Das Geheimnis des Priestertums

Papst Benedikt XVI. möchte durch das besondere „Jahr des Priesters“, das er für die Zeit vom 19. Juni 2009 bis zum 19. Juni 2010 ausgerufen hat, vor allem das „Streben der Priester nach geistlicher Vollkommenheit fördern“. Dazu sei es wichtig, dass „die Bedeutung der Rolle und der Sendung des Priesters in der Kirche und in der zeitgenössischen Gesellschaft“ wieder deutlich wahrgenommen werde. Genau damit setzt sich Weihbischof Dr. Andreas Laun in seinem Beitrag auseinander. Er geht der Frage nach, was wir in der Bibel über den Priester finden, und entdeckt die Antwort vor allem im Geheimnis seiner göttlichen Berufung. Damit entspricht er der Forderung des Papstes, der Priester dürfe nicht „sich selbst verkünden“, sondern sei berufen, „der Welt Gott zu bringen“: „Gott ist alles in allem der einzige Reichtum, den die Menschen in einem Priester zu finden wünschen.“

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Der katholische Priester ist genauso geheimnisvoll, unverständlich und doch auch anziehend wie die ganze katholische Kirche selbst es ist. Die Kirche ernennt nicht Funktionäre, sondern weiht den Priester durch die Handauflegung des Bischofs. „Weihe“ heißt: sie übergibt ihn auf Grund seiner Berufung und seines Ja-Wortes, nach dem Vorbild der Berufung Mariens, ganz Gott! Diese Weihe nimmt sie, für Fremde unerklärlich, ganz wichtig und ist überzeugt: durch sie entsteht ein „anderer Mensch“, der sein Anderssein nie mehr abschütteln kann. Möglich geworden ist die Weihe durch die Taufe. Dabei erkühnt sich die Kirche sogar, die Priesterweihe im Widerspruch zu aller zeitgeistigen Gender-Euphorie auf Männer zu beschränken, ohne auch nur die geringste Bereitschaft, mit sich darüber „reden zu lassen“ und für einen Kompromiss offen zu bleiben! – Was sollte der Christ und vor allem auch er selbst über den Priester wissen? Vor allem das, was in der Bibel über ihn steht.

Die Berufung

Das ist zunächst einmal seine Berufung, wie sie bereits im Alten Testament beschrieben wird. Bei Jeremia heißt es: „Das Wort des Herrn erging an mich: Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt“ (Jer 1,4f). Ein Widerspruch zur späteren Priesterweihe ist das nicht, lenkt aber den Blick auf das Geheimnis der Erwählung: Gott kennt und liebt jeden Menschen „von Ewigkeit her“ (vgl. Jer 31,3). Und so ist es stimmig, wenn auch die Erwählung lange vor der Geburt stattfindet: Nicht der Kandidat erwählt sich. Priester zu werden, ist nicht seine Idee wie irgendeine Berufswahl. Auch der Bischof „erwählt“ ihn nicht, so sehr es seine Aufgabe ist, ihn zu prüfen, auch seine menschlichen Fähigkeiten und Schwächen. Aber die eigentliche Frage, die der Bischof beantworten soll, lautet: Ist der Kandidat berufen von Gott?

Gott ist es, der beruft, das lehrt auch das Neue Testament an vielen, vielen Stellen: „Jesus stieg auf einen Berg und rief die zu sich, die er erwählt hatte, und sie kamen zu ihm“ (Mk 3,13). Und noch deutlicher: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt“ (Joh 15,16f).

Um diese seine Erwählung muss der Priester wissen, dann wird er niemals sagen, er sei doch „auch nur ein Mensch wie jeder andere!“ Natürlich ist er das und er soll sagen können: „Ich bin nichts so sehr wie Mensch!“ Aber dies unbeschadet ist er ein von Gott Erwählter. Wie für jeden Christ gilt: „Erkenne deine Würde!“ (Leo der Große), so auch für den Priester. Seine Würde soll er genauso erkennen wie, dass er ein „unnützer Knecht“ ist und bleibt, auch wenn er wirklich „alles“ getan hat (vgl. Lk 17,10f)!

Weil der Priester erwählt ist, in der Nachfolge Christi zu leben, darum ist auch er hingegeben wie sein Meister: für die Menschen, mit Leib und Blut, mit all seinen Gaben, mit all den Jahren seines Lebens, ganz und für immer!

Bedenkt man diese Hingabe tiefer, stößt man auf das Geheimnis der Liebe und auf die Hingabe der Braut, in dessen Licht schon die Propheten das Verhältnis Gottes zu seinem Volk gesehen haben (vgl. Jes 61,10; 62,5). Nur von daher lässt sich auch der Zölibat wirklich begründen, sicher nicht mit „mehr Zeit“ oder mit „von Kindergeschrei ungestörter Nachtruhe“ und mit anderen „Vorteilen“ oder spießbürgerlichen Motiven eines um sich kreisenden Junggesellen! Verstehen lässt er sich wirklich nur wie die Ehe, als eine besondere Form der Berufung aller Menschen zur Liebe, wie Papst Johannes Paul II. in Familiaris consortio (Nr. 11) ausführte.

Ausreden und Verrat

Zur Berufung durch Gott gehört auch dies: Es gibt keine Ausreden: „Da sagte ich: Ach, mein Gott und Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung. Aber der Herr erwiderte mir: Sag nicht: Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden“ (Jer 1,6f). Auch wenn sie nicht historisch ist, die Geschichte des Propheten Jona sagt dasselbe!

Kein freier Wille? Doch, man ist fast geneigt zu sagen, leider, wenn man liest: „Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel. Er sprach von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot; denn dieser sollte ihn verraten: einer der Zwölf“ (Joh 6,70f).

Heiliger Schrecken

Oft ist in der Schrift (vgl. Joh 15,19) davon die Rede: Haben sie mich verfolgt, werden sie auch euch verfolgen. Die Geschichte der Kirche zeigt, dass die Verfolgungen oft und oft grauenhaft waren und sind, die Jünger haben allen Grund zur Angst. Daneben gibt es aber noch eine andere Angst, wenn man diese so nennen soll, die dem Berufenen sogar zu wünschen ist: Der Schrecken, der den Menschen befällt in der Nähe Gottes, etwa den Mose, als er auf dem „heiligen Boden“ vor dem brennenden Dornbusch stand (Ex 3,6). Und doch, beide „Ängste“, beide „Schrecken“ hängen auch zusammen:

 „Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt“ (Jer 20,7a). Und die Folgen sind alles, nur nicht angenehm: „Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag, ein jeder verhöhnt mich. … Das Wort des Herrn bringt mir den ganzen Tag nur Spott und Hohn“ (Jer 20,7b.8b). In der saloppen heutigen Sprache: „Das habe ich jetzt davon!“ Und Jeremia spürt die Versuchung zu fliehen, aber er kann es nicht, nicht einmal ansatzweise, wie Jonah es tat. Denn: „Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!, so war es mir, als brenne in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinem Innern. Ich quälte mich, es auszuhalten, und konnte nicht“ (Jer 20,9).

Nein, er konnte es nicht, der unglückliche und gerade darin glückliche Prophet! War es nur das besondere Schicksal des Jeremia? Ja, aber doch auch nein, irgendwie und irgendwann kennt jeder Priester solche Gedanken, mehr oder weniger stark. Paulus redet ähnlich: „Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde“ (1 Kor 9,16)!

Das Feuer des Jeremia und der Zwang des Paulus, sie sollten keinem Priester erspart bleiben, auch nicht am Tag seiner Weihe. Der hl. Franz von Sales beschreibt seine Gefühle unmittelbar vor seiner Priesterweihe im Brief an einen Freund so: Er, Franz, nahe sich jetzt mit Furcht „dem schrecklichen Tag“, von der größten Unruhe bestürmt, die er jemals erlebt habe, so „gefährlich“ komme es ihm vor, „durch sein Wort dem Gestalt zu geben und den in seinen eigenen Händen zu halten, den selbst die Engel mit ihrem Geist nicht zu fassen vermögen“. Die „schreckliche Verantwortung“ des Priesters, die ihm aus der Distanz gar nicht so furchterregend erschienen war, erschreckte ihn jetzt aus der Nähe.

Und doch, auch Jeremia und Paulus hätten dem Heiligen Recht gegeben, wenn er hinzufügt: „Im übrigen bin ich voller Freude und Jubel, dass ich so dem Herrn, der mir mit seinen Segnungen zuvorkam, durch den erhabensten Dienst eine würdige Antwort geben kann.“

Keine Angst

„Habt Mut, fürchtet euch nicht!“, waren die ersten Worte Papst Johannes Pauls II. an die Menge nach seiner Berufung auf den Stuhl Petri.

Damit sagte er das, was Gott den Menschen durch die ganze Geschichte hin immer wieder, unzählige Male zuruft, besonders seinen Erwählten: Habt keine Angst, weder vor eurer Unfähigkeit, noch eurer Schwäche und auch nicht vor euren Feinden, die ohnehin „nur den Leib“ töten können (vgl. Mt 10,28)! Und dem Propheten Jeremia sagt Gott: „Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir, um dich zu retten – Spruch des Herrn. Dann streckte der Herr seine Hand aus, berührte meinen Mund und sagte zu mir: Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund.  Sieh her! Am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche; du sollst ausreißen und niederreißen, vernichten und einreißen, aufbauen und einpflanzen“ (Jer 1,8ff). „Du aber gürte dich, tritt vor sie hin, und verkünde ihnen alles, was ich dir auftrage. Erschrick nicht vor ihnen, sonst setze ich dich vor ihren Augen in Schrecken. Ich selbst mache dich heute zur befestigten Stadt, zur eisernen Säule und zur ehernen Mauer gegen das ganze Land, gegen die Könige, Beamten und Priester von Juda und gegen die Bürger des Landes. Mögen sie dich bekämpfen, sie werden dich nicht bezwingen; denn ich bin mit dir, um dich zu retten – Spruch des Herrn“ (Jer 1,17ff). Diesen Worten kann man viele andere Worte der Hl. Schrift hinzufügen, wirklich Neues hinzufügen lässt sich nichts!

Erfüllt von Gewissheit

Zum Priester gehört eine heilige Kühnheit, das Erfülltsein von der Botschaft, von den Ereignissen, vom Gebet des Propheten, Gott möge den Himmel aufreißen (vgl. Jes 63,19) und dessen Erhörung, wie sie der Johannes-Prolog beschreibt! Seit damals gilt im Sinn der unerwarteten Erfüllung: „Seit Menschengedenken hat man noch nie vernommen, kein Ohr hat gehört, kein Auge gesehen, dass es einen Gott gibt außer dir, der denen Gutes tut, die auf ihn hoffen“ (Jes 64,3).

Der Priester muss, zwar mit etwas anderen Worten, aber mit der gleichen Begeisterung und Überzeugung wie Mose zu allen sagen können, die ihm begegnen:

 „Forsche doch einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde schuf; forsche nach vom einen Ende des Himmels bis zum andern Ende: Hat sich je etwas so Großes ereignet wie dieses, und hat man je solche Worte gehört? Hat je ein Volk einen Gott mitten aus dem Feuer im Donner sprechen hören, wie du ihn gehört hast, und ist am Leben geblieben? Oder hat je ein Gott es ebenso versucht, zu einer Nation zu kommen und sie mitten aus einer anderen herauszuholen unter Prüfungen, unter Zeichen, Wundern und Krieg, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm und unter großen Schrecken, wie es der Herr, euer Gott, in Ägypten mit euch getan hat, vor deinen Augen? Das hast du sehen dürfen, damit du erkennst: Jahwe ist der Gott, kein anderer ist außer ihm“ (Dtn 4,32-35). Und: Der Priester muss wie Mose sagen können: „Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie Jahwe, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen“ (Dtn 4,7)? Weh ihm, wenn er auch nur eine Sekunde dem Zeitgeist erliegt, der meint, „alle Religionen seien doch irgendwie gleich“! Zugleich sollte ihm bewusst sein: Der „Ort dieser Nähe Gottes“ ist die heilige Kirche Gottes, die nicht seine, sondern eben Kirche Jesu Christi ist und darum heilig.

Ein Priester muss ein Mann sein, der von der unvergleichlichen Einzigartigkeit des Evangeliums überzeugt ist, der aus ganzer Seele, aus ganzem Herzen und mit „allen seinen Kräften“ davon redet!

