Die Lehre vom Gericht bei Benedikt XVI.

In seine Enzyklika „Spe salvi“ – „Auf Hoffnung hin gerettet“ vom 30.11.2007 nahm Papst Benedikt XVI. die entscheidenden Gedanken auf, die er bereits vor der Wahl zum Papst in seiner „Lehre über die Letzten Dinge“ (Eschatologie) entfaltet hatte. Doch finden sich darin auch neue Akzente: Benedikt XVI. bestätigt die Lehre vom Fegfeuer und betont den reinigenden Charakter des Gerichts, gegenüber einer allzu zuversichtlichen Deutung der Erlösung hebt er die reale Möglichkeit der ewigen Verdammnis hervor, bei der Verhältnisbestimmung von persönlichem und allgemeinem Gericht äußert er sich jedoch vorsichtig und verzichtet auf eine Vorstellung in zeitlichen Kategorien. Dr. Anton Štrukelj, Dozent für Dogmatische Theologie und seit 1997 Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission des Heiligen Stuhls, zeigt außerdem auf, wie sich Kardinal Ratzinger schon früh von Hans Urs von Balthasar inspirieren ließ. Die Lehre des Papstes vom Gericht baut auf der Grundbotschaft auf: „Der Herr ist mein Richter und Retter“.

Von Anton Štrukelj

Der Herr ist Richter und Retter

Papst Benedikt XVI. spricht in seiner Enzyklika „Spe salvi“ vom Gericht als vom Lern- und Übungsort der Hoffnung. Christus ist „Richter und Retter. Das Begegnen mit ihm ist der entscheidende Akt des Gerichts. Vor seinem Anblick schmilzt alle Unwahrheit."[1] Den gleichen Gedanken äußert er als Theologe auch in seiner Eschatologie, wo er schreibt: „Christus teilt niemandem Verderben zu, er selbst ist reine Rettung, und wer bei ihm steht, steht im Raum der Rettung und des Heils. Das Unheil wird nicht von ihm verhängt, sondern es besteht da, wo der Mensch von ihm ferne geblieben ist; es entsteht durch das Verbleiben im Eigenen. Das Wort Christi als das Angebot des Heils wird dann sichtbar machen, dass der Verlorene selbst die Grenze gezogen hat und sich vom Heil trennte."[2]

Die Wahrheit richtet den Menschen

Wer das Antlitz Jesu Christi schaut, wer auf den Durchbohrten schaut, wird sehen, dass der Richter selbst ein Opfer der Henker gewesen ist. Die Wahrheit, die das Verborgene aufdecken und das Vergessene in Erinnerung rufen wird, ist an die Person des auferweckten Gekreuzigten gebunden. Das Gericht ist die Wahrheit schlechthin. „Der Mensch tritt in seinem Sterben heraus in die unverdeckte Wirklichkeit und Wahrheit. Er nimmt nun den Platz ein, der ihm der Wahrheit nach zukommt. Das Maskenspiel des Lebens, die Zuflucht hinter Positionen und Fiktionen ist vorbei. Der Mensch ist das, was er in Wahrheit ist. In diesem Wegfallen der Masken, das der Tod mit sich bringt, besteht das Gericht. Das Gericht ist einfach die Wahrheit selber, ihr Offenkundigwerden. Diese Wahrheit ist freilich nicht ein Neutrum. Gott ist die Wahrheit, die Wahrheit ist Gott, ist ,Person‘. Eine richtende, endgültige Wahrheit kann es nur geben, wenn sie göttlichen Charakter hat; Gott ist Richter, sofern er die Wahrheit selber ist. Gott aber ist die Wahrheit für den Menschen als Mensch Gewordener, in dem er selbst Maßbild des Menschen ist. So ist Gott Wahrheitsmaßstab für den Menschen in und durch Christus. Darin liegt die erlösende Umprägung des Gerichtsgedankens, die der christliche Glaube bedeutet: Die Wahrheit, die den Menschen richtet, ist selbst aufgebrochen, ihn zu retten."[3]

Gericht ist Teilung und Scheidung

Im soeben genannten Doppelbegriff „Gericht-Rettung“ und „Richter-Retter“ soll nun zuerst vom Gericht die Rede sein. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis steht die Richter-Rolle Christi als Pantokrator sehr deutlich: Er wird kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Hans Urs von Balthasar erklärt diesen Glaubensartikel im Credo mit folgenden Worten: ,,Zu richten. Richten heißt ur-teilen; ohne ein Teilen in Ja und Nein kein Gericht. Richten heißt entscheiden; ohne ein Scheiden in Rechts und Links kein Gericht. Diese Teilung und Scheidung wird uns in der großen Gerichtsszene bei Matthäus, Kapitel 25 anschaulich vorgeführt. Und nun gibt es ohne Zweifel in der Welt und ihrer Geschichte, aber auch in jedem Menschenleben vieles, was geteilt und geschieden werden muss, wenn die Wahrheit über das Ganze und das Einzelne zutage treten soll. Und dieses Gericht will ja nicht bloß feststellen, was in der Verborgenheit wirklich war, es will darüber hinaus durch das Urteil den Weg ins Kommende, Ewige eröffnen. Wir alle stehen unter diesem Gericht, die Mutter des Herrn ausgenommen, an der es nichts zu scheiden gibt, deshalb zeigen sie die Ikonen als die Fürbitterin neben ihrem richtenden Sohn. (,Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes‘).“

Vor dem Richterstuhl Christi

H. U. von Balthasar fährt fort: „Wie der Herr richten wird, weiß keiner im Voraus, nur eins sagt er uns: worüber er richten wird: ,Ich war hungrig, und ihr gabt mir (oder ihr gabt mir nicht) zu essen.‘ Mir, im geringsten meiner Brüder. Haben wir Erbarmen gezeigt oder nur uns selbst geliebt? Sind die Akten einmal vorgelegt, so braucht es gar keinen Urteilsspruch mehr: ,Mit deinen eigenen Worten will ich das Urteil über dich sprechen, du nichtsnutziger Knecht‘ (Lk 19,22). ,Hattest du dich nicht deines Mitknechts erbarmen müssen, wie ich mich deiner erbarmt habe?‘ (Mt 18,33). ,Das Gericht ist ohne Erbarmen gegen den, der keine Barmherzigkeit geübt hat, Erbarmen dagegen triumphiert über das Gericht‘ (Jak 2,13). – Wo werden wir stehen, links oder rechts? Wie wir uns kennen, vermutlich, sehr wahrscheinlich, auf beiden Seiten. Vieles in uns wird uns selbst und vorab dem Richter als verdammungswürdig erscheinen, es gehört ins Feuer. Dass nicht alles in uns verwerflich war, dass wir nicht unser Leben lang, von Kindsbeinen an nur nein gegen die Liebe gesagt haben, das möchten wir von der Gnade des Richters erhoffen. Sollte er völlig vergeblich ,für uns gestorben‘ sein?"[4]

Ende des Selbstbetrugs

Der einzelne Mensch wird also nach seinem Tod mit der unverhüllten Wahrheit und Forderung Gottes konfrontiert werden. Das Erschreckende an dem Gedanken ist, dass je größer die dem Menschen angebotene und ihm bewiesene Liebe Gottes ist, desto anfordernder auch die vom Menschen verlangte Antwort darauf sein muss. Solange der Mensch in seiner sinnlichen Hülle lebt, kann er sich in immer neuen Illusionen über das Maß seiner Schuld wiegen, der Lügencharakter der Sünde verlangt nach solcher Selbstverhüllung und stets neuer Selbstrechtfertigung. Ist er aber einmal von dieser Hülle befreit, so ist es mit den Möglichkeiten des Selbstbetrugs vorbei; der Mensch „erkennt sich selbst: wer er war, zu wem er geworden ist... Es fällt wie Schuppen von den Augen.“ Freilich: „Das Licht, das uns die Augen aufgehen lässt, kommt nicht von uns selbst“, es stammt aus „der entscheidenden Begegnung mit dem lebendigen Gott“, mit dem von ihm ausstrahlenden Licht der Wahrheit.[5] Origenes hat als erster das Gericht als das Aufstrahlen des Lichtes Christi beschrieben, so, dass „nicht nur keiner der Gerechten, sondern auch kein Sünder das Wesen Christi wird verkennen können“ und auch die Sünder „vor seinem Angesicht ihre Untaten erkennen werden“. Denn dann wird das Licht seiner Gottheit viel evidenter alles erleuchten, als es jetzt ein noch so eifriger Glaube zu erreichen vermag.

Selbstgericht durch das eigene Gewissen

Basilius greift die Lehre auf: Das Antlitz des Richters strahlt ein göttliches Licht aus, das die Herzen bis in ihre Tiefen durchleuchtet, und wir werden keinen andern Ankläger haben als unsere eigenen, uns durch dieses Licht vergegenwärtigten Sünden. Nicht anders Gregor von Nazianz: Das Gericht ist „das innere Schwergewicht, das auf dem Gewissen eines jeden lastet“. Ambrosius folgt, wie so oft, Origenes: Wenn von aufgeschlagenen Büchern und Gerichtsstühlen die Rede ist, dann wird es sich um nichts anderes handeln als um unser eigenes Gewissen, das angesichts Christi „sich nicht mehr verdecken kann“; der Gerichtsspruch ist nach ihm nichts anderes als die Bestätigung der jedem zustehenden Verdienste. „Es gibt also“, sagt Augustin, „eine gewisse göttliche Kraft, durch die einem jeden alle seine Werke, gute oder böse, in Erinnerung gerufen und in unbegreiflicher Schnelligkeit vorgeführt werden, wobei dieses Wissen das Gewissen anklagt oder entschuldigt, und so alle und jeder Einzelne gleichzeitig gerichtet werden. Diese göttliche Kraft erhält den Namen eines Buches, in dem gleichsam gelesen wird, was sie deutlich macht.“ In diesem Sinne ist das Gericht eine Art Selbstgericht, denn der Mensch erkennt die eigene unverhüllte Wahrheit im Licht der göttlichen Wahrheit.

Die personale Dimension des Gerichts

Wir fragen hier nicht nach dem Bestehen oder Nichtbestehen eines (irgendwie zeitlichen) Abstands zwischen allgemeinem und besonderem Gericht (unmittelbar nach dem Tode). Wir fragen nach der eminent personalen Dimension des Gerichts in christlicher Auffassung.

