliche Glaube darf nicht nur als Zivilreligion[23] auftreten, die den Kitt für eine bürgerliche Ordnung liefert, sondern muss eine Quelle geistiger Kraft für das Zusammenleben in Europa sein.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Der Beitrag beruht auf Auszügen aus dem Artikel „Die Botschaft von Fatima und die christliche Identität Europas“ von Michael Stickelbroeck, in: Reinhard Dörner (Hg.): „In den letzten Tagen werden schlimme Zeiten hereinbrechen“ (nach 2 Tim 3,1) – Der Antichrist und die Welt von heute, Berichtband der Osterakademie Kevelaer 2008, Verlag Kardinal-von-Galen-Kreis e.V., S. 77-92.
[2] Vgl. zum Folgenden J. Ratzinger: Was ist Europa. Grundlagen und Perspektiven, in: Ders.: Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg 2005, 67-98; vgl. ders.: Europa in der Krise der Kulturen, in: M. Pera/J. Ratzinger: Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005 (= Europa in der Krise II), 61-84, vgl. auch ders.: Warum hasst sich der Westen?, in: Cicero Juni 2004, 64ff.
[3] Vgl. J. Ratzinger: Werte in Zeiten des Umbruchs, 84f.
[4] Vgl. G. Hirsch: Ein Bekenntnis zu den Grundwerten, in: FAZ v. 12.10.2000.
[5] Vgl. J. Ratzinger: Werte in Zeiten des Umbruchs, 85f.
[6] Vgl. J. Kreiml: Braucht die europäische Moderne (noch) das Christentum?, in: J. Reikerstorfer/J. Kreiml: Suchbewegungen nach Gott, Frankfurt 2006, 89-104, hier: 95.
[7] G. Keppel: La revanche de Dieu. Chrétiens, juifs et musulmans á la reconqueéte du monde, Paris 1991, 228f.
[8] Vgl. B. Posselt: Ist Religion gefährlich? Wahrheit und Terrorismus, Augsburg 2007, 94: „Jene Führungsschichten, die sich nach wie vor auf die Selbstverwirklichungs-Ideologie der Achtundsechziger stützen…, vertreten auch die Ansicht, dass nur strikter Säkularismus und Laizismus einen Clash of Civilizations in der Außenpolitik sowie einen Kulturkampf mit Einwanderungsgruppen im Inneren verhindern könne.“
[9] J. Ratzinger: Europa in der Krise II, 77f.
[10] J. Ratzinger: Europa in der Krise der Kulturen, in: FAZ 57 (14. Mai 2005) (= Europa in der Krise I), 9; vgl. dazu auch J. Röser: Mut zur Religion, Erziehung, Werte und die neue Frage nach Gott (Herder Spektrum, 5602), Freiburg 2005, und M. Knapp: Verantwortetes Christsein heute. Metaphysik und Postmoderne, Freiburg 2006.
[11] J. Ratzinger: Europa in der Krise II, 66f.
[12] Vgl. FN 24.
[13] Vgl. J. Ratzinger: Europa in der Krise II, 137: „… dass der Relativismus … zur Intoleranz tendiert und in einen neuen Dogmatismus umschlägt. Die Political Correctness, auf deren allgegenwärtigen Druck Sie hinweisen, will die Herrschaft einer allein gültigen Weise des Denkens und des Sprechens aufrichten… Nur so darf man noch denken und reden, wenn man auf der Höhe der Gegenwart sein will. Während man das Stehen zu den überlieferten Werten und den sie tragenden Erkenntnissen als intolerant brandmarkt, wird der relativistische Standpunkt zur Pflicht erhoben.“
[14] Vgl. J. Ratzinger: Europa in der Krise I, 9.
[15] Vgl. zum vollständigen Text www.europarl. europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf.
[16] Vgl. J. Kreiml, 95f.
[17] Vgl. ebd., 16.
[18] Ebd., 17.
[19] Vgl. J. B. Metz: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006, 201-205.
[20] Vgl. zu diesen Ausführungen J. Ratzinger: Warum hasst sich der Westen?, a.a.O., 64ff.
[21] Vgl. J. Ratzinger in: P. Flores d‘Arcais/J. Ratzinger: Gibt es Gott? Wahrheit, Glaube, Atheismus, Berlin 22006, 19-67, hier: 23.
[22] P. Flores d’Arcais: Eine Kirche ohne Wahrheit?, in: ebd., 69-106, hier: 105f.
[23] Vgl. zum Begriff „Zivilreligion“ J. Ratzinger: Europa in der Krise II, 129.

„Wir werden Verachtung ernten“

Bereits im Jahr 2006 hat sich Walter Kardinal Kaspar, der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, mit den nachfolgenden Worten zur Frage des Kreuzes im öffentlichen Raum geäußert. Seine Aussagen, die sich in Anbetracht des Kreuz-Urteils geradezu als prophetisch erweisen, sind ungewöhnlich scharf. Mit einem mahnenden Appell kritisiert er schonungslos den falschen Weg, den die europäische Politik eingeschlagen hat. Er spricht von einem „feigen Verständnis von Toleranz“, welche sich „am Ende selbst ad absurdum“ führe.

Von Walter Kardinal Kasper

Das Kreuz findet man auf den Kirchtürmen von Portugal bis Finnland, von Irland bis Moskau. Es ist Identitätssymbol Europas. Das Kreuz abhängen, es auf den privaten Raum beschränken oder es verstecken, kommt einer Kapitulation und einer kulturellen wie religiösen Selbstverleugnung gleich. Mit ihr werden wir nicht Achtung, sondern Verachtung der Andersgläubigen ernten. – Kann man sich ein Land mit Muslimmehrheit vorstellen, das auf das Symbol des Halbmonds verzichtet, oder hätten in solchen Ländern Beschwerden von Christen, dass sie durch den Ruf des Muezzin in ihrer Nachtruhe gestört werden, Aussicht auf Erfolg? Oder werden in Zukunft bei uns Muslime auf den Bau von Moscheen verzichten, nur weil einzelne Bürger oder Gruppen von Bürgern daran Anstoß nehmen?