Für den Priester ist die Kirche die unübersehbare, leuchtende, ersehnte „Stadt auf dem Berg“. Das Zeichen aller Zeichen, das die ihm anvertraute Botschaft trägt, ist die Auferstehung (z.B. Apg 13,30), das historische, einmalige Geschehen von dem Einen, der aus eigener Kraft oder in der Kraft Gottes, was bei Ihm das Gleiche ist, das Grab verließ und seither und in alle Ewigkeit lebt, sitzend „zur Rechten Gottes“.

So gestützt darf der Priester reden, darf er im Namen Gottes reden, nicht so, dass er seine „persönlichen Meinungen“ zu verbreiten sucht, sondern indem er auf den „Geist der Wahrheit“ hört (Joh 4,23), den Jesus Seiner Kirche in die vom „Vater der Lüge“ (Joh 8,44) so verwirrte Welt und Geschichte mitgegeben hat.

Die Vollmacht des Wortes „in persona Christi“

So aufreizend für Außenstehende das Wort von der „Unfehlbarkeit der Kirche“ sein mag, eigentlich noch anstößiger ist das sakramentale Wort. Wenn der Priester spricht und dabei seine Worte und das „besitzanzeigende“ Fürwort „mein“ mit den Worten Jesu selbst wirklich verschmelzen: „Das ist mein Leib“, sagt der Priester „an der Stelle Jesu“ und dabei meint und behauptet er im Glauben: „Dieses unscheinbare Stück Brot, dieser Schluck Wein sind jetzt wirklich, wörtlich zu verstehen, der Leib Jesu und entsprechend auch Sein Blut.“ Dieses Geheimnis – und was soll Geheimnis sein, wenn nicht dies? – steht im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens. Der Priester wird vor allem „dafür“ geweiht! Im Hochamt feiert es die Kirche eingebettet in die Schönheit des Raumes, der Kelche, der Gewänder, der Musik, einer Schönheit, die eine Art Erinnerung an die Zukunft ist, Erinnerung an die Schönheit des Himmels.

Aber die Messen, die Kardinal Francois-Xavier Nguyen Van Thuan im kommunistischen KZ feierte, waren nicht weniger schön: „Mit drei Tropfen Wein und einem Tropfen Wasser in der hohlen Hand feierte ich Tag für Tag die Messe. Das war mein Altar, das war meine Kathedrale! Ich hatte die wahre Medizin für Seele und Leib: Arznei der Unsterblichkeit, das Gegenmittel, um nicht zu sterben, sondern immer das Leben in Christus zu haben, wie Ignatius von Antiochien sagt. Bei jeder dieser Feiern konnte ich die Arme ausbreiten, gleichsam als würde ich mit Jesus ans Kreuz genagelt. Ich konnte mit ihm den bitteren Kelch trinken. Jeden Tag bekräftigte ich beim Sprechen der Konsekrationsworte aus ganzem Herzen und ganzer Seele einen neuen Bund, einen ewigen Bund zwischen Jesus und mir, durch sein Blut, das sich mit dem meinen vermischte.“ Und Kardinal Thuan fügt hinzu: „Das waren die schönsten Messfeiern meines Lebens.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Beten – eine Sehnsucht

Buchbesprechung von Sr. M. Veronika Kucharova[1]

Viele Leute haben eine tiefe Sehnsucht danach, Gott anzusprechen und sich von ihm berühren zu lassen. Aber wie macht man das? Am liebsten möchten wir manchmal in das Beten anderer Menschen gucken. Der Münchner Autor Bernhard Meuser hat mit „Beten – eine  Sehnsucht"[2] ein  kleines, aber spannendes Buch vorgelegt, das diesem Bedürfnis entgegenkommt.

Dem Autor fehlt es nicht an Mut, sich mit den Klassikern des Genres zu messen – mit Romano Guardinis „Vorschule des Betens“ und Karl Rahners „Von der Not und dem Segen des Gebetes“. Er schneidet nicht einmal schlecht dabei ab. Meusers Buch ist richtig modern, sowohl in der Sprache, die sich manchmal bis an die Grenze des Zeitgeistjargons heranwagt, als auch im situativen Ansatz. In seiner Welt wird gearbeitet, Fußball gespielt, geliebt, Geld verdient und Geld verloren. Business, Freizeit und Beten – das ist sein zentrales Anliegen – sind kompatibel. Die großen alten Meister haben eben nicht schon alles gesagt. Meuser tritt dabei an keiner Stelle oberlehrerhaft auf. Er ist ein Lernender, spart sich und sein Scheitern nicht aus. Aber dann wagt er doch den klaren Rat: „Hören Sie auf mit meditativen Schnupperkursen, in denen Ihnen Gurus seelische Kicks und manipulative Tricks für die Beherrschung der Kräfte des Universums versprechen! Wenn es Gott gibt, glauben Sie dann wirklich, sie könnten ihn mit Hilfe der Methode von Sri Svami Sivananda fernsteuern? Das ist erstens lachhaft, zweitens Blasphemie (= Gotteslästerung), und drittens geht es von Ihrer Zeit ab! Treten Sie lieber in ein unaufhörliches Gebet mit dem, der Sie aus Liebe gemacht hat, der Sie voll Liebe anschaut und auf nichts sehnlicher wartet, als dass Sie seine Nähe und Freundschaft suchen.“ Das ist der Ton. Das liest man mit Vergnügen und wachsender Neugier.

Indem er bei der Sehnsucht ansetzt und (mit Augustinus) Sehnsucht für die Urgeste des Betens hält, macht Meuser ganz viele Türen auf. Anderseits bleibt er präzise: „Die Weite und Vielseitigkeit des Betens ist auch eine Gefahr. Wenn alles Gebet sein kann, ist oft nichts Gebet.“ Man bleibt nicht an der Oberfläche des Textes, möchte das Angerührtsein in Leben übersetzen. Auch da hilft der Autor. So schreibt er über ein Gebet von Bruder Klaus: „Es ist so radikal, dass ich mich immer gefürchtet habe, es im Realsinn zu beten. Man kann es ja nicht einfach daherplappern, ohne befürchten zu müssen, dass einen jemand beim Wort nimmt.“

Meuser kredenzt keinen Kräutertee, sondern herben Wein. Er sucht, stellt sich selber in Frage, nimmt den Glauben ernst, nimmt Abschied von Mittelmaß. Im Bewusstsein, kein Heiliger zu sein, geht er in den Fußspuren der Großen und macht ihre Spur sichtbarer. Alles mündet in der Vorgabe Jesu: „Dein Wille geschehe!“ Wenn wir doch unsre Verletzungen durch die eigenen Väter und Mütter überwinden könnten! Wie ungeheuer stark würden wir doch werden, wenn wir das Herz der Welt wieder mit „Vater“ ansprechen könnten! Man liest über Sartre und Antonius von Padua. Hier gleitet der Autor zum ersten Mal in „Theologie“ ab, wo er doch mit den kräftigen Strichen seines Wortpinsels zeigen könnte, wie sehr wir die väterliche Hand brauchen.

Trotzdem: Dieses Buch ist eine exzellente Einführung in das Gebet für jedermann. Man braucht keine theologischen Vorkenntnisse und wird doch in die Tiefe geführt. Ich selbst bin 16 Jahre Ordensfrau und arbeite als Novizenmeisterin. Ich habe nun nicht nur ein Buch, das ich jungen Bewerberinnen in die Hand drücken kann. Das Büchlein Meusers ist für mich Ansporn, mehr auf das Gebet als auf die eigene Leistung zu bauen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Zisterzienserin im Kloster Magdenau (CH).
[2] Pattloch Verlag, 192 S., ISBN: 978-3-629-02210-3, Euro 14,95.

Erneuerung der Beziehung zu Gott Vater

Beim diesjährigen „Kirche heute“-Frühjahrsforum am 9. und 10. Mai in Wigratzbad hielt Pater Raniero Cantalamessa OFMCap unter anderem eine Predigt über unser Verhältnis zu Gott Vater. Ausgehend vom Gesamtthema „Seht, ich mache alles neu!“ zeigte er einen Weg auf, sich mit dem himmlischen Vater zu versöhnen und die oft tiefliegenden Schwierigkeiten in unserer Gottesbeziehung zu überwinden. Er wagte es, vom Schmerz Gottes zu sprechen und eine Antwort auf Herausforderungen wie die Auschwitz-Frage anzudeuten. Mit seinen Gedanken betrat er theologisches Neuland, setzte damit als Päpstlicher Prediger aber ein umso deutlicheres Zeichen. Nachfolgend die Predigt in einer Bearbeitung für „Kirche heute“.

Von Raniero Cantalamessa OFMCap, Vatikan

Überfließende Liebe zwischen Vater und Sohn

In keinem Teil des Evangeliums geht Jesus so ausführlich auf seine Beziehung zum Vater ein wie in Joh 14,7-14. Er offenbart ein inniges Verhältnis zwischen sich und seinem himmlischen Vater, eine überfließende gegenseitige Liebe. „Glaubt mir doch, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist“ (Joh 14,11). Als ihn Philippus bittet: „Herr, zeig uns den Vater; das genügt uns!“, antwortet er mit den bedeutungsvollen Worten: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ Gleichzeitig lenkt Jesus unseren Blick auf die entscheidende Frage: Wer ist Gott Vater für uns Menschen? Wie sieht meine persönliche Beziehung zum himmlischen Vater aus?

Der Heilige Geist formt unser Verhältnis zum Vater

„Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater“ (Gal 4,6). Damit beschreibt der hl. Paulus letztlich, was in der Taufe geschieht. Die maßgebliche Frucht, die der Heilige Geist in unserem Herzen hervorbringt, ist also die Fähigkeit, zu Gott „Abba, Vater“ zu sagen. Früher hieß es, der Heilige Geist sei der große Unbekannte in der Trinität. Seit etwa einem Jahrhundert ist es anders: Der Heilige Geist hat sich in so starker Weise offenbart, dass seine Gegenwart in der Kirche nicht mehr zu übersehen ist. Heute ist der große Unbekannte eher der Vater. Viele Umstände können uns daran hindern, eine gute Beziehung zu Gott als Vater aufzubauen. Sie hängen meist mit der persönlichen Geschichte eines jeden Einzelnen zusammen.

Schwierigkeiten in unserer Zeit

Ich kannte eine junge Frau, in deren Leben Gott als Vater einfach nicht vorkam. Sie hatte ihren eigenen Vater im Alter von zwei Jahren verloren. Doch immer, wenn sie etwas tat, was nicht in Ordnung war, sagte die Mutter zu ihr: Wenn dein Vater noch am Leben wäre, würdest du das nicht tun. So empfand sie den Vater als denjenigen, der immer alles verbietet. Und schließlich war sie ganz glücklich, keinen Vater zu haben.

Der häufigste Grund für ein schwieriges Verhältnis zu Gott Vater ist das Erleben eines autoritären, gewalttätigen menschlichen Vaters. Neben solchen persönlichen Hintergründen gibt es aber auch allgemeine Ursachen. Die Hauptschwierigkeit, die sich vielen in den Weg stellt, ist das Leiden der Unschuldigen in der Welt. Zwar hat es dies immer gegeben, doch die Manifestationen unschuldigen Leidens im vergangenen Jahrhundert haben alles andere überstiegen. So kommt es, dass gesagt wird, nach Auschwitz könnten wir nicht mehr an einen guten Vatergott glauben. Ein großer Teil des modernen Atheismus basiert genau auf diesem Argument. Ein deutscher Schriftsteller drückte es mit den Worten aus: Das Leiden der Unschuldigen ist der Fels, auf dem der Atheismus aufbaut.

Auch Gott Vater leidet!

Was können wir auf diese Herausforderung antworten? Es gibt eine einfache Antwort: Auch Gott Vater leidet! Diese Vorstellung müssen wir wieder neu entdecken. Gerade die Explosion an unschuldigem Leiden hat uns geholfen, zum wahren Gesicht der Bibel zurückzufinden. Denn unser Gottesbild war zutiefst von der griechischen Gottesvorstellung geprägt, ein Erbe der griechischen Philosophie. Der Gott der Philosophen ist leidensunfähig. Nach ihren Prinzipien muss er die Leidensunfähigkeit besitzen.