In der Gerichtsverkündigung der Evangelien gibt es ein deutliches Motiv, das immer den je-Einzelnen ins Licht rückt. Vom bleibenden Hintergrund des allgemeinen Gerichts hebt sich daher der Aspekt einer für jeden persönlichen Begegnung mit dem richtenden Herrn ab. „Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes antreten... Also muss jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft ablegen“ (Röm 14,10.12). »Wir müssen alle vor dem Richterstuhl Christi antreten, da soll jeder den Lohn empfangen für das, was er im irdischen Leben Gutes oder Böses getan hat“ (2 Kor 5,10), „jeder, er sei Knecht oder Freier“ (Eph 6,8). Das allgemeine Gericht wird also ein je-besonderes Gericht sein: dieser Aspekt wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Möglichkeit der endgültigen Verdammnis

Jeder tritt als der Einzelne, der er ist, vor den Richterstuhl Gottes oder Christi (der an Gottes Statt richtet; Joh 5,22; vgl. Hen 51), und der Richter „wird einem jeden nach seinen Werken vergelten“ (Röm 2,6). Jeder muss durch ein erprobendes Feuer hindurch, einsam; so einsam wie er bei seiner Geburt und seinem Tod war. In dieser Einsamkeit wird durch das Feuer kundwerden, ob einer auf dem Fundament Christi etwas durch die Gnade Kostbares aufgebaut hat, oder ob sein Dasein lauter „Heu und Stroh“ war. Paulus fügt bei: „Hält jemandes Bauwerk stand, so wird er Lohn empfangen, verbrennt sein Werk, so wird er Schaden leiden. Er selbst wird zwar gerettet, aber nur wie durch Feuer hindurch“ (1 Kor 3,10-15). Nicht alle Stellen sind bezüglich dieses „er selbst wird gerettet“ so zuversichtlich; es gibt auch Stellen, in denen einer als Ganzer endgültig dem Feuer verfällt (vgl. Apk 20,15). Deshalb: „Ich will euch zeigen, wen ihr zu fürchten habt: Fürchtet den, der über den Tod hinaus die Vollmacht hat, in die Hölle zu stürzen. Wahrhaftig, ich sage euch: den müsst ihr fürchten“ (Lk 12,5).[6]

Schauen auf den Durchbohrten

In dieser Gericht- und Feuersituation ist es vollkommen undenkbar, dass der Blick des Gerichteten sich vom Richter abwendet und sich umsieht, wie es etwa andern in der gleichen Situation ergehen mag – besser oder schlechter –, oder dass er zu seiner Rechtfertigung vor dem Richter auf das Verhalten anderer verweist, die ihm dies oder jenes angetan, ihn zu diesem oder jenem verführt hätten usf. Der Richter weiß das alles und bedarf keiner Aufklärungen. Die Pointe der Gerichtsparabel Jesu in Mt 25 liegt – zur großen Verwunderung sowohl der Gerechten wie der Ungerechten – darin, dass alle in ihren diversen Beziehungen zu den Mitmenschen es letztlich mit ihm, dem Menschensohn, zu tun hatten: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder (und damit natürlich allen andern) getan habt, das habt ihr mir getan.“ In diesem „mir getan“ liegt verborgen oder offen auch ein „mir angetan“, wie es das geheimnisvolle Weissagungswort bei Sacharja erklärt (12,10), das die Apokalypse anlässlich des Gerichtes zitiert: „Jedes Auge wird auf ihn blicken, und alle, die ihn durchbohrt haben“ (Apk 1,7).

Fegfeuer als Teilnahme am Schmerz Gottes

In diesem Hinblicken werden sie sehen, was sie in Wirklichkeit, wissend oder nur ahnend, angestellt haben. Man kann nicht sagen, wie „lange“ (falls da von einem Zeitmaß die Rede sein kann) der Blick auf den Durchbohrten dauern muss, bis einer der Wahrheit seiner Existenz inne wird. Es könnte ja sein, dass ihm dieser Durchbohrte zunächst wie ein völliger Fremdling, der ihn nichts angeht, vorkommt, und dass er sehr lange hinblicken muss, bis ihm zu dämmern anfängt, wie sehr er immer mit ihm befasst war, wie genau er in seinem Wesen den wahren Spiegel seiner selbst erkennt. Und dann fährt die Apokalypse, immer nach den mysteriösen Worten Sacharjas, fort: „und trauernd werden sich seinetwegen an die Brust schlagen alle Völker der Erde“. Wieder sind neutestamentlich die „Völker“ in die je-Einzelnen zu verwandeln. Das Auffallende ist, dass dieses einsichtige Schuldbekenntnis, das sich im Schlagen an die Brust äußert, als Klage nicht über sich selbst, sondern über ihn, den Durchbohrten, geschildert wird. Das ist das Ende und Ziel der ganzen Konfrontation: Der Mensch, der sich anklagen und verurteilen muss für das, was er getan hat, klagt zuletzt nicht über sich selbst, sondern über den, dem er das alles – bis zur Durchbohrung – angetan hat. „Über den Durchbohrten werden sie eine Totenklage halten, so wie man sie über einen einzigen Sohn hält, man wird bitter über ihn weinen, wie man einen Erstgeborenen bitter beweint“ (Sach 12,10). Die immer tiefere Einsicht in das Angestellte, das immer schmerzlichere Realisieren des wirksamen Widerhalls meiner Sünde in Gott selbst wird das Wirken des Feuers in mir sein, das man das fegende oder läuternde nennt und dessen Aktion nichts anderes ist als der Vollzug des Gerichtes selbst.[7]

Das Wort Jesu wird unser Richter sein

Das Gesagte öffnet uns unmittelbar den Zugang zu der anderen Eigentümlichkeit neutestamentlicher Gerichtsauffassung, die besonders bei Johannes hervortritt. Die Bilder, die Jesus bei den Synoptikern gebraucht und die auch sonst nachklingen, vom Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels mit seinen Engeln kommt, um zu richten, von den Engeln, die am Jüngsten Tag zwischen den guten und schlechten Fischen, zwischen dem Weizen und dem gleichzeitig aufgeschossenen Unkraut scheiden, von dem, der mit der Wurfschaufel Korn und Spreu sondert, von dem Hirten, der Schafe und Böcke trennt, sind den Hörern vertraute alttestamentliche Bilder, in denen natürlicherweise Gott als der souverän Handelnde erscheint.

Aber demgegenüber stehen nun bei Johannes die klaren Aussagen Jesu, dass er nicht gekommen sei, die Welt zu richten, sondern sie zu retten (Joh 12,47). „Ich richte niemanden“ (8,15), „denn Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, nicht um sie zu richten, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde“ (3,17). Hinter diese Aussage geht der johanneische Christus nicht zurück. Dennoch gibt es für ihn ein Gericht, ja er selbst hat es vollständig in der Hand, der Vater hat es ihm übergeben (5,20). Die Lösung liegt in Jesu Erklärung: „Wer mich verachtet und mein Wort nicht annimmt, der hat seinen Richter: Das Wort, das ich verkündet habe, das wird ihn am Jüngsten Tag richten, denn ich habe nicht aus mir selbst geredet“ (12,48). Er selbst ist dieses Wort, das er durch sein ganzes Dasein spricht, und dieses sein Wort ist Licht und Leben der Menschen. „Das Gericht aber ist dieses: Das Licht ist in die Welt gekommen, aber die Menschen hatten die Finsternis lieber als das Licht… Jeder, der das Böse tut, hasst das Licht und kommt nicht ans Licht, damit er nicht seiner Taten überführt werde. Wer aber nach der Wahrheit handelt, kommt zum Licht, auf dass seine Werke offenbar werden, denn sie sind in Gott getan“ (3,19-21).

Die „Tragik“ des erlösenden Wirkens Gottes

Hier liegt die höchste Dramatik (fast möchte man von Tragik sprechen) des erlösenden Wirkens Gottes: indem er auf das Gericht verzichtet und nur das Zeichen seiner Liebe in der Welt aufrichtet, fördert er die Verschließung der Finsternis in sich selbst. „Wäre ich nicht gekommen und hätte zu ihnen geredet, so wären sie ohne Sünde. So aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde“ (15,22). Und in diesem Sinn: „Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehend und die Sehenden blind werden.“ Darauf die Pharisäer: „Sind auch wir etwa blind?“ Jesus: „Wärt ihr blind, so wärt ihr ohne Sünde. Nun sagt ihr aber: Wir sehen. Also bleibt eure Sünde“ (9,39f.). Der Richter braucht nichts zu tun, nur zu sein. Sein Wort (gleichsam die Ausstrahlung seines Wesens) tut alles für ihn. Es ist voller Leben und Kraft und schneidender als ein doppelschneidiges Schwert, durchdringend bis zum Zerhauen von Seele und Geist, Gelenk und Mark und richtend (kritikos) über die Gesinnungen und Gedanken des Herzens; nichts Geschaffenes ist vor seinen Augen verborgen, alles liegt nackt und entkleidet vor den Augen dessen, „dem wir Rechenschaft schulden“ (Hebr 4,12 f.).

Gott in Jesus richtet nicht, wohl aber richtet der Mensch sich selbst. Paulus sagt es in Kürze: „Was der Mensch sät, das wird er ernten“ (Gal 6,7). An der heutigen Einstellung eines jeden zu Jesus entscheidet sich im Voraus sein jenseitiges Los (Mk 8, 38 par). Schon jetzt, mitten in der Zeit, können endgültige Entscheidungen fallen, und niemand hat das Recht, sich auf eine allen gebotene letzte Chance im Tod, im Übergang in die Ewigkeit, zu verlassen, die ihm Gelegenheit einer Revision all seiner Lebensentscheidungen bieten wird.[8]

Gottesfurcht und Hoffnung wachsen miteinander

„Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Hebr 10,31), der „ein verzehrendes Feuer ist“ (Dt 4,24 = Hebr 12,29). Wer kann ihn sehen und am Leben bleiben? Wer kann ihn als den von ihm Durchbohrten sehen, und sich selbst nicht verurteilen?

Das Letzte, was zu sagen ist, bleibt paradox: Wahre Hoffnung und wahre Furcht Gottes wachsen miteinander. Warum? Weil gesteigerte Hoffnung, vermehrtes Vertrauen auf einen Richter, der ja unser Erlöser ist, unsere Kenntnis von ihm vertieft, und vertiefte Erkenntnis auch gesteigerte Verantwortung schafft. „Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert; wem viel anvertraut ist, von dem wird umso mehr verlangt“ (Lk 12,48). Das ist nochmals das unheimlich Dramatische an der Offenbarung der Liebe Gottes in Jesus Christus: Je mehr er sich als der Liebende, Hingegebene offenbart, umso verletzlicher wird er, umso mehr kann er verachtet und verleugnet werden. … Dem Je-mehr angebotener Liebe entspricht ein Je-mehr an Verachtung und geballter Finsternis. So muss das Kreuz, das alles trägt, am letzten Rand der Hölle aufgepflanzt sein.[9]

Gott bleibt uns die Frage nach der Gerechtigkeit nicht schuldig

Der Richter, der kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten, ist zugleich der Retter, der gekommen ist, den Verlorenen bis ins Äußerste nachzugehen. Christus als Richter und Retter wird seine Gerechtigkeit und seine Gnade im richtigen inneren Verhältnis behalten. Denn die Gnade ist nicht ein Schwamm, der alles Falsche und Böse einfach wegwischt. Das bekräftigt Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika über die Hoffnung: „Die Missetäter sitzen am Ende nicht neben den Opfern in gleicher Weise an der Tafel des ewigen Hochzeitsmahls, als ob nichts gewesen wäre."[10] Das endgültige Gericht gebührt nur Gott, der die Liebe ist, Deus caritas est. Deswegen ist „das Gericht Gottes Hoffnung, sowohl weil es Gerechtigkeit wiewohl weil es Gnade ist. Wäre es bloße Gnade, die alles Irdische vergleichgültigt, würde uns Gott die Frage nach der Gerechtigkeit schuldig bleiben – die für uns entscheidende Frage an die Geschichte und an Gott selbst. Würde es bloße Gerechtigkeit, würde es für uns alle am Ende nur Furcht sein können. Die Menschwerdung Gottes in Christus hat beides – Gericht und Gnade – so ineinandergefügt, dass Gerechtigkeit hergestellt wird: Wir alle arbeiten mit ,Furcht und Zittern‘ um unser Heil (Phil 2,12). Dennoch lässt die Gnade uns alle hoffen und zuversichtlich auf den Richter zugehen, den wir als unseren ,Advokaten‘, parakletos, kennen (vgl. 1 Joh 2,1)."[11]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2009
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Papst Benedikt XVI.: Auf Hoffnung hin gerettet. Die Enzyklika „Spe salvi“, Bonn 2008, Art. 43.
[2] J. Ratzinger: Eschatologie. Tod und ewiges Leben, Regensburg 2007, 165.
[3] J. Ratzinger, ebd.
[4] H. U. von Balthasar: Credo. Meditationen zum Apostolischen Glaubensbekenntnis, Freiburg 31996, 59f.
[5] Siehe dazu H. U. von Balthasar: Theodramatik, Bd. IV: Das Endspiel, Einsiedeln 1983, 264ff. Dort auch alle Zitatenangaben.
[6] H. U. von Balthasar: Gericht, in: IKaZ Communio 10  (1981) 226-235, hier 229f.
[7] Drsb., ebd., S. 230f.
[8] Drsb., ebd., S. 231ff.
[9] Drsb., ebd., S. 235.
[10] Papst Benedikt XVI.: Spe salvi, Art. 44.
[11] Papst Benedikt XVI.: Spe salvi, Art. 47.

