Zum Mord an Bischof Padovese

Am Fronleichnamstag wurde Bischof Luigi Padovese im türkischen Iskenderun von seinem eigenen Chauffeur auf grausame Weise ermordet. Am 31. März 1947 in Mailand geboren, trat er 1965 in den Kapuzinerorden ein und empfing am 16. Juni 1973 die Priesterweihe. Nach seiner Ausbildung lehrte er als Professor für Patristik und Spiritualität an verschiedenen Universitäten Roms. 2004 wurde er zum Apostolischen Vikar Anatoliens bestellt und war seit 2008 zudem Vorsitzender der Türkischen Bischofskonferenz. Er starb nun am 3. Juni 2010 im Alter von 63 Jahren. Die Hintergründe sind noch unklar. Ist es die Einzeltat eines geistig verwirrten Menschen? Waren jüngste Verbindungen des früher katholisch gewordenen Fahrers zu islamisch-fundamentalistischen Kreisen ausschlaggebend? Wussten die türkischen Behörden Bescheid? Ließ der Bischof die Flüge nach Zypern stornieren, um den Papst zu schützen? Ist Padovese ein Märtyrer? Entscheidend jedoch ist die feste Überzeugung, die auch bei den verschiedenen Requien in der Türkei wie auf der Beerdigung in Mailand einhellig zum Ausdruck gebracht wurde: Dieser Tod war nicht umsonst, er wird die Sache des Evangeliums voranbringen.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Alles dient der Ausbreitung des Evangeliums

Ihr sollt wissen, Brüder, dass alles, was mir zugestoßen ist, die Verbreitung des Evangeliums gefördert hat“, schreibt Paulus (Phil 1,12), offenbar tief beeindruckt und dankbar angesichts der Erfahrungen, die er mit Gottes Beistand gemacht hat! Dieses „alles“ muss man sich bewusst machen, denn zu dem, was ihm zugestoßen ist, gehörten nicht nur Beschimpfungen, „höflich-spöttische Ablehnung“ wie am Areopag, Missverständnisse, Unglauben und Abfall, sondern auch Hunger, Durst, Schiffbruch, Steinigung, Auspeitschen, Gefängnis und Ketten, Kampf mit Tieren und am Ende der Tod durch Enthauptung. Schlimm? Ja, und doch sagt Paulus: Alles hat die Verbreitung des Evangeliums gefördert, alles, nicht nur „manches“!

Feinde der Kirche – Helfer der Kirche!

Der Bischof des 21. Jahrhunderts erlebt auch Einiges, aber das Schlimmste von den paulinischen Erlebnissen „Gott sei Dank“ eigentlich nie oder fast nie, auch wenn man nicht wissen kann, was irgendwo auf der Welt doch noch passiert! Schließlich wurde erst vor wenigen Tagen einem Bischof in der Türkei, Luigi Padovese, der Kopf abgeschnitten! Noch weniger weiß man, wie sich die Zeiten ändern werden und welche Formen der Gewalt der Hass auf die Kirche, den wir wieder zu erleben beginnen, hervorbringen wird. Unwahrscheinlich, dass es bei den Worten und medialen Beschimpfungen bleiben wird! Viel wichtiger als solche Überlegungen aber ist: Die Erfahrung des Paulus, dass „alles der Verbreitung des Evangeliums dient“, gilt für alle Zeiten der Kirchen-Geschichte! D.h.: Christen sollten gelassen bleiben, was immer geschieht! Die Kirchenhasser wissen nicht, wie sehr sie, über ihr Scheitern hinaus, auf ihre Weise „das Geschäft der Kirche“ besorgen, nämlich das Evangelium zu verbreiten. Das Blut der Märtyrer ist der Samen für neue Christen, sagte man schon im Altertum! Schon deswegen, also auch aus Dankbarkeit, sollten wir sie, unsere Feinde, lieben und für sie beten! Diese Wahrheit ist Trost und Prävention gegen Mutlosigkeit der Christen! Es ist nie „umsonst“, auch wenn der Samen nicht sichtbar aufgeht: In Nordafrika flossen Ströme christlichen Blutes, aber bis heute sehen wir nicht das Wieder-Auferstehen der Kirche in diesen Ländern. Nach menschlichem Ermessen wird es in so manchen Gebieten Osteuropas ähnlich sein, in denen die Kommunisten die Religion ausrotten wollten und auch weitestgehend ausgerottet haben!

Im Licht des Glaubens

Gott allein weiß es! Für uns genügt es, unser Leben, unsere Missgeschicke und die Aggressionen von außen in diesem Licht des Glaubens im Sinn des hl. Paulus zu betrachten, um vielleicht nicht immer, aber oft Erstaunliches zu entdecken. Beginnen könnte man mit harmlosen Dingen wie einem „versäumten Zug“, aus dem sich eine Begegnung und ein religiöses Gespräch ergeben hat, und wer weiß was noch! Erst recht belegt die Erfahrung des Paulus sein eigenes Leben. Er selbst war ja ein Kirchenhasser und zwar ein ziemlich brutaler, wenn man sich die „Ketten“ und „Gefängnisse“ vorstellt, von denen er selbst berichtet, oder wenn man an die Steinigung des Stefanus und andere Morde denkt (Apg 9,1). Erst in der Ewigkeit werden wir mehr wissen!


Gedanken zur Zölibats-Diskussion

Die Diskussionen um den Pflichtzölibat reißen nicht ab. Auf allen Ebenen beschäftigen sich Gläubige und Verantwortungsträger der Kirche mit der Frage, auch Bischöfe. Mit seinen Überlegungen gibt Weihbischof Dr. Andreas Laun Orientierungs- und Argumentationshilfen an die Hand.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Die Umfrage in einer österreichischen Diözese hat vor kurzem ergeben: Die Mehrheit der Priester wünscht die Abschaffung des „Pflichtzölibats“ und dieselbe Mehrheit meint, man könnte auch Frauen zu Priestern weihen. Nun, es handelt sich dabei um zwei ganz verschiedene Fragen, weil der Papst den Zölibat tatsächlich abschaffen könnte, die Zulassung von Frauen zum Priestertum hingegen gemäß der Lehre der Kirche auch ihm nicht möglich ist. Nicht hilfreich wäre es, wenn ich jetzt versuchte, die historische Entwicklung nachzuzeichnen und alle Argumente aufzuzählen, die „dafür“ und die „dagegen“ sprechen. Vermutlich würde deswegen kein Teilnehmer an der genannten Umfrage seine Meinung ändern. Ich möchte nur Gesichtspunkte nennen, die in den Diskussionen leicht zu kurz kommen:

• Der Zölibat – eine Art Wunder: Eigentlich ist es, innerweltlich gesehen, eine Art Wunder, dass die Kirche den Zölibat einführen wollte, eingeführt hat und über die Jahrhunderte hin daran festhalten konnte!

• Der Zölibat als Kreuz: Den Zölibat anzunehmen, ist für keinen gesunden Mann leicht und er bleibt die Jahre seines Lebens hindurch immer auch ein mehr oder weniger schweres Kreuz. Man sollte dabei aber auch nicht leugnen: Im Lauf der Jahre verändert sich die „Last“, sie wird für gewöhnlich leichter.

• Keine Spießer-Argumente: Argumente wie: „Kein Kindergeschrei in der Nacht“ sind keine Argumente für den Zölibat! Man sollte sich, wenn sie auftauchen, ihrer schämen, auch wenn man für die zölibatäre Nachtruhe auch dankbar sein darf! Manche „Vorteile“ darf man anerkennen, aber sie dürfen nicht zum Motiv werden, weil ein Rückfall in den egozentrischen Junggesellen kein Ideal ist!

• Andere Kreuze: Keine zölibatäre „Einsamkeit“ kann so schlimm sein wie eine wirklich unglückliche Ehe (etwa nach dem Schriftwort: „Besser in der Wüste hausen als Ärger mit einer zänkischen Frau“ (Spr 21,19) oder auch: „Ein ständig tropfendes Dach in der Regenzeit und eine zänkische Frau gleichen einander“ (Spr 27,15). Übrigens können auch Kinder, die auf Abwege geraten, zum schweren Kreuz werden! Ein Kreuz, das dem Zölibatären in dieser Form erspart bleibt!

• Merkwürdige Zölibatsgegnerschaft: Die Welt und viele Nicht-Katholiken drängen die Kirche, den Zölibat endlich abzuschaffen. Man sollte fragen, warum sie so sehr daran interessiert sind. Aus Mitleid mit den armen frustrierten Priestern? Sicher nicht? Wo liegt aber das Interesse dieser Kritiker? Oder was stört sie, und was bewog ausgerechnet einen Kirchenhasser wie Adolf Hitler, auf die Abschaffung des Zölibates zu drängen? Könnte solches Drängen solcher Leute nicht umgekehrt ein Indiz sein, dass der Zölibat für die Kirche gut ist, ein Motiv, an ihm festzuhalten?

• Liebe und Zölibat: Wer vom Zölibat redet, redet von der Liebe! Um diese muss es gehen, wenn er erträglich und sinnvoll sein soll. Papst Johannes Paul II. hat in Familiaris consortio, Nr. 11, die Berufung zum Zölibat genauso eine besondere Berufung zur Liebe genannt wie die Ehe! Anders kann man ihn letztlich auch nicht gut, erfüllt, glücklich leben! Ohne das richtige Motiv gilt wieder das Bibelwort: „Gott sah, dass es nicht gut ist, wenn der Mensch allein ist!“ Weder die frustrierte Jungfrau noch der um sich kreisende Junggeselle mit seinen Ersatz-Hobbys sind ein christliches Ideal. Beide sind in Gefahr, seelisch zu verarmen. Wirklich leben lässt sich der Zölibat nur auf Grund der Liebe zu Gott und den Menschen, nur dann wird auch der Zölibatäre ein glücklicher Mensch sein, ohne dass die Ehelosigkeit ganz aufhörte, auch ein Kreuz zu sein.