Nein, wir sitzen gegenwärtig einem falschen, um nicht zu sagen einem schwächlichen und feigen Verständnis von Toleranz auf. Toleranz bedeutet Respekt und Achtung vor der Überzeugung anderer, nicht Verzicht auf die eigene Überzeugung.

Sicher kann der Anblick des Gekreuzigten befremden, erschrecken und auch innerlich aufwühlen. Aber ist unsere Welt nicht sehr oft erschreckend und innerlich aufwühlend? Erfahren dies nicht auch Kinder jeden Abend, wenn sie keineswegs brutale Killerspiele, sondern schlicht die „Tagesschau“ sehen? Inmitten einer Welt voller Unrecht und Gewalt soll das Kreuz mit dem Gekreuzigten ein Zeichen der Versöhnung und der Liebe sein, die auch in die dunkelsten Situationen hineinreicht.

Ich habe den Eindruck, dass in dieser Hinsicht sich manche vermeintlich kritische Christen von Hindus und Muslimen in ihrer Hochachtung vor Jesus übertreffen lassen. So glauben etwa Muslime zwar nicht an die Gottessohnschaft Jesu, aber als Prophet haben sie hohe Achtung vor ihm. Auch der Koran kennt eine Weihnachtsgeschichte (einschließlich Jungfrauengeburt). Warum sollten also ausgerechnet christliche Kindergärten darauf verzichten, Kindern die Weihnachtsgeschichte zu erzählen und sie durch eine Krippe anschaulich darzustellen? Solche Art von Toleranz führt sich am Ende selbst ad absurdum.

Etwas anderes ist es, mit Muslimen oder anderen Nichtchristen gemeinsam beten und Gottesdienst feiern zu wollen. Das ist nicht möglich. Die Vermischung verschiedener Religionen ist nicht Achtung, sondern Missachtung des anderen. Sie verleugnet nicht nur den eigenen Glauben, sondern veranlasst auch den anderen, seinen Glauben zu verleugnen. Das sollten wir weder uns noch den anderen antun. Nicht mausgraue Gleichmacherei ist die Antwort auf die pluralistische Situation, sondern dass wir es lernen, einander in unserem Anderssein zu achten.

Wir danken dem Magazin FOCUS für die Überlassung dieses in seiner Ausgabe 52/2006 erschienenen Textes.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2009
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Europa-Rosenkranz – ein Weckruf

Zur aktuellen Diskussion über das Kreuz im öffentlichen Raum passt der Beitrag von Pater Notker Hiegl OSB über den sog. „Europa-Rosenkranz“. Er versteht die neue Initiative als Gebetshilfe zur Re-Evangelisierung des europäischen Kontinents. Die primäre Gefahr für die Identität Europas sieht er nicht so sehr in fundamentalistischen Strömungen wie dem Islamismus, sondern in der „Verschlafenheit“ der Christen. „Als Stadt Lissabon“, so meint Pater Hiegl, „würde ich es mir schlichtweg verbieten, meinen Namen für einen Europa-Vertrag zu verwenden, der in seiner Präambel auf einen christlichen Gottesbezug verzichtet“. Und so will er die Christen mit einem Weckruf zu einer Neubesinnung und zu einer aktiven Teilnahme an der Re-Evangelisierung des Kontinents bewegen. Konkret lädt er dazu ein, jeden Tag wenigstens ein Gesätzchen des Rosenkranzes für ein christliches Europa zu beten.

Von Notker Hiegl OSB

Von der damaligen Hochschule der Salesianer in Benediktbeuern aus besuchte ich als Jungpriester und Student immer wieder das nahe gelegene Karmel-Kloster St. Josef in Aufkirchen/Berg am Starnberger See. Brigitte, eine Mitstudentin, welche später einmal selbst in diesen Karmel eintreten sollte, hatte mich auf das Kloster aufmerksam gemacht. Ich war ihrer Einladung gefolgt und mit ihr gemeinsam aufgebrochen, um den Konvent kennen zu lernen. Als der Vorhang hinter dem Holzgitter durch die Priorin zurückgeschoben wurde, saßen vor uns die Schwestern in ihren schweren, braunen, stilschönen Kleidern und Skapulieren, den schwarzen Schleier auf dem Haupt zurückgeschlagen. Sie hatten gerade Rekreation und unterhielten sich angeregt in fröhlicher Atmosphäre. Wie freuten sie sich, als wir ihnen auf der anderen Seite des Gitters einige Lieder mit Gitarre vorsangen! Von dieser ersten Begegnung mit den Karmelitinnen ist mir in Erinnerung geblieben, dass ich in jedem vom weißen „Dog“ umrahmten Gesicht die kleine hl. Theresia zu sehen glaubte.

Enge Verbindung mit dem Karmel

Seitdem stehe ich mit den Schwestern dieses Klosters in regem Kontakt. Einige Jahre nach unserem ersten Treffen durfte ich den Schwestern sogar mehrere Male die Jahres-Exerzitien geben. Kein Wunder, dass bei unseren Begegnungen im Sprechzimmer immer wieder „wunderbare Ideen“ geboren wurden. Der Artikel „Maria, Mutter Europas“ im Mai-Heft 2008 der Zeitschrift „Kirche heute“ hatte die Schwestern sehr begeistert. So brachten sie den Wunsch zum Ausdruck, an der Re-Evangelisierung unseres europäischen Kontinents konkret mitzuwirken. Zunächst wehrte ich etwas hilflos ab. Durch ihr stilles Beten und Sühnen „hinter dem Gitter“ geschehe schon überwältigend viel für „diese europäische Sache“, meinte ich. Eine Karmelitin aber machte den Vorschlag, Europa-Rosenkränze zu knüpfen. Sie fand freudige Zustimmung unter den anderen anwesenden Schwestern. Doch wie sollte ein Europa-Rosenkranz aussehen? Könnte man vielleicht nach dem Namen Jesus im „Gegrüßet seist du Maria“ einen entsprechenden Gedanken einfügen? Noch wusste niemand, wie bzw. wer einen Europa-Rosenkranz organisieren sollte. Aber die Idee war geboren und Sr. M. Veronika bekam den Auftrag, mir in einem Brief mitzuteilen, wie ein „Europa-Rosenkranz“ verwirklicht werden könnte.