Appell des Papstes an Europa

Wieder ist eine Auslandsreise des Papstes zu einem überraschenden Erfolg geworden. „Die Skepsis ist der Zustimmung gewichen, ja, der Zuneigung“, so bewertete der ARD-Korrespondent Gregor Hoppe den Besuch Benedikts XVI. vom 26. bis 28. September 2009 in der Tschechischen Republik. Tatsächlich konnte der Papst mit seinem Zeugnis die Menschen erreichen. Jedes Wort und jeder Schritt des hohen Gastes wurden von den staatlichen Medien live übertragen. 120.000 Gläubige nahmen am abschließenden Festgottesdienst teil. Doch wäre es zu wenig, selbstzufrieden die große Aufmerksamkeit zu bestaunen, die der Nachfolger des hl. Petrus entgegen allen Erwartungen in dem am meisten säkularisierten Land Europas erfahren hat. Benedikt XVI. vermittelte eine Botschaft, die nicht nur an eine Nation gerichtet war, sondern an den ganzen europäischen Kontinent.

Von Erich Maria Fink

Brücke zwischen Völkern und Kulturen

Die gesamte europäische Kultur ist von seinem christlichen Erbe tief geprägt worden“, so begann Papst Benedikt XVI. nach einer kurzen Begrüßung der anwesenden Persönlichkeiten bereits seine erste Ansprache auf dem Internationalen Flughafen „Stará Ruzyně“ in Prag am Samstag, den 26. September 2009. Und er hob die „wichtige Rolle der tschechischen Lande in der Geistes-, Kultur- und Religionsgeschichte Europas“ hervor, nämlich als „Brücke“, da „dieses Gebiet im Herzen des Kontinents, im Schnittpunkt zwischen Norden und Süden, Osten und Westen ein Treffpunkt für verschiedene Völker, Traditionen und Kulturen geworden“ sei. Benedikt XVI. räumte ein, dass dieses Zusammentreffen nicht immer ohne „Spannungen“ verlaufen sei und das Land zuweilen in einen „Kriegsschauplatz“ verwandelt habe. „Auf lange Sicht“ aber habe es sich „als eine fruchtbare Begegnung erwiesen“.

Verbindung von Ost- und Westkirche

Besonders betonte er die Bedeutung der beiden Heiligen Cyrill und Methodius, die „mit Recht als Patrone Europas verehrt“ würden. Denn auf dem Gebiet des heutigen Tschechien seien diese zwei großen Heiligen einerseits als „Apostel der slawischen Völker und Gründer deren Kultur“, andererseits als Vertreter „der byzantinischen Tradition“ den „Missionaren des lateinischen Abendlandes begegnet“. Durch die Verbindung der ostkirchlichen und westkirchlichen Traditionen sei ein „geistiges und kulturelles Erbe“ geformt worden, das nicht nur der Identität der tschechischen Nation Gestalt verliehen habe, sondern der Identität des ganzen europäischen Kontinents. Benedikt XVI. benützte nicht den beliebten Vergleich Johannes Pauls II. von den beiden Lungenflügeln Europas. Doch knüpfte er dem Sinn nach an die Mahnung seines Vorgängers an, dass Europa seine Seele nur finden könne, wenn es wieder beginne, mit beiden Lungenflügeln seiner christlichen Wurzeln und Traditionen zu atmen.

Sendung für ganz Europa

Noch am selben Tag hielt Papst Benedikt XVI. bei einer Begegnung mit den politischen Autoritäten und dem diplomatischen Korps im Spanischen Saal der Prager Burg vor etwa 1000 Gästen eine programmatische Ansprache. Nach einem kurzen Rückblick auf die jüngere Geschichte des Landes legte er ein klares Zeugnis ab. Er begann mit den Worten: „Für Christen hat die Wahrheit einen Namen: Gott. Und das Gute hat ein Gesicht: Jesus Christus.“ Und es sei „der christliche Glaube“ gewesen, der die „geistigen und kulturellen Werte“ des Landes geformt habe. Dieses Erbe schenke Tschechien „die notwendige Vision“, „im Herzen Europas eine Rolle einzunehmen, die den Zusammenhalt fördert“. „Wie wir alle wissen“, so der Papst, hat dieses Gebiet „schmerzliche Zeiten erlebt und trägt die Narben tragischer Ereignisse, die eine Folge von Unverständnis, Krieg und Verfolgung waren. Aber es ist auch wahr, dass seine christlichen Wurzeln einen bemerkenswerten Geist der Vergebung, der Versöhnung und der Zusammenarbeit genährt haben, der die Menschen dieser Lande die Freiheit finden ließ und einen Neubeginn, eine neue Synthese, eine Erneuerung der Hoffnung in Gang brachte. Ist das nicht genau der Geist, den das heutige Europa braucht?“ Unüberhörbar wandte er sich damit auch an die Sudetendeutschen, die das Schicksal von Vertreibung und Flucht aus ihrer angestammten Heimat zu erleiden hatten. Aber der Papst macht deutlich, dass wir dieses Kapitel nur im Geist der christlichen Vergebung und Versöhnung bewältigen können. Ansonsten zerschlagen sich alle Hoffnungen auf Neuanfang und Zukunft.

Europa ist ein Zuhause

Der Papst erklärte noch genauer, warum Europa den „Geist“ des Christentums braucht. Seine Worte klingen poetisch und sind gleichzeitig voller politischer Brisanz: „Europa ist mehr als ein Kontinent. Es ist ein Zuhause! Und die Freiheit findet ihren tiefsten Sinn in einer geistigen Heimat. Bei voller Rücksicht auf die Unterscheidung zwischen dem politischen Bereich und dem Bereich der Religion – was ja die Freiheit der Bürger bewahrt, ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen und danach zu leben –, möchte ich zugleich die unersetzliche Rolle des Christentums für die Bildung des Gewissens einer jeden Generation betonen, wie auch seine Rolle für die Förderung eines grundlegenden ethischen Konsenses, der allen Menschen zugute kommt, die diesen Kontinent ihr ‚Zuhause‘ nennen! In diesem Geist weiß ich die Stimme all jener zu schätzen, die sich heute in diesem Land und auf diesem Kontinent darum bemühen, ihren Glauben respektvoll und dennoch entschieden ins öffentliche Leben einzubringen, in der Erwartung, dass die gesellschaftlichen Normen und die politischen Entscheidungen von dem Verlangen geprägt sein sollen, nach der Wahrheit zu leben, die jeden Menschen frei macht (vgl. Caritas in veritate, 9).“ Mit diesen Worten richtete der Papst an alle Länder Europas den deutlichen Appell, das Christentum nicht in die Privatsphäre abzudrängen. Zwar gilt der Grundsatz der Trennung von Politik und Religion, doch ohne eine Formung der christlichen Werte im gesellschaftlichen Leben würde Europa seinen ethischen Konsens verlieren, der eine notwendige Voraussetzung für wahre Freiheit darstellt.

Beitrag der Katholischen Kirche

Benedikt XVI. berührte mit diesen Aussagen aber auch ein speziell tschechisches Problem, das er wiederum nicht beim Namen nannte: Zwischen Tschechien und dem Vatikan wurde 2002 ein Grundlagenvertrag ausgehandelt, der jedoch seit 2003 vergeblich auf die Ratifizierung durch das Parlament wartet. Immer wieder hatte auch der ausgewiesen liberale tschechische Staatspräsident Václav Klaus betont, er wolle den Vertrag nicht unterzeichnen, da eine solche Vereinbarung der katholischen Kirche zu große Privilegien einräumen würde. Doch bereits während des Papstbesuches kam Bewegung in die Sache. Staatspräsident Klaus deutete an, seine Haltung überdenken zu wollen. Zunächst hatte der Papst hervorgehoben, dass die katholische Kirche einen aufbauenden Beitrag für die Gesellschaft leiste und „Entwicklungsziele“ verfolge, „die einen menschlichen und Menschlichkeit fördernden Wert besitzen“. Gleichsam als Antwort bekundete Klaus seinen Respekt und sprach von einem Wertekonsens mit dem Papst. Ähnlich bestätigte der amtierende tschechische Ministerpräsident Jan Fischer bei einer persönlichen Begegnung mit Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, dass über den positiven Beitrag der Kirche für die Gesellschaft Einvernehmen herrsche.

Die Frage der Sudetendeutschen

Es ist offensichtlich, das der deutsche Papst die Frage der Vertreibung der Sudetendeutschen nicht ansprechen sollte. Schon vor der Reise scheinen sich beide Seiten darauf verständigt zu haben. Auf diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, warum Benedikt XVI. auf die deutsche Sprache fast vollkommen verzichtet hat. Seine Reden hielt er vor allem auf Englisch und Italienisch. Doch kam er indirekt auf die Problematik immer wieder zu sprechen, nicht nur, wie bereits erwähnt, im Licht der Vergebung. Ohne „Wahrheit“ gäbe es keine Garantie für „die Freiheit und die ganzheitliche Entwicklung des Menschen“, so der Papst. Und mit Gedanken aus seiner letzten Enzyklika fuhr er fort: „Der Mut, die Wahrheit auszusprechen, kommt in der Tat allen Gliedern der Gesellschaft zugute, indem der Weg des menschlichen Fortschritts besser sichtbar gemacht wird, seine ethischen und moralischen Grundlagen aufgezeigt werden und sichergestellt wird, dass die staatliche Politik sich auf den Schatz der Weisheit der Menschen stützt. … Weit davon entfernt, eine Bedrohung für die Toleranz der Vielfalt oder der kulturellen Pluralität zu sein, macht das Streben nach Wahrheit den Konsens möglich, bewahrt der öffentlichen Debatte die Logik, die Ehrlichkeit und die nachprüfbare Verantwortlichkeit und garantiert die Einheit, welche vage Vorstellungen von Integration einfach nicht erreichen können.“ Mit Wahrheit ist natürlich nicht nur das Evangelium, sondern auch die historische Wahrheit gemeint, in deren Licht die Vergangenheit ehrlich aufgearbeitet werden muss.