Wir haben schließlich diese Vorstellung von Gott übernommen. Wenn man in der Vergangenheit das Leiden Jesu verdeutlichen wollte, stellte man gerne einen Gegensatz zwischen Gott Vater und dem leidenden Jesus am Kreuz her. Ein großer, vielleicht der größte französische Prediger, Jacques Bènigne Bossuet [geb. 27.09.1627 in Dijon, gest. 12.04.1704 in Paris, ab 1681 Bischof von Meaux und Autor, gilt den Franzosen als der Klassiker unter ihren Kanzelrednern], sagte in einer Karfreitagspredigt: „Du, mein Jesus, leidest am Kreuz. Du rufst den Vater an, aber er antwortet nicht. Du musst den Zorn des beleidigten Vaters ertragen.“ Das heißt, Gott Vater erschien wie ein Richter, den man nicht beschwichtigen kann. Dies führte zu einem völlig falschen Bild von Gott Vater, das nicht der Bibel entspricht. Denn der Gott der Bibel ist ein Gott der Liebe. Und Liebe leidet. Sie ist das Verletzlichste, das es gibt. Denn sie muss dem Gegenüber die Möglichkeit geben, in Freiheit zu antworten, oder eben auch nicht. Andernfalls wäre es Zwang. Aus diesem Grund ist die Liebe immer der Möglichkeit der Verneinung ausgesetzt.

Der Schmerz Gottes

Gott erscheint in der Bibel wie ein Vater, der von seinen Kindern nicht angenommen wird. Es ist eines der tiefsten Leiden, von seinen eigenen Kindern verachtet zu werden. Genau das hören wir in der Bibel von Gott selbst über sein Verhältnis zu den Menschen, z.B. am Anfang des Propheten Jesaja: „Ich habe Söhne großgezogen und empor gebracht, doch sie sind von mir abgefallen“ (Jes 1,2).

Papst Johannes Paul II. hat dem Thema des Leidens Gottes in seinen Schriften immer wieder große Aufmerksamkeit gewidmet. Ja, viele namhafte Theologen, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gelebt haben, sind auf diese geheimnisvolle Tatsache eingegangen: Gott thront nicht etwa irgendwo in der Höhe und schaut von dort aus zu, wie die Menschen leiden. Er ist mit und bei den Menschen, die leiden. Gott stand auch nicht fern und schaute zu, wie sein Sohn am Kreuz litt. Er war sozusagen mit seinem Sohn ans Kreuz geheftet.

Der Triumph der Liebe

Noch vor den Theologen haben die Künstler dieses Geheimnis zum Ausdruck gebracht. In der westlichen Kunst entwickelte sich eine besondere Darstellung der Kreuzigung, wie z.B. auf dem berühmten Bild von Albrecht Dürer: Der Vater hält das Kreuz Jesu, manchmal mit einem wirklich leidenden Gesichtsausdruck, und zwischen dem Gesicht des Vaters und dem des Sohnes befindet sich eine Taube – Symbol des Heiligen Geistes. Bei der Passion war also der Vater in diesem Sinn mit Jesus Christus am Kreuz vereint. Natürlich ist das Leiden Gottes etwas ganz Anderes als unser menschliches Leiden. Es nimmt der Vollkommenheit Gottes nichts hinweg, sondern fügt etwas Entscheidendes hinzu. Gerade im Schmerz Gottes offenbart sich die Vollkommenheit seiner göttlichen Liebe zu uns Menschen. Einst wird dieses Leiden Gottes die Liebe zu ihrem größten Triumph führen.

Wenn ich versuche, mir Gott Vater vorzustellen, kommt mir eine Erinnerung aus meiner Kindheit in den Sinn. Die Front des Krieges lief durch unsere Heimat. Eines Tages schnitt ich mir an einer Scherbe, die von Kriegshandlungen zurückgeblieben war, den Fuß auf. Es war eine tiefe Wunde. Mein Vater trug mich zu einem nahegelegenen Posten der Alliierten. Während mir der Arzt die Glasscherbe aus dem Fuß zog, sah ich im Augenwinkel meinen Vater, wie er sich zur Wand drehte und sich die Hände rieb. Ich verstand, dass er mehr litt als ich selbst. Und ich denke, ähnlich ergeht es auch Gott Vater, wenn wir leiden.

Die Eucharistie – Umarmung mit dem Vater

Jesus hat den sehnlichsten Wunsch, dass wir eine ebenso tiefe Beziehung zum Vater gewinnen, wie er sie selbst besitzt. Immer war der Vater Gegenstand seiner großen Liebe. Wenn er von ihm sprach, wurde er ein Poet. Die letzten Worte seines Gebets zum Vater beim Abschied von seinen Jüngern lauten: „Ich habe ihnen [den Menschen] deinen Namen bekannt gemacht“, und er fährt fort, „damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen bin“ (Joh 17,26).

Der Heilige Geist ist die Liebe, die Gott Vater zu seinem Sohn und die der Sohn zum Vater hat. Darin besteht das Geheimnis der Einkehr des Heiligen Geistes in unsere Herzen: Wir können Gott Vater lieben mit derselben unendlichen Liebe, die Jesus hat.

Die hl. Eucharistie bietet uns eine Gelegenheit, nicht nur vom Vater zu sprechen, sondern ihm unmittelbar zu begegnen. Denn wenn wir in der hl. Kommunion Jesus empfangen, dann kommt auch der Vater zu uns. „Wer mich sieht, sieht den Vater“, das bedeutet ebenso: „Wer mich empfängt, empfängt den Vater.“ Was für ein Geschenk, wenn uns der Heilige Geist hilft, die Begegnung mit dem Vater zu erleben! Möge die Eucharistie für viele eine Versöhnung mit dem Vater sein! Manchmal sieht man einen Vater, der sein Kind umarmt, oder ein Kind, das dem Vater entgegenläuft und ihm in die Arme springt, wenn er heimkommt. Genauso dürfen wir uns die hl. Kommunion vorstellen. Sie erlaubt uns, mit Jesus auch den Vater zu umarmen. Die hl. Messe ist an den Vater gerichtet; denn Jesus nimmt uns mit sich zum Vater. Darum schließt das Eucharistische Hochgebet mit dem wunderschönen Ruf: „Durch ihn [Christus] und mit ihm und in ihm ist dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Herrlichkeit und Ehre jetzt und in Ewigkeit.“ Und die Versammlung antwortet: „Amen!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Die priesterliche Haltung Mariens

Im deutschsprachigen Raum ist der italienische Wallfahrtsort Castelpetroso kaum bekannt. Sein Ursprung geht auf das Jahr 1888 zurück. Zunächst berichteten zwei einfache Frauen vom Land, sie hätten Maria als Schmerzensmutter gesehen. Im Laufe des darauf folgenden Jahres soll sie sich über 1000 Personen gezeigt haben. Unter anderem erschien sie dem Ortsbischof, der den Fall im Auftrag Papst Leos XIII. untersuchte. 1889 wurden die Ereignisse von der Kirche als authentisch anerkannt. Maria hinterließ keine Botschaft mit Worten. Vielmehr offenbarte sie durch die besondere Haltung, die sie vor ihrem toten Sohn einnahm, ihre priesterliche Funktion in der Heilsgeschichte. Pfarrer Erich Maria Fink geht auf die Ereignisse vor 120 Jahren ein und bringt die Bedeutung dieser Stätte mit dem außerordentlichen „Jahr des Priesters“ in Verbindung, das auf Initiative Papst Benedikts XVI. am 19. Juni dieses Jahres begonnen hat.

Von Erich Maria Fink

Im abgelegenen Bergland etwa zwischen Rom und dem Monte Gargano erhebt sich eine mächtige Wallfahrtskirche. Sie ist in neugotischem Stil aus dem weißen Stein der dortigen Gegend erbaut. Das monumentale Werk legt mit seinen Säulen, Kapitellen und Fialen, mit seiner 54 Meter hohen Kuppel und seinen zwei Kirchtürmen ein imponierendes Zeugnis von den Ereignissen ab, die in dem kleinen Ort Castelpetroso vom 22. März 1888 an stattgefunden haben. Voriges Jahr feierte das Heiligtum mit außerordentlichen Veranstaltungen und Initiativen das 120jährige Jubiläum seines Ursprungs.

Im Licht einer Felsspalte

Zwei Bäuerinnen, die ledige Fabiana Cicchino, in ihrem Dorf kurz Bibiana genannt, damals im Alter von 35 Jahren, und die 34jährige verheiratete Serafina Giovanna Valentino, die Ehefrau von Dominic Cifelli, begaben sich am 22. März 1888 miteinander zur Feldarbeit. Ihr Grundstück befand sich auf der in 857 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Bergweide „Cesa tra Santi“ am Fuß des Monte Patalecchia. Sie waren aus dem benachbarten Weiler Guasto (Pastena) gekommen und hatten zwei Schäflein mitgebracht. Am Nachmittag bemerkte Fabiana, dass eines von ihnen verloren gegangen war. Sie machte sich auf die Suche und fand es vor einer Felsspalte. In diesem Augenblick bemerkte sie, wie aus der Höhle eine Helligkeit hervorleuchtete. Ängstlich und neugierig zugleich näherte sie sich dem Licht und erkannte deutlich das Bild Mariens als Schmerzensmutter. Zu ihren Füßen lag hingestreckt der mit Wunden bedeckte tote Christus.

Maria kniet vor ihrem toten Sohn

Die Gottesmutter nahm als Pieta eine andere Haltung ein, als sie üblicherweise in der christlichen Kunst und Frömmigkeit dargestellt wird: Halb kniend und die Arme ausgebreitet richtete sie ihren Blick zum Himmel. Es war ein Akt des Gebets und der Aufopferung. Ihr Antlitz drückte einen tiefen Schmerz aus, zugleich aber auch eine königliche Würde. Auf ihrer Brust waren sieben Schwerter zu erkennen, die ihr Herz durchbohrten. Sie trug ein rosafarbenes Kleid und einen braunen Mantel, der sie vom Kopf über die Schultern bis zu den Füßen bedeckte. Fabiana vernahm kein Wort aus dem Mund Mariens. Auch bei keiner weiteren Erscheinung gab es in Castelpetroso eine gesprochene Botschaft.

Inzwischen war Serafina herbeigeeilt, sah aber nichts. Erst zehn Tage später, als sich die Erscheinung am 1. April in derselben Art wiederholte, hatte auch sie die himmlische Vision.

Der 22. März war bezeichnenderweise der Donnerstag vor dem Palmsonntag, also der Vorabend des Festes der Sieben Schmerzen Mariens. Die zweite Erscheinung fand an Ostern statt. Aber auch an diesem Tag zeigte sich Maria als opfernde Schmerzensmutter.

Tausende pilgern zur Schmerzensmutter

Nach Hause zurückgekehrt berichteten die Frauen von ihren Erlebnissen. Die Bewohner des Dorfes hielten die Schilderungen zunächst für absurdes Gerede. Als jedoch kurze Zeit später ein Kind sowie ein offenkundig vom Glauben abgefallener Mann am selben Ort ähnliche Erscheinungen hatten, verbreitete sich die Nachricht mit „Lichtgeschwindigkeit“ in der ganzen Region. Sofort setzte ein großer Zustrom von Menschen ein. Innerhalb weniger Tage besuchten rund viertausend Personen die Erscheinungsstelle, etwa doppelt so viele, wie damals in dieser Gegend überhaupt wohnten. Einige bezeugten, ebenfalls die Jungfrau Maria gesehen zu haben. In der Regel war sie als Schmerzensmutter zu erkennen. Doch sei sie, wie es in einer kirchlichen Dokumentation heißt, auch auf andere Weise erschienen: als Unsere Liebe Frau vom Karmel oder als Königin des hl. Rosenkranzes. Einige wenige Male habe sie sich nicht allein mit ihrem Sohn gezeigt, sondern in Begleitung des hl. Erzengels Michael, des hl. Antonius, des hl. Josef oder des hl. Sebastian. Auch wird von einer Vision des hl. Antlitzes Jesu berichtet, das von einer Heerschar von Engeln umgeben gewesen sei.

Ein zweifelnder Diözesanpriester

Es gab Priester, welche die ganze Angelegenheit als reine Einbildung betrachteten und öffentlich gegen die Erscheinungen predigten. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass die Gläubigen ihrer Gemeinden zum Erscheinungsort pilgerten. Auch ein Priester, der bereits ein hohes Alter erreicht hatte, Don Luigi Ferrara, stand den Ereignissen skeptisch gegenüber. Mit seiner Unterschrift bestätigte er folgendes Zeugnis: „Oft verspottete ich diejenigen, die den Berg, auf dem die wundersamen Erscheinungen stattgefunden haben, besuchten. Am 16. Mai 1888 jedoch verspürte ich – eigentlich mehr zum Zeitvertreib als aus irgendeinem anderen Grund – den Wunsch, den Ort zu besuchen. Als ich dorthin kam, blickte ich in eine der Felsspalten und sah mit großer Klarheit Unsere Liebe Frau wie eine Statue mit einem kleinen Kind auf ihren Armen. Kurze Zeit später schaute ich wieder auf die gleiche Stelle und erblickte statt der heiligsten Jungfrau ganz deutlich den toten Heiland, wie er die Dornenkrone trug und überall mit Blut bedeckt war. Von jener Zeit an fühlte ich mich jedes Mal, wenn ich einen Hinweis auf den dreifach gesegneten Berg und die Erscheinung vernahm, zu Tränen gerührt und war nicht mehr in der Lage, auch nur ein Wort auszusprechen.“

Heilungen durch eine wunderbare Quelle

Bereits im Mai 1888 entsprang an der Stätte der Erscheinungen eine Quelle, die bis heute den Wallfahrtsort prägt. Im November 1888 begab sich Graf Carlo Acquaderni von Bologna mit seinem zwölfjährigen Sohn Augusto, der schwer an Knochentuberkulose erkrankt war, nach Castelpetroso. Als sie an dem Felsen beteten, sahen beide, der Vater und der Sohn, die Schmerzensreiche Gottesmutter. Der Junge trank aus der Quelle und wurde völlig geheilt.