Das Europa-Rosenkranz-Projekt

Kurze Zeit später schrieb mir die Schwester: „Wir knüpfen Ihnen 3000 Rosenkränze mit blauen Perlen und goldgelben Schnüren, den Farben der Europafahne.“ Der Europa-Rosenkranz sollte sich also an der Europa-Fahne orientieren: Die jungfräulich blau gehaltene Europafahne mit den 12 goldenen Sternen (vgl. Offb 12,1) – damals unter Konrad Adenauer (1876-1967), Alcide de Gasperi (1881-1954) und Robert Schuman (1886-1963) favorisiert, zuvor entworfen von Paul Levi, einem zum katholischen Glauben konvertierten Juden – leiht dem künftigen Europa-Rosenkranz die Farben. Das Kreuzchen am Rosenkranz mit einer Benediktusmedaille (Erinnerung an den Erst-Patron Europas) und das geprägte „Herzstück“ mit der Madonna auf der Vorderseite und der Kapelle „Maria Mutter Europas“ von Gnadenweiler auf der Rückseite geben dem Rosenkranz einen weiteren europäischen Charakter.

Die ersten Rosenkränze wurden dann aber erst ein Jahr später, Ende April 2009, fertig, gerade noch rechtzeitig für die 700-Jahrfeier der Kapelle „Unserer Lieben Frau von Europa“ auf Gibraltar (5. Mai 2009). Bischof Charles Caruana hatte die Freunde unserer Gnadenweiler Europa-Kapelle zu seinem Fest-Jubiläum eingeladen. Gäste ohne Zahl, all die anwesenden Kardinale (3), Bischöfe (17), Prälaten, Mönche und Priester aus Bosnien-Herzegowina, England, Frankreich, Irland, Italien, Litauen, Malta, Österreich, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, Russland, Weißrussland und dem Vatikan, dazu die vielen Ministranten, alle erhielten von mir persönlich zur Festprozession die ersten Europa-Rosenkränze geschenkt. Welche europäische Streuung gleich am Anfang dieser Re-Evangelisierungs-Mission!

„Werdet wach, ihr schlafenden Christen!“

Wenn sich die europäische Christenheit in kritischen Situationen befand, riefen die Päpste alle Gläubigen zum Rosenkranzgebet auf. Man denke an die Seeschlacht von Lepanto 1571 oder an die zweite Belagerung Wiens im Jahr 1683. Die dringenden Appelle aus Rom wurden ernst genommen und es hat geholfen. Ich selbst bin als Donauschwabe in der Puszta geboren. Kaiserin Maria Theresia hatte nach den Siegen unter Prinz Eugen, dem „Edlen Ritter“, mit jungen tüchtigen Kolonisten auf dem von den Osmanen befreiten Balkan gleichsam einen Schutzwall zur Verteidigung des christlichen Europa angelegt. Darunter waren auch meine leiblichen Vorfahren. Ihr Blut pocht noch in meinen Adern. Europa soll christlich bleiben! Außer Donauschwabe bin ich natürlich auch Benediktiner, ein Ordensmitglied der Erbauer und – durch all die Jahrhunderte in je neuer schwieriger Lage – Erhalter Europas. Alles ruft da nach einem lauten: „Werdet wach, ihr schlafenden Christen!“ Hat denn eine Schlafkrankheit das christliche Europa, all die christlichen Europäer, seien es Katholiken, Protestanten oder Orthodoxe übermannt? Als ,,Hallo-Wach“-Kapelle habe ich auf dem Gnadenweiler das Heiligtum „Maria Mutter Europas“ erbauen lassen (Künstler Helmut Lutz, Breisach; Architekt Aldo Menean, Fridingen; Baufirma Karl Korb, Irndorf; Polier Benedikt Beck, Gnadenweiler). Als „Hallo-Wach“-Gebet soll der Europa-Rosenkranz (wenigstens mit einem täglichen Gesätzchen) dem durch unterschiedliche Weltanschauungen verunsicherten Europa zu Hilfe kommen.

Sendungsbewusstsein unserer muslimischen Mitbürger

Als ich vor wenigen Monaten auf dem Bahnhof in Sigmaringen eine Fahrkarte ausgerechnet nach Aufkirchen kaufte, entwickelte sich mit dem jungen sympathischen Schalter-Beamten eine interessante Unterhaltung. Zunächst sprach er mich auf meine benediktinische Ordenskleidung an. Dazu meinte er, es gebe auch in anderen Religionen Mönche. Außerdem, so fuhr er fort, sei Europa nur wegen ein paar zufällig gewonnenen Schlachten heute noch christlich. Ansonsten folgten die meisten Teile der Welt, wie Süd- und Mittelasien oder Afrika, dem Koran und nicht der Bibel. Und im Stenogrammstil zeigte er die ganze „islamische Geschichte“ Europas auf: Nach Mohammeds Tod 632 in Medina habe sich der Islam über ganz Nordafrika rasch ausbreiten können. 711 sei er schon über Gibraltar nach Europa eingedrungen und im Jahr 731 vom Westen her im Herzen des Frankenreiches gestanden. Im Osten habe sich der Siegeszug nach der Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen über den Balkan immer weiter nach Europa hinein bis vor Wien fortgesetzt. Europa sei ein paar Mal fast „rechtgläubig“ geworden. Es gäbe auch diese andere Geschichte Europas, nicht nur die christliche! Da erwähnte ich die berühmte Seeschlacht von Lepanto im Jahre 1571, in welcher die spanische, venezianische und päpstliche Flotte unter Don Juan de Austria durch das unterstützende Gebet des Rosenkranzes einen historischen Sieg zur Erhaltung des Christentums in Europa errungen habe. Diese Äußerung wischte er nur lässig mit seiner Hand hinweg und meinte: „Sie können ja auch noch Derwisch werden!“ Das ist bekanntlich die Bezeichnung für einen muslimischen Mönch. Das gab mir dann persönlich doch „Zukunftssicherheit“.