Sturz des Kommunismus

Umso deutlicher aber kam Benedikt XVI. auf die jüngere Vergangenheit zu sprechen. Den Sturz des Kommunismus vor 20 Jahren bezeichnete er als einen „Scheidepunkt in der Weltgeschichte“. Wiederholt versuchte er die 40 Jahre kommunistischer Herrschaft zu analysieren: „Die Erfahrung der Geschichte zeigt, zu welcher Sinnlosigkeit der Mensch gelangt, wenn er Gott von seinem Entscheidungs- und Handlungshorizont ausschließt.“ Insbesondere beklagte der Papst die Leiden der Kirche: „Der Preis von vierzig Jahren politischer Unterdrückung darf nicht unterschätzt werden. Ein besonders schweres Leid für dieses Land war der skrupellose Versuch der damaligen Regierung, die Stimme der Kirche zum Schweigen zu bringen.“ Nun aber, so der Papst weiter, sei die Religionsfreiheit wiederhergestellt. „Ich rufe alle Bürger dieser Republik auf, die christlichen Traditionen, die ihre Kultur geprägt haben, wieder zu entdecken, und ich lade die Christen ein, weiterhin ihre Stimme vernehmen zu lassen, wenn die Nation sich den Herausforderungen des neuen Jahrtausends stellt. ‚Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll, und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist‘ (Caritas in veritate, 78). Die Wahrheit des Evangeliums ist für eine gesunde Gesellschaft unerlässlich, da sie uns für die Hoffnung bereit macht und uns befähigt, unsere unveräußerliche Würde als Kinder Gottes zu entdecken.“

Anerkennung für die Untergrundkirche

Unter der Leitung von Joseph Kardinal Ratzinger befasste sich in den 1990er Jahren die Glaubenskongregation mit der schwierigen Situation der ehemaligen Untergrundkirche in der Tschechoslowakei. Viele Geistliche und Gläubige, die während der Zeit der Verfolgung ihren Glauben im Untergrund weiter gelebt hatten, fühlten sich nach 1989 von den offiziellen kirchlichen Stellen ungerecht behandelt. Zum Beispiel sollten sich Priester, die geheim geweiht worden waren, einer erneuten Weihe unterziehen. Benedikt XVI. hatte während seines Besuchs besonders auch diese Untergrundkirche vor Augen. Er ist sich bewusst, dass nicht alle Wunden der kommunistischen Ära völlig verheilt sind. So war bei seinen Ansprachen immer auch das Bemühen spürbar, der Untergrundkirche „Anerkennung zu zollen“. Als Beispiele für ein „unbeugsames christliches Zeugnis angesichts der Verfolgung“ nannte er Kardinal Josef Beran, den Erzbischof von Prag, und seinen Nachfolger Kardinal František Tomášek. Und er fuhr fort: „Sie und unzählige mutige Priester, Ordensleute und Laien haben die Flamme des Glaubens in diesem Land lebendig bewahrt.“ Nun aber ist es an der Zeit, die innerkirchliche Aussöhnung weiter voranzutreiben. Und dabei zählt Benedikt XVI. vor allem auch auf die junge Generation, die ihn in Stara Boleslav (Altbunzlau) zu Zehntausenden gefeiert haben.

Neues Vertrauen in den Dialog

Benedikt XVI. rief alle Beteiligten dazu auf, sich füreinander zu öffnen und dem Dialog zu vertrauen: innerhalb der Kirche, zwischen Kirche und Staat, unter den Nationen und Staaten Europas „Die Geschichte hat reichlich gezeigt, dass die Wahrheit im Dienste von falschen Ideologien, Unterdrückung und Ungerechtigkeit hintergangen und manipuliert werden kann. Aber rufen uns die Herausforderungen, denen sich die Menschheitsfamilie gegenübersieht, nicht dazu auf, über diese Gefahren hinauszusehen? Denn was ist letztendlich unmenschlicher und destruktiver als der Zynismus, der die Größe unserer Suche nach Wahrheit leugnen würde, und der Relativismus, der gerade die Werte aushöhlt, die den Aufbau einer vereinten und brüderlichen Welt inspirieren?“ Dazu bedürfe es eines „neuen Vertrauens in die edle Gesinnung und in die Weite des menschlichen Geistes hinsichtlich seiner Fähigkeit, die Wahrheit zu erfassen“. Der Papst sieht die Lösung im „aufrichtigen Dialog, der über die Eigeninteressen hinweg auf die Erfordernisse des Gemeinwohls schaut“.

Synthese von Glaube und Vernunft

Einen überraschenden Akzent setzte der Papst auch, was den Dialog zwischen Wissenschaft und Glaube betrifft. Bezugnehmend auf die Fahne des Präsidenten mit dem Motto „Pravda Vítĕzí – die Wahrheit siegt“ kam er auch auf einen bekannten Landsmann zu sprechen: „In dieser naturwissenschaftlich geprägten Zeit ist es aufschlussreich, sich das Beispiel des Augustinerabts aus Mähren Gregor Mendel vor Augen zu führen, der mit seiner bahnbrechenden Forschung die Grundlage der modernen Genetik gelegt hat. Ihm gilt nicht der Vorwurf seines Ordenspatrons, des heiligen Augustinus, der es bedauerte, dass so viele sich „mehr damit befassen, Tatsachen zu bewundern, als ihre Ursachen zu ergründen“ (Epistula 120,5; vgl. Johannes Paul II.: Ansprache bei der Gedenkfeier zum 100. Todestag von Abt Gregor Mendel, 10. März 1984, 2). Der wahre Fortschritt der Menschheit wird am besten durch eine solche Verbindung der Weisheit des Glaubens mit den Erkenntnissen der Vernunft gefördert. Möge das tschechische Volk sich stets der Vorzüge dieser glücklichen Synthese erfreuen.“

Europäische Einigung und Globalisierung

Benedikt XVI. formuliert sein Anliegen klar und deutlich: Es geht nicht nur um die Tschechische Republik und ihre demokratische Entwicklung, sondern um ganz Europa. „Zwei Jahrzehnte nach den tiefgreifenden politischen Veränderungen, die über diesen Kontinent hinwegfegten, geht der Heilungs- und Wiederaufbauprozess nun im größeren Zusammenhang der europäischen Einigung und einer zunehmend globalisierten Welt weiter.“ Dazu braucht Europa einen Geist, den nur der christliche Glaube hervorbringen kann. Deshalb darf Europa das Christentum nicht wieder erneut verdrängen und in das Private verbannen. Es muss im öffentlichen Leben, in Gesellschaft und Politik eine Atmosphäre schaffen, die es erlaubt, die Gewissen der nachkommenden Generation durch das christliche Zeugnis zu formen. Nur auf dem Fundament eines ethischen Konsenses christlicher Werte kann Europa eine Freiheit bewahren, in der Wahrheit und Liebe gedeihen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2009
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Wetterleuchten am Ökumene-Himmel

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Internes EKD-Papier über die katholische Kirche

Anfang Oktober 2009 wurde ein internes Dokument der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bekannt, das den Zustand der katholischen Kirche analysiert. Das Papier sollte als Vorlage für die 251. Sitzung der EKD-Kirchenkonferenz am 2. Juli 2009 dienen, wurde jedoch nicht angenommen. Nach der Veröffentlichung des Textes kam es zu schweren Verstimmungen aufseiten der katholischen Bischöfe in Deutschland. Sie forderten eine eindeutige Stellungnahme der EKD, bevor die evangelisch-katholischen Dialoggespräche weitergeführt werden könnten. Die Bischofskonferenz sagte die am 15. Oktober 2009 geplante turnusmäßige Plenarsitzung des katholisch-evangelischen Kontaktkreises ab und meinte, in dieser Situation wäre es „falsch, einfach zur Tagesordnung des halbjährlichen Kontaktgesprächskreises überzugehen“. Vielmehr wurde ein Krisengespräch anberaumt, an dem auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, teilnahm. Bei dem Spitzentreffen distanzierten sich die evangelischen Bischöfe von dem Papier und baten bei der katholischen Seite um Entschuldigung. Anschließend wurde eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der es heißt: „Das Gespräch wurde offen, konstruktiv und im Geist christlicher Geschwisterlichkeit geführt. Beide Seiten zeigten sich davon überzeugt, dass das beschädigte Vertrauen wiederhergestellt werden kann und wird.“

Wetterleuchten

Was durch das Bekanntwerden des EKD-Papiers von Thies Gundlach geschehen ist, kann als Wetterleuchten am Ökumene-Himmel bezeichnet werden. Ein Wetterleuchten kündigt in der Regel ein Gewitter an. Ein solches kann schwere Schäden anrichten, aber auch reinigend wirken. Dass jahrzehntelange Bemühungen durch ein einziges Papier zunichte gemacht werden, darf keiner der Beteiligten zulassen. Dafür ist die Ökumene als Weg zur Wiederherstellung der verloren gegangenen Einheit unter den Christen ein zu hohes Gut. Aber eine Reinigung ist durchaus wünschenswert. Zu oft gehen wir in der Ökumene von Illusionen aus. Das Schreiben hat uns aufgeweckt und uns von so manchen Wunschbildern befreit. Der Fortschritt in der Ökumene steht und fällt mit zwei Dingen: mit der Wahrheit und mit der Liebe. Die unglaublichen Angriffe auf Papst und Kirche fordern uns heraus, uns neu darauf zu besinnen, wie ernst es uns mit der aufrichtigen gegenseitigen Achtung und Hochschätzung ist. Zugleich machen sie uns deutlich, dass wir um ein ehrliches Gespräch über alle offenen Fragen und Unterschiede im Glauben nicht herumkommen.

Der angeschlagene Boxer

Die katholische Kirche habe „gegenwärtig schwere innere Zerreißproben zu bestehen“ und schwanke „wie ein angeschlagener Boxer“. Die Irritationen seit Amtsantritt Benedikts XVI. hätten innerhalb der katholischen Kirche zu „zwei grundverschiedenen, sich gegenseitig ausschließenden und daher auch massiv bekämpfenden Richtungen auf allen Ebenen“ geführt. Hier wird mit dem Feigenblatt der Einheit bewusst Spaltung herbeigeredet und in die Gemeinschaft der anderen hineingetragen. Bei solchen Versuchen braucht die katholische Kirche nicht in die Defensive zu gehen. Im Gegenteil: Auf vieles, was dem Papst vorgehalten wird, können wir im Grunde genommen stolz sein. Vor allem aber besteht gerade darin die Stärke der Kirche, dass sie das Petrusamt besitzt. Ein Paradebeispiel ist die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“. Von evangelischer Seit wird immer so getan, wie neuerdings in diesem Papier von Gundlach, als hätte die katholische Kirche dieses Dokument nicht rezipiert. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Mit dem „Ja“ des Papstes besitzt das Dokument für die ganze katholische Kirche die von ihr zugewiesene Gültigkeit. In der evangelischen Kirche aber verfügt niemand über eine wirkliche Lehrautorität. Die Unterschrift von Hunderten von evangelischen Theologie-Professoren gegen die Erklärung konnte diesen „Meilenstein der Ökumene“ in einen Scherbenhaufen verwandeln. Angesichts solcher Unglücke müsste jeder, der die Einheit von ganzem Herzen sucht, eine ehrfürchtige Dankbarkeit für das Dienstamt des hl. Petrus empfinden, selbst wenn er nicht in der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche steht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2009
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Transplantationsärzte zur Hirntod-Definition

Durch einen Bericht in der F.A.Z. ist Anton Graf von Wengersky auf einen Artikel in einer amerikanischen Fachzeitschrift gestoßen, der sich mit der Organtransplantation befasst. Autoren des Beitrags sind nicht etwa Moraltheologen oder Philosophen, sondern zwei renommierte Transplantationsärzte. Ausgerechnet von dieser Seite wird nun die sog. Hirntod-Theorie in Frage gestellt. Die katholische Kirche, welche Organspende grundsätzlich befürwortet, hat sich bislang der Theorie vom Hirntod als sicheres Todeszeichen angeschlossen. Doch wird die Frage auch im Vatikan heftig diskutiert. Graf von Wengersky, der der Sache auf den Grund gehen möchte, hat die entscheidenden Sätze des Artikels zusammengestellt und ins Deutsche übersetzt.

Von Anton Graf von Wengersky

In der Dezember-Nummer des Hastings Center Report (38, Nr. 6, 2008) findet sich ein Artikel mit der Überschrift „Überdenken der ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Spende lebender Organe“ („Rethinking the Ethics of Vital Organ Donations“) aus der Feder der Transplantationsärzte Franklin Miller von den National Institutes of Health und Robert Truog von der Harvard Universität. Auf den Beitrag bin ich durch einen Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Januar 2009 aufmerksam geworden. Miller und Truog kommen in ihrem Artikel zu folgenden Ergebnissen (es handelt sich um wörtliche Zitate, ins Deutsche übersetzt):

1. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass nach dem „Hirntod“ wesentliche Teile der integrativen Funktion des Gehirns aufrecht erhalten bleiben (S. 2).