Sein Vater war Direktor der Zeitschrift Il Servo di Maria. Aus Dankbarkeit machte er die Ereignisse von Castelpetroso bekannt. Regelmäßig berichtete er von nun an über die zahlreichen Heilungen, die sich auf die Fürsprache der Schmerzensmutter an der Quelle ereignet hatten. Monat für Monat veröffentlichte er eine Liste mit den jeweils neuen Fällen. Ein Teil dieser Gebetserhörungen ist offiziell dokumentiert. Darunter findet sich folgendes Wunder: Luigi Verna aus Fara San Martino und seine Frau Annantonia Tavani hatten ein Kind namens Angelo. Es war sechs Jahre alt und von Geburt an stumm. Der Vater, der von den Vorgängen in Castelpetroso erfahren hatte, besorgte sich Wasser von der wunderbaren Quelle und brachte es seiner Frau. Voller Glauben gab Annantonia ihrem Kind davon zu trinken. Der Junge wurde augenblicklich geheilt und konnte sprechen. Zunächst ließ der für Castelpetroso zuständige Bischof von Bojano, Msgr. Francesco Macarone Palmieri, Verwandte eidesstattliche Erklärungen abgeben, dass das Kind tatsächlich sechs Jahre lang nicht sprechen konnte. Später beauftragte der Erzbischof von Lanciano, in dessen Diözese die Genesung stattgefunden hatte, einen Kanoniker der Stiftskirche von Fara S. Martino, die Umstände des Falls streng zu untersuchen. Nach eingehender Prüfung wurde die Heilung kirchlich anerkannt.

Papst Leo XIII. schaltet sich ein

Den zuständigen Bischof von Bojano beschäftigten die Ereignisse in seiner Diözese sehr. Schließlich wurde er sogar in Rom vorstellig, um Papst Leo XIII. über die Vorgänge zu informieren. Am Ende seiner Berichterstattung habe der Bischof hinzugefügt, er wünschte sich, dass die Erscheinungen durch einige eindeutige Zeichen bestätigt würden. Darauf habe der Papst erwidert, ob er denn nicht glaube, dass die Erscheinungen selbst Zeichen genug seien. Und Leo XIII. forderte den Bischof auf, als Apostolischer Delegat in seine Diözese zurückzukehren, selbst Castelpetroso zu besuchen und ihm erneut einen Bericht vorzulegen.

Bischof Macarone folgte der Anordnung und reiste zusammen mit dem Erzpriester seiner Kathedrale zum Erscheinungsort. Die Ergebnisse der bischöflichen Untersuchungen sind dokumentiert und befinden sich heute in der erzbischöflichen Kurie von Campobasso. Dies hängt damit zusammen, dass der Bischofssitz 1982 endgültig von Bojano nach Campobasso verlegt worden ist. Außerdem erhielt damals das bereits seit dem 11. Jahrhundert bestehende Bistum die Bezeichnung „Erzdiözese Campobasso-Bojano“.

Maria erscheint dem Bischof

Bei seiner Visitation wurde Bischof Macarone selbst Zeuge der übernatürlichen Geschehnisse. Am 26. September 1888 sah er mindestens dreimal die Jungfrau Maria als Schmerzensmutter mit sieben Schwertern in der Brust und einem durchsichtigen Schleier auf dem Kopf. Einer Akte, die heute in der erzbischöflichen Kurie von Campobasso aufbewahrt wird, ist zu entnehmen, dass der Bischof seine eigenen Erscheinungen am 17. Februar 1889 zu Protokoll gegeben und mit den Worten kommentiert hat: „Mit frohem Herzen kann ich bestätigen, dass die wunderbaren Vorgänge von Castelpetroso die letzten Weisen der Göttlichen Barmherzigkeit sind, um die Verirrten auf den rechten Weg zurückzurufen. Auch ich kann bezeugen, dass ich, nachdem ich mich zum heiligen Ort begeben hatte und im Gebet gesammelt war, eine Erscheinung der Jungfrau hatte.“

In einem Brief berichtete der Bischof, dass außer ihm auch sein Generalvikar, der Erzpriester der Kathedrale und viele andere Geistliche in Castelpetroso die Gottesmutter auf wunderbare Weise gesehen haben.

Grundsteinlegung der Wallfahrtskirche

Nach seinen Erlebnissen bildete der Bischof von Bojano ein Komitee, das er selbst als Vorsitzender leitete. Zweck der Arbeitsgruppe war die Erhebung von Mitteln für den Bau einer Wallfahrtskirche, die am Erscheinungsort errichtet werden sollte. Gleichzeitig stellte er die Betreuung der Pilger unter die Obhut des Servitenordens, der ausdrücklich zur Verehrung der geheimnisvollen Leiden der Gottesmutter gegründet worden war.

Papst Leo III. schickte ein Telegramm und übermittelte durch Kardinalstaatssekretär Rampolla den Mitgliedern des Ausschusses sowie allen, die für die geplante Stiftung ihren Beitrag leisten werden, seinen Apostolischen Segen.

Insbesondere startete Graf Carlo Acquaderni nach der Heilung seines Sohnes bei den Abonnenten seiner Zeitschrift „Il Servo di Maria“ eine Sammelaktion zur Finanzierung der Wallfahrtskirche. Am 28. September 1890 wurde durch Bischof Macarone in Gegenwart von 30.000 Gläubigen der Grundstein für das Heiligtum gelegt. Ihm assistierten die Bischöfe von Isernia, Trivento und Termoli.

Kirchenbau wird zum Abenteuer

Der Bau der Kirche dauerte fast ein Jahrhundert. Unglaubliche Schwierigkeiten waren zu überwinden. Das Ringen um die Fertigstellung des Heiligtums erinnerte die Beteiligten bisweilen an den Kampf der Frau der Offenbarung mit dem Drachen. Graf Acquaderni schrieb in seiner Zeitschrift: „Alles schien sich gegen das Heiligtum zu verschwören, um es zum Einsturz zu bringen, sobald es sich von den Fundamenten erhoben hatte. Es ist ein Werk Gottes und die Prüfungen mussten schrecklich sein; ein Werk zur Ehre Jener, welche der Schlange den Kopf zertreten hat …“

Doch konnte der Bau schließlich glücklich vollendet und am 21. September 1975 von Bischof Alberto Carinci (1948-1977) im Beisein zahlreicher Bischöfe, Priester, Ordensleute und Gläubigen eingeweiht werden. 1993 vertraute der Bischof die Verantwortung für den Wallfahrtsort den Franziskanern der Immakulata an. Es ist eine jüngere Ordensgemeinschaft, welche versucht, im Geist „der vollkommenen Hingabe an Jesus durch Maria“ das Charisma des hl. Franz von Assisi mit der Sendung des hl. Maximilian Maria Kolbe zu verbinden.

Der hl. Gabriel von der Schmerzhaften Jungfrau

Am 29. Oktober 1994 erhielt die Wallfahrtskirche einen geistlichen Schatz aus dem nahe gelegenen Heiligtum von Isola del Gran Sasso. Dort befindet sich das Grab des hl. Gabriel von der Schmerzhaften Jungfrau (1838-1862), der mit bürgerlichem Namen Francesco Possenti hieß und in den Orden der Passionisten eingetreten war. In die Seitenkapelle des Heiligtums von Castelpetroso, die dem siebten Schmerz Mariens gewidmet ist, wurde ein künstlerisches Reliquiar mit einem Zahn des Heiligen überführt.

Von der Wallfahrtskirche bis zur Erscheinungsstelle wurde eine sog. „Via Matris (dolorosae)“ errichtet, ein Weg mit den sieben Schmerzen Mariens als Stationen. Neben den schon bestehenden Basrelieftafeln wurden in jüngster Zeit Bronzestatuen in Naturgröße des Künstlers Alessandro Caetani aufgestellt. Beim Felsen der Erscheinungen selbst fand eine bronzene Figurengruppe des Bildhauers Urbano Buratti ihren Platz.

Papst Johannes Paul II. besucht Castelpetroso

Am 19. März 1995 besuchte Papst Johannes Paul II. das Marienheiligtum in Castelpetroso. Wie es die einheimischen Gläubigen ausdrückten, bedeutete dieses historische Ereignis „die Krönung aller Entbehrungen und Opfer, die unsere Vorfahren mit wagemutigem Glauben und großem Mut auf sich genommen haben“. Gleichzeitig wurde der Papstbesuch als nochmalige „sichere Bestätigung“ der Marienerscheinungen verstanden, welche der zuständige Bischof bereits 1889, also genau vor 120 Jahren, anerkannt hatte. Außerdem habe Johannes Paul II. durch sein Zeugnis als Nachfolger des hl. Petrus neu ins Bewusstsein gebracht, dass die Gottesmutter durch ihre Erscheinungen in Castelpetroso eine Botschaft an die ganze Welt gerichtet habe.

Zunächst erinnerte Johannes Paul II. in seiner Predigt daran, dass sein Vorgänger Papst Paul VI. die Schmerzensreiche Mutter Maria, die im Heiligtum von Castelpetroso verehrt wird, am 6. Dezember 1973 zur Schutzfrau der Region des Molise erklärt hatte. Dann ermahnte er jeden Einzelnen, „den christlichen Überlieferungen dieses Landes treu zu bleiben“, mit jenem Eifer, der ihre Väter dazu angetrieben habe, „großherzig ihren Beitrag für den Bau des Heiligtums zu leisten“. Schließlich rief er die Gläubigen dazu auf, ihre „täglichen Freuden und Mühen dem Herrn aufzuopfern, in Gemeinschaft mit Christus und durch die Fürsprache seiner Mutter“, welche hier verehrt werde, „wie sie dem Vater den geopferten Sohn für unsere Erlösung darbringe“.

Die Botschaft von Castelpetroso

Die erste Aufgabe Mariens bestand darin, den Sohn Gottes in die Welt zu bringen. Von Anfang an war das Ziel seiner Menschwerdung vorgezeichnet: Um die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen, sollte er sein Leben am Kreuz dahingeben. Als er sein Opfer vollendet hatte, begann für die Gottesmutter eine neue Aufgabe. Diese bestand nicht nur darin, ihren Sohn auf dem Kreuzweg zu begleiten und ihm mitleidend zur Seite zu stehen. Vielmehr begann ihre besondere Mitwirkung, als ihr Sohn bereits tot war, also sein Erlösungswerk vollendet hatte. Um aber das Opfer ihres Sohnes für die Menschheit fruchtbar zu machen, sollte sie nun ihren toten Sohn leidend und aufopfernd dem himmlischen Vater darbringen. Dieser Gedanke war auch Dreh- und Angelpunkt der Mariologie des hl. Maximilian Maria Kolbe.

Mit ihrem Akt betender und opfernder Mutterschaft offenbarte Maria in Castelpetroso ihre Aufgabe in der Heilsgeschichte. Immerfort bietet sie Gott das Opfer ihres Sohnes zur Rettung der Menschen an. Als kurz nach den ersten Erscheinungen am „heiligen Felsen“ eine Quelle entsprungen war, geschahen sofort Wunder und Heilungen. Der Bischof bestätigte nicht nur diese wunderbaren Vorgänge, sondern deutete sie mit den Worten, die Madonna bediene sich des Wassers, um ihre mächtige Gnadenmittlerschaft zu offenbaren.

Maria erhellt die Bedeutung des Priestertums

Einzigartig in der Geschichte der Kirche ist bei den Erscheinungen von Castelpetroso sicherlich die Rolle, die der Bischof und die Priester gespielt haben. Dass sich Maria so vielen Geistlichen und gerade den Hauptverantwortlichen in der Diözese gezeigt hat, ist kein Zufall. Sie wollte wieder neu in Erinnerung bringen, welche unersetzliche Aufgabe der Priester im Erlösungswerk ausübt.