Rosen-Kranz und Rosen-Krönlein

Ähnlich wie der Karmel in Aufkirchen haben auch schon andere Schwesternkonvente und Gruppierungen damit begonnen, täglich bewusst ein Gesätzchen des Rosenkranzes für die Re-Evangelisierung Europas zu beten. Meistens fassten sie den Beschluss, nachdem sie Europa-Rosenkränze geschenkt bekommen hatten. Auch bei anderen Anlässen – wie Wallfahrten nach Gnadenweiler, Gibraltar oder Beresniki – könnten solche Gebetsgemeinschaften gebildet werden. Um den neuen Europa-Rosenkranz zu verbreiten, haben wir ihn unter „Maria Mutter Europas/Gnadenweiler“ ins Internet gestellt.

Eine andere schöne Idee beginnt bereits ihre Wirkung zu entfalten: die Herstellung von „Rosen-Krönlein“. Es handelt sich um einen Finger-Rosenkranz mit nur einem Gesätzchen und 12 Sternen (kleine gold-gelbe Perlen zwischen den größeren blauen). Im Italienischen heißt Finger-Rosenkranz „Coroncina“, was „Krönlein“ bedeutet. Und die Krone der Mutter Europas hat nun einmal 12 Sterne! Übrigens sind solche Krönlein in der Zwischenzeit bereits hundertfach hergestellt worden, wunderbar in ihrem Aussehen. Und sie „gehen wie die warmen Wecken“, wenn ich sie auf dem Ständer für Andachts-Gegenstände in der Gnadenweiler Kapelle auslege. Großer Rosen-Kranz und kleines Rosen-Krönlein: Welcher Gewinn wäre es für die Re-Evangelisierung Europas, wenn wir am Tag wenigstens ein 10er-Gesätzchen – mit welchem Geheimnis auch immer – in diesem großen Anliegen beten würden.

Erlösendes Kreuz Christi über Europa

Die Gebetsverbrüderung zwischen Gibraltar, Gnadenweiler und Beresniki (Ural) im Zeichen der Kapellen „Maria Mutter Europas“ ist bereits Wirklichkeit geworden. Wie ein großer Bogen spannt sich diese marianische Umarmung vom Atlantik im Südwesten bis zum Ural im Nordosten über ganz Europa. Im Sommer kam nun der Gedanke auf, zu diesem „Längsbalken“ noch einen „Querbalken“ hinzuzufügen und so – unter dem Schutz Mariens – das „erlösende Kreuz Christi“ über Europa zu legen. Als Standpunkte für zwei weitere Kapellen zu Ehren Mariens als „Mutter Europas“ nahmen wir Island im Nordwesten und Sizilien oder Kreta/Malta ganz im Süden Europas in den Blick. Bald unternahmen wir die ersten Schritte. Am 14. Juli 2009 richtete ich eine entsprechende Anfrage an den katholischen Bischof von Island in Reykjavik, Pierre Bürcher. Ich schlug ihm die Erweiterung des Titels der Marienkirche in Reykjavik oder den Titel „Maria Mutter Europas“ für die Kapelle in Isafiordi vor, um sich so in unsere bereits bestehende Gebets-Verbrüderung einzubinden. Zu unserer großen Freude erhielten wir eine positive Antwort. Ende November folgen wir der Einladung nach Reykjavik, um zusammen mit einer Delegation aus Deutschland die Erweiterung unserer Partnerschaft im Zeichen „Unserer Lieben Frau von Europa“ zu besiegeln. Die Heiligtümer Mariens, der „Mutter Europas“, in Nord und Süd, in Ost und West sowie in deren Schnittpunkt sind Zeichen unseres christlichen Erbes. Sie ermutigen uns, die Zukunft Europas für IHN allein zu gestalten. Das Christentum ist die geistige Form der Europäer, sich den Fragen des Lebens zu stellen zu Ehren des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und so soll es bleiben!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2009
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Ihr Christen Europas, warum schaut ihr zu?

Nweke Kizito Chinedu ist Priesterseminarist aus Nigeria und studiert an der Päpstlichen Hochschule in Stift Heiligenkreuz bei Wien. Als afrikanischer Christ registriert er mit Entsetzen das kirchenfeindliche Klima in Europa und ist erstaunt, mit welcher Passivität die Christen sich darin fügen. Er stellt die bangenden Fragen: Warum schaut ihr zu? Warum argumentiert ihr nicht? Warum verkündet ihr nicht die Wahrheit?

Von Nweke Kizito Chinedu

In Westeuropa – nehmen wir Österreich als Fallbeispiel – gibt es seit längerem einen heftigen Sturm der Kritik am Christentum, eine antichristliche Strömung. Gläubig zu sein wird als eine bemitleidenswerte Situation angesehen.

Um es milde auszudrücken: Die meisten Christen warten hilf- und tatenlos auf die vollkommene Zerstörung des bereits angeschlagenen Christentums. Was mir Sorgen macht, ist nicht etwa, dass die Kirche schwierige Situationen nicht überleben (Mt 16,18) oder dass Christus Seine Kirche verlassen würde (Mt 28,20). Ich mache mir über den Grad der Gleichgültigkeit Sorgen, mit der die Christen in diesem Land mit dieser Situation umgehen.