2. Die Hirntod-Theorie ist damit in sich widersprüchlich und nicht glaubwürdig (S. 1, letzter Absatz).

3. „Hirntote“ Patienten (die alle diagnostische Kriterien des Hirntods erfüllen) sind lebende Menschen (S. 2, Abs. 2).

4. Der „Hirntod“ ist also nicht der Tod des Menschen (S. 8, Abs. 3).

5. Die Organe werden nach der jetzigen Praxis vor dem Tod (S. 5, Abs. 6) dem lebenden Menschen entnommen (S. 8, Abs. 5), wobei der Patient durch die ärztl. Organentnahme selbst getötet wird (S. 5, Abs. 4).

6. Soll die heutige lebensrettende Praxis der Organtransplantation beibehalten werden, dann muss man sich der Tatsache stellen, dass die Organe dem lebenden Spender entnommen werden (S. 7, Abs. 4).

7. Es ist also die heutige Praxis der Organspende mit der Regel der Organentnahme „nur nach dem Tod des Spenders“ nicht in Übereinstimmung zu bringen (S. 5, Abs. 3). Anmerkung: Die Regel, von der Miller und Truog sprechen, ist auch im Katechismus der Katholischen Kirche vorgegeben: „Organspende nur nach dem Tod“ (vgl. KKK, 2296). Sie wurde von Papst Benedikt XVI. am 7. November 2008 bekräftigt: Organentnahme „ausschließlich ex cadavere“.

8. Würde man an der Regel „Organentnahme nur nach dem Tod“ festhalten, dann müsste die heutige Organspendepraxis völlig aufgegeben werden (S. 8, Abs. 5).

9. Miller und Truog plädieren deshalb dafür, die „dead donor rule“ (Regel der Organentnahme nur nach dem Tod) aufzugeben (S. 8, Abs. 6), die Tötung des Patienten bei der Organentnahme als „gerechtfertigte Tötung“ zuzulassen (S. 5, Abs. 5: „justified killing“) und konsequent den Totenschein eines Organspenders für den Zeitpunkt der Organentnahme auszustellen (S. 8, Abs. 4).

Das also ist die Sicht zweier Transplantationsmediziner, die möglichst viele Organe transplantieren und gleichzeitig anständige Menschen sein wollen.

 Miller und Truog möchten deshalb (und das ehrt letztlich den Professor der Harvard-Universität, die uns 1968 durch die unselige Hirntod-Definition in die Irre geführt hat) von der Hirntod-Definition abrücken und zur Wahrheit zurückkehren. Sie schreiben: „Es ist die Wahrheit, die zählt. So ist die Wahrheit wichtig, weil sich das Festhalten an fragwürdigen Behauptungen (wie: der Hirntod sei eine Form des Todes) zerstörerisch auf die berufliche Wohlanständigkeit auswirkt“ (S. 8, Abs. 2).

Miller und Truog wollen, wie es in der täglichen Transplantationspraxis bereits geschieht, auch im gedanklichen Überbau und in den gesetzlichen Rahmenbedingungen die Fesseln der „Hirntod-Definition“ und der „dead donor rule“ (Regel der Organentnahme nur nach dem Tod) endlich abstreifen, dadurch die Zahl der zur Verfügung stehenden Organe erhöhen und zwar durch das (freilich Euthanasie-nahe) Institut des „justified killing“ (in Verbindung mit einer Zustimmungsregelung des Patienten oder seiner Angehörigen).

Allerdings wollen Miller und Truog (ähnlich wie bei der „Hirntoddefinition“) gegenüber der Öffentlichkeit an der Sprachverschleierung insoweit festhalten, als der Begriff der „gerechtfertigten Tötung“ für die Organentnahme in der Öffentlichkeit möglichst vermieden werden solle, da das Wort „Tötung“ negativ besetzt sei.

Miller und Truog weisen zwar den Hirntod als Tod des Menschen zurück und plädieren für die Rückkehr zur klassischen Todesfeststellung auf der Grundlage der Kombination von Atem-, Herz- und Kreislaufstillstand. Aus ihrer rein auf das Körperliche, den Leib fokussierten Sicht sehen sie jedoch einen leblosen, aber „reanimierbaren“ Körper nicht als tot an. Sie meinen, auch die Organentnahme aus einem solchen kreislauflosen Körper sei die Tötung des Menschen, weil sie im Regelfall zur Lebenderhaltung der Organe bis zum Entnahmezeitpunkt den Körper wieder reanimieren werden und so die Todesgrenze aus den Augen verlieren. Die ontologische Frage, ob ein reanimierbarer Körper trotz seiner Reanimierbarkeit der Körper eines Verstorbenen sein könnte, stellt sich ihnen nicht einmal. Entsprechend sind die im Übrigen so überzeugenden Ergebnisse von Miller und Truog in diesem einen Punkt unschlüssig.

Persönliche Überlegungen

Ich denke, hier könnten christliche Mediziner und Moraltheologen aus ihrer ganzheitlichen Schau auf den Menschen der Welt einen wichtigen Dienst leisten. Denn die Gläubigen haben die Kenntnis um die physiologische Bedeutung der Seele (KKK, 365) bewahrt. Sie wissen um den Vorgang der Trennung von Seele und Leib im Todesaugenblick (KKK, 1005). In Übereinstimmung mit dem uralten Erfahrungsschatz der Menschen wissen sie deshalb um den auf Atem-, Herz- und Kreislaufstillstand unmittelbar folgenden Tod, um den Auszug des „Ich“ (mit allen seinen Wahrnehmungsmöglichkeiten) aus seinem Leib, erst jetzt eine Leiche, aber auch um die gelegentliche „Reanimierbarkeit“ des Leibes eines Toten, die mit der Rückkehr des „Ich“, also der Wiederbeseelung einhergeht.

Hier könnten wir, jedenfalls nach meiner Ansicht, aus der ganzheitlichen Sicht unseres Glaubens auf den Menschen den Transplantationsärzten die Möglichkeit zur Organentnahme „nach dem Tod“, also ohne Verstoß gegen das Tötungsverbot und ohne Verlust ihrer ärztlichen Integrität eröffnen. Es wäre Aufgabe unserer Moraltheologen, in einer sorgfältigen Kasuistik die Regeln festzulegen, wie in Respekt vor Gottes Gebot „Du sollst nicht töten!“ unmittelbar nach dem natürlichen Tod durch Atem-, Herz- und Kreislaufstillstand explantiert werden kann (etwa unter welchen Vorraussetzungen nach Atem-, Herz- und Kreislaufstillstand auf einen Reanimationsversuch verzichtet und sogleich mit der Organentnahme begonnen werden kann).

Freilich darf nicht übersehen werden, welch zahlreiche Manipulationsversuchungen auch dann noch auf die Ärzte zukommen. Ich denke an den im Deutschen Ärzteblatt (2008; 105, 16: A-832) bereits vorgeschlagenen Weg, den Herzstillstand ärztlich zu provozieren oder an die Ausstellung eines Totenscheins nach Atem-, Herz- und Kreislaufstillstand mit anschließender Wiederbelebung des Verstorbenen zum Zwecke der Lebenderhaltung seiner Organe bis zum Zeitpunkt der Organentnahme.

Im Übrigen dürfen wir hoffen, dass der Fortschritt der Medizintechnik schon bald die Transplantation von nach endgültigem Stillstand von Atmung, Herz und Kreislauf, also ex cadavere entnommenen Organen ebenso erfolgreich machen wird, wie die mit Gottes Gebot nicht vereinbare heutige Transplantationspraxis.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2009
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Dem Geist von Assisi verpflichtet

1986 hatte Papst Johannes Paul II. zu einem Friedenstreffen der Weltreligionen nach Assisi eingeladen. Es war kein Fehlgriff, wie manche Kreise oft meinen, sondern ein prophetischer Akt, ein historischer Augenblick im Leben der Kirche, ja in der Geschichte der Menschheit. Um den Geist von Assisi lebendig zu erhalten, organisiert die Gemeinschaft Sant'Egidio auf Anregung Johannes Pauls II. alljährlich eine Veranstaltung nach damaligem Vorbild. Dieses Jahr lud Stanislaw Kardinal Dziwisz, der langjährige Privatsekretär Johannes Pauls II. und Erzbischof von Krakau, das Friedenstreffen nach Polen ein. Es endete mit einem gemeinsamen Friedensappell hoher Persönlichkeiten aller Bekenntnisse und Religionen, den wir nachfolgend wiedergeben.

Johannes Paul II. – Lehrmeister des Dialogs

Als Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Religionen haben wir uns siebzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in der alten Stadt Krakau versammelt, um zu beten, den Dialog zu fördern und einen friedlichen Humanismus zu stärken. Dankbar erinnern wir uns an Johannes Paul II., einen Sohn dieser Stadt. Er war ein Lehrmeister des Dialogs und ein treuer Zeuge für die Heiligkeit des Friedens. Er hatte die Fähigkeit, selbst in schwierigen Zeiten eine Vision aufzuzeigen: den Geist von Assisi.

In vielen friedlichen Veränderungen der Welt zeigte sich das Wehen dieses Geistes, so vor zwanzig Jahren, im Jahr 1989, als Polen und Osteuropa ihre Freiheit wiederfanden. Im September 1989 hatten sich Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Religionen auf Einladung der Gemeinschaft Sant´Egidio in Warschau versammelt und drückten mit lauter Stimme ihre Liebe zum Frieden aus: „Nie wieder Krieg!“

Die bittere Lehre des II. Weltkrieges ist vergessen

Wir sind diesem Geist treu geblieben, obwohl sich in den vergangenen Jahren die Meinung zu stark verbreitet hat, dass Gewalt und Krieg die Probleme und Konflikte unserer Welt lösen könnten.

Immer wieder ist die bittere Lehre des Zweiten Weltkrieges in Vergessenheit geraten, obwohl er eine entsetzliche Tragödie für die Menschheitsgeschichte darstellt. Im Bewusstsein, dass die Menschheit sich in Auschwitz in den tiefsten Abgrund begeben hat, haben wir uns als Pilger an diesen Ort begeben. Um die Geschichte in ihrer Tiefe zu verstehen, mussten wir in diesen Abgrund des Bösen hinabsteigen! Niemals darf dieses große Leid vergessen werden!

Schauen wir auf das Leid dieser Welt: auf die Völker, die im Krieg leben, auf die Armen, auf den Schrecken des Terrorismus und auf die Opfer von Hass und Gewalt. Wir haben den Schrei der vielen Leidenden gehört. Ganze Völker sind Geißel des Krieges und der Armut, unzählbar viele Menschen müssen ihre Heimat verlassen, viele sind verschollen oder entführt worden und leben in Unsicherheit.

Die Globalisierung ist eine historische Chance

Unsere Welt hat die Orientierung verloren in einer Krise des Marktes, der sich allmächtig glaubte und durch eine Globalisierung, der es oft an Seele und Gesicht fehlt. Die Globalisierung ist eine historische Chance, auch wenn sie häufig unter dem Gesichtspunkt des Kampfes der Kulturen und Religionen betrachtet wurde. Wenn der Dialog unter den Völkern stirbt, kann es keinen Frieden für die Welt geben. Kein Mensch, kein Volk ist eine Insel!

Unsere religiösen Traditionen sagen eingedenk ihrer Unterschiede gemeinsam mit lauter Stimme, dass eine Welt ohne Geist niemals menschlich ist. Sie weisen den Weg der Rückkehr zu Gott, dem Ursprung des Friedens.

Geist und Dialog schenken dieser globalen Welt eine Seele. Verweigert sie sich dem Dialog, werden Hass und Angst vor dem anderen die Welt beherrschen.