Ganz deutlich wurde es bei den Erscheinungen des zweifelnden Diözesanpriesters: Zuerst sah er Maria mit dem kleinen Kind auf den Armen. Die Priester haben die Aufgabe, durch ihre apostolische Vollmacht, Jesus Christus in die Welt zu bringen. Und plötzlich sah der Priester nur noch den toten Jesus vor sich liegen – ohne seine Mutter Maria. Es war, als wollte ihn Maria auffordern, es ihr nachzutun und den geopferten Sohn Gottes dem himmlischen Vater darzubringen. Der Priester steht für die Kirche und für die ganze Menschheit vor dem Vater, um ihm das Opfer des Sohnes darzubringen. Nur so kann es hier und heute für die Menschen fruchtbar werden und sie aus ihrer Verfangenheit in die Sünden befreien. Auch die Quelle kann auf das Priestertum hin gedeutet werden. Er ist der mächtige Mittler der Gnade, durch den die Menschen das sakramentale Heil, die Liebe Gottes in ihrer ganzen Fülle empfangen.

Aktualität der Ereignisse

Im Licht des eben begonnenen „Jahres des Priesters“ besitzen die Marienerscheinungen von Castelpetroso eine besondere Aktualität. Vielleicht ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Verständnis des Priestertums nichts so sehr verloren gegangen wie der Gedanke, dass der Priester durch das Opfer der hl. Messe zur Sühne für die Sünden der Welt den geopferten Sohn dem Vater darbringt. Um die Verbindung zwischen den Erscheinungen der Gottesmutter in Castelpetroso und der Person des Bischofs hervorzuheben, wurde letztes Jahr eine offizielle Partnerschaft zwischen Castelpetroso und Carinola, dem Geburtsort von Bischof Francesco Macarone Palmieri, begründet.

Gewiss kann auch heute die Gottesmutter im Ringen um die Erneuerung des Priestertums die beste Hilfe sein. Die „priesterliche Haltung Mariens“, wie sie in Castelpetroso sichtbar geworden ist, stellt uns die Gottesmutter in besonderer Weise als Vorbild und Mutter aller Priester vor Augen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Macht den Rosenkranz zum liturgischen Gebet!

In mehrfacher Hinsicht ist das neue Buch „Die Seherin von Fatima"[1] eine Überraschung. Der Autor ist kein Geringerer als der Vatikanische Kardinalstaatssekretär, Kardinal Tarcisio Bertone, der auf Fragen des berühmten Journalisten Dr. Giuseppe De Carli antwortet. Das Vorwort schrieb Papst Benedikt XVI. selbst. Und die Ernsthaftigkeit, wie sich die beiden höchsten Verantwortlichen der katholischen Kirche einer Marienerscheinung widmen, ist geradezu sensationell. Benedikt XVI. bringt in Erinnerung, dass dieses Engagement mit der Aufgabe zusammenhängt, die er als damaliger Präfekt und Bertone als Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre vom Papst erhalten hatten. Er schreibt: „Der große Pontifex, der mir vorangegangen ist, Johannes Paul II., der von prophetischer Inspiration erfüllt war und persönlich davon überzeugt, dass die ‚mütterliche Hand’ der Heiligen Jungfrau die Flugbahn der tödlichen Kugel abgelenkt hatte, befand, dass der Moment gekommen sei, den Schleier vor dem letzten Teil des Geheimnisses, das die Jungfrau den drei Hirtenkindern von Fatima übermittelt hatte, zu lüften. Mit dieser Enthüllung wurde die Kongregation für die Glaubenslehre beauftragt, die das wertvolle, von Schwester Lucia verfasste Dokument aufbewahrte.“ Im nachfolgenden Auszug spricht Kardinal Bertone über einen Brief Sr. Lucias an Johannes Paul II., in dem sie außergewöhnliche Wünsche vorgetragen hat.

Interview mit Kardinal Tarcisio Bertone, Vatikanstadt

Lucia bat in ihrem letzten langen Brief an Johannes Paul II. um drei Dinge. Ich weiß nicht einmal, ob es sich um ein vertrauliches Schreiben handelt und in den Archiven der Glaubenslehre unter Verschluss gehalten wird.

De Carli: Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Vielleicht könnten Sie den Inhalt kurz andeuten.

Kardinal Bertone: Als Erstes bat sie um die Seligsprechung der beiden pastorinhos, Jacinta und Francisco. Der Kanonisierungsprozess ist auf einen gewissen Widerstand gestoßen. Einige meinten, wenn man den Cousin und die Cousine von Schwester Lucia selig spreche, wäre es, als spreche man ante mortem auch Lucia selig. Doch der Einwand konnte mit dem Argument beiseite geräumt werden, dass man jede Person einzeln gemäß ihren eigenen Tugenden und nach dem üblichen Verfahren des Heiligen Stuhls beurteilt. Man beurteilt nicht die Heiligmäßigkeit einer Gruppe, sondern jede Person einzeln, und wie wir wissen, wurden die beiden Hirtenkinder in Hinblick auf ihren heroischen Tugendgrad und die Aufopferung ihres Lebens für die Kirche und für die Bekehrung der Sünder beurteilt. ...

De Carli: Die jüngsten Seligen in der Geschichte der Kirche, die keine Märtyrer waren. Zum Zeitpunkt der Erscheinung war Lucia zehn, Jacinta und Francisco Marto waren sieben bzw. neun Jahre alt. Das Wunder, von dem Sie sprechen, ist, und das ist höchst außergewöhnlich, ein „gemeinsames Wunder“. Maria Emilia Santos, die zweiundzwanzig Jahre wegen einer Knochentuberkulose gelähmt war, verdankt ihre Heilung der Fürbitte der beiden Kinder. Der Fall hat mich bei der Übertragung der Seligsprechung auf Raiuno, die ich am 13. Mai 2000 machen durfte, sehr beeindruckt. Und was war Schwester Lucias zweite Bitte?

Kardinal Bertone: Sie wünschte, dass man den Rosenkranz zum liturgischen Gebet erklärt. Wenn Schwester Lucia den Rosenkranz rezitierte, strahlte sie förmlich. Sie hat ihn beim Jubiläum der Bischöfe gemeinsam mit dem Papst gebetet, sie in Coimbra, er auf dem Petersplatz. Auf dem Platz der vatikanischen Basilika stand die Statue Unserer Lieben Frau von Fatima.

De Carli: Gab es stichhaltige Argumente für diese Bitte?

Kardinal Bertone: Ich denke schon. Wir beginnen dieses Gebet mit der Anrufung der Dreifaltigkeit und wenden uns dann den Geheimnissen der Offenbarung zu. Weiter geht es dann mit der Betrachtung Unserer Lieben Frau als lebendigen Tempel für den Heiligen Geist. Die Gebete, die den Rosenkranz bilden – gab Schwester Lucia zu bedenken –, sind allesamt biblische Gebete, die uns Gott selbst gelehrt hat und die von Ihm selbst inspiriert sind. Das Gloria singen die Engel bei der Geburt Jesu Christi. Das Vaterunser hat uns Jesus selbst gelehrt. Das Gegrüßet seist du Maria ist der Gruß, den der Erzengel Gabriel an Maria richtet, als er ihr die Menschwerdung verkündet. Danach grüßen wir sie dann mit den Worten Elisabeths, ihrer Cousine: „Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes!“ (Lk 1,42). Ich erinnere mich an einen Satz von Schwester Lucia: „Der Rosenkranz ist das schönste Gebet, das der Himmel uns gelehrt hat, er bringt uns zu einem besseren Verständnis Gottes und seines Erlösungswerkes in Christus.“

De Carli: Außerdem hatte Maria ja, wenn ich mich nicht täusche, den Rosenkranz zu einer friedlichen Waffe bestimmt.

Kardinal Bertone: „Betet täglich den Rosenkranz, um den Frieden der Welt und um das Ende des Krieges zu erlangen!“ Die Himmelskönigin war, wie Lucia erzählt, sehr deutlich. „Unsere Liebe Frau“, schreibt die Ordensschwester, „hat uns keine Vergnügungen, irdische Freuden, Ehre, Macht, materielle Güter vorausgesagt, noch hat sie uns vorausgesagt, dass wir groß und wichtig werden in dieser Welt, in der alles Illusion, Blindheit und Eitelkeit ist und man voller Eifer, durch Betrug und Ungerechtigkeit alles zu erreichen versucht. ,Wollt ihr euch Gott darbieten, um alle Leiden zu ertragen, die Er euch schicken wird, zur Sühne für alle Sünden, durch die Er beleidigt wird, und als Bitte um die Bekehrung der Sünder?‘ – ,Ja, wir wollen es.‘ In vollem Bewusstsein der Vorhersehung großen Leids“, kommentiert Schwester Lucia, „sprach ich dieses ,Ja‘. Und der Herr täuschte uns nicht, noch enthielt er uns seine Gnade vor, genau so, wie die Heilige Jungfrau es versprochen hatte: ,Die Gnade Gottes wird euer Trost sein.‘“

De Carli: … Dann hat er das Jahr des Rosenkranzes ausgerufen und ihm die „Geheimnisse des Lichts“ hinzugefügt, womit er dieses Gebet noch biblischer gemacht hat. Und ist es nicht erstaunlich: Die 104. und letzte Apostolische Reise des „Totus tuus“-Papstes im August 2004 führte ihn nach Lourdes, in ein Marienheiligtum.

Kardinal Bertone: Das Jahr des Rosenkranzes und die „Geheimnisse des Lichtes“ waren eine klare Antwort. Schwester Lucia freute sich darüber. Die dritte Bitte betraf die Veröffentlichung ihres Buches, das nunmehr in verschiedenen Sprachen herausgegeben worden ist – mit dem Titel: Die Aufrufe der Botschaft von Fatima. Viele wissen gar nicht, dass Schwester Lucia im Kloster von Santa Teresa in Coimbra Briefe aus der ganzen Welt bekam. Sie hat ihr ganzes Leben lang geschrieben, mit ihrer besonderen Handschrift, konzentriert, ohne Korrekturen und Schnörkel, gewissenhaft, als spiegele sich darin ihre Seele. Als Kind war sie Analphabetin, erst als junge Frau lernte sie schreiben. „Wenn der Heilige Vater mir gestattet, dieses Buch mit meinen Antworten auf die vielen Briefe zu veröffentlichen, wäre ich glücklich.“ Das Buch wurde blockiert.

De Carli: Warum?

Kardinal Bertone: Weil man dachte: „Wenn wir Schwester Lucia ein Buch veröffentlichen lassen, wird es sofort zum Bestseller, als wäre es das Buch einer Heiligen.“ Ich habe erst mit Kardinal Ratzinger, dann mit dem Papst darüber gesprochen. „Aber Heiliger Vater, heute werden so viele theologische und pseudotheologische Bücher geschrieben, da kann ein Buch von Schwester Lucia doch nur von Vorteil sein. Wir könnten es unter Umständen gegenlesen lassen.“ Der Papst hat eingewilligt. Ein Professor für spirituelle Theologie, der verstorbene Karmeliterpater Jesus Castellano, hat es gelesen, ohne jedoch große Korrekturen vorzunehmen. Es gab keine tiefgreifende Redaktion, die den Inhalt verzerrt hätte. Wer das behauptet, sagt die Unwahrheit. Es bestand keine Notwendigkeit zur Korrektur oder Zensur. Durch Schwester Lucias Buch zieht sich, wenn auch zurückhaltend, die These von Maria als „Miterlöserin“ der Menschheit. …

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Bertone Kardinal Tarcisio & Giuseppe De Carli: Die Seherin von Fatima. Meine Gespräche mit Schwester Lucia. Mit einem Vorwort von Papst Benedikt XVI., Dt. Erstausgabe München 2009, 240 S., Euro 8,95 – ISBN 978-3-453-64520-2. © 2007 RCS Libri S.p.A., Milano. Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Brigitte Lindecke liegen beim Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Kardinal Bertone zu Medjugorje

Im Zusammenhang mit Fatima kommt Dr. Giuseppe De Carli auch auf Medjugorje zu sprechen und bringt interessante Nuancen zum Vorschein. Er selbst ist von den Ereignissen allem Anschein nach nicht nur gut unterrichtet, sondern auch angetan. Sein Gesprächspartner aber, Kardinal Tarcisio Bertone, reagiert auf seine Fragen zurückhaltend. Einerseits ist das Bemühen des Kardinalstaatssekretärs zu spüren, dem unübersehbaren Gnadenwirken in Medjugorje gerecht zu werden. Offensichtlich erhofft er sich von weiteren Untersuchungen auch neue Einsichten und eine endgültige Klarheit. Andererseits aber bringt er seine persönliche Unsicherheit hinsichtlich des übernatürlichen Charakters der Erscheinungen sehr deutlich zum Ausdruck. In seinen Aussagen spiegelt sich wohl auch die Haltung Papst Benedikts XVI. wieder, der sich als Präfekt der Glaubenskongregation wiederholt in ähnlicher Weise geäußert hat.[1]

Interview mit Kardinal Tarcisio Bertone, Vatikanstadt

De Carli: Medjugorje wird, da muss man kein Hellseher sein, nicht so schnell und nicht so leicht anerkannt werden. Es sei denn – und nun kommt eine grundsätzliche Regel: Die Glaubwürdigkeit eines übernatürlichen Phänomens erkennt man an seinen Früchten: Gebet, Buße, Umkehr, Empfang der Sakramente. Für Rene Laurentin ist Medjugorje der Ort, wo am meisten gebeichtet wird. Lassen wir die Wunder einmal beiseite.