• Bleibt die Frage, ob die Kirche am „Pflichtzölibat“ festhalten soll oder nicht. Dass es auch verheiratete heilige Priester geben kann und gegeben hat, beweist die griechisch-katholische Kirche! Aber ist die griechisch-katholische Priesterehe nicht sogar eine Art Argument, zu sagen: Um der Vielfalt willen ist es gut, dass die römisch-katholische Kirche am Zölibat festhält, dass es also beides gibt: Kirche mit und Kirche ohne Zölibat? Ob es dabei bleibt oder nicht, ist eine Frage, die nur der Heilige Geist entscheiden kann und entscheiden wird. Er führt in der Regel durch die Strukturen, die Er der Kirche gegeben hat, nämlich durch die Bischöfe (auf dem Konzil) und durch den Papst!

Was mich betrifft: Ich bin froh, dass die Last dieser und anderer Entscheidungen nicht auf meinen Schultern liegt. Übrigens, auch was die Priesterweihe für Frauen betrifft: Der Papst hat entschieden, „Roma locuta, causa finita“, ich kann meiner Arbeit nachgehen, ohne darüber weiter nachdenken zu müssen!

 

Benedikt XVI.: Zölibat – Akt der Treue und des Vertrauens

In einem gewissen Sinn mag einen die ständige Zölibatskritik überraschen, in einer Zeit, in der es immer mehr zur Mode wird, nicht zu heiraten. Doch dieses Nichtheiraten ist etwas, was sich völlig und grundlegend vom Zölibat unterscheidet, da das Nichtheiraten auf dem Willen gründet, nur für sich selbst zu leben, keine endgültige Bindung zu akzeptieren, das Leben in allen Momenten in einer völligen Autonomie zu haben, in jedem Moment zu entscheiden, was zu tun, was vom Leben zu nehmen ist; und somit ein „Nein“ zur Bindung, ein „Nein“ zur Endgültigkeit, das Haben des Lebens nur für sich selbst. Während der Zölibat genau das Gegenteil ist: Er ist ein endgültiges „Ja“, er bedeutet, sich von Gott bei der Hand nehmen zu lassen, sich in die Hände des Herrn zu begeben, in sein „Ich“; und somit ist er ein Akt der Treue und des Vertrauens. (Vigil am 10.06.2010)

Der entscheidende Grund des Zölibats

Vom 23.-25. April 2010 fand in Wigratzbad unser „Kirche heute“-Frühjahrsforum zum Thema „Das Judentum und Jesus Christus“ statt. Es wurde maßgeblich von Prof. Dr. Klaus Berger gestaltet. In den einleitenden Gedanken zu seinen vier Vorträgen ging er auf sein neues Buch über den priesterlichen Zölibat ein.[1] Er stellte kurz vor, worin er den entscheidenden Grund für die Ehelosigkeit der Priester sieht. Dabei griff er auf das Bild des „Bräutigams“ zurück, wie es im Alten Testament entwickelt und von Jesus im Neuen Testament weitergeführt wurde. Ein Impuls von elementarer Bedeutung.

Von Klaus Berger

Gehen wir vom Bild des „Bräutigams“ aus: Jesus ist der Bräutigam des Neuen Israel. Dies hat eine gewaltige Bedeutung für das frühe Christentum. Hier wird ein Bild aufgenommen, das für das Gottesbild des Alten Testaments elementar wichtig ist.

Im Alten Testament ist Gott der Gemahl Israels, der Partner. Im Unterschied zu anderen Göttern ist dieser Gott nicht verheiratet, sondern Israel ist seine Frau. Im Neuen Testament erneuert Jesus dieses Bild, indem er sagt: Ich bin der Bräutigam, meine Braut ist das Neue Israel aus Juden und Heiden. Aus diesem Grunde ist Jesus auch nicht verheiratet.

In der Diskussion um den Zölibat lautet der wirklich entscheidende Grund: Zölibat bedeutet, den Lebensstil Jesu nachahmen. Und warum hat Jesus so gelebt?

Seit den Zeiten der Propheten – etwa seit Hosea – bringt die Art der Ehe eines Propheten seine Botschaft zum Ausdruck. Hosea wurde von Gott dazu aufgefordert, eine Prostituierte zu heiraten. Es heißt nicht, dass sie ihren Beruf aufgegeben hätte. Vielmehr sollte der Prophet durch diesen „Skandalfall“ deutlich machen, wie sich Israel gegenüber Gott verhält. Das war seine Botschaft. – Genauso ist es auch heute noch bei der Bildzeitung: Die Ehe ist der intimste und wichtigste Bereich. Wenn eine Botschaft in diesem Bereich angesiedelt wird, wenn sich jemand im Bereich der Ehe etwas Exorbitantes leistet, regt es die Leute auf. Da sagen sie: Mein Gott, das muss ein merkwürdiger Fall sein! – Und hier hatte der Prophet Hosea die ziemlich unangenehme Botschaft zu verkünden: Israel ist seinem Gott fortgesetzt untreu!

Jesus nun hat eine neue Botschaft zu verkünden. Er sagt: Ich heirate nicht, weil ich als Bräutigam auf den Augenblick warte, in dem das Neue Israel eingesammelt ist. Dann findet die Hochzeit des Lammes statt, wovon die Offenbarung des Johannes berichtet. Um deutlich zu machen, wie ernst er es mit seiner Botschaft meint, verzichtet Jesus auf das Wichtigste im Leben. Und die, die ihm wörtlich nachfolgen, machen es genauso. Sie halten den Zölibat, um zu sagen: Wir meinen es ernst damit, dass das Entscheidende der Bund Gottes mit den Menschen ist. Diesen stellen wir durch unseren Lebensstil dar. Wir warten auf die große Hochzeit. Und das, was wir tun, geschieht aus Liebe.

Dabei spielt das Bild Israels immer eine Rolle: Im Alten Testament ist es Israel als das Gottesvolk, das immer auf der Kippe zur Scheidung stand. Im Neuen Testament ist es das Neue Israel aus Juden und Heiden. Natürlich ist das Bild eigentlich nur Juden verständlich. Bei Heiden muss es erst lange erklärt werden. Die Juden begreifen es und sie haben auch Jesu Zeichenhandlung, nicht zu heiraten, verstanden.

Heute muss man in der öffentlichen Diskussion den Leuten den Sinn des Zölibats mühsam beibringen. Sie verstehen nichts vom Judentum, nichts vom Alten Testament, und deshalb können sie den Zölibat nicht begreifen. Wenn man ein bisschen mehr Verständnis dafür hätte, würde man in diesem entscheidenden Punkt nicht nur Jesus verstehen, sondern auch alle, die ihm im Christentum nachfolgen, und zwar wörtlich nachfolgen. Das sind nicht nur Priester. Es gibt ja im Christentum sehr viel mehr Menschen, ungefähr eine dreiviertel Million, die aus geistlichen Gründen ehelos leben. Ich denke an alle Ordensleute. Und das ist auch nicht an die Konfession gebunden. Auf mein Buch über den Zölibat* hin haben mir viele evangelische Pastoren geschrieben: Genau das wäre es! Und sie verstünden gar nicht, warum man den Zölibat nur auf katholische Priester beschränkt. Das ist also genau die umgekehrte Tendenz, als sie in der Öffentlichkeit vermittelt wird.


[1] Zölibat. Eine theologische Begründung, St. Benno Verlag, 106 S., Euro 6,50.

Der Papst bittet um Vergebung

In der Predigt beim feierlichen Abschlussgottesdienst des Priesterjahres bat Benedikt XVI. ausdrücklich um Verzeihung für den sexuellen Missbrauch an Kindern durch katholische Priester. Erwartungsgemäß stürzten sich die Medien auf dieses „Mea culpa“ des Papstes, wie sie es nannten. In seinem Beitrag deutet Pfr. Erich Maria Fink den Vorgang aus kirchlicher Sicht. Er beurteilt die Ereignisse nicht nur äußerlich, sondern misst dem Schritt des Papstes eine große geistliche Bedeutung bei.

Von Erich Maria Fink

Das Jahr des Priesters, das Papst Benedikt XVI. anlässlich des 150. Todestages des hl. Jean-Marie Vianney (1786-1859), des hl. Pfarrers von Ars, ausgerufen hatte, fand am Hochfest des Heiligsten Herzens Jesu einen überragenden Abschluss. Mehr als 15.000 Priester feierten an diesem 11. Juni 2010 mit dem Papst auf dem Petersplatz die größte Konzelebration aller Zeiten. Diesen erhabenen Rahmen wählte Benedikt XVI., um die von der Weltöffentlichkeit seit langem erwartete Vergebungsbitte für die Missbrauchsfälle unter katholischen Geistlichen auszusprechen. Wie ist dieser Schritt zu beurteilen?

Gemeinsames Zeugnis des Papstes mit den Priestern

Die Versammlung der Priester um den Papst war ein eindrucksvolles Zeugnis vor der ganzen Welt. Die zentrale Bedeutung des Priestertums für das Leben der katholischen Kirche leuchtete schon lange nicht mehr so beredt auf, wie in diesen Tagen. Benedikt XVI. brachte mit glasklarer Sprache das theologische Verständnis des priesterlichen Dienstes zum Ausdruck. Offen ging er auf das Ärgernis ein, dass in den letzten 50 Jahren das Bewusstsein für die Weihevollmacht des Priesters planmäßig verdunkelt wurde. Theologische Strömungen, die den Blick auf die göttliche Dimension des kirchlichen Lebens verdrängt hätten, bezeichnete er als „modische Tendenzen“, welche aus der „Arroganz der Vernunft“ hervorgegangen seien. Manche Hypothesen aus den 60er Jahren erschienen heute geradezu als „lächerlich“. Als der Papst bei der abendlichen Vigil diese Worte aussprach, ging ein zustimmendes Lachen über den Petersplatz. Benedikt XVI. wirkte ernst und gelöst zugleich. Unter den Priestern machte sich eine befreiende Atmosphäre breit, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Geborgenheit. Dem ehemaligen deutschen Theologieprofessor auf dem Stuhl Petri wird mit einer unangefochtenen Selbstverständlichkeit die Kompetenz zugestanden, solche Urteile zu fällen. Es ist, als ob mit dem Abschluss des Priesterjahres eine ganze Epoche von Verirrungen und Verunsicherungen beendet worden wäre. Der Nachfolger des hl. Petrus verband seinen Dienst an der Wahrheit mit der öffentlich bezeugten Solidarität Tausender von Priestern aus der ganzen Welt. So wurde das große Priestertreffen zu einer Art Proklamation, welche die Überwindung der Krise im Verständnis des Priestertums kundtat und den Weg in eine neue Zukunft öffnete.