Kein Krieg ist jemals heilig

Die Religionen wollen keinen Krieg. Sie wollen nicht für den Krieg missbraucht werden. Von Krieg im Namen Gottes zu sprechen ist eine Gotteslästerung. Kein Krieg ist jemals heilig. Gewalt und Terror bedeuten immer eine Niederlage für die Menschheit.

Geist und Dialog weisen den Weg zum friedlichen Zusammenleben. Mit größerer Überzeugung haben wir festgestellt, dass der Dialog von Angst und vom Misstrauen gegenüber dem Mitmenschen befreit. Er ist die wahre Alternative zum Krieg. Die Identität wird durch den Dialog in keiner Weise geschwächt, vielmehr befähigt er uns, in uns selbst und im anderen das Gute zu entdecken. Dialog zu führen bedeutet niemals Schwächung oder Verlust. Der Dialog schreibt die bessere Geschichte, wogegen der Kampf in den Abgrund führt. Der Dialog ist die Kunst des Zusammenlebens. Er ist das Geschenk, das wir dem 21. Jahrhundert in die Hände legen wollen.

Für eine neue Zeit des Dialogs

Ausgehend vom Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und von der Prophetie Johannes Pauls II. begeben wir uns als Pilger auf den Weg des Friedens. Mit Geduld und Treue setzen wir uns für eine neue Zeit des Dialogs ein, in der alle Menschen, die sich hassen oder die sich nicht wahrnehmen, in Frieden vereint sind: alle Völker und alle Menschen. Gott schenke der ganzen Welt, allen Männern und Frauen das wunderbare Geschenk des Friedens.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2009
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Katholische Wohnanlage im Odenwald

Auf Initiative von Helmut Kilian entsteht derzeit im Odenwald eine katholische Wohnanlage mit Hauskapelle. Das Projekt ist nicht an eine bestimmte religiöse Gemeinschaft oder geistliche Bewegung gebunden, sondern orientiert sich einfach an den Werten des katholischen Glaubens. Was alle Mitglieder der Wohnanlage verbindet, ist die Einheit mit dem Lehramt der Kirche und das Bedürfnis, eine große Familie zu bilden, man könnte auch sagen, eine Gemeinschaft von „Hauskirchen“. Für diese „Kirche im Kleinen“ wird ein Priester gesucht, der an keine andere Aufgabe mehr gebunden ist und sich dem Leben in der Wohnanlage widmen kann.

Von Helmut Kilian

Entstehung des Projekts

Noch vor kurzer Zeit diente es als Gästehaus der Dominikanerinnen aus Speyer, doch bereits in wenigen Monaten werden neue Bewohner einziehen, welche die Nähe des Herrn in den Sakramenten lieben und ihren Glauben in einer familiären Gemeinschaft leben möchten. Gemeint ist das Fürther Haus St. Martin: Es wird momentan baulich in ein „Katholisches Mehrgenerationenhaus“ umfunktioniert, also in ein Wohnhaus für Familien, Alleinstehende, Alleinerziehende und besonders auch für Priester.

Die privaten ortsansässigen Unternehmer Andreas Keil und Nikolaus Kilian lassen mit diesem Projekt eine urchristliche Idee Wirklichkeit werden. Nachdem die Speyerer Schwestern das Haus zunächst nicht verkaufen konnten, wandten sich die beiden Schwestern Johanna und Regina, die zuletzt in Fürth lebten, an Familie Kilian mit der Frage, ob deren Baufirma das Haus mit seiner herrlichen Lage und dem wunderbaren Weitblick über die Odenwaldhöhen sowie das Weschnitztal nicht erwerben wollte. So kam vergangenes Jahr schließlich der Kauf durch die Firma Starkenburg GbR zustande, deren Inhaber Andreas Keil und Nikolaus Kilian sind. Die damalige Generalpriorin, Schwester Eugenie Neckermann, zeigte sich wie alle Speyerer Schwestern sehr froh über den Verkauf an die ortsansässige katholische Familie, vor allem aber über die geplante künftige Nutzung als Katholisches Mehrgenerationenhaus. „Denn“, so die Priorin, „dieses Projekt verspricht eine Weiterführung des Hauses in unserem Geist“.

Haus für mehrere Generationen

Zunächst geht es um einen familiären Geist, der in dem Haus herrschen sollte. In Zeiten schwindender Familienbande sehnen sich gerade alleinstehende ältere Menschen oder alleinerziehende Elternteile nach Möglichkeiten familiären Zusammenlebens. Christ sein heißt, neben der Gottesliebe auch die Nächstenliebe zu praktizieren. Konkret kann dies mit dem Nächsten, dem Nachbarn, den Mitbewohnern gelebt werden. Selbst die alltäglichen Aufgaben wie Einkaufen, Kinderbetreuung, Garten- und Hofarbeit, Haushalt, Wäsche oder Pflege lassen sich im gegenseitigen Helfen viel leichter erfüllen als in Eigenregie. Arbeiten und Dienste können sinnvoll verteilt werden, wenn echte Einheit besteht. Gerade für ältere und alleinstehende Menschen wachsen derzeit betreute Wohnanlagen wie Pilze aus dem Erdboden. Doch gläubigen Katholiken fehlt dabei oft eine christliche Atmosphäre mit gemeinschaftlichen Gebetszeiten und der Möglichkeit zur Teilnahme an der Heiligen Messe. Das Projekt „Katholisches Mehrgenerationenhaus“ will diesem Bedürfnis nachkommen, indem die hauseigene Kapelle weiterhin zu Verfügung stehen wird. Natürlich gibt es auch einen Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile.

Dennoch möchte das Haus niemandem „Gemeinschaft“ aufzwingen, sondern sie nur ermöglichen; denn die vier Wände sind jedem Bewohner eigen. Wie Gemeinschaft wachsen kann, hängt von der Bereitschaft jedes Einzelnen ab und bleibt immer auch die Sache des Herrn.

Priester willkommen

Da das Haus auf Wunsch der Bauherren und im Sinn der ehemaligen Schwestern katholisch geprägt sein soll, untersteht die Feier von Gottesdiensten in erster Linie dem katholischen Ortspfarrer von Fürth, der sich über den Zuzug eines Priesterkollegen freuen würde. Mindestens eine von den zunächst neun entstehenden Mietwohnungen ist für einen Priester ohne andere dienstliche Verpflichtungen reserviert, der gerne als geistlicher Leiter in das Mehrgenerationenhaus einziehen würde. Die Initiatoren sind noch auf der Suche nach einem Priester, der sich beispielsweise als Priester a.D. auf diese Aufgabe einlassen könnte. Helmut Kilian, der Initiator des Projekts meint, das Zusammenleben in der katholischen Wohnanlage habe insbesondere auch missionarischen Charakter; denn die Christen, die sich bisher gemeldet hätten, seien durchweg karitativ bzw. charismatisch geprägt. Es sei heute schon abzusehen, dass eine kirchen- und papsttreue Gemeinschaft entstehen werde. Die Heilige Messe werde den Mittelpunkt des täglichen Lebens bilden. „Gewiss schenkt uns der Herr im Jahr der Priester einen Berufenen“, so hoffen und glauben wir.

Neben dem Fürther Seelsorger Pfarrer Dieter Wessel begrüßen auch der PGR-Vorsitzende Michael Kilian und der Stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrats Wilhelm Zeiß die Idee eines katholisch geprägten Mehrgenerationenhauses in Fürth.

Eigentumswohnungen entstehen

Laut Auskunft der Bauherren haben sich bereits einige Wohninteressenten gemeldet. Außerdem sollen neben den Mietwohnungen im bestehenden Haupthaus auch zeitnah Eigentumswohnungen in neuen Häusern entstehen. Manche der Kaufinteressenten möchten in die Wohnungen selbst einziehen, andere wollen durch den Erwerb von Wohnungen Mietinteressenten Wohnmöglichkeiten zur Verfügung stellen und sich zugleich eine sinnvolle Wertanlage in Zeiten der Wirtschaftskrise anschaffen. Dadurch kann in den nächsten Monaten der in schönster Natur gelegene Hügel rund um das Martinsheim als eine Art „Insel für den Herrn“ entstehen.

Informationen

Weitere Informationen sind im Internet unter www.katholisches-mehrgenerationenhaus.de zu finden. Gerne gibt der Initiator, Helmut Kilian, auch telefonisch weitere Auskünfte unter der Nummer: 0172-7083310. Vor Ort können Besichtigungen der Wohnanlage im Odenwald durchgeführt werden. Das katholische Mehrgenerationenhaus wurde bereits von Radio Horeb in der Sende-Reihe Lebenshilfe von Sabine Böhler und auf K-TV durch einen Film von Pfarrer H.-P. Loos vorgestellt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2009
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Das Christentum und die Medizin

Von Prof. Dr. Hans-Peter Rhomberg erschien ein Buch mit dem Titel „Heilige und die Kunst des Heilens. Heilige, Selige und Ordensgründer in der Medizin“. An Hand von über 60 Biographien und zahlreichen Beispielen aus der Kunst gewährt er Einblick in ein wichtiges Kapitel der Kirche während der letzten zwei Jahrtausende. Er zeigt auf, dass Christentum und Medizin von Anfang an innerlich miteinander verbunden waren, dass sich die Kirche aber nicht immer leicht getan hat, den richtigen Weg im Verhältnis zur Heilkunst zu erkennen. Im Gegenteil: Papst Innozenz III. verbot 1215 Priestern und Ordensleuten die Ausübung von Chirurgie und Geburtshilfe. Somit blieb ihnen nur die Pflege der Kranken. Erst 700 Jahre später wurde die Trennung von Medizin und Kirche überwunden. Der Autor war von 1985 bis 2005 Direktor und Primarius für Innere Medizin am Landeskrankenhaus Hochzirl bei Innsbruck in Österreich, dem sog. „Anna-Dengel-Haus“. Nachfolgend gibt er für „Kirche heute“ einen aufschlussreichen Überblick über sein Buch, ein Werk, dem er sich leidenschaftlich gewidmet hat, zwar nicht als Theologe, aber als gläubiger Mediziner.

Von Hans-Peter Rhomberg 

Blick in die frühe Kirche

Schon im Neuen Testament finden wir eine untrennbare Verbindung von Christentum und Medizin. Gerade in der Art, wie sich Jesus den Kranken zuwendet, leuchtet der göttliche Ratschluss der Erlösung auf, das Geheimnis der mitfühlenden und rettenden Liebe Gottes zu den Menschen. Die Evangelien berichten von zahlreichen Heilungswundern, die Jesus gewirkt hat. Sie sind ein Beweis für die Gültigkeit seiner Worte und für die Wahrheit der gesamten Frohen Botschaft. Gleichzeitig sind sie Zeichen, die durch ihre symbolische Aussagekraft über die irdische Genesung hinausweisen und die Wirklichkeit der Sündenvergebung sowie des ewigen Lebens offenbar machen. Ähnlich bekräftigte später der auferstandene Herr die Predigt seiner Gesandten. Wie uns die Apostelgeschichte berichtet, sind auch durch die Apostel immer wieder Wunderheilungen geschehen.

Ein neues Kapitel begann mit den Gebetserhörungen. Schon in der Frühzeit riefen die Christen ihre Märtyrer um Fürbitte an, wann immer sie in Bedrängnis geraten waren. Beispiele sind Balbina († um 130 in Rom) bei Halsschmerzen, Agatha (um 225-250 in Catania/Sizilien), der man die Brüste abgeschnitten hatte, als Fürsprecherin bei Erkrankungen der Brust oder Apollonia († um 249 in Alexandria in Ägypten), der die Zähne ausgeschlagen worden waren, bei Zahnschmerzen.