Kardinal Bertone: Die von Ihnen aufgezählten Früchte sind nicht die einzigen oder wichtigsten Kriterien. Sehen Sie mal, in Tschenstochau in Polen gab es keine von der Kirche anerkannte Erscheinung, und doch ist es ein Ort der Marienverehrung, der, über die Jahrhunderte, wunderbare Früchte hervorgebracht hat, der regelrecht zum Kern der Identität einer Nation geworden ist. Der Geist eines Volkes, eines katholischen Volkes wie dem polnischen, hat sich hier kontinuierlich genährt und gestärkt. Als ich Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre war, gehörte es zu meinen Aufgaben, an die Bischöfe zu schreiben, die mich um Informationen und pastorale Ratschläge zu Medjugorje baten.

De Carli: Haben Sie praktisch die Pilger entmutigt?

Kardinal Bertone: So kann man das nicht sehen. Es ist eine Sache, keine Pilgerreisen zu organisieren, und eine andere, Pilger zu entmutigen. … „Letztlich, soweit es Pilgerreisen betrifft, die von privater Seite organisiert und durchgeführt werden, weist diese Kongregation darauf hin, dass solche Reisen unter der Bedingung erlaubt sind, dass sie nicht unter der Vorgabe erfolgen, es handle sich um Reisen zu einer anerkannten Wallfahrtsstätte und zu Ereignissen, die immer noch der Untersuchung durch die Kirche bedürfen.“

De Carli: Was hat das alles aus pastoraler Sicht für Konsequenzen gehabt? Fast zwei Millionen Pilger fahren jedes Jahr nach Medjugorje; der Fall hat zu großen Schwierigkeiten geführt, die Ordensbrüder der Pfarrei von Medjugorje standen oft im Konflikt mit der örtlichen Kirchenbehörde; dann ist da die imposante Menge von „Botschaften“, die die Madonna in den letzten Jahren den sechs angeblichen Sehern anvertraut haben soll. „Wenn ein Katholik sich guten Glaubens zu diesem Heiligtum begibt, hat er ein Anrecht auf geistlichen Beistand“, hat der ehemalige Vatikansprecher Joaquin Navarro-Valls gesagt.

Kardinal Bertone: Ich möchte mich hier auf die wichtigsten Konsequenzen beschränken. Die Erklärungen des Bischofs von Mostar geben eine persönliche Meinung wieder, sie sind kein endgültiges und offizielles Urteil der Kirche. Vielmehr wird wiederum auf die Erklärung der Bischöfe des ehemaligen Jugoslawiens vom 10. April 1991 in Zadar verwiesen, die Spielraum für weitere Untersuchungen lässt. Die Überprüfung muss daher vorankommen. Einstweilen sind private Pilgerreisen mit seelsorgerischer Begleitung der Gläubigen erlaubt. Letztlich dürfen sich alle katholischen Pilger nach Medjugorje, einen Ort der Marienverehrung, begeben, wo man sich in allen Formen der Andacht ausdrücken darf.

De Carli: Wenn ich richtig verstanden habe, sollen die Gläubigen von Priestern begleitet werden, Bischöfe dürfen jedoch nicht einbezogen werden. Also nur privat organisierte Pilgerreisen, auch wenn, soweit ich informiert bin, das vatikanische Pilgerbüro „Opera romana pellegrinaggi“ seine Angebote für Medjugorje erst 2006 auf Druck des Vatikans streichen musste. Ich verstehe, dass man bei der „Erscheinungsreligion“, die einen „Erscheinungstourismus“ nährt, vorsichtig sein muss, ich verstehe die extreme Vorsicht der Kirche, doch dieses unbekannte Dorf in Bosnien-Herzegowina zieht immer mehr Gläubige an. Während des Balkankrieges sind die mutmaßlichen „Erscheinungsorte“ von Mörsern und Bomben verschont geblieben. Man hat einfach weitergebetet und Maria angerufen, und um das Heiligtum herum wurden alle Friedensaufrufe Johannes Pauls II. direkt übertragen. Die simple Frage aber, die alle sich stellen, lautet: Ist die Madonna in Medjugorje erschienen oder nicht?

Kardinal Bertone: Das ist ein Problem.

De Carli: Was ist Ihre Meinung?

Kardinal Bertone: Nach Meinung von Tarcisio Bertone ist es ein großes Problem. Es gibt gewisse Abweichungen in Hinblick auf die anderen Erscheinungen, auf die traditio von Erscheinungen. Von 1981 bis heute soll Maria in Medjugorje zehntausende Male erschienen sein. Das ist ein Phänomen, das mit den anderen Marienerscheinungen nicht vergleichbar ist. In der Regel haben sie eine gewisse Linie, eine Parabel, sie beginnen und enden wie göttliche Meteore. Die Zeiten, so sagt man, sind so außergewöhnlich, dass sie eine außergewöhnliche Antwort Marias verlangen. Der Einschub „so sagt man“ soll übrigens herausstellen, dass ich persönlich eine andere Sicht habe. Diese These haben diejenigen aufgestellt, die die Kirche in einer gewissen Linie sehen wollen. Aber vergessen Sie nicht, Maria ist in allen Heiligtümern der Welt präsent, sie sind eine Art riesiges Schutznetz, Punkte, die Spiritualität ausstrahlen, unerschöpfliche Quellen des Wohls und der Güte.

De Carli: Sie sind skeptisch, Sie haben Zweifel.

Kardinal Bertone: Ich stehe auf der Seite der institutionellen Kirche, auch wenn ich die Gläubigen verstehe, die nach Medjugorje fahren. Ich wiederhole: Man muss keine besonderen Ereignisse als Anlass nehmen, das Göttliche muss sich nicht notwendig durch Erscheinungen manifestieren, damit man eine echte, authentische Marienverehrung ausüben kann.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Bertone Kardinal Tarcisio & Giuseppe De Carli: Die Seherin von Fatima. Meine Gespräche mit Schwester Lucia. Mit einem Vorwort von Papst Benedikt XVI., Dt. Erstausgabe München 2009, 240 S., Euro 8,95 – ISBN 978-3-453-64520-2. © 2007 RCS Libri S.p.A., Milano. Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Brigitte Lindecke liegen beim Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Der Tabernakel – die Lade des Neuen Bundes

Der Tabernakel kann als „Lade des Neuen Bundes“ bezeichnet werden, das unüberbietbare Zeichen für die wirkliche Gegenwart Gottes unter uns Menschen. Geistl. Rat P. Notker Hiegl OSB aus der Benediktiner-Abtei Beuron zieht einen interessanten Vergleich: Schon das Volk Israel hatte seine Bundlade in Zeiten des Wohlstands vergessen und „abgeschoben“. Erst im Augenblick größter Not wurde sie „reaktiviert“. Ähnlich ergeht es heute oft dem Tabernakel, der insbesondere ein Zeugnis für das katholische Priestertum darstellt. Ein Beitrag zum „Jahr des Priesters“.

Von Notker Hiegl OSB

Mach eine Lade aus Akazienholz, zweieinhalb Ellen lang, anderthalb Ellen breit und anderthalb Ellen hoch! Überzieh sie innen und außen mit purem Gold, und bring daran ringsum eine Goldleiste an! In die Lade sollst du die Bundesurkunde legen, die ich dir gebe. Mach zwei Kerubim aus getriebenem Gold, und arbeite sie an den beiden Enden der Deckplatte heraus! Mach je einen Kerub an dem einen und dem anderen Ende. Die Kerubim sollen die Flügel nach oben ausbreiten, mit ihren Flügeln die Deckplatte beschirmen, und sie sollen ihre Gesichter einander zuwenden“ (Ex 25,10-11.16.19.20). Der Verfasser des Hebräerbriefs, welcher den Alten Bund als Schatten und Vorbild für die erlösende Mittlertat Christi deutet, erwähnt das Kernstück der Lade: Das Allerheiligste enthält den goldenen Rauchopferaltar und die ganz mit Gold verkleidete Bundeslade, darin ein goldener Krug mit dem Manna, der grünende Stab Aarons und die Bundestafeln und darüber die Cherubim der Herrlichkeit, die den Versöhnungsschrein überschatten (vgl. Hebr 9,4).

Der fast vergessene heilige Kasten

Die Bundeslade sollte nicht nur heilige Gegenstände aufnehmen, sondern selbst zum heiligsten Gegenstand des mosaischen Kultes werden. Ihre Ausmaße sind in Ellen angegeben. Die königliche ägyptische Elle der 18. Pharaonen-Dynasie war 52,8 cm lang, die gewöhnliche Elle 45 cm. Demnach hätte die Bundeslade folgende Maße gehabt: zwischen 1,12 und 1,32 Meter lang, zwischen 0,67 und 0,79 Meter breit und hoch. Die hebräischen Goldschmiede hatten im ägyptischen Pharaonendienst leitende Stellungen inne und schufen nun nach dem Auszug aus dem Land der Unterdrückung das Schönste, was ihre Hände und ihr Geist je hervorgebracht hatten. Vierzehn Mal wird die Lade im Alten Bund als das Heilszeichen der Befreiung aus der Knechtschaft erwähnt: Sie ging dem Volk beim Zug durch die Wüste voraus, die Wasser des Jordans wichen vor ihr beim Einzug ins Gelobte Land – und dennoch: Nach der Sesshaftwerdung des Volkes im Land, in dem Milch und Honig fließen, wurde sie fast vergessen, auf die Seite geschoben, in Shilo (heute: Khirbet Seilun) im Lande Ephraim abgestellt. Ein Priester hielt bei ihr Wache. Lediglich vereinzelte Pilger suchten den heiligen Ort auf.

In der Not wird die Bundeslade „reaktiviert“

In der Kriegsnot erinnerte man sich der Lade und holte sie ins Heereslager nach Eben-Eser (vgl. 1 Sam 4,1). Doch Israel wurde von den Philistern besiegt. Als der Priester Eli erfuhr, dass die Bundeslade in die Hand der Feinde gefallen war, fiel er schockiert vom Stuhl und starb. Den Verlust der Lade konnte er nicht verkraften. Denn sie war das Zeichen der Nähe Gottes inmitten des Volkes Israel. Den Philistern aber brachte die Lade Unheil. Deshalb schoben sie dieselbe auf abenteuerliche Weise wieder zu den Israeliten ab, bis sie Jahre später durch König David im Ehrengeleit vom Haus Abinadabs in Kirjat-Jearim (2 Sam 6,1-33) zuerst in das Haus des Obed-Edom und von dort nach Jerusalem überführt werden konnte. Diese Übertragung sicherte Jerusalem, dem politischen Mittelpunkt des Landes, auch jene Liebe und Ehrfurcht, die ihm von da an als religiösem Mittelpunkt gebührte.