Es ist die totale Passivität, mit der die Christen der sich zerstörerisch aufbauenden Welle eines Antichristentums begegnen. Durch die Medien, vor allem durch die Tagespresse, die Magazine, das Fernsehen und das Radio, sind die Menschen tagtäglich mit Ideologien konfrontiert, denen nur starke, unterscheidende Geister und tiefwurzelnder Glaube standhalten können. Die Frage ist: Wie gehen die Christen damit um? Was haben sie bis jetzt dagegen unternommen?

Ich lese die Tagespresse und bin bestürzt über den offensichtlichen Eifer, mit dem Journalisten und Redakteure unbegründete Behauptungen aufstellen, unlogische Schlüsse ziehen und feindselige Kritik an der Kirche und ihrer Führung üben. Die Passivität, mit der die Christen auf diese Angriffe reagieren, ohne Gewissensbisse zu haben, ist alarmierend.

Warum entscheidet man sich dafür, zuzuschauen, wie Wertvolles zerstört wird, statt zu argumentieren, zu verteidigen und die Wahrheit zu verkünden – und zwar von einem rationalen Standpunkt aus? Warum sollte man sein natürliches Potential, auf negative Entwicklungen zu reagieren, nicht ausschöpfen, besonders wenn diese auf einer lähmenden Ideologie gedeihen?

Jetzt ist die Zeit, aufzuwachen, jeder soll auf seine Weise und in seinem Lebensumfeld sprechen. Lest! Schreibt! Sprecht laut! Wir müssen uns vorbereiten, weil Christus uns schon gewarnt hat: „… denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts“ (Lk 16,8).

Wir können diese Entwicklung nicht aufhalten, indem wir auf ein Wunder von Gott warten. Warum sollte Er ein Wunder tun, wenn Er uns schon die Fähigkeit dazu durch unseren Glauben und unseren Verstand gegeben hat? Das Gebet ist zweifellos der erste Schritt, den wir tun müssen, aber wir dürfen es nicht beim Knien belassen. Wir müssen handeln. Wir schulden das unseren Nachkommen. Die Menschen treten aus der Kirche aus, weil sie die falschen Antworten auf ihre Fragen bekommen, und sie bekommen die falschen Antworten von den falschen Leuten. Ein Durchschnittsösterreicher, der die Tageszeitungen liest, wird eher dazu neigen, seinen Glauben zu verlieren, als ein Glaubender zu bleiben. Es ist Zeit, Christus führen zu lassen. Lasst alle in eurer Umgebung merken, dass hier ein Christ ist. Wo seid ihr? Was seht ihr? Was hört ihr? Was wisst ihr? Sprecht laut! Unser Schweigen ist unser Schmerz! (siehe auch unter www.europe4christ.net).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2009
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Maria – Immaculata Conceptio

Die Diplom-Theologin Anna Roth ist auf marianische Themen spezialisiert. Sie betrachtet das Geheimnis Mariens in einem christologischen Licht, also von der Menschwerdung Gottes her. Grundlage ist für sie die Lehre der Kirche. Was sagt die katholische Tradition über die Gnade, welche die Jungfrau Maria vom ersten Augenblick ihres Daseins an mit auf den Weg bekommen hat? Wie hat sich im Festgeheimnis der „Immaculata Conceptio“ vom 8. Dezember nicht menschliches Verdienst, sondern ewiger Ratschluss Gottes manifestiert?

Von Anna Roth

Der Weg zu Maria führt über Jesus

Wenn wir Maria betrachten, wenn wir sie näher kennenlernen wollen, dann müssen wir sie von Christus her betrachten. Denn so wie der Weg zu Jesus über Maria führt, so führt der Weg zu Maria über Jesus. So können wir uns der Erhabenheit und der königlichen Würde Marias nur nähern, wenn wir den LOGOS, das fleischgewordene WORT, näher in den Blick nehmen.

Der Johannes-Prolog und das große Credo geben uns Kenntnis von der Göttlichkeit des LOGOS. Sie geben uns Kenntnis darüber, dass das fleischgewordene WORT Gottes eingeborener Sohn ist, dass Er eines Wesens mit dem Vater ist. Jesus selbst sagt von sich, dass Er und der Vater eins sind (vgl. Joh 10,30) und dass der Vater in Ihm und Er im Vater ist (vgl. Joh 10,38).

So wird Maria auch die LOGOS-Trägerin genannt. Sie, Maria, trägt den LOGOS, der seiner Gottheit nach ewig aus dem Vater hervorgeht und der in der Zeit als Mensch geboren wird. Es gibt nur den einen Sohn Gottes. In Christus ist der eine und derselbe, der in zwei verschiedenen Naturen der Gottheit und der Menschheit nach existiert. Es finden sich also zwei wunderbare Geburten in Ihm, dem LOGOS, dem göttlichen Sohn: Er ist vom Vater ohne Mutter vor aller Zeit gezeugt und Er ist am Ende der Zeiten von der Mutter ohne Vater geboren worden.

Jungfrau – voll der Gnade

Für dieses große Heilsgeschehen, für dieses Kommen des göttlichen Sohnes Jesus Christus in diese Welt, für seine Inkarnation in Maria, musste sie, die von Gott von Ewigkeit her Erwählte, besonders bereitet werden. Und so ragt Maria durch ihre Unbeflecktheit über alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde hervor. Deshalb konnte der Engel Gabriel sie grüßen als die, die voll der Gnade ist.

Maria, als die über alles Begnadete, wird auch die Braut des Heiligen Geistes genannt, weil er in ihr wohnt; und weil er sie, Maria, überschattete. Das bedeutet, dass der Heilige Geist Träger göttlich zeugender Kraft ist. Und weil diese Kraft geistig ist, bleibt die Jungfrau unversehrt, bleibt die Jungfrau – Jungfrau. Diese Kraft aber geht letztlich von Gott Vater, also der ersten Göttlichen Person aus. Festzuhalten ist, dass die Menschwerdung des Sohnes ein Akt des dreifaltigen Gottes bzw. der Trinität ist. Denn „die Menschwerdung des Sohnes ist grundgelegt im Ratschluss des Vaters, geschieht durch das Ja-Wort des Sohnes und das Wollen des Heiligen Geistes“.[1]

Die Sündenlosigkeit Marias ist grundgelegt in Jesus Christus. Denn Christus war als Mensch sündenfrei durch sich selbst. Keinesfalls bedurfte Er, der aufgrund der hypostatischen Vereinigung Gott und Mensch in aller Vollkommenheit und in einer Person ist, der Mithilfe eines Geschöpfes in irgendeiner Weise. Dass Gott Maria erwählt hat, die Mutter seines göttlichen Sohnes zu sein, ist einzig der Wille Gottes und ein Akt der vollkommenen Liebe des Schöpfers, der die Liebe ist.