Das Echo in den Medien

Es mag auf den ersten Blick enttäuschen, dass die Medien von dieser Kundgebung so wenig berichtet haben. Stattdessen, so lauten Stimmen in katholischen Kreisen, hätten sie sich wieder in typischer Weise nur auf ein einziges Wort gestürzt, nämlich auf die Vergebungsbitte, obwohl sie nur eine Randbemerkung gewesen sei. Doch kann man diesem Ausdruck des Bedauerns wirklich zustimmen? 

Zunächst dürfen wir uns darüber freuen, dass die Medien im Zusammenhang mit der Vergebungsbitte des Papstes überhaupt auf das Ereignis eingegangen sind und das Priestertreffen in die Top-Nachrichten des Tages aufgenommen haben. Und meistens blieb es nicht bei einer Schlagzeile. Die Meldungen vermittelten auch wichtige Informationen über das Treffen, wie die Zahl der anwesenden Priester. Auf Seite Eins der Passauer Neuen Presse vom 12./13. Juni 2010 beispielsweise erschien ein sehr einsichtsvoller Kommentar von Karl Birkenseer. Er schreibt: „Dass zuerst die Opferperspektive und dann erst die Schadensbegrenzung für das Image der Kirche kommt – dieses Prinzip hat ersichtlich den päpstlichen Segen. Freilich ist bei Benedikt XVI. beides miteinander verquickt: Kirche und Priestertum in ihrem sakramentalen Anspruch können nur dann neue Glaubwürdigkeit erlangen, wenn alles geschieht, um dem Missbrauch künftig so weit wie möglich den Boden zu entziehen.“ Und er schließt seinen Kommentar mit der Bewertung: „Benedikt hat als Papst und als Seelsorger den konkreten Menschen im Blick: jedes einzelne Opfer, jeden Täter. Seine Bitte um Vergebung ist deshalb alles andere als eine Floskel – sie ist eine tiefe Verneigung vor menschlichem Leid und eine strenge Ermahnung zur Umkehr.“

Nicht nur eine Randbemerkung

Wie Birkenseer hier richtig feststellt, wird man der Vergebungsbitte des Papstes absolut nicht gerecht, wenn man sie nur als Floskel oder Randbemerkung interpretiert. Aus kirchenpolitischer wie pastoraler Sicht ist es geradezu genial, wie Benedikt XVI. diese Bitte platziert hat. Monatelang wurde er von der Öffentlichkeit bedrängt, endlich ein solches Wort auszusprechen, ebenso nachdrücklich beschworen ihn Vertreter der Römischen Kurie, die Abschlussfeiern des Priesterjahres nicht mit dem Missbrauch-Skandal zu belasten. Benedikt XVI. aber ließ sich nicht davon abbringen. Er wählte ganz bewusst diesen Höhepunkt des Priesterjahres und dazu die Predigt während der Abschlussmesse, also nicht die Form irgendeiner Presseerklärung, sondern den herausragenden Moment der offiziellen Verkündigung. Außerdem ist nicht übersehen, dass die Bitte das Zentrum seiner Ansprache bildet. Der Anfang seiner Predigt gleicht einem steilen Anstieg zum Gipfel. Als wollte er zum Abschluss des Priesterjahres noch einmal die entscheidenden Pfähle in den Boden rammen, entwickelte er in kurzen Schritten die Grundwahrheiten über das katholische Priestertum, seine Größe und seine Schönheit. Am Gipfel angelangt, erneuerte er die flehentliche Bitte an Gott um Berufungen. „Und dieser Ruf“, so erklärte der Papst, sei „zugleich ein Anklopfen ans Herz junger Menschen, die sich zutrauen, was Gott ihnen zutraut“. Während er an dieser Stelle noch mit der vollen Konzentration seiner Zuhörer rechnen konnte, entfaltete er hier das Thema des Missbrauchs mit der Bitte um Vergebung. Den ganzen Rest der Predigt bildet wie ein ungefährlicher flacher Abstieg eine kunstvolle Betrachtung über den Psalm 23 (22) im Licht des priesterlichen Dienstes.

Störmanöver des Teufels

Mit kurzen Worten fasste der Papst die Dramatik des vergangenen Jahres zusammen: „Es war zu erwarten, dass dem bösen Feind dieses neue Leuchten des Priestertums nicht gefallen würde, das er lieber aussterben sehen möchte, damit letztlich Gott aus der Welt hinausgedrängt wird.“ Nach dem Hinweis auf den Widersacher Gottes fuhr er direkt fort: „So ist es geschehen, dass gerade in diesem Jahr der Freude über das Sakrament des Priestertums die Sünden von Priestern bekannt wurden – vor allem der Missbrauch der Kleinen, in dem das Priestertum als Auftrag der Sorge Gottes um den Menschen in sein Gegenteil verkehrt wird.“ Der Papst ist also überzeugt, dass der Teufel die Sünden der Priester ausgenützt hat, um das Priesterjahr zu kompromittieren und um seine Wirkung zu bringen. In keiner Weise versuchte er, die Schuld auf die bösen Mächte abzuschieben. Und so konnte er den Schluss ziehen: „Wenn das Priesterjahr eine Rühmung unserer eigenen menschlichen Leistung hätte sein sollen, dann wäre es durch diese Vorgänge zerstört worden. Aber es ging uns gerade um das Gegenteil: das Dankbar-Werden für die Gabe Gottes, die sich ‚in irdenen Gefäßen‘ birgt und die immer wieder durch alle menschliche Schwachheit hindurch seine Liebe in dieser Welt praktisch werden lässt. So sehen wir das Geschehene als Auftrag zur Reinigung an, der uns in die Zukunft begleitet und der uns erst recht die große Gabe Gottes erkennen und lieben lässt. So wird sie zum Auftrag, dem Mut und der Demut Gottes mit unserem Mut und unserer Demut zu antworten.“ Und Birkenseer meint zu dieser Verknüpfung zustimmend, da der Papst die menschlichen Schwächen so klar vor Augen habe, könne auch „der vielbeschworene Prozess der Reinigung mit dem nötigen Realismus beginnen“.

Die Vergebungsbitte 

Dazwischen fügte Benedikt XVI. nun die viel beachtete Bitte um Vergebung ein. Sie lautet: „Auch wir bitten Gott und die betroffenen Menschen inständig um Vergebung und versprechen zugleich, dass wir alles tun wollen, um solchen Missbrauch nicht wieder vorkommen zu lassen; dass wir bei der Zulassung zum priesterlichen Dienst und bei der Formung auf dem Weg dahin alles tun werden, was wir können, um die Rechtheit der Berufung zu prüfen, und dass wir die Priester mehr noch auf ihrem Weg begleiten wollen, damit der Herr sie in Bedrängnissen und Gefahren des Lebens schütze und behüte.“

Es ist also kein „Mea culpa“ – „Meine Schuld“ im wörtlichen Sinn. Denn, wenn wir dieses Wort beim Schuldbekenntnis aussprechen und an unsere Brust klopfen, erkennen wir ganz bewusst unser persönliches Schuldigsein an. Und aus diesem Grund hat Benedikt XVI. auch so lange mit der Vergebungsbitte gewartet. Denn er wollte unterstreichen, dass jeder Einzelne, der ein solches Verbrechen an Kindern begangen hat, persönlich die volle Verantwortung dafür trägt und dafür Rechenschaft ablegen muss. Es gab und gibt keine allgemeine Nachgiebigkeit oder Nachsichtigkeit in der Kirche, auf die sich der einzelne Sünder hinausreden könnte. Man darf auch nicht irgendeine Struktur wie den Zölibat für diese abgrundtiefen Vergehen verantwortlich machen. Gleichzeitig aber handelt es sich hierbei um eine echte Bitte um Vergebung, nämlich im stellvertretenden Sinn. Der Papst ist in seinem höchsten Hirten- und Priesteramt in realer Weise der Repräsentant der ganzen Kirche, der mit sakramentaler Gültigkeit stellvertretend für den ganzen geheimnisvollen Leib Christi, die Kirche, sprechen kann. Mit der Stimme des Papstes also bittet die ganze Kirche und zugleich jeder Einzelne die Opfer und alle Menschen „inständig um Vergebung“ dafür, dass durch Vertreter der Kirche im priesterlichen Dienst solche schrecklichen Taten verübt worden sind.

Glieder am geheimnisvollen Leib Christi

Für uns als gläubige Christen und lebendige Glieder der Kirche hat dieser priesterliche Akt des Papstes eine gewaltige Bedeutung. Niemand hat diesen Zusammenhang so klar zum Ausdruck gebracht, wie der heilige Paulus mit dem Wort: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“ (1 Kor 12,26). In der einen Kirche Christi bilden wir alle zusammen eine große Schicksalsgemeinschaft. Die Sünden des Missbrauchs lasten auf uns allen. Das Leiden der Opfer, denen im menschlichen Sinn nie volle Wiedergutmachung widerfahren kann, nehmen uns alle in die Verantwortung. Das Zeugnis für Christus, das durch diese Verbrechen entstellt und verdunkelt wird, ist uns allen aufgegeben. Welchen ungeheuren Dienst leistet der Papst mit einer solchen Vergebungsbitte an der ganzen Kirche! Mit einer Vollmacht, die durch nichts anderes ersetzt werden kann, führt er dadurch die Kirche in eine neue Freiheit. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes ein gnadenhafter Befreiungsschlag, der ganz verschiedene Dimensionen aufweist.

Einige sollen angedeutet werden. Zunächst geht es um die sündig gewordenen Priester. Da besteht einmal ihre Verantwortung den Opfern gegenüber. Wie viele Priester haben sich nicht um wirkliche Wiedergutmachung bemüht! Viele von ihnen haben sich bei ihren Opfern nie entschuldigt, nachdem sich diese im Erwachsenenalter über ihr Leben und die Folgen der Misshandlungen bewusst geworden sind. Die Priester sind zum Teil schon gestorben. Wer sonst könnte an ihrer Stelle die Bitte um Verzeihung aussprechen? So sehr man im politischen Bereich, in dem auch schon mehrfach offizielle Entschuldigungen durch Papst Benedikt XVI. erwartet worden waren, tatsächlich eine Zuständigkeit verneinen kann, so eindeutig steht sie für diese Fälle fest. Niemand anderer kann hier für die Priester und an ihrer Stelle einen solchen Akt vollziehen, welcher der Gerechtigkeit genüge tun würde, auch nicht Bischöfe oder Bischofskonferenzen.