Wieder ein anderer Aspekt im Verhältnis von Christentum und Medizin besteht in der durch den christlichen Glauben inspirierten Ausübung der Heilkunst. Diese Frage sollte im Lauf der Kirchengeschichte zunehmend an Bedeutung gewinnen. Einer der frühesten Ärzte war der Evangelist Lukas († vor dem Jahr 80 in Theben), der in den blühenden Metropolen der damaligen Zeit, nämlich in Antiochien und Alexandrien und vermutlich auch in Athen, Medizin studiert hatte. Pantaleon († um 305 in Nikomedia, dem heutigen Ízmit in der Türkei) war Arzt am Hof des Kaisers Galenus Maximianus in Nikodemien. Er erlitt ein schreckliches Martyrium. Unter anderem wurden ihm seine Hände auf den Kopf genagelt, daher auch das Patronat bei Kopfschmerzen. Blasius († um 316 in Sebaste) war zunächst Arzt und später Bischof im westarmenischen Sebaste, dem heutigen Sivas in der Türkei. Nach der Überlieferung rettete er einem Knaben durch das Entfernen einer Gräte aus dem Hals das Leben, daher das Patronat bei Erkrankungen des Halses. Am 3. Februar, dem Gedächtnistag des Heiligen, wird in den Kirchen noch heute der so genannte Blasiussegen erteilt.

All diese Begebenheiten aus dem Leben der frühen Kirche fanden einen Niederschlag in der Kunst späterer Jahrhunderte. Unzählige plastische oder malerische Darstellungen besonders in der Zeit der Gotik und des Barocks versuchten, das Vertrauen der Hilfesuchenden zu wecken oder einfach der frommen Erbauung der Gläubigen zu dienen.

Fortführung des griechischen Asklepionkultes

Als im alten Rom die Pest wütete, schickte man nach Konsultation der Sibyllinischen Bücher ein Schiff nach Epidauros in Griechenland, um dort eine heilige Schlange des Asklepios zu holen. Während das Schiff bei der Rückkehr tiberaufwärts fuhr, entkam die Schlange und schwamm geradewegs zur Tiberinsel. Deswegen wurde dort 291 v. Chr. das erste Heiligtum zu Ehren des Heilgottes Äskulap errichtet. Jahrhunderte später erbauten die Barmherzigen Brüder an diesem Ort inmitten Roms ihren Ordenssitz und ein großes Spital.

Die Brüder Kosmas und Damian († um 282 bzw. 303 in Aegea in Cilicien, dem heutigen Yumurtalik in der Türkei) waren in der Nähe von Antiochien in Nordsyrien angesehene Ärzte ihrer Zeit. In der Ostkirche zählten sie zusammen mit Pantaleon und anderen zu den sog. „Anargyroi“, also zu jenen Ärzten, die ihre Kunst „unentgeltlich“ ausübten. Der Legende nach amputierten sie einem Mann im Schlaf das erkrankte Bein und ersetzten es durch das Bein eines toten Mohren. Hier erkennen wir bereits die Fortführung des griechischen Asklepionkults, wo der Heilgott in seinem Tempel dem Kranken im Schlaf die Therapie offenbart haben soll.

313 erließ Kaiser Konstantin (306-337) das Mailänder Edikt, durch welches er das Christentum als Religion im Staat anerkannte. 330 kam es zur Gründung Konstantinopels als Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Bald wurde dem berühmten Brüderpaar Kosmas und Damian eine Kirche errichtet, in der viele Kranke im Schlaf Heilung suchten. Selbst Kaiser Justinian (527-565) soll im bekannten Heiligtum von Konstantinopel Befreiung von seinen Leiden erfahren haben.

Noch im selben Jahrhundert kam der Kult der beiden Brüder nach Rom. Am Forum Romanum unweit des Tempels von Kastor und Pollux wurde ihnen eine Kirche gewidmet. Gleich daneben erbaute man 708 eine der ältesten Kirchen Roms, Santa Maria Antiqua, mit der berühmten Ärztekapelle, wo die beiden Heiligen gemeinsam mit Pantaleon auf einem Fresko dargestellt sind.

In Lourdes, wo 1858 in der Grotte von Massabielle die Gottesmutter erschienen ist, erinnert innerhalb des heiligen Bezirks mit seinen Bädern und dem erst jüngst errichteten neuen Pilgerspital vieles an das griechische Asklepeion. Es handelt sich offensichtlich um eine Heilungstradition, die sich über Kosmas und Damian an Kultstätten bis in unsere Tage fortsetzt.

Entwicklung der „Klostermedizin“

Der hl. Benedikt (480-547), der Vater des abendländischen Mönchtums, nahm in seine Ordensregel Richtlinien für Hygiene und Ernährung auf und gab so einen entscheidenden Anstoß für die Entwicklung der „Klostermedizin“ in den folgenden Jahrhunderten.

Hildegard von Bingen (1098-1179) begründete in ihren Schriften „Physika“ und „Causae et Curae“ ihre Naturheilkunde. Vieles davon ging mit der Zeit verloren. Doch manche ihrer Grundsätze wurden im letzten Jahrhundert wieder entdeckt und fanden beispielsweise im Aufbau der Kurorte ihren Niederschlag.

Papst Innozenz III. (1198-1216) verursachte mit dem Verbot der Ausübung von Chirurgie und Geburtshilfe für Priester und Ordensangehörige auf dem 4. Laterankonzil 1215, wohl als Folge des Bader-Unwesens, einen tiefen und lang anhaltenden Einschnitt in der Entwicklung der Medizin innerhalb der Kirche. Es kam zur Trennung der Chirurgie von der Krankenpflege und der mittelalterlichen Naturheilkunde.

Aufschwung der christlichen Krankenpflege

Umso mehr legte man von nun an Wert auf eine gute Pflege. Elisabeth von Thüringen (1207-1231) setzte mit ihrem Spital in Magdeburg ein vielbeachtetes Beispiel.

Im spanischen Granada gründete Johannes von Gott (1495-1550) den Pflegeorden der Barmherzigen Brüder. Gerade in letzter Zeit brachte dieser Orden eine Reihe Seliger und Heiliger hervor: Juan Grande Román (1546-1600), den Arzt Philip Pampuri (1897-1930), Benedikt Menni (1841-1914) und dieses Jahr – Seligsprechungsfeier am 4. Oktober in Regensburg – den Regensburger Eustachius Kugler (1867-1946), um nur einige zu nennen.

Wenig später folgte in Rom Kamillus von Lellis (1550-1640), der Gründer des Pflegeordens der heute weltweit tätigen Kamillianer, die sich besonders der Aids- und Drogenkranken widmen. Kamillus selbst arbeitete als Krankenpfleger im Heilig-Geist-Spital (Ospedale Santo Spirito in Sassia), einem sehr alten Krankenhaus am Tiberufer in der Nähe der Peterskirche.

In Paris  gründete Vinzenz von Paul (1581-1640) zusammen mit Luise de Marillac (1591-1640) die rasch wachsende Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern, die unter anderem in Deutschland und Österreich in vielen Krankenhäusern tätig wurden.

Maria Theresia Scherer (1825-1888) rief gemeinsam mit dem Kapuzinerpater Theodosius Florentini die Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz zu Ingebohl ins Leben. Sie widmete sich der Krankenpflege und dem Schulwesen.

Überwindung der Trennung von Medizin und Kirche

Allmählich kam es nun auch wieder zur Zusammenführung der Medizin und der Chirurgie. In Wien gründete Kaiser Josef II. 1790 das Josefinum, eine Ausbildungsstätte für Militärchirurgen. Semmelweis entdeckte 1850 das Kindbettfieber und unter Billroth wurde 1867 die Chirurgie wieder Teil einer umfassenden Medizin.

In der römisch-katholischen Kirche dauerte dieser Prozess etwas länger. Erst der Tiroler Ärztin Anna Dengel (1892-1980) gelang 1936 der Durchbruch. Mit der Instructio „Constans ac Sedula“ hob der Vatikan nach 721 Jahren das Verbot Innozenz’ III. wieder auf. Anna Dengel hatte bereits 1925 in Washington DC den Orden der Missionsärztlichen Schwestern gegründet. Diese Gemeinschaft ist heute weltweit medizinisch tätig. Ihre Arbeit begann Anna Dengel noch als Laienärztin 1920 in Indien, wo sie Spitäler für Mutter und Kind schuf und vor allem der modernen Geburtshilfe den Weg bereitete. Die bekannteste Schülerin Anna Dengels ist die sel. Mutter Teresa, die 1948 ihre erste Pflegeausbildung im Holy Family Hospital der Missionsärztlichen Schwestern in Patna am Ganges erfuhr. Mutter Teresa sagte mir einmal im Rahmen eines Interviews in Rom: „Es ist ein wunderbares Geschenk Gottes, Kranken und Sterbenden dienen zu dürfen. Mutter Dengel hat gerade dieses Geschenk wieder in die Kirche eingebracht.“

Heilige Zeugen in unserer Zeit

Im 20. Jahrhundert brachte die Kirche eine große Zahl an heiligmäßigen Ärzten und Pflegepersonen hervor. Johannes Paul II. erhob viele von ihnen zur Ehre der Altäre. Dazu zählen der Neapolitaner Internist Professor Giuseppe Moscati (1880-1927), die Mailänder Kinderärztin Gianna Beretta Molla (1922-1962), der burgenländisch-ungarische Chirurg und Augenarzt Ladislaus Batthyány Strattmann (1870-1931) und der oben erwähnte Zahnarzt und Praktiker Richard Pampuri, der zur Gemeinschaft der Barmherzigen Brüder gehörte.

Im vergangenen Jahrhundert erlitten verschiedene Persönlichkeiten aus dem Bereich der Krankenpflege das Martyrium, wie zum Beispiel die Wiener Hartmannschwester Restituta Helene Kafka (1894-1943), der kürzlich in einer Seitenkapelle des Wiener Stephansdoms eine sehr umstrittene Büste gewidmet wurde, und die Slowakin Zdenka Schelingová (1916-1955).

Einen besonderen Einsatz auf dem Gebiet der Medizin und der Pflege leisteten Selige und Heilige in Amerika. Zu nennen wären der Dominikanerbruder Martín de Porres von Lima (1569-1639), ein eifriger Krankenpfleger, der Argentinier Artemide Zatti (1880-1951), der Barmherzige Bruder José Olallo Valdés auf Kuba (1820-1889) oder die deutschstämmige Schwester Marianne Barbara Cope (1838-1918), die gemeinsam mit dem belgischen Priester Damian de Veuster (1840-1889) hingebungsvoll die Leprosen auf Hawaii gepflegt hat. De Veuster wurde am 11. Oktober 2009 in Rom heilig gesprochen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2009
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[1] Kunstverlag Josef Fink, geb., 128 S., zahlr. farb. Abb., ISBN 978-3-89870-453-3, Euro 24,–.

Chardins Evolutionsverständnis

Leserzuschrift von Prof. Dr. Alma von Stockhausen zum Artikel „Globalisierung im Licht der Evolution“ (Kirche heute 8+9/2009, S. 4ff)

„Wie muss die Globalisierung gestaltet werden“, fragt Pfarrer Erich Fink in seinem Artikel „Globalisierung im Licht der Evolution“ in „Kirche heute“, „damit sie wirklich zu einem Entwicklungssprung der Menschheit werden kann, hin zu einer geeinten Menschheitsfamilie?“ – „Die Weichen sind dafür gestellt, dass Globalisierung nicht in erster Linie vom Wirtschaftsleben her zu definieren ist“, meint Erich Fink weiter, sondern „von der ganzheitlichen Entwicklung der Menschheit her zu beurteilen wäre.“

Dem Absolutheitsanspruch der Technik ist „die Würde der Person“ entgegenzusetzen, fordert Papst Benedikt. „Ohne Bioethik steht die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung auf dem Spiel“, wendet der Papst ein und macht auf die Fehlentwicklung  der „Kultur des Todes“ (In vitro Fertilisation, Embryonenforschung, Klonen, systematische Geburtenregelung und Abtreibung) aufmerksam. Außerdem warnt der Papst vor dem grausamen Sozialdarwinismus, der das „Recht des Stärkeren“ zur Bedingung des Fortschritts erklärt.