Ursprüngliche Schönheit der Schöpfung

Maria als Mensch, als Geschöpf nimmt eine Sonderstellung in der Heilsgeschichte der Menschheit ein. An Maria offenbart sich, zeigt sich das Handeln des dreifaltigen Gottes, das Welthandeln. Das heißt das Hineintreten Gottes in die Welt wird konkret bzw. tritt in einzigartiger Konkretheit an der Person Marias für uns Menschen greifbar in Erscheinung. Durch ihre Unbeflecktheit kann über Maria ausgesagt werden, dass sie zur Trinität in eine besondere Beziehung gestellt ist.[2]

Maria ist das Meisterwerk Gottes unter allen Geschöpfen im Himmel und auf Erden. Durch ihre Unbeflecktheit ist in ihr die ursprüngliche Schönheit der Schöpfung unversehrt bewahrt. Diese Schönheit scheint in Maria auf, strahlt heraus, und wir nehmen sie wahr. Schönheit – hierunter verstehen wir auch die Anmut ihres Wesens. In dieser ihrer Anmut vereinigen sich hohe natürliche und übernatürliche Haltungen Marias.

Von Anfang an war es Gottes Plan, seinem einziggeborenen Sohn eine Mutter zu erwählen, aus der Er in der seligen Fülle der Zeiten geboren werden sollte.[3]

So verkündet Pius IX. 1854 das Dogma von der unbefleckten Empfängnis. Die entsprechende Definition des Dogmas lautet wie folgt:

„Zur Ehre der heiligen und unteilbaren Dreifaltigkeit, zur Zierde und Auszeichnung der Jungfrau und Gottesgebärerin, zur Erhöhung des katholischen Glaubens und zum Wachstum der christlichen Religion, kraft der Autorität unseres Herrn Jesus Christus, der seligen Apostel Petrus und Paulus und Unserer (eigenen) erklären, verkünden und definieren Wir, dass die Lehre, welche festhält, dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde, von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und beständig zu glauben ist."[4]

Dieses Dogma wurde vier Jahre später in Lourdes bestätigt. Nach bereits mehreren stattgefundenen Erscheinungen in Lourdes erklärt die Muttergottes bei der 16. Erscheinung, am 25. März 1858, der Seherin Bernadette Soubirous, dass sie die Unbefleckte Empfängnis ist.[5]

Vorausgreifende Erlösung und Heiligung

Die Ausgangsbasis zur Dogmatisierung der Immer-Jungfrau als die Unbefleckte schlechthin, das heißt als die „Unbefleckte Empfängnis“, ist die Erkenntnis, dass der Herr, also Gott selbst, mit Maria einen Plan hat, der einerseits in die Weltgeschichte greift, andererseits jedoch vor – in – über sie hinaus weist, das heißt seine Gültigkeit jenseits von Raum und Zeit hat.[6] Diese Aussage weist direkt auf Gott hin. Denn nur Er allein kann Verfügungen jenseits allen irdischen Geschehens, aller Ontologie, aller Seinheit setzen.

Der dreifaltige Gott hat also an Maria ein einzigartiges Gnadenprivileg gewirkt. Und Er hat „ihr eine solche große Liebe vor allen Geschöpfen erwiesen, dass er sich in jener einen mit geneigtestem Wohlwollen gefiel. Deswegen überhäufte er sie noch weit vor allen Engelgeistern und allen Heiligen mit der aus dem Schatz der Göttlichkeit genommenen Fülle aller himmlischen Gnadengaben so wunderbar, dass sie, von gar allem Makel der Sünde immer frei und ganz schön und vollkommen, eine solche Fülle an Unschuld und Heiligkeit zu erkennen gab, wie man sie sich unter Gott in keiner Weise größer vorstellen kann und wie sie außer Gott niemand in Gedanken erfassen kann."[7]

 Allerdings musste für diese Dogmatisierung erst die Basis geschaffen werden. Denn auch Maria war, wie die gesamte Menschheit, erlösungsbedürftig. So konnte Maria nur von der Sünde vorherbewahrt werden durch Jesu rettendes Blut. Denn Jesus ist auch für Maria gestorben. Alle ihre Gnaden verdankt Maria dem Erlösertod Christi. Es gab zwei unterschiedliche Positionen. Thomas von Aquin geht davon aus, dass Maria vor ihrer Geburt im Schoß ihrer Mutter Anna von Gott geheiligt, also von der Erbschuld, das heißt von der Ursünde, befreit wurde. Er setzt den Zeitpunkt der Heiligung Marias nicht gleich mit dem Lebensbeginn Marias. Dagegen prägt Duns Skotus den Begriff der Vorhererlösung Marias, das heißt dass Marias Sündenlosigkeit zeitgleich mit der Empfängnis im Schoß ihrer Mutter Anna ist. Skotus geht davon aus, dass die Gnade, die aufgrund des Erlösungswerkes Jesu Christi fließt, auch schon zuvor wirken kann und nicht nur im Nachhinein. Denn die Menschwerdung des LOGOS ist Plan, ist Wille Gottes.[8] Daraus folgt, dass die Gottesmutterschaft Marias von Anfang an, das heißt vor aller Zeit, von Gott beschlossen ist. Hieraus leitet Skotus ab, „dass alle übrige Schöpfung, die Engel eingeschlossen, Maria untergeordnet ist. Nach Christus nimmt sie als seine Erwählte im Heilsplan Gottes die zweite Stelle ein. Diese Einordnung in die absolute Inkarnation"[9] führt dazu, dass Skotus sprechen kann  „von der vorausgreifenden Erlösung und Heiligung Marias“.[10]