In diesem Sinn geht es auch um die Seelen der verstorbenen Priester auf dem Weg der Reinigung. Was für ein Dienst der Liebe bedeutet es, diesen Seelen zu Hilfe zu kommen? Welche Befreiung und Erleichterung kann ihnen zuteil werden, wenn ihnen die Kirche durch die Bitte um Verzeihung vor aller Welt zu Hilfe kommt und sie in ihrem Gebundensein an das Schicksal ihrer Opfer löst?

Umgekehrt werden auch Belastungen von den Opfern hinweg genommen, die nicht nur psychologischer, sondern auch geistlicher Art sind. Gerade diese Hilfe kann den Weg für eine weitere und umfassende Heilung der Opfer frei machen.

In diesem Zusammenhang geht es schließlich um das Verhältnis der ganzen Kirche Gott gegenüber. Denn die Kirche teilt in gewisser Weise das Schicksal der vielen Priester, die sich vergangen haben und bisher Gott und die Kirche nicht in der gebotenen Weise um Verzeihung bitten konnten! Mit der Vergebungsbitte des Papstes springt die Kirche als ganze für diese Sünden in die Presche und wird gleichzeitig selbst von dieser Schuld entlastet.

Außerdem geht es um das Verhältnis der Kirche zur Welt. Solange die Bitte um Vergebung durch die betroffenen Priester nicht wirksam ausgesprochen ist, geben diese Sünden dem Fürsten dieser Welt die Macht und die Möglichkeit, als Ankläger gegen die Kirche aufzutreten. Durch die Vergebungsbitte des Papstes aber wird die Kirche vor den Angriffen beschützt, die von Seiten der Welt auf verschiedenste Art und Weise gegen die Kirche geführt werden und sie als Instrument des Heils für die Welt (sacramentum mundi) in ihrer Wirksamkeit einschränken.

Solidarität mit den Sündern

Papst Benedikt XVI. sprach die Vergebungsbitte in der Wir-Form aus. Dies ist kein „Pluralis Majestatis“, wie ihn die Päpste früher verwendet haben. Es ist auch nicht der Versuch des Papstes, sich bei dieser Bitte persönlich auszuschließen. Aber angesichts der gewaltigen Zahl der anwesenden Priester verdeutlicht der Papst mit diesem Wir, dass er tatsächlich die ganze Kirche in seinen versöhnenden Dienst einbeziehen möchte.

Wenn auch die Vergebungsbitte des Papstes von der Welt nicht in diesem sakramentalen Sinn verstanden wird, so spürt sie doch etwas vom Geheimnis seiner Vollmacht und von der Bedeutung seiner Stellvertretung. Diesen oft unbewussten Zugang vieler Menschen zum Nachfolger des hl. Petrus sollte die Kirche nicht abschlagen, sondern, wie es besonders durch das Pontifikat Johannes Pauls II. geschehen ist, nützen und verstärken. Und selbst wenn viele den Papst nur als Sprecher der Katholischen Kirche im weltlichen Sinn begreifen, wie etwa die Stimme des Präsidenten eines Landes oder einer Organisation, so brauchen wir dennoch nicht befürchten, dass der Papst mit seiner Vergebungsbitte Unschuldigen oder Unbeteiligten in ungerechtfertigter Weise eine Mithaftung auferlegt hat. Im Gegenteil, die Nachfolge Christi verlangt gerade eine bezeugte Solidarität mit den Sündern, da er, wie Paulus sagt, sich zu unserer Rettung selbst zum Sünder gemacht hat (vgl. 2 Kor 5,19-21).

Auf dieser Linie liegt auch das Prinzip, dass zur Bitte um Verzeihung der gute Vorsatz gehört. Und auch diesen Vorsatz hat Papst Benedikt XVI. in aller Ausführlichkeit mit seiner Vergebungsbitte verknüpft. Besser hätte er die unmittelbare Verantwortung der Gesamtkirche für die Missbrauchsfälle gar nicht zum Ausdruck bringen können.

Im Hintergrund aber schwingt bei Benedikt XVI. immer auch die Hirtensorge für die Priester mit, die sich versündigt haben und nun den Frieden mit Gott und der Kirche suchen. Bei aller Null-Toleranz und strengen Aufforderung zur Umkehr schenkt er auch ihnen in geradezu vorbildlicher Weise Gehör. Er spricht sich eindeutig für die Verantwortung der Schuldigen vor den weltlichen Gerichten aus. Aber dies darf nicht dazu führen, dass Bischöfe ihre Priester fallen lassen, ihnen das Gespräch verweigern und sie in die Verzweiflung treiben, nur weil sie jeden Verdacht von sich selbst ablenken wollen.

Mit der Vergebungsbitte hat sich Papst Benedikt XVI. als der wahre gute Hirte erwiesen.

„Kirchenvater der Neuzeit“

Der Papst, der seine Hand zur Versöhnung mit den Anglikanern ausgestreckt hat, wird am 19. September 2010 den Konvertiten John Henry Newman in der Erzdiözese Birmingham selig sprechen. Seit jeher verehrt Benedikt XVI. Kardinal Newman als gewissenhaften Sucher nach der Wahrheit und vorbildlichen Denker. Ein idealerer Zeitpunkt für die neue Bearbeitung und Herausgabe der Rechtfertigungsschrift Newmans ist kaum denkbar.

Die Apologia ist zweifellos einer der größten literarischen und spirituellen Klassiker. Der Autor berichtet über die Geschichte seiner Konversion, angefangen von den Erfahrungen in seiner Kindheit, bis er schließlich – nach Jahren des Studiums und der Abwägung – mit Überzeugung der römisch-katholischen Kirche beitrat. Als anglikanischer Theologe an der Universität von Oxford kämpfte er zunächst gegen den beginnenden Liberalismus in seiner Kirche. Durch sein Studium der Kirchenväter beginnt John Henry Newman, sich mit den Grundprinzipien des Glaubens zu beschäftigen. Er veröffentlichte Traktate, um den konservativen anglikanischen Glauben zu begründen, wurde aber deshalb von den Bischöfen stark angegriffen. Als Folge gab er sämtliche Ämter auf und zog sich nach Littlemore zurück.

In einem langen und tiefgründigen Denkprozess erkennt John Henry Newman, dass nur die römisch-katholische Kirche mit den Entwicklungen der Glaubenslehre auf der Lehre der Urkirche basiert. Dies war der Beginn seiner Hinwendung zum katholischen Glauben. Er berichtet in einer dokumentarischen Darstellung von der ganzen Tragik seines Übertritts. Mit akribischer Sorgfalt lässt der Verfasser die Quellen sprechen. Dieses Werk lässt John Henry Newman als sensiblen und zurückhaltenden Menschen und großen Denker erkennen.

Mit einem Beitrag von Joseph Kardinal Ratzinger/Papst Benedikt XVI. und einer Einleitung des Vorsitzenden der Deutschen Newman Gesellschaft e.V., Herrn Prof. Dr. Roman A. Siebenrock, Institut für Systematische Theologie an der Universität Innsbruck. Die ursprüngliche Übersetzung von Maria Knoepfler aus dem Jahr 1920/21 wurde von Gisela Geirhos dem heutigen Sprachgebrauch angepasst.

John Henry Kardinal Newman: Apologia Pro Vita Sua. Geschichte meiner religiösen Überzeugungen, gebunden, 448 S., ISBN: 978-3-9811452-9-8, Euro 24,90 – Zu bestellen direkt unter Tel. 07303-952331-0, Fax: 07303-952331-5, E-Mail: buch@media-maria.de – Homepage: www.media-maria.de

 

„Stärke deine Brüder!“

Pfarrer Thomas Maria Rimmel, der Direktor der Gebetsstätte Wigratzbad, kehrte mit großer Dankbarkeit von den Abschlussfeierlichkeiten des Priesterjahres in Rom zurück. Das Römische Pilgerbüro überreichte allen Priestern eine Broschüre mit dem Wort des hl. Augustinus: „Die Welt ist ein Buch und wer nicht reist, kennt nur eine Seite.“ Die Begegnung mit Priestern aus der ganzen Welt gewährte ihm einen tiefen Einblick in das Buch des Lebens, vor allem aber mit Papst Benedikt XVI. selbst, der den Auftrag Jesu an Petrus: „Dann stärke deine Brüder!“ auf unnachahmliche Weise erfüllte.

Von Thomas Maria Rimmel

Zwei Wochen vor dem Abschluss des Priesterjahres machte ich mich zu Fuß auf den Weg nach Rom. Ich wählte den sog. Frankenweg und begann einige hundert Kilometer nördlich der Ewigen Stadt. Ganz allein unterwegs stimmte ich mich geistlich auf die bevorstehenden Ereignisse ein. Gerade diese Erfahrung ließ mich die Begegnung mit Tausenden von Priestern aus der ganzen Welt noch tiefer erleben. Selbst wenn wir im täglichen Geschehen unserer pastoralen Arbeit oft das Empfinden haben, allein dazustehen, so sind wir doch eingebunden in eine großartige weltweite Gemeinschaft. Die Abschlussfeiern in Rom haben mich ungemein berührt. Den stärksten Eindruck aber hatte ich, als bei der Vigil auf dem Petersplatz über 10.000 Priester gemeinsam auf die Knie gingen und schweigend vor dem Herrn im Allerheiligsten verharrten.

Der andere Höhepunkt bestand im Hinhören auf den Nachfolger des hl. Petrus. Wieder war es die Vigil, die mich am meisten bewegte. Fünf Fragen aus der ganzen Welt wurden ausgewählt und dem Heiligen Vater zur Beantwortung vorgetragen. Benedikt XVI. erfüllte diese Aufgabe auf eine so souveräne und frische, manchmal geradezu humorvolle Art, dass sich eine wunderbare Atmosphäre unter den Priestern breitmachte: Es herrschten eine große Aufmerksamkeit und so etwas wie eine geistliche Heiterkeit. Gleichzeitig erlebten wir ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl und vor allem eine Stärkung in der priesterlichen Berufung.