Der Tabernakel des Neuen Bundes

„Tabernakel“ kommt vom lateinischen „tabernaculum“ und heißt übersetzt: „Zelt“. Der Begriff erinnert an das mosaische Zelt Gottes, in welchem die Bundeslade mit dem „Manna-Brot“ neben den anderen Zeichen der Gegenwart des Herrn aufbewahrt wurde. Die eigentliche Bedeutung dieser Zeichen des Alten Bundes strahlt in der neutestamentlichen Heilsfülle auf. „Das wahre Manna, das ist hie, davor der Himmel beugt die Knie; hier ist das rechte Himmelsbrot, das wendet unsres Hungers Not“, so singt die Kirche in Anlehnung an die Fronleichnams-Hymnen des hl. Thomas von Aquin. Die Realität der Gottesnähe in der Eucharistie, seine Größe und Erhabenheit unter der einfachen Gestalt des Brotes ist für uns Menschen unfassbar: „Jesus, den verborgen jetzt mein Auge sieht, stille mein Verlangen, das mich heiß durchglüht: lass die Schleier fallen einst in deinem Licht, dass ich selig schaue, Herr, dein Angesicht.“ Das „Abendmahlsbrot“ in der „Bundeslade des Neuen Bundes“ ist nicht Brot für den Körper, sondern Speise für die Seele, für Zeit und Ewigkeit, Jesus selbst mit Leib und Seele, Fleisch und Blut, als Gott und Mensch, wahrhaftig und verklärt.

Die Aufbewahrung des „Brotes des Lebens“

Wie die gesamte Liturgie hat auch der Tabernakel eine lange Tradition. In der frühen Kirche diente ein kleiner Schmuck-Schrein zur Aufbewahrung des „Eucharistischen Brotes“, das man so auch den Kranken und abwesenden Gläubigen, besonders den um des Glaubens willen Gefangenen bringen konnte. Die „Eucharistische Taube“, angeblich schon im 5. Jahrhundert in Gebrauch, ist bis zum heutigen Tag in den benediktinischen Klöstern Solesmes und Montserrat sowie in einigen Zisterzienser-Kirchen als Einzelform erhalten. Mit einer verschließbaren Mulde am Rücken diente sie zur Aufnahme der Hostien. Die irischen Wandermönche trugen den Leib Christi in einer Kapsel um den Hals. In der Zeit der Gotik erhielt der Hostienkelch seinen Platz im Sakramentshäuschen, kunstvoll gestaltet mit turmartigen Pfeilern und Säulen. Hinter einem Gitter wurde der Kelch sichtbar zur „adoratio“, d.h. „Anbetung“, aufbewahrt. Seit dem Konzil von Trient ist der Tabernakel auf dem Hauptaltar jeder Kirche vorgeschrieben. Durch das Tabernakel-Dekret von 1957 wurde diese Verpflichtung kurz vor dem 2. Vatikanum noch einmal unterstrichen.

Das 2. Vatikanum und die Tabernakelfrage

In der Allgemeinen Einführung zum Römischen Messbuch (AEM, Nr. 276 und 277) empfiehlt das aktuelle Missale, die konsekrierten Hostien „in einer vom Kirchenraum getrennten Kapelle“ bzw. „auf einem Altar oder an einer anderen ehrenvollen und würdig hergerichteten Stelle des Kirchenraumes“ aufzubewahren. Bei den meisten Kirchen ist aus architektonischen Gründen die Altarmitte als Standort des Tabernakels geblieben. Das „Ewige Licht“, das beim Tabernakel brennen muss, weist auf die Gegenwart des Herrn im Sakrament hin. Betritt der Gläubige die Kirche und sieht das Licht leuchten, beugt er ehrfürchtig sein Knie. An dem Ort, wo Jesus Christus unter der Gestalt des eucharistischen Brotes anwesend ist, berühren sich Himmel und Erde. „Augen, Mund und Hände täuschen sich in dir, doch des Wortes Botschaft offenbart dich mir. Was Gott Sohn gesprochen, nehm ich glaubend an, er ist selbst die Wahrheit, die nicht trügen kann.“

Ideologisierung der Mahlgemeinschaft

In einer kirchlichen Zeitschrift fand sich folgender Kommentar: „Seit der Liturgiereform nach dem Konzil ist es üblich, dass in jeder Eucharistiefeier das Brot für alle Teilnehmer konsekriert wird, die heilige Kommunion also nicht aus dem Tabernakel genommen wird. Leider ist die Praxis oft anders. In der Feier werden sehr viele Hostien konsekriert, und im Tabernakel stehen überfüllte Kelche.“ Soweit dies Zitat!

Sogar bei einem gewöhnlichen Mahl wird nachgereicht, wenn die Speise, die auf dem Tisch steht, nicht ausreicht. Es ist doch das Selbstverständlichste, dass die Hostien aus dem Tabernakel genommen werden, wenn bei starkem Gläubigenbesuch, wie es bei uns in Beuron beim Konventamt oft vorkommt, nicht genügend Hostien konsekriert worden sind. Der berechtigte Grundsatz, in der Eucharistiefeier aktuell konsekrierte Hostien auszuteilen, sollte nicht zur Ideologie pervertiert werden. Es geht in jedem Fall um Christus, der sich selbst in den Gaben schenkt. So ist es durchaus angebracht, den Gläubigen auch aus dem Tabernakel-Kelch „das Manna des Lebens“ zu reichen. Umgekehrt stellt sich die Frage, was mit den restlichen Hostien geschehen soll, wenn zu viele konsekriert worden sind. Nach dem Beispiel verschiedener christlicher Denominationen, die sich vom sakramentalen Priestertum losgesagt haben, wieder zurück in die Hostientüte? Unsere katholische Auffassung verbietet dies. Denn nach der gültigen Wandlung ist und bleibt Christus in den konsekrierten Hostien gegenwärtig. Der Tabernakel legt Zeugnis vom apostolischen Priestertum der Kirche ab.

Die Opfergemeinschaft mit dem Erlöser

Beim Kommunion-Empfang geht es um Größeres als nur um eine Mahlgemeinschaft der Gläubigen untereinander im Namen Jesu Christi. Durch das Geheimnis der Eucharistie werden die Gläubigen in die Leidens- und Opfergemeinschaft mit dem Erlöser hineingenommen. Und diese Gemeinschaft ist bleibend gegeben im „Brot vom Tisch des Opfer-Mahles“ und im „Brot aus der Bundeslade“, dem Tabernakel. Das Opfer unseres Hohenpriesters Jesus Christus, der sich ein für allemal zu unserem Heil hingegeben hat, wird in jeder hl. Mes­se erneuert. Und im Tabernakel bleibt er gegenwärtig im Zustand des Opfers, die verborgene Anwesenheit seiner Menschheit und Gottheit: „Beide sieht mein Glaube in dem Brote hier; wie der Schächer ruf ich, Herr, um Gnad zu dir.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Bruder Rafael wird heiliggesprochen

Rafael Arnáiz Barón (1911-1938) war Student, Künstler, Mönch und Mystiker. Auf dem Weltjugendtag in Santiago de Compostela (1989) stellte ihn Papst Johannes Paul II. den jungen Menschen aus aller Welt als Beispiel der Nachfolge Christi vor. Im Jahr 1992 folgte die Seligsprechung. Auch auf dem Kölner Weltjugendtag im Jahr 2005 wurde dem jungen spanischen Seligen eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Am 11. Oktober dieses Jahres nun wird Papst Benedikt XVI. Bruder Rafael in Rom heiligsprechen.

Von Ingrid Mohr P.I.J.

Frömmigkeit und Lebensfreude gehen Hand in Hand

Rafael Arnáiz Barón war das älteste von vier Kindern einer tief religiösen Familie. Über seinen Vater meint er in einem Brief: „Papa ist kostbarer als das Brot“ (15.3.1931). Ein Jesuit berichtet über seinen Schüler Rafael: „Er eroberte sich die Sympathien aller. Mit seinem Einfallsreichtum und seiner fröhlichen, schelmischen Art zog er alle an. Er war gut erzogen, sehr pflichtbewusst und fleißig. Man könnte Rafael als ein intelligentes, fröhliches Kind beschreiben, ausgelassen beim Spiel, gewissenhaft beim Lernen, tieffromm.“ Auch musisch war er sehr begabt: er malte, zeichnete und musizierte, und seine Schriften besitzen so viel an Harmonie und Rhythmus, dass sie an Poesie erinnern. Nach dem Abitur begann Rafael in Madrid mit dem Studium der Architektur. Sein Leben war auch dort geprägt von tiefer Religiosität und enger persönlicher Beziehung zu Gott. Seinen Eltern schreibt er: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man den Tag damit beginnt, sich in die Hände Gottes zu begeben, alles besser gelingt; das Studium klappt besser, und ohne den Herrn wäre ich zu nichts fähig“ (21.10.1933). Aufgrund seiner Geselligkeit und seines ansteckenden Humors sowie seiner Güte und Herzlichkeit wurde Rafael überall geschätzt und geliebt. Er zeigt uns, dass Frömmigkeit und Freude am Leben durchaus Hand in Hand gehen können.

Aus der Zeit seines Militärdienstes berichtet ein Freund: „Rafael widmete sich häufig dem Apostolat und das nicht als jemand, der predigt, sondern durch sein Verhalten und seine Umgangsformen.“ Einer seiner Brüder erzählt: „Über die Zeit des Wehrdienstes, in der er hinter dem Königspalast Wache schieben musste – einem Ort, der nachts voll von Prostituierten war –, sagte mir einer seiner Gefährten: ‚Ich weiß nicht, was dein Bruder hat. Aber stell dir vor, um acht oder neun Uhr abends betet er mit uns während der Wache den Rosenkranz. Und du kannst uns glauben: wir tun es gern, ohne uns irgendwie Gewalt anzutun.‘“

Ein Trappistenkloster wird seine Heimat

Rafael pflegt engen Kontakt zu Tante und Onkel in Avila. Dort hört er von den Trappisten und spürt, dass Gott ihn in seine engere Nachfolge ruft. Mit 19 Jahren besucht er erstmals deren Abtei in der Nähe von Palencia. Sie wird ihm bald zur Heimat und ein wichtiger Ort auf seinem Lebensweg. Als er im November 1933 den Abt um Aufnahme ins Kloster bittet, schreibt er: „Gott hat so in mir gewirkt, dass ich den festen Entschluss gefasst habe, mich ihm ganz zu überlassen. Bei dieser Veränderung meines Lebens bewegen mich weder Traurigkeit und Leiden, noch Enttäuschungen und Ernüchterungen der Welt. Was sie mir geben kann, das habe ich alles. Gott hat mir viel mehr geschenkt, als ich verdiene. Wenn Sie mich in die Gemeinschaft aufnehmen, können Sie sicher sein, dass Sie ein sehr fröhliches Herz mit viel Liebe zu Gott aufnehmen“ (19.11.1933).

Dieser junge Mann verzichtet also auf seine Karriere und eine verheißungsvolle Zukunft als Architekt, auf die Geborgenheit der Familie und ein Leben in Wohlstand. Im Januar 1934 tritt er ins Kloster ein. Die strenge Lebensweise fällt ihm nicht leicht; da ist der für das Gebet unterbrochene nächtliche Schlaf, die teils schwere körperliche Arbeit, das karge Essen, die oft eisige Kälte, das harte Bett. Alles nimmt er aus Liebe zu Gott auf sich. Seiner Mutter schreibt er 14 Tage später mit dem ihm eigenen Humor: „Ich habe mich sehr gut an die Regel gewöhnt, die auf den ersten Blick hart erscheint, aber das einzig Harte hier ist das Bett. Wenn Du sehen könntest, welch großen Frieden man einatmet! Diese stille Freude in der Abtei, die man nicht beschreiben kann, weil diese Freude und dieser Friede Gott selbst ist. Er ist der einzige Punkt, auf den sich das monastische Leben richtet“ (29.1.1934). Am Tag der Einkleidung berichtet er seinen Eltern: „Schon bin ich ganz in Weiß, wenigstens von außen. Jetzt werde ich mich anstrengen, es von innen zu werden, was ja die Hauptsache ist. Ich bin immer überzeugter davon, dass Gott die Trapa [in Spanien übliche Bezeichnung der Trappistenklöster] für mich geschaffen hat und mich für die Trapa. Die einzig wahre Einsicht ist die, den Platz einzunehmen, den Gott für uns vorgesehen hat, und dass wir uns ihm von ganzem Herzen überlassen“ (18.2.1934).