Die neue Eva an der Seite des neuen Adam

Mitentscheidend für die Definition des Immaculata-Dogmas war auch die Erkenntnis, dass Maria, als die neue Eva, in eine engste Nähe zu ihrem göttlichen Sohn, dem neuen Adam, gerückt ist. Es war unmöglich, Maria auch nur zeitweise in den Sündenstrahl von der alten Eva eintreten zu lassen. Denn ihre Aufgabe, die aus ihrer einmaligen unüberbietbaren Berufung als Gottesmutter entsprang, war eine Ganzhingabe.[11] Diese Ganzhingabe Marias endete eben nicht unter dem Kreuz, sondern lässt ihre Wirkung in das Jetzt hinein weiter aufleuchten. So kann denn auch von einem Bewahrungsmodell gesprochen werden, das heißt dass Maria von Gott geschaffen wurde einzig aus der Berufung heraus, Gottesmutter zu werden.[12]

Auch das Dogma von der Immerjungfrau, das heißt dass Maria vor – in – und nach der Geburt Jungfrau war und blieb, bereitete schon die Basis bzw. den Boden für die Immaculata Conceptio. Denn zur leiblichen Jungfräulichkeit Marias gehört auch die geistige Jungfräulichkeit, das heißt die innere Bereitschaft, ganz Christus zu folgen, das heißt die Ganzhingabe in den Willen Christi. Die Sündenlosigkeit Marias bewirkt, dass Marias Wille identisch, gleichförmig ist dem Willen Jesu. So kann Maria nicht in Konkurrenz zu Jesus treten. Denn: Sie kann nichts anderes wollen können – als den Willen Jesu wollen.

Einzig durch ihre Unbeflecktheit konnte sie in vollkommener Weise ihrem eigenen Willen entsagen, um nur dem Willen ihres göttlichen Sohnes zu entsprechen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2009
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[1] Michael Kreuzer in: A. Ziegenaus (Hg.) 2007, Bd.19, 84.
[2] Vgl. L. Scheffczyk in: Bäumer/Scheffczyk (Hg.): Marienlexikon 1989, Bd. 2, 233.
[3] Vgl. DH 2005, 2800.
[4] DH 2005, 2803.
[5] Vgl. Hierzenberger/Nedomansky 1993, 214.
[6] Vgl. L. Scheffczyk 2003, 128.
[7] DH 2005, 2800.
[8] Vgl. Courth 1991, 81.
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Vgl. A. Ziegenaus 1998, Bd. 5, 306.
[12] Vgl. ebd.

Eine Lanze für Teilhard de Chardin!

Prof. Dr. Hans Schieser hat selbst an der Gustav-Siewerth-Akademie Vorlesungen über Teilhard de Chardin gehalten. Wie er betont, geht es ihm darum, „diesem Denker gerecht zu werden, der weltweit (auch von Nicht-Christen!) als einer der ‚Großen des 20. Jahrhunderts’ gilt“. Über allem, was bei ihm diskutabel sei, sollte man nicht die Bedeutung seines Anliegens und das Wertvolle seiner Ideen vergessen. Schieser schreibt: „Während ich Frau von Stockhausen sehr schätze – ich habe lange für sie an der Gustav-Siewerth-Akademie gearbeitet – und ihre Argumente gegen Teilhard de Chardin durchaus als gültig sehe, möchte ich doch eine andere, mehr positive Perspektive vorschlagen.“

Von Hans Schieser

In „Kirche heute“ (Heft 11/2009) geht die Diskussion um einen Artikel zum Thema „Evolution“ mit einem längeren Leserbrief von Prof. Alma von Stockhausen, in dem sie die Irrtümer der Ideen von Teilhard de Chardin scharfsinnig und tiefgreifend darlegt. Das ist in vielem richtig, und soll hier nicht widerlegt werden. Aber es gibt auch eine andere Perspektive, die Teilhards Idee einer „Evolution von Alpha zu Omega“ durchaus positiv erscheinen lässt.

In seinem „Le Phénomène Humain“ (Paris, 1955; deutsch: „Die Entstehung des Menschen“, München, 1961) schrieb Teilhard de Chardin: „Wahrscheinlich habe ich mich in vielem getäuscht. Sollen andere versuchen, es besser zu machen. Was ich bei allem zu erreichen versuchte, war einfach, die Leute fühlen zu lassen, wie schwierig und doch wichtig dieses Problem ist, und seinen ungeheuren Umfang und die Art zu erfassen, mit der eine Lösung unweigerlich gefunden wird…“

Man muss einfach gestehen, dass alles, was wir über die Schöpfung wissen und glauben, letztlich „unerschöpflich“ ist, also unvollständig bleiben wird. Auch Albert Einstein erkannte, es sei nicht zu fassen, dass wir das Universum erfassen können … („The most incomprehensible about the Universe is, that it is comprehensible!“). Angesichts der wirklich irrigen Ansichten der Darwinisten, denen es gar nicht um Wissenschaft, sondern um Atheismus geht, können wir uns nicht leisten, ohne eine wissenschaftlich und theologisch ausgerichtete Theorie dazustehen, auch wenn sowohl die Wissenschaft als auch die Theologie hier ihre Grenzen eingestehen muss. Das suchte Teilhard zu lösen.

Es sei hier vorausgesetzt, dass wir „Theorie“ im ursprünglichen Sinn des griechischen Begriffs theoria verstehen: die Fähigkeit des Menschen, wie ein Gott (theos) in einer „Gesamtschau“ die Wirklichkeit zu erkennen (siehe auch Josef Pieper: „Was heißt philosophieren?“). Gegenüber den heutigen ideologisch verblendeten „Wissenschaftlern“, deren „Wissenschaft“ ohne die spirituelle Dimension einfach auf „Schmalspur“ fährt, steht dieser Jesuit auf festerem Grund: hier scheint immer wieder der Theologe durch, und sehr oft der Mystiker. Das macht aber jede Bewertung seiner Ideen schwierig – und anfechtbar.