Diese Augenblicke erinnerten mich an ein prophetisches Wort, das ich vor kurzem in einem Buch von Slawomir Oder,[1] des Postulators für den Seligsprechungsprozess Johannes Pauls II., entdeckt hatte.  Dort wird die bekannte Begegnung Pater Pios von Pietrelcina mit dem späteren Papst aus Polen beschrieben, jedoch mit einem zusätzlichen Detail, das bislang nicht an die Öffentlichkeit gelangt war. Der Text lautet in deutscher Übersetzung: „Aber schon vorher, als der junge Priester Wojtyla nach San Giovanni Rotondo kam, um ihn zu treffen, legte Pater Pio ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag: als er nach der Beichte in seine Zelle hinaufging, wandte er sich um, zwinkerte einem seiner geistlichen Söhne, einem Seminaristen, zu und wies ihn mit einer Kopfbewegung auf jenen ausländischen Priester hin. Einige Zeit später sprach er über die Zukunft der Kirche und beschrieb demselben Seminaristen einen polnischen Papst, der ‚ein großer Menschenfischer‘ sein würde, dem wiederum ein Papst folge, ‚der im großen Umfang die Brüder stärken würde‘ (und der mit dem gegenwärtigen Benedikt XVI. zu identifizieren ist)“ (S. 168).

Wie sehr bewahrheiten sich heute diese Worte. Treffender lässt sich die Bedeutung des gegenwärtigen Pontifikats kaum beschreiben. Auf diesem Weg der „Stärkung im Glauben“ wird das Priesterjahr mit seinem feierlichen Abschluss als Meilenstein in die Geschichte eingehen.


[1] Slawomir Oder/Saverio Gaeta: Perchè è Santo. Il vero Giovanni Paolo II raccontato dal postulatore della causa di beatificazione, Milano 2010. Das Buch ist innerhalb von zwei Monaten schon in 4. Auflage erschienen.

Fatima hat sich selbst durchgesetzt

„Fatima hat sich selbst durchgesetzt, nicht wir haben es getan“, so nannte der bekannte Dogmatik-Professor Dr. Anton Ziegenaus ein Referat, das er am 15. Mai 2010 im Rahmen eines Fatima-Kongresses an der Gebetsstätte Wigratzbad gehalten hat. Im Titel deutet er bereits die spannende Geschichte an, die sich mit dem inner- und außerkirchlichen Ringen um die Marienerscheinungen in Fatima verbindet. Prof. Ziegenaus greift auf Quellen zurück, die bislang wenig in die Literatur über Fatima Eingang gefunden haben. Umso wertvoller ist seine Pionierarbeit, die mit ihren neuen Informationen die Ereignisse von Fatima tiefer verstehen lässt. Eine besondere Aktualität besitzt der Artikel auf dem Hintergrund der jüngsten Pilgerreise Benedikts XVI. nach Fatima zum 13. Mai 2010, die sich in eine beachtliche Tradition der letzten Pontifikate einreiht. Über eine halbe Million Gläubige legte mit ihrer begeisterten Teilnahme ein Zeugnis für die Lebendigkeit des Geistes von Fatima ab.

Von Anton Ziegenaus

Die Formulierung des Titels wurde angeregt von Kardinal Cerejeira, Patriarch von Lissabon, der gesagt hat: „Nicht die Kirche hat Fatima in der Welt durchgesetzt, sondern es ist Fatima selbst, das sich der Welt eingeprägt hat.“ Dieses Urteil gibt uns die Gliederungspunkte meines Referats zur Hand. Ich werde sprechen über:

1. die Prüfung der Behauptungen der Liberalen und Freimaurer, Fatima beruhe auf einem raffinierten Schwindel der Kleriker, vor allem der Jesuiten; 2. der erbitterte, aber ergebnislose Kampf der Gegner einer übernatürlichen Erscheinung; 3. die erstaunliche Selbstdurchsetzung der Erscheinung.

In meinem Referat halte ich mich weniger an die sog. Memorias, d.h. an die von Lucia ab 1935 niedergeschriebenen Erinnerungen an die Ereignisse des Jahres 1917 und an ihre Mitseher Francisco und Jacinta – die Erinnerungen wurden auf Deutsch bekannt unter dem Titel: „Schwester Lucia spricht über Fatima“ –, sondern vor allem an die vom Heiligtum in Fatima herausgegebene Documentaçáo Crítica. Acht Bände dieser kritischen Dokumentation sind bisher erschienen. In ihr sind zusammengefasst die vielen ablehnenden oder zustimmenden Presseberichte sowie viele Briefe von Einzelpersonen zu „Fatima“; die Aussagen der Seherkinder und ihrer Verwandten z.T. schon aus den ersten Erscheinungsmonaten; wir erfahren darin von den politischen Aktionen und von den Argumentationen der Gegner der Echtheit, von der offiziellen Anerkennung durch den Bischof von Leiria und vom Leiden und Sterben Jacintas und Franciscos und von den Planungen des Bischofs, der erst allmählich Gottesdienste am Erscheinungsort erlaubte. In dieser Dokumentation können wir nachlesen die Zeugenaussagen, die verschiedenen Berichte über das Sonnenwunder und über die anwachsende Wallfahrtsbewegung und die Heilungen von Kranken.[1] Auf diese Dokumentation soll nun zurückgegriffen werden.

1. Die Gegner: Fatima ist ein klerikaler Betrug

Bevor nun die Argumente der Gegner der Echtheit der übernatürlichen Erscheinung eingegangen werden kann, soll kurz die politische Entwicklung Portugals zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschildert werden.

Nach der Abschaffung der Monarchie im Jahr 1910 wurde in Portugal 1911 die strikte Trennung von Staat und Kirche durchgeführt. Diese Trennung besagte mehr als die Neutralität des Staates in religiösen Fragen, sie intendierte eine Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben – wie die Durchführung von Prozessionen und religiösen Veranstaltungen außerhalb des Kirchengebäudes. Die Republikaner vertraten einen Liberalismus in der Form des Freidenkertums und Freimaurertums. Ein Freidenker ist jemand, der ohne Bindung an eine (meist kirchliche) Autorität nur das rational Einsichtige gelten lässt.

Unter dieser Voraussetzung musste natürlich alles rational Nicht-Einsichtige – wie das Übernatürliche, das Geheimnis, Erscheinungen und Wunder, vor allem das Sonnenwunder vom 13. Oktober 1917 – als Provokation angesehen werden. Der Freidenker konnte nicht verstehen, dass ein vernünftiger Mensch so etwas wie eine eiernde, sich auf die Erde zubewegende Sonne annehmen kann. Wer aber daran glaubte, musste entweder dumm sein – man hielt deshalb die Katholiken für unaufgeklärt und ungebildet – oder, falls er intelligent war, für unehrlich. So erklärten die Gegner die comedia de Fátima für eine burla reaccionaria, einen Schwindel der Rückständigen, des Klerus, der Jesuiten. „Auf, ihr Liberalen, weg mit den Jesuiten, nieder mit den Komödien von Fatima.“ Voll Gehässigkeit und Spott auf die beiden Seherkinder sem educaçáo nem inteligencia tipos boçais (ohne Erziehung, ohne Intelligenz, dumme Typen) fragt dann die Verfasserin eines Zeitungsartikels, ob denn die Sonne ihren kosmischen Platz verlassen habe.[2] Dieselbe Verfasserin verhöhnt dann den Rosenkranz. Unter diesem Vorverständnis wird dann von diesen Aufklärungsideologen die Meinung vertreten, es sei besser, Schulen zu bauen als Kapellen.

Was hat aber nach der Meinung dieser Freidenker den Klerus angetrieben, diese Komödie von Fatima zu inszenieren? Politisch warf man ihnen vor, die Monarchie wieder einführen zu wollen. Es wäre uma especulaçáo politica. Machtgier und vielleicht auch Geldgier hätten als persönlichen Motive hinter dem klerikalen Betrug gestanden, uma especulaçáo clerical.

Ihre engstirnige Sicht verwehrte den Freidenkern einen Zugang zum Glauben, zur Übernatur und zum Geheimnis. In ihrem rationalistischen Dünkel haben sie sich nicht an den Erscheinungsort am 13. Oktober 1917 begeben, wie so viele andere – die Schätzung liegt bei 50-70.000 – und haben deshalb auch das die Anwesenden beeindruckende Sonnenwunder nicht erlebt.

2. Der erbitterte, aber ergebnislos Kampf

Das Volk spürte die Unrichtigkeit des Vorwurfs, die Erscheinung wäre auf klerikale Machenschaften zurückzuführen. Dazu ergeben die Bände der Dokumentation wichtige Aufschlüsse.

Einmal fällt auf, dass sich die Priester anfänglich sehr distanziert oder gleichgültig gegenüber der Behauptung einer angeblichen Erscheinung[3] verhalten haben. Wer die Echtheit der Erscheinung mit dem Hinweis auf das Sonnenwunder begründete, wurde an die Worte Jesu über die Wundersucht erinnert. Ein Abt beglückwünschte eine katholische Zeitung zu ihrer ablehnenden Haltung, weil sie die gute Lehre verteidigte. Der Pfarrer von Fatima fühlte sich nach der Gefangennahme der Kinder im August zur Klarstellung gegenüber dem Vorwurf gezwungen, er stehe im Komplott mit dem Administrator und verteidigte sein Fernbleiben vom Erscheinungsort an jedem Dreizehnten des Monats. Die Priester, die die Kinder aufsuchten, waren von ihnen meistens gefürchtet. Wie sollten sie ihnen die Erscheinung suggeriert haben? Diese Distanziertheit ist kein Ruhmesblatt für den Klerus. Das Volk beklagt sich, alleingelassen zu werden. Der Klerus wurde in Wirklichkeit vom Volk mitgezogen. Jedoch wurde dadurch dem Vorwurf des Priesterbetrugs, der von den Liberalen und Freimaurern später erhoben wurde, der Boden entzogen.

Zudem muss man bedenken, dass die Leitung der Kirche auf Bischofsebene zu stark eingeschränkt war, um eine solche behauptete Inszenierung veranstalten zu können.[4] Fatima gehörte zur Diözese Lissabon, dessen eigentliches Haupt, der Patriarch – Kardinal v. Lissabon, D. António Mendes Belo –, in der Verbannung war. Leiria wurde erst im Januar 1918 von Benedikt XV. zur Diözese erhoben und erst 1920 wurde José Alves Correia da Silvo zum Bischof von Leiria ernannt; dieser erwies sich als Glücksfall für die Diözese und für „Fatima“, hielt sich aber anfänglich zurück. Er erlaubte 1921 die erste Hl. Messe auf der Cova da Iria und ermöglichte eine umfassende Seelsorge für die Pilger. Da andere portugiesische Bischöfe skeptisch waren,[5] stimmte er sie zu einer positiveren Einstellung um. Diese Entwicklung belegt, dass keineswegs vom portugiesischen Episkopat eine „Initiierung“ der Erscheinung ausgehen konnte.

Auf weitere Vorwürfe der Gegner geht Bischof José Alves da Silva in dem Hirtenbrief vom 13. Okt. 1930 ein, in dem er das Ergebnis der von ihm eingesetzten Untersuchungskommission bekannt gab:[6] Was den spöttischen Hinweis auf die ungebildeten Kinder betrifft, erinnert der Bischof an 1 Kor 1,26ff und an die Apostel, die einfache Fischer waren: Gott erwählt das, was in den Augen der Welt wenig zählt. Im Übrigen hätten die Kinder, voneinander getrennt, ohne Widersprüche und klar auf die Fragen geantwortet. Auch wären die Kinder nicht an Gaben und Geschenke interessiert gewesen.

Schon in seinem Schreiben vom 3. Mai 1922[7] anlässlich der Einsetzung der Untersuchungskommission geht der Bischof gleich am Anfang auf ein anderes Problem ein, das der Wunder. Hier ist vor allem das Wunder – o milagre – gemeint, das Sonnenwunder, aber auch die Heilungswunder sind eingeschlossen. Der Bischof vermeidet aber die dann in der Presse intensiv geführte Diskussion über Einzelheiten und stellt fest: Das Wunder besagt, dass der „Finger Gottes“ da ist, Gott in seiner Allmacht und Weisheit, der die Naturgesetze nicht zerstört. Ein Wunder ist ein außergewöhnliches übernatürliches Phänomen.

Die Wunderfrage wurde oft diskutiert, und sogar in den Tageszeitungen. Einmal die Frage, ob sich dann astronomisch etwas an der Sonne geändert habe. Wenn dies verneint werden kann, wird eine Massenpsychose vermutet. Aber wie soll die bei ca. 50.000 bewerkstelligt werden, zumal einige nichts gesehen haben. Auch die Bedeutung und die Wirkung des Wunders auf den Glauben werden besprochen. Ist es ein Glaubensbeweis, ein Zwang zum Glauben, ein Sichaufzwängen der Übernatur? Als interessantes Beispiel wird die folgende Überlegung angeführt, die in der Zeitung O Almonda vorgetragen wurde:[8] Der Verfasser lehnt die Meinung ab, Fatima und seine Wunder (vor allem das Sonnenwunder) seien nur eine Erfindung der Katholiken, der Jesuiten, um zu erforschen, wie weit man den Aberglauben im Volk treiben kann. Die Kirche habe die Bewegung nicht angestoßen. Im Übrigen müsse man an „Fatima“ genauso wenig glauben wie an Lourdes. Mit Wundern, so fährt der Verfasser fort, könne man die strittige Frage der Echtheit auch nicht klären. Dazu verweist er auf den Protestanten und mehrmaligen französischen Ministerpräsidenten Freycinet, der selbst ungläubig war. Dieser setzte seinem Freund Lasserre, der gläubig und katholisch, aber blind war, zu, mit Lourdes-Wasser die Augen zu waschen. Jener lehnte das aber ab, weil er fürchtete, im Falle der Heilung sein Leben ändern zu müssen. Schließlich rieb er doch die Augen mit diesem Wasser ab und schlagartig, ohne Übergänge wurde er sehend. Seine Bücher darüber wurden ein Riesenerfolg. Freycinet wurde 95 Jahre alt und bekehrte sich trotz dieser Erfahrung nicht: „Das Wunder bekehrt niemand“, so schloss der Verfasser, der auf ein ähnliches Verhalten von E. Zola verwies. Zola verschwieg in seinem Lourdes-Buch selbst erlebte Wunderberichte bzw. stellte sie wieder besseren Wissens falsch dar. Sicher hat der Verfasser darin recht, dass ein Wunder nicht den Glauben erzwingen kann, da dieser letztlich ein Geschenk Gottes, also Gnade ist, doch übersieht er bei seinen Überlegungen, dass der Glaube durch rationale Argumente gestärkt werden kann – wie es bei den Anhängern der Echtheit der Erscheinungen der Fall war – und auch die Freidenker durch die Wunder verunsichert wurden.

Trotz dieser versöhnenden Gedanken waren beide Positionen von ihren Denkansätzen her faktisch unversöhnlich. Die Freidenker einerseits ließen in ihrem aufklärerischen Rationalismus keine übernatürlich verursachten Phänomene zu, sie verstanden das Sonnenwunder nur im astronomisch-physikalischen Sinn und unterstellten den katholischen Strategen die unredliche Absicht, nur zu erforschen, wie weit das ungebildete Volk in seinem Aberglauben mitgehen würde. So schrieb José Lopes dos Santos im Der freie Gedanke gegen die Reaktionäre und Jesuiten:[9] „Nein, nicht gegen die Glaubensüberzeugungen des guten Volkes stehen wir auf, sondern gegen die unverschämte Propagierung von Wundern, die im Licht der Wissenschaft unmöglich sind, wie das vermeintliche Wunder von Fatima, diese grandiose jesuitische Farce, wo das Volk in schändlicher Weise seines Vermögens beraubt wird, in seinem Glauben, der über alle Maßen Respekt verdient seitens der Freidenker. … Vereinigen sich die Reaktionäre zum Kampf gegen den Fortschritt? … Also, Liberale, wacht auf.“ Lopes ruft dann zum Kampf für Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit des Denkens auf. Ein Flyer „Wach auf! Liberales Volk“[10] einer antiklerikalen Gruppierung ruft in gleichem Sinn zum Kampf der Liebe gegen den Hass, des Guten gegen das Böse auf: „Machen wir also mit der Wissenschaft unsere Religion und die wissenschaftliche Religion ist die Freiheit des Denkens.“ – „Vom Sieg des Fortschritts, von der Wissenschaft, von der Freiheit, vom Freien Denken wird das menschliche Glück kommen, die Freude, die Liebe, die Brüderlichkeit.“

Wie reagierte nun die katholische Seite, die der Anhänger der Echtheit der Erscheinungen? Zunächst bemühte man sich, voreilige, unsichere Wundermeldungen zu vermeiden. Solche Heilungen sollten von Ärzten geprüft und bestätigt werden.[11]

Besonders heiß wurde das so genannte Sonnenwunder diskutiert. Zu beachten ist, dass man 1917 schon fotografieren konnte und deshalb einige Fotografien existieren, zwar nicht von der Sonne selbst, aber von den Reaktionen der Anwesenden: manche schauen zum Fotografen hin, auf einem Bild schaut die Gruppe zum Himmel; ein Teil blickt kniend, ein anderer stehend zum Himmel, andere halten die Hände über die Augen.[12] Unbestreitbar ist der starke Eindruck dieses Phänomens auf die Anwesenden. Wie ist es zu verstehen? Die Freidenker verstanden das Phänomen als physikalisch-astronomisches Geschehen und lehnten es daher ab, es sei eine katholische Konkurrenzveranstaltung zur Belebung der im Aussterben begriffenen Religion. Ferner wurde festgestellt, dass die Astronomie mit ihren wissenschaftlichen Geräten nichts von der „tanzenden Sonne“ registriert hat und auch in der Umgebung (von Fatima) stellte man nichts von dem fest,[13] was 50.000 Menschen gesehen haben. Der Astronom Fr. Oom[14] erklärt, dass die Apparate es anzeigen müssten, wenn es ein kosmisches Phänomen gewesen wäre. Der Astronom hält die Wahrnehmung eine sugestáo coletiva, eine Massensuggestion. Aber gerade die Fotos (mit den verschiedenen Reaktionen der Anwesenden) lassen an dieser Erklärung zweifeln. Eigentlich müsste im Falle der Massensuggestion jemand, der das Auge schließt, auch noch beeinflusst werden. Das Sonnenwunder entfaltete seine Breitenwirkung weniger durch die Medien, die sich meistens darüber lustig machten, sondern durch privates mündliches oder briefliches Zeugnis der 50-70.000 Anwesenden. Die Freidenker erwarteten nun angesichts der klugen Zurückhaltung (prudente reserva) seitens der einsichtigeren Katholiken (os entenditos) eine Erklärung der Sonnenphänomene.[15] Aber kann man „Übernatürliches“ erklären?

Die Wallfahrten an die Cova da Iria waren die sichtbaren Erinnerungen an die Erscheinung: sie fanden am 13. des Monats statt; vor allem der 13. Mai und der 13. Oktober waren beliebte Wallfahrtstage. Es nahmen immer Zehntausende teil. Man muss den Opfermut der Wallfahrer würdigen: verkehrsmäßig war die Gegend wenig erschlossen (Straßenzustand, Ess- u. Übernachtungsmöglichkeit!), die meisten brachen nachts zu einem stundenlangen Weg auf und kehrten am selben Tag heim. Oft bei starkem Regen! Oder man übernachtete in Fatima im Freien oder in der Kirche. Auf dem Weg wurde gebetet und gesungen. Die Pilger nahmen in Leiria (Problem: eucharistische Nüchternheit!) oder in Fatima an der Hl. Messe teil und empfingen die heilige Kommunion. Damals hat man in der Regel vor dem Kommunionempfang gebeichtet. Den Schilderungen gemäß waren die nächtliche und frühmorgendliche Wanderung, die Gastfreundschaft der besuchten Ortschaften und der geistliche Rahmen ein eindrucksvolles Erlebnis. Die Wallfahrten und die großen Zusammenkünfte in Fatima ließen ein katholisches Wir-Bewusstsein reifen und stärkten Mut und Selbstvertrauen der Gläubigen.

Die Beliebtheit der Wallfahrten beim Volk empfanden die Freidenker als Niederlage. Überzeugt, dass einerseits ein geheimnishaftes Eingreifen Gottes nicht stattfindet und dass grundsätzlich alle Phänomene wissenschaftlich erklärt werden können und andererseits das dumme Volk nur vom Klerus verführt wird, griffen die Liberalen, die Freidenker zur Gewalt. Die Freiheit des Denkens galt eben nicht für die Katholiken!

Das gewalttätige Verhalten der Freidenker gehört zu ihren Schandtaten. Ihr Hass gegen die Kirche war stärker als die Treue zu ihren liberalen Grundsätzen: Es zeigt sich schon um den 13. August 1917, als der Administrator die Kinder – z.T. noch unter zehn Jahren – von ihren Eltern entfernte und einsperrte, um ihnen die Preisgabe der Geheimnisse und das Versprechen, nicht mehr in die Cova da Iria zu gehen, abzupressen.[16] Man drohte den Kindern, sie in einem Kessel mit heißem Öl zu braten. „Sie riefen dann Jacinta mit den Worten, sie sei die erste, um verbrannt zu werden. … Sie riefen dann Francisco und sagten ihm, dass Jacinta schon verbrannt werde und er das gleiche Schicksal erleiden werde, wenn er das Geheimnis nicht preisgebe. Dann war ich (= Lucia) an der Reihe; sie sagten, dass meine Cousinen schon verbrannt werden und ich dasselbe Schicksal erleiden werde.“ Die Kinder blieben standhaft. Sie hatten nicht einmal Angst. Francisco sagte: „Wenn sie uns wirklich umbringen, sind wir bald im Himmel.“ Er betet, dass Jacinta keine Angst bekomme. Am Mut der Kinder, der letztlich übernatürlich bewirkt wurde, scheiterte der Administrator. Eine weitere Gewalttat war der Dynamitanschlag auf die Kapelle: Kann man sich damit Achtung und Respekt verschaffen? Eine Sühnewallfahrt für diese Untat wurde am 13. Mai 1922 durchgeführt und fand mit 40-50.000 Teilnehmern besondere Aufmerksamkeit.

Die Behörden ließen zwar unter Berufung auf das Gesetz der Trennung von Staat und Kirche (also keine öffentlichen kirchlichen Veranstaltungen!) solche Versammlungen verbieten und ließen zur Durchsetzung die Nationalgarde aufmarschieren. Aber diese Strategie erwies sich bei näherer Betrachtung in vielerlei Hinsicht als totaler Fehlschlag. Einmal blieb es wirkungslos, weil die Pilger querfeldein zum Erscheinungsplatz gingen und dagegen die Garde machtlos war. Ferner wurde die Anordnung des Ministeriums z.T. von der unteren Behörde in Anbetracht der großen Pilgerschar nicht befolgt; z.T. wurde vom Ministerpräsidenten ein solches Verbot (aus Angst) geleugnet. Die Soldaten waren insofern hilflos, weil die Pilger große Disziplin wahrten und man nicht auf Betende schießen kann. Was sollte also die Nationalgarde tun? Zudem muss man bedenken, dass die Soldaten nicht allesamt freidenkerische Ideologen, sondern Leute aus dem Volk waren. So kam es vor, dass sie auf dem Weg zum Einsatz in Fatima Pilger in ihren Militärautos mitnahmen. Dieses Verhalten führte zu Interventionen bis ins Parlament mit der z.T. erbärmlichen Frage, wer denn das Benzin dafür zahle. Ferner wurde breit das Verhalten eines Lehrers angeprangert, der anlässlich einer Wallfahrt die Schule zusperrte. Antwort des Lehrers: die Kinder gingen mit ihren Eltern nach Fatima und kamen deshalb nicht in die Schule. Dabei zeigte sich, dass man Lehrer auch angriff, weil sie in der Kirche Mesner waren. Die Katholiken nahmen schließlich das Erscheinen der Nationalgarde mit Humor und erklärten sie ironisch zur Ehrengarde. Es wurde immer mehr bewusst, dass die Regierung Angst hat, bei den Katholiken erwachte das Selbstbewusstsein und unter Berufung auf ihre konstitutionellen Rechte forderten sie immer mehr die Anerkennung ihrer Freiheitsrechte. Die Presse stellte sich immer mehr auf die Seite der Katholiken.[17] Von ihnen wird auffällig oft betont, dass die Wallfahrt aus allen Schichten und Altersgruppen des Volkes stammten, auch aus Akademikerkreisen (also nicht ausschließlich dumme Katholiken sind!). Allmählich waren die Freidenker in der Defensive und mussten ihre Illiberalität verteidigen. Gewalt ist psychologisch betrachtet oft ein Zeichen für Angst und Unsicherheit und für das Fehlen rationaler Argumente. Der Vorwand für die Garde, sie müsse für Ordnung sorgen,[18] erwies sich angesichts der großen Disziplin der Katholiken als lächerlich.

3. Fatima hat sich selbst durchgesetzt

Die These „Fatima hat sich selbst durchgesetzt“ will keineswegs den hohen Mut und die Einsatzbereitschaft der portugiesischen Katholiken noch das Geschick und die vorsichtig ruhige Taktik des Bischofs D. José Alves Correia da Silva und Dr. Formigáos, des Vorsitzenden der Untersuchungskommission, und anderer schmälern, sondern nur zeigen, dass Fatima sich dem Wirken übernatürlicher Kräfte verdankt. Standen 1917 Mut und Selbstvertrauen auf der Seite der Freidenker und der Freimaurer und waren die Katholiken eher schüchtern und ängstlich, kam es im Laufe der Jahre zu einem Umschwung. Äußerlich dürfte die Wende mit der Sühnewallfahrt am 13. Mai 1922 (eigentlich ein recht früher Zeitpunkt) eingetreten sein. Die Katholiken fassten Mut und Selbstvertrauen, forderten ihre verfassungsmäßigen Rechte ein und zwangen die herrschenden Gegner in die Defensive.

Wer bewirkte diesen Umschwung? Die Gegner sagten: der Klerus mit seinem volksverdummenden Einfluss und die Jesuiten. Aber, wie schon gezeigt wurde, der Kardinal-Patriarch von Lissabon war im Exil, Leiria wurde erst später eine eigene Diözese, der Klerus war hinsichtlich der Erscheinung skeptisch oder gleichgültig. Es fehlten die kirchlichen Führungskräfte und die Stimmung war defaitistisch (verzagt).

Den Anfang des Umschwungs bildeten die Erscheinungen im Jahre 1917 mit ihrem Höhepunkt am 13. Oktober. Die Ankündigung eines besonderen Zeichens für diesen Tag lockte eine große Menschenmenge an, das Sonnenwunder bestätigte die Vorhersage und zeugte von der Echtheit der Erscheinung.[19] In den folgenden Jahren wurde die himmlische Hand durch die häufigen Wunderheilungen erkennbar.

Die stärkende Gegenwart des Himmels zeigte sich ferner an dem erstaunlichen, geradezu übermenschlichen Mut der Kinder, die um den 13. August eingesperrt wurden. Aber auch die Wallfahrer ließen sich von der aufmarschierten Nationalgarde nicht beeindrucken. Irdische Macht erwies sich nicht nur als ohnmächtig, sondern wirkte kontraproduktiv: So sprach A Eposa nach dem Dynamitanschlag auf die Kapelle vom „Land der Bomben“. In 1 Kor 1,26-31 erinnert Paulus an das Auswahlkriterium Gottes (wenn es darauf hinweist, dass in der Gemeinde v. Korinth nicht viele Weise, Hochgeborene und Mächtige sind, sondern Gott Törichte, Niedrige und Schwache beruft). Der Bischof weist in seinem Hirtenbrief zur Anerkennung der Echtheit auf diese Schriftstelle hin.[20] Die Gegner der Echtheit, die sich weise dünkenden Freidenker, haben hochmütig auf die Katholiken wegen ihrer Einfalt und auf die Seher wegen ihrer Kindheit, mangelnder Schulbildung und einfacher Herkunft (Lucias Vater: ein Trinker)[21] von oben herabgesehen. Aber der Mut dieser einfachen Leute zeigt sich dem Selbstdünkel überlegen. Das Auswahlprinzip Gottes bestätigt sich auch in Fatima.

Gerade die Schlichtheit der Kinder, die ohne große Wortkunst immer wieder, bei allen Nachfragen und Fangfragen, ohne Widerspruch den gleichen Bericht gaben, hob ihre Glaubwürdigkeit bei den Leuten. Bei den Kindern, gerade bei den früh verstorbenen Francisco und Jacinta, wird auch ihre evangeliumsgemäße Opfer- und Leidensbereitschaft hervorgehoben.

Der Mensageiro (D 1) bringt einen ausführlichen Bericht über die Wallfahrt vom 13. Mai 1923. Es war eine imposante manifestaçáo de fe (eindrucksvolle Glaubenskundgebung). Der Verfasser schätzt auf 80-100.000 Anwesende; die Garde ist hoch zu Ross anwesend, aber die Truppe wurde später zurückgezogen. Viele Fahnen verlebendigen das Bild. Die Hl. Messe wird gefeiert, nachher eine Predigt gehalten. Viele gehen, da sie nicht nahe genug ans Predigerpult herankommen. Der Rosenkranz wird gebetet. Im Hinblick auf die Garde heißt es: „In Fatima gibt es das nicht. Die Waffen derer, die dorthin gehen, sind der Rosenkranz und das Kreuz.“ Die Pilger stehen ruhig zusammen oder beten. Noch am Nachmittag wird gebetet; „wir gingen vom Platz in Verwunderung und Überraschung, wie eine so große Menge dort zusammenkommen kann, ohne dass sie eine geheime Macht gerufen hätte“.

In A Epoca[22] wird das Verhalten der Regierung bezüglich Santa Joanas (eine widerrechtlich enteignete Kirche, deren sakrale Gegenstände versteigert wurden) und des Wallfahrtsverbots kritisiert, vor allem aber die lange Passivität der Katholiken, die verschiedene antiklerikale Aktionen und die Verbannung des Kardinal-Patriarchen widerstandslos über sich ergehen ließen. Das Urteil mag zutreffen und zeigt die aufrüttelnde Wirkung der Erscheinung. Dieselbe Zeitung nennt das Verbot illegal und die Prozession vom 13.10.1924 großartig und bewegend. Die Truppen hätten erkannt, dass man gegen Betende nicht mit Gewalt vorgehen kann. Die Kundgebung sei eine „friedfertige, aber unwiderstehliche Macht“ gewesen (força pacifica, mas irresistivel). Dieselbe Zeitung[23] bietet Impressionen über die Wallfahrt: zuerst wird die strenge Sanktion durch die Streitkräfte mitgeteilt, dann der Ablauf. Das unisono gesprochene Glaubensbekenntnis und die Wandlungsstille haben den Verfasser besonders beeindruckt. Nach dem Urteil eines Teilnehmers ereignete sich „die Auferstehung des Glaubens des portugiesischen Volkes“. Der Verfasser schließt dann mit dem Wort Giovanni Papinis: „Die Welt von heute verlangt mehr nach Frieden als nach Freiheit und einen festen Frieden gibt es nur unter dem Joch Christi.“

Vom „Krieg gegen die Katholiken“ ist in den Dokumenten die Rede. Aber in diesem Krieg würden die Katholiken immer stärker, erkämpften sich ihre staatsbürgerlichen Rechte. Die Initiative zur „Auferstehung des Glaubens“ im portugiesischen Volk ging von der Erscheinung aus, gegen deren Strategie es die Gegner immer schwerer hatten. Die Katholiken sahen immer mehr ihre Zusammengehörigkeit und erwachten zu neuem Selbstbewusstsein. Die Teilnehmer der Wallfahrt nach Fatima erfuhren beim gemeinsamen Pilgern, Singen und Beten ihre menschliche Gemeinschaft und beim Sakramentsempfang und beim Rosenkranz die spirituelle Freude am katholischen Glauben.


[1] Über diese Bände habe ich in FKTh referiert: Jg. 11 (1995) 299-310; 17 (2001) 59-71; 20 (2004) 132-140; 21 (2005) 287-292; 22 (2006) 275-279; 23 (2007) 206-212.
[2] Vgl. Doc. Crítica III 3, Doc. 674, 676 (FKTh 22, S. 277).
[3] Vgl. FKTh 17, 64, Dokumentation II, 193 ff.
[4] Vgl. Dokumentation II, S. 11 ff.
[5] Vgl. ebd., S. 25.
[6] Vgl. ebd., 263-276.
[7] Ebd., 42-50.
[8] Vgl. Dokumentation IV, 300.
[9] Vgl. Dokumentation IV, 2, Doc. 305.
[10] Ebd. Doc. 307.
[11] Vgl. IV, 2, Doc. 314; 361; 380; 403.
[12] Vgl. Dokumentation, III, 1, Doc. 56 ff.
[13] Vgl. III, 1, Doc. S. 236, 111, 151.
[14] Vgl. III, Doc. 124, 128, 180, 348.
[15] Vgl. Dokumentation III, 1, Doc. 100.
[16] Vgl. Dokumentation II, S. 142: Schwester Lucia spricht über Fatima, S. 122.
[17] Vgl. FKTh 23 (2007) 208.
[18] Vgl. Dokumentation IV, 1, DOC 5.
[19] Zum Sonnenwunder vgl. G. Solze: Und die Sonne tanzte über Fatima, Fulda 2006 (hier auch Fotos).
[20] Vgl. Dokumentation II, S. 270.
[21] Vgl. Dokumentation IV, 3, DOC 531.
[22] Dokumentation IV, 3, DOC 492, 493.
[23] Ebd. 494.

Die „Dornenkrone“ des sel. Heinrich Seuse

P. Notker Hiegl OSB, Beuron, stellt das Leben des sel. Heinrich Seuse (1295-1366) unter das Motto: „Im Untergang werden alle Dinge vollbracht!“ Dieser große Mystiker und Dichter wurde zunächst in den Strudel hineingezogen, dem sein Lehrer Meister Eckart zum Opfer gefallen war. Damit war seine Laufbahn als Professor beendet. Nach unzähligen Demütigungen wurde schließlich sein Ruf durch Verdächtigungen sexuellen Vergehens zerstört. Wie ein Ausgestoßener wurde er verjagt, vergessen, und erst 1831 selig gesprochen. Parallelen zur gegenwärtigen Situation, in der auch Unschuldige in den Strudel öffentlicher Kampagnen hineingezogen werden, sind unverkennbar.

Von Notker Hiegl OSB

Das Konstanzer Inselhotel

Das Inselhotel in Konstanz blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. 1220, ein Jahr vor dem Tod des hl. Dominikus, wurde die Konstanzer Insel den Dominikanern übergeben. Dort gründeten sie 1236 ein Kloster, das 500 Jahre lang ein bedeutendes Zentrum kirchlichen Lebens bildete. Doch 1785 wurden die Mönche durch den aufklärerischen österreichischen Kaiser Joseph II. von der Insel vertrieben. Die letzte Heilige Messe wurde am 26. Juli 1785 gefeiert, tags darauf das Kloster für immer geschlossen. Knapp hundert Jahre später hatte Eberhard von Zeppelin, der Bruder des bekannten Ferdinand Graf von Zeppelin, die Idee, das Klostergebäude in ein Hotel umzuwandeln. Schon damals wurde das ehemalige Kirchenschiff zu einem Festsaal gestaltet und das Hotel schließlich am 15. April 1875 offiziell eröffnet. Durch die neuerdings im Jahr 2007 durchgeführte Restauration ist das Inselhotel nun eine Luxusherberge mit fünf Sternen. Wer könnte bei diesem Prunk heute noch erahnen, welch transzendierender „Gottesdurst und Ewigkeitshunger“ in diesen Räumen zur Zeit der Dominikaner, zur Zeit eines Mystikers namens Heinrich Seuse (1295-1366) herrschten.

Heinrich Seuses Klostereintritt

Heinrich Seuse (latinisiert „Suso“, der „Süße“) entstammt einem alten Thurgauer Adelsgeschlecht (geb. am 21. März 1295 od. 1297). In Verehrung seiner Mutter nahm er deren Familienname an. Überlingen und Konstanz streiten bis zum heutigen Tag um die „Geburtsrechte“ dieses Mystikers. Am 1. Juni 2007 wurde v. Br. Jakobus Kaffanke OSB, Beuron, ein eigener Verein gegründet, um das Geburtshaus Seuses in Überlingen zu erhalten. Mit erst 13 Jahren trat er in den Orden der Dominikaner in Konstanz ein. Hier durchlief er die zu seiner Zeit übliche Postulats- und Noviziats-Ausbildung, bis er seine Ordensgelübde ablegte. Da Seuse bei seinem Eintritt noch nicht das vorgeschriebene Alter von 15 Jahren besaß, übergaben die Eltern dem Kloster ein größeres Geschenk. Das Wissen hierum belastete später sein zartes Gewissen, zweifelte er doch, ob seine Klosteraufnahme nicht durch Simonie (Geldbestechung) erkauft worden sei. Mit dem Ende der Pubertät spürte Seuse, dass ihm das Wichtigste zu einem Ordensleben noch fehlte. Er begann zu suchen, wurde ein hungernder Mensch, „Gottesdurst und Ewigkeitshunger“ gaben ihm einen unerwarteten, ungeheuren Auftrieb.

Die „Geschwinde Kehr“

Mit 18 Jahren erlebte Heinrich Seuse eine plötzliche Wende, die seinem Suchen und Tasten, seinem seelischen Hungern und Dürsten mit einem Schlag ein Ende bereitete. Bei der Tischlesung der Mönche hörte er eine Betrachtung über die göttliche Weisheit. Die Worte trafen ihn mitten ins Herz: „Wie der schöne Rosenbaum blüht, wie der feine Weihrauch und der unvermischte Balsam duften (vgl. Sir 24), so bin ich ein blühendes, wohlriechendes, unvermischtes Lieb, ohne Verdruss und ohne Bitterkeit, in unergründlicher liebevoller Süßigkeit. Aber alle anderen Geliebten haben süße Worte und bittren Lohn; ihre Herzen sind Fangnetze des Todes, ihre Hände sind Fesseln, ihre Rede gesüßtes Gift, ihre Kurzweil Ehrenraub (vgl. Koh 7,26).“ Da dachte er: „Wie ist dies doch so wahr!“ Und frohen Herzens sagte er sich: „Wahrlich, sie (die Göttliche Weisheit) muss mein Lieb und ich ihr Diener werden.“ Er vernahm die Aufforderung: „Gib mir dein Herz, mein Kind!“ (Spr 23, 26). Da neigte er sich ihr zu Füßen, wie es in der Biographie heißt, und dankte ihr herzlich aus einem demütigen Grunde. Mit diesem Schritt war für ihn ein seelischer Kulminationspunkt erreicht. In seinen Schriften, Vorlesungen, Predigten und Briefen teilte er später sein Leben immer in die Zeit vor und nach der „Gschwinden Ker“ ein, wie er sein Bekehrungserlebnis nannte.

Der Name Jesu auf seinem Herzen

Die Ewige Weisheit ist für Seuse nach dem neutestamentlichen Verständnis des hl. Paulus Jesus Christus selbst, der Heiland der Menschen, der Seligmacher der suchenden und dürstenden Seelen. Die drei Buchstaben „IHS“ bedeuten volkstümlich „Jesus, Heiland, Seligmacher“, zugleich sind es die ersten drei Buchstaben des griechisch geschriebenen Namens von Jesus (Jota=J, Eta=H, Sigma=S). Bei seiner „Gschwinden Ker“ wurde Seuse von einer so glühenden Gottesliebe erfüllt, dass er während einer hingebungsvollen Betrachtung in seiner Klosterzelle den Wunsch aussprach: „Ach, lieber Gott, könnte ich mir doch ein