Gottes Pläne sind anders

Rafael ist glücklich und fest entschlossen, für immer auf dem eingeschlagenen Weg zu bleiben. Aber Gottes Pläne sind anders als seine eigenen. Nach nur dreieinhalb Monaten erkrankt er so schwer an Diabetes, dass er zu seinen Eltern zurückkehren muss. Es ist ein äußerst harter Schlag, der ihn aber sehr reifen lässt. Als es ihm etwas besser geht, überlegt er: „Wenn sich jemand ohne Vorbehalte Gott überlässt, muss er auf alles gefasst sein. Als ich eintrat, übergab ich ihm alles, was ich war, und alles, was ich besaß: meine Seele und meinen Leib. Daher ist es ganz recht, dass Gott jetzt mit mir tut, was Er meint, ohne dass von meiner Seite auch nur eine Klage oder Auflehnung käme. Die Prüfung, die Er von mir verlangt, ist hart, aber mit seiner Hilfe wird es weitergehen – hier oder dort. Ich habe die Hand an den Pflug gelegt und kann nicht zurückschauen“ (Sommer 1934). Aus der Zeit, die Rafael außerhalb des Klosters verbringen muss, sind uns wertvolle Briefe erhalten. Besonders zahlreich sind die an seine Tante Maria, mit der ihn eine geistliche Freundschaft verbindet. Wie sehr sich die beiden bemühen, Gottes Willen in allem zu erfüllen und eins zu werden mit ihm, zeigen folgende Zeilen an sie: „Wenn man ein Salzkörnchen ins Meer wirft, verschwindet es, weil sich das Salz im Wasser auflöst, und dann werden Meer und Salz eins. Lass uns danach trachten, dieses Salzkörnchen zu sein, das sich in Gott auflöst und verschwindet“ (1.12.1935).

Für Gott lasse ich tausendmal alles zurück

Im Januar 1936 kann Rafael in die Abtei zurückkehren, allerdings nur als Oblate, da er aufgrund seiner Krankheit das Noviziat nicht regulär machen und keine Gelübde ablegen kann. Auch dieses Opfer nimmt er bereitwillig an. Seiner Tante schreibt er: „Bete darum, dass der Herr meine Gabe annehme. Das Wort ‚Oblate‘ bedeutet Gabe, Geschenk. Ihm schenke ich, was ich bin und wie ich bin, mit Gesundheit oder ohne sie; mein Leben, meinen Leib, mein Herz, alles, absolut alles. Ich habe mich für alle gegeben: für meine Eltern und Geschwister, für die Missionare, die Priester, für die, die leiden, und die, die ihn beleidigen“ (10.12.1935).

Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges im Juli 1936 muss Rafael im September die Abtei erneut verlassen, da die jungen Mönche an die Front gerufen wurden. Allerdings wird er sehr bald als untauglich erklärt und kehrt im Dezember ins Kloster zurück. Schon zwei Monate später, Anfang Februar 1937, erleidet er einen neuen Schub seiner Krankheit. Angesichts der schwierigen Lage der Abtei während der Kriegszeit schicken ihn seine Obern wieder nach Hause, um ihm eine gründlichere Heilung zu ermöglichen. Einen Tag vor seinem Weggang notiert Rafael etwas, das uns seine beachtliche geistliche Entwicklung erkennen lässt: „Bis hierher bin ich gekommen mit meinem Heft, jetzt, da mich der Gehorsam verpflichtet, meine Zelle im Krankenbereich zu verlassen. Gottes Wille geschehe! Obwohl es scheint, dass alles gegen mich spricht, ist es doch nicht so, denn die unendliche Güte Gottes und seine Pläne sind den Augen der Menschen oft so verborgen, dass andere Augen als die des Leibes erforderlich sind, um sie zu erkennen. Ich habe mein Elternhaus dreimal verlassen. Wenn der Herr mir seine Gnade und die Gesundheit schenkt, werde ich wiederum alles zurücklassen, und das nicht drei- oder viermal, nein, tausendmal, wenn es nötig sein sollte. Dies ist das dritte Mal, dass ich mein Ordensgewand ablege und weltliche Kleidung anziehe. Das erste Mal glaubte ich vor Kummer zu sterben. Ich glaubte, Gott habe mich verlassen. Das zweite Mal ging ich wegen des Krieges. Ich erkannte, dass Gott mich auf die Probe stellte. Das dritte Mal, das ist jetzt, sehe ich Gottes Hand so deutlich, dass es mir einerlei ist. Jetzt bin ich mir bewusst, dass Gott mich nicht verlässt oder prüft, sondern liebt. Ich möchte das, worum Gott mich bittet, schlicht und einfach erfüllen. Er bringt mich her, Er führt mich fort. Er bringt mich zum Weinen, dann wieder lässt Er mich lachen. Wie gut ist Gott! Er will nur mein Bestes. Er wird wissen, was Er tut. Ich gewöhne mich langsam derart an seine Vorgehensweise, dass ich ihn nicht einmal mehr danach frage. Ich lasse mich führen, ich lasse an mir geschehen, und das ist das Beste“ (6.2.1937).

Ich brauche das Kreuz, um mehr zu lieben

So geht Rafael zwar mit wehem Herzen, aber auch mit dem tiefen Wunsch, in allem Gottes Willen zu erfüllen, in sein Elternhaus zurück. Seinem Krankenwärter schreibt er kurz vor der letzten Rückkehr ins Kloster: „Wenn Du wüsstest, wie ich mich nach Stille sehne und danach, verborgen im Haus Gottes zu leben und dort vor dem Tabernakel zu verweilen. Wenn ich all die Wundertaten betrachte, die Er an mir vollbringt trotz aller Hindernisse, die ich der Gnade in den Weg lege, dann verwandelt sich die Verwirrung in ein wunderbares Licht, das mir von der Größe Gottes spricht und seiner unendlichen Barmherzigkeit. Dann herrscht Gott allein in der Seele“ (1.12.1937).

Die Zeiten der Krankheit und Abwesenheit vom Kloster waren ungeheuer schwer für Rafael, aber von größter Bedeutung auf seinem geistlichen Weg. Er nahm alles bereitwillig an, und Gott ließ ihn immer mehr eins werden mit dem Kreuz Christi. Hören wir eines von Rafaels Gebeten, in dem seine Ganzhingabe deutlich wird: „Herr, wenn ich, um dich zu lieben, das Kreuz brauche, dann schick es mir, denn ich sehe deutlich, dass ich dich mehr liebe, je mehr Kreuz ich zu tragen habe! Schau auf deinen Diener Rafael! Du weißt, dass sein Leben und seine ganze Seele dir gehören. Willst du mich durch Opfer läutern? Opfere mich, Herr! Willst du mein Leiden? Nimm es, Herr! Ich will deinem göttlichen Handeln kein Hindernis in den Weg legen. Aber vergiss mich nicht! Alles Gute kommt von dir. Daher ist es das Beste, dich wirken zu lassen. Ich überlasse mich ganz dir. Bist du zufrieden, Herr? – Ich bin‘s“ (27.8.1935).

Einer der größten Mystiker des 20. Jahrhunderts

Wenn man bedenkt, dass Rafael zu dieser Zeit 24 Jahre alt war, ist man erstaunt über seine frühe Reife und innere Tiefe. Rein menschlich gesehen kann man seinen Entschluss, das strenge Leben trotz seiner so angeschlagenen Gesundheit erneut auf sich zu nehmen, als unvernünftig betrachten. In einem Brief erwähnt er: „Ja, ich verspüre erneut die Lust, den Glimmstengel wieder von mir zu werfen, das weiche Bett zu lassen, das Radio, den Sherry um elf und meine Spaziergänge an der Sonne. Ich habe wieder Lust, das zu tun, wozu ich keine Lust habe. Mein einziger Wunsch ist der, Gott zu lieben: Ihm will ich dienen. Ich sehe die Trapa, ich sehe ein Kreuz vor mir, und dahin gehe ich“ (1.12.1937).

So kehrt Rafael Mitte Dezember 1937 endgültig in die Abtei zurück. Dreimal muss er also das Kloster verlassen, und dreimal tritt er wieder ein. Er lebt zurückgezogen in der Krankenabteilung und leidet viel – körperlich und seelisch. Aber er beklagt sich nicht; vielmehr sieht er in der Krankheit ein Geschenk Gottes und lobt seine Barmherzigkeit. Er entdeckt das Geheimnis des Kreuzes, das er immer geliebt hat, noch tiefer. Am Tag nach seiner Rückkehr beginnt er auf Bitten seines Beichtvaters mit Aufzeichnungen. Offen und ehrlich beschreibt er den Zustand seiner Seele, legt seine Gedanken, Schwierigkeiten und Versuchungen dar, spricht über die Sehnsucht seines Herzens und die Liebe, die seine Seele erfüllt. Er erreicht Tiefen der Mystik, die Bewunderung in uns wecken können. Nicht ohne Grund spricht man von Rafael als wohl einem der größten Mystiker des 20. Jahrhunderts. Ende Februar 1938 bietet er dem Herrn erneut sein Leben an und schreibt: „Es gehört nicht mehr mir. Möge Er dafür sorgen, wenn Er will. Ich denke nicht mehr daran, mir Sorgen zu machen“ (27.2.1938). Rafael löst sich von allem; seine Mitte ist Gott allein. Er lässt sich leiten von dem Wunsch nach einer Antwort in Treue und Großmut auf Gottes Anruf, und die war wahrhaft heroisch.

Dein Diener Rafael hat es eilig

Am Ostersonntag 1938 erhält er vom Abt zwei Teile des Ordensgewandes, die eigentlich den Professmönchen vorbehalten sind. Seinen Angehörigen schreibt Rafael noch am selben Tag – auch jetzt noch mit Humor: „Heute hat mir P. Abt das schwarze Skapulier und die Kulle gegeben, so dass ich wie ein wirklicher Mönch aussehe. Ich bin ganz glücklich mit meinen weiten Ärmeln, obwohl ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll. Ach, wenn ich nur so viel Liebe zu Gott hätte, wie ich Stoff im Überfluss habe!“ Diesem Brief fügt er drei Bilder bei, die er selbst gemalt hat, und erklärt jedes von ihnen. Einer der Texte fasst seine Einstellung treffend zusammen. Da heißt es: „Das dritte Bild zeigt einen Mönch, der von der Höhe eines Felsens aus die Welt betrachtet, und er ruft aus: ‚Ich bin nur Gast auf Erden.‘ Ob wir wollen oder nicht, wir sind wirklich Pilger. Warum sollten wir hier unsere Wohnstatt errichten? Betrachten wir diese Erde wie der kleine Mönch des Bildes! Glücklich zu preisen, wer sich als Fremdling in der Welt betrachtet und nur von Gott träumt und von seinem wirklichen Vaterland! Sein Leben wird in friedvoller Gelassenheit verlaufen, denn Frieden gibt es nur in einem Herzen, das von allem losgelöst ist“ (17.4.1938).

Am 26. April 1938 gibt Rafael Gott seine Seele zurück. Es war gut zwei Wochen nach seinem 27. Geburtstag und nach insgesamt nur 20 Monaten im Kloster. Jetzt erfüllt sich, worum er in seiner glühenden Liebe zu Gott kurz zuvor gebetet hatte: „Zögere nicht lange, Herr! Sieh, dein Diener Rafael hat es eilig damit, bei dir zu sein und dein Lob zu singen mit den Engeln und Heiligen“ (12.2.1938). Jetzt darf er in die Vollendung eingehen, nach der er sich so sehr gesehnt, die er so treu gesucht und die er so heldenhaft angestrebt hat. Rafael stirbt im Ruf der Heiligkeit, und schon bald geht diese Kunde über die Mauern seines Klosters hinaus.

In der Enzyklika Spe salvi Benedikts XVI. heißt es: „Die wahren Sternbilder unseres Lebens sind die Menschen, die recht zu leben wussten. Sie sind Lichter der Hoffnung. Gewiss, Jesus Christus ist das Licht selber … Aber wir brauchen, um zu ihm zu finden, auch die nahen Lichter – die Menschen, die Licht von seinem Licht schenken und so Orientierung bieten auf unserer Fahrt“ (49). Und ich denke, eines dieser Lichter ist für uns dieser Bruder Rafael.

 

Literatur von Sr. Ingrid Mohr P.I.J.:

Nur Gast auf Erden? Rafael Arnáiz Barón – Mystiker und Mönch, Dt. Gesamtausgabe seiner Schriften, 680 S., Zeichnungen im Text, 8 S. Bildteil, ISBN: 3-910082-37-8, Euro 20,35.
Wenn ich tausend Leben hätte. Rafael Arnáiz Barón – Student, Künstler, Mönch, Mystiker. Kleine Biographie mit vielen Zitaten, 100 S., 14 S. Bildteil, ISBN: 3-8107-9309-8, Euro 7,50.
Ein Lichtstrahl Gottes: Rafael Arnáiz Barón O.C.S.O. Ein Hörbuch ISBN: 978-3-7171-1186-3, ca. Euro 17,–.
Novene zu Br. Rafael Arnáiz Barón (24 S.), ISBN 978-3-7171-1183-2, Euro 2,50.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Neuen Kommentar schreiben

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder! Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare gegebenenfalls nicht für die Veröffentlichung freizugeben oder in Abstimmung mit den jeweiligen Autoren zu kürzen.