Ich schlage vor, bei aller Kritik, sein Hauptanliegen nicht zu vergessen: eine Synthese von Wissenschaft und Theologie zu finden, die auf der Wirklichkeit begründet ist. Man kann die Wirklichkeit einer „Evolution“ in der Schöpfung nicht leugnen! Aber es ist nicht eine von „Zufall“ und „Selektion“ getriebene, sondern von Gott gelenkte Kraft, die einmal angefangen haben muss: bei Teilhard der „Punkt ALPHA“, den wir weder zeitlich noch als Phänomen kennen. Ob es ein „Urknall“ war oder die Erschaffung eines Atoms, das sich nun „entfaltete“, das zu diskutieren ist einfach müßig. Tatsache ist, dass die Schöpfung einmal angefangen haben muss und sich seither „aufwärts“ bewegt und in eine Vielfalt „entfaltet“ hat, und die – so glauben wir als Christen – auf die Vollendung in Christus hinstrebt: Teilhards „Punkt OMEGA“ – keine Erfindung von ihm, sondern eine Aussage von Christus!

Wenn wir Teilhards „Theoretisches Modell“ anschauen, können wir diese Tendenz erkennen: Vom „Punkt ALPHA“, vielleicht ein Ur-Atom, „explodiert“ die Schöpfung in eine Vielfalt von Materie (man kennt heute über zweihundert verschiedene „Elemente“, siehe das „Periodische System“): eine divergierende (auseinanderstrebende, vielfältige) Bewegung, und gleichzeitig eine konvergierende (zusammenstrebende, organisierende) Bewegung. Das bedeutet, dass es (tatsächlich!) keine einzelnen Atome gibt, sondern nur „Konglomerate“ (Moleküle).

Die Tendenz zu immer komplizierteren Strukturen ist in der gesamten Schöpfung erkennbar. In der ersten Phase („Kosmogenese“, auch „Kosmosphäre, kosmos  = Ordnung) wurde, und wird noch immer, mit immer neuen Formen, das komplizierteste Molekül erreicht: ein Virus (jedes Jahr werden neue Virus-Arten entdeckt). Jetzt begann (beginnt) die „Biogenese“ (auch „Biosphäre“, bios  = Leben) mit einer Entfaltung („Divergenz“) in eine ungeheure Vielfalt von „Lebewesen“. Man weiß heute – und die biblische Schöpfungsgeschichte beschreibt es –, dass zuerst die einfachen Lebewesen (Pflanzen) und dann die Tiere erschienen („erschaffen“) wurden und zuletzt das „komplizierteste“ Lebewesen, der Mensch: der Eintritt in die Anthroposphäre.

Teilhard sagt nicht, dass sich der Mensch „ganz von selber“ aus dem Tierreich entwickelte, sondern, dass er an der Spitze der Biosphäre steht und sich jetzt in eine neue „Sphäre“ hinein entwickelt: in die „Christosphäre“. Mit der Menschwerdung Gottes beginnt diese letzte „Sphäre“. Wiederum beobachten wir die „Divergenz“ (Vielfalt der Menschen und Vielfalt der Christen) und gleichzeitig die „Konvergenz“ (Zusammenstreben). „Ut unum sint!“

Wie in der Biosphäre verschwinden manche Gruppen (z.B. Dinosaurier), weil sie keine günstigen Umweltbedingungen mehr finden. Auch Staatsgebilde und Reiche sind immer wieder verschwunden, weil sie sich nicht am „Aufwärtstrend“ zum „Punkt OMEGA“ hin orientierten. Das ist keine Theorie, sondern geschichtliche Tatsache. Man kann kaum darüber streiten, ob Teilhard mit diesem „Denkmodell“ die „Evolution“ besser darstellt, als die Darwinisten. Er sagt jedenfalls nicht, dass „Zufall“ oder „Überleben der Tüchtigsten“ die treibende Kraft in der Schöpfung sei, sondern Gott. Der Mensch kann das Eingreifen Gottes in die Schöpfung (z.B. bei der „Einstiftung“ der Seele eines Kindes, oder bei Naturereignissen) nie hinreichend und letztlich überzeugend „phänomenologisch“ erklären. Da können die Theologen und die Wissenschaftler lang miteinander streiten und den Kopf so lange schütteln, bis sie Haare in der Suppe finden.

Mir scheint, dass diese Schau des Jesuiten Teilhard de Chardin der Wirklichkeit entspricht, und weit mehr zu einer christlichen Orientierung im Wirrwarr der Ideologien beitragen kann, als alle Kritik und kritische Analyse, so berechtigt und oft auch notwendig sie sein mögen. Teilhards Forschen und Denken wird getragen von einem tiefen Glauben an Gott als „Triebkraft, Zielpunkt und Garant“ in der Schöpfung, die ER nicht aus Laune oder zum Zeitvertreib geschaffen hat, sondern aus Liebe.

Teilhard de Chardin starb am Ostermorgen, am 10. April 1955. Er hat damit den „Punkt OMEGA“ erreicht. Seine Lebenserfahrung fasste er einmal in folgenden Worten zusammen:

„Sobald der Gläubige mit Christus eins geworden ist, verliert die Welt für ihn ihre Vielfalt, ihr Gewicht, ihre Härte, ihre Bitterkeit.“

Wir können sein ganzes Werk auch in zwei Worten zusammenfassen:

Sursum Corda! – Empor die Herzen!

Sein Anliegen ist heute höchst relevant, nämlich den Menschen als ANTHROPOS  (anthropos = der nach oben Gerichtete) zu sehen und zu helfen, dass es „aufwärts“ geht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2009
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