Erich Fink verteidigt gegenüber der fehlgeschlagenen „materialistischen Auslegung“ des Darwinismus „den evolutionären Ansatz als solchen“ – den Gedanken der Entwicklung des Kosmos und der Menschheitsgeschichte. Entsprechend argumentiert er mit Teilhard de Chardin, für den „die Schöpfung nicht als etwas einst Abgeschlossenes und seither Fertiges – sondern als einen bis ans Ende der Zeit fortdauernden Prozess“ verstanden werden muss. Evolution heißt für Teilhard de Chardin: Zunahme von Organisiertheit und organischer Einheit. Motor der Entwicklung soll die Liebe sein. Gott selbst bewirkt durch Jesus Christus diese evolutionäre Einigung der Welt, in dem er selbst als „Basis und Spitze der Evolution“, als „Element“ in den Wachstumsprozess „eintaucht, um den Aufstieg des Bewusstseins zu leiten und ins Ziel der organischen Vereinigung mit ihm selbst zu führen“ (vgl. Teilhard de Chardin: Mensch im Kosmos, 1959, 305).

Gegen diese Entwicklungsvorstellung Chardins spricht das 4. Laterankonzil: Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist schuf in seiner allmächtigen Kraft vom ANFANG der Zeit an aus nichts zugleich beide Schöpfungen, die geistige und die körperliche“ (Denzinger/Hünermann, 800).

Thomas von Aquin betont, dass die Seele des Menschen schon von Ewigkeit her als Gedanke des Vaters im Sohne lebt, bevor diese Idee Gottes zum Formprinzip des Leibes im Zeugungsakt wird. Duns Skotus fügt hinzu, jede menschliche Geistseele drückt einzigartig, einmalig in unvertauschbarer Singularität den dreifaltigen personalen Gott mit dem dreifachen Vermögen von Vernunft, freiem Willen und Liebesfähigkeit aus. Die Seele des ersten Menschen – also Adams – war schon von einzigartiger gottebenbildlicher Perfektion der Träger seines Leibes.

Aber auch der Leib ist, wie die Kirchenväter festhalten, „ohne Vorformen“ von Gott selbst im Hinblick auf seine eigene Inkarnation als „summum opus“ der Schöpfung – als „Zusammenfassung aller Zeiten“ gebildet. „Eh ich von deiner Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden“ – singen wir zu Recht an seiner Krippe stehend. Diese die Person begründende gottebenbildliche Perfektion ist die Voraussetzung für die wahre Geschichte der liebenden Vereinigung von Gott und Mensch – und des Menschen mit dem Menschen in Gott.

Teilhard de Chardin kennt weder perfekte göttliche noch eigenständige menschliche Personen – sondern den dialektischen Prozess der wachsenden Personifikation. Gott hat nach der Auffassung Chardins „zwei Gesichter: transzendent ist Gott als unabhängiges Bewusstseinszentrum, als Überperson zu verstehen. Immanent wirkt Gott als ein Gott der kosmischen Synthese.“ Gott setzt als Antipode seiner selbst eine zersetzte Vielheit von Nichtsein.“

Hegel, dem Chardin weitgehend als „Lehrer“ folgt, spricht von Teilmomenten bzw. Negationen der sich im Universum entwickelnden Ganzheit Gottes. „Gott ist für uns das ewige Wachstum“ (Chardin: Der Mensch im Kosmos, 289). „Ich fühlte Gott in der biologischen Strömung, er personifizierte sich in der Menschheit“, (ebd. S. 68, erklärt Teilhard de Chardin). Durch das Anwachsen tangentieller Energie, d.h. der Quantitäten, soll unter der Lenkung von Omega als „additives Prinzip“ der Umschlag von radialer Energie als „innere Zentriertheit“ der Organismen erfolgen. Entsprechend stellt das durch eine „bestimmte Menge“ entstandene Innenwesen der Organismen nur noch eine „Durchgangsweise“, „ein Element des Aufstiegs des ewigen Wachstums Omegas dar“.

Adolf Portmann macht darauf aufmerksam, dass Chardin „die Organismen nur physikalisch als Korpuskel versteht“ (A. Portman: Der Pfeil des Humanen, Freiburg 1965). Der für die Höherentwicklung notwendige Zustandswechsel der Materie wird von Chardin durch Druck, Verdichtung, Zusammenrollung, Erhöhung der Temperatur erklärt. Entsprechend nennt er „die Moral, die ans Ziel gelangte Mechanik der Biologie“ (Chardin: Lobgesang des Alls, 1961, 29).

Das Problem, erklärt Chardin, „auf das sich im Grunde die ganze Physik, die ganze Philosophie und alle Religionen zurückführen lassen, die Koexistenz und Gegensätzlichkeit von Geist und Materie so zu lösen, ist: In natura rerum ist das eine vom anderen untrennbar, das eine geschieht nicht ohne das andere, und zwar aus gutem Grunde – weil das eine wesentlich in Folge des anderen auftritt … kein Geist – nicht einmal Gott – existiert oder könnte ohne ein mit ihm verbundenes Vieles existieren … konkret gibt es nicht Materie und Geist – vielmehr existiert nur die Geist werdende  Materie“ (Chardin: Die menschliche Energie, 1966, 75).

Der Geist Gottes drückt für Chardin nicht mehr den einzigartigen personalen Selbstbesitz aus und schafft als dieser die unsterbliche, weil ebenbildlich zu Gott perfekte Geistseele des Menschen, sondern soll als „etwas an der Korpuskel“, „als Höhepunkt des Stoffes“ verstanden werden (Chardin: Mensch im Kosmos, 1959, 36).

„Als die Elemente Zentren wurden und daher Personen, als letzte aus den kosmischen Partikeln hervorgehend, geschah der Sprung vom Instinkt zum Denken als Zustandsänderung der evolutiven Substanz (ebd., 167), erklärt Chardin.

Das unableitbare Phänomen der schöpferischen Entäußerung Gottes, der uns Geist von seinem Geiste in einem aus der Seitenwunde Christi wiedergeborenen Leib einhaucht, wird von Chardin in das Gegenteil pervertiert: Nicht der Geist drückt sich in einem von ihm geformten Leibe aus – sondern umgekehrt – der Geist wird zu einem „Epiphänomen der stofflichen Komplexität“ entpersonalisiert. Die Inkarnation des Logos wird damit als jener evolutive Akt verstanden, der die Geistwerdung der Materie bzw. die Sublimation der Naturkräfte zum Inhalt hat. Die zweite Person Gottes vereinigt nicht mit ihrer göttlichen Natur in hypostatischer Union „ungetrennt und unvermischt“ die menschliche Natur, empfangen von der Jungfrau Maria. Entsprechend dieser funktional bzw. prozessual verstandenen Inkarnation spricht Chardin von der „Christogenese des Kosmos“. Zu seiner „Vollendung“ muss „Christus Hunger und Durst“ durch den „Verzehr“ seiner ihn konstituierenden Teile „stillen“. Chardin meint in der „Messe über die Welt“ „der Kommunion zustimmen zu müssen, die Christus in seiner Person die Nahrung geben wird, die zu suchen er letztlich gekommen ist“ (Chardin: Lobgesang des Alls, 1961, 29). Tapfer will sich Chardin „dem furchtbaren Wirken der Auflösung überlassen, durch die die göttliche Gegenwart sich an die Stelle seiner engen Personalität setzt“ (ebd., 33).

Die Gnade vollständig in den kosmischen Werdeprozess aufhebend will Chardin durch die „Opferung der Totalität der Welt“ „auf dem Altar der ganzen Welt“ „schlechthin alles in Christus verwandeln“. Durch die Konsekration der ganzen Welt „der totalen Hostie“ geschieht die „wunderbare Diaphanie, die in der Tiefe allen Tuns und jeden Elements ein und dasselbe Leben, Leib und Blut des Wortes durchscheinen lässt“ (ebd., 27). Eine umfassendere Perversion ist kaum denkbar! Christus beschenkt uns nicht in der heiligen Kommunion mit seinem Fleisch und Blut als Teilhabe an seinem dreifaltigen ewigen Leben durch seine erlösende Gegenwart – sondern „verzehrt uns, sich an unsere Stelle setzend“. Omega Gott braucht uns als Opferspeise, um seinen eigenen Hunger nach Wachstum zu stillen!

Chardin gibt der Evolutionstheorie die umfassendste Bedeutung: Er hebt nicht nur die geschaffene Wirklichkeit im Rückgriff auf Hegel und Darwin in den tödlichen Prozess einer angeblichen Höherentwicklung auf – vielmehr: Durch seine Identifikation von Natur und Gnade pervertiert er die sakramentale Kirche in einen Naturmythos. Das Böse von Luther und Hegel auf Gott übertragen und mit ihm identifiziert, führt notwendigerweise nicht nur zur Aufhebung der Schöpfungsordnung – noch gravierender zur Preisgabe des Erlösungswerkes der Kirche! Die Schöpfung einzigartiger, sich selbst besitzender Organismen degradiert zu Teilmomenten der Entwicklungsgeschichte der Natur, macht den Tod und die Tötung als Rückführung der Teile in die Ursprungseinheit notwendig. Der Tod kann nicht mehr als Folge der Urschuld betrachtet werden – sondern wird als Selektionsprinzip zum Naturgesetz erhoben! Die Perversion ist perfekt! Christus erlöst uns nicht vom ewigen Tode der Trennung von Gott durch die Selbsthingabe in den Tod – sondern der Tod selber bzw. die Tötung wird als Erlösungsprinzip der Höherentwicklung gepriesen. Christus wird – wie bei Luther – zum „Totschläger“ erklärt, der die Teilmomente seiner welthaften Selbstentfaltung nicht nur setzt – sondern notwendigerweise als Mittel seiner Selbstidentifikation „verzehrt“.

Auf das Verhältnis von Geist und Materie – damit hat Chardin Recht – lassen sich in der Tat alle Probleme der Physik, der Philosophie und der Religionen zurückführen. Für ihn gibt es nur die  Geist werdende Materie. Das ist die genaue Perversion der christlichen Verknüpfungsform der Inkarnation des ewigen Logos. Fleischwerdung des ewigen Wortes heißt, dass die zweite Person der Gottheit, der der Vater seine eigene ewige absolute Perfektion zeugend mitgeteilt hat, die Materie als Entäußerungsform angenommen hat, um sich dem Menschen in dieser Weise der Selbstzurücknahme seiner Unendlichkeit für den Menschen fassbar zu machen. Abbildlich zur Materie als Hingabeform des ewigen Logos besitzt auch der Mensch seinen Leib als Vermögen der Einigung mit dem anderen als anderen – sie werden „zwei in einem Fleische sein“.

Die Evolutionstheorie vertauscht die persönliche Einigung von Gott und Mensch im Fleische mit der Materie als Entwicklungsprinzip des einen durch den anderen – Gott, der den Menschen „verzehrt“. Der grausame Sozialdarwinismus, vor dem Papst Benedikt gewarnt hat, erweist sich nicht als materialistische Fehlentwicklung, sondern als notwendige Konsequenz!

Prof. Dr. Alma v. Stockhausen, Gründerin der Gustav Siewerth Akademie – Staatlich anerkannte wissenschaftliche Hochschule, 79809 Weilheim-Bierbronnen

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2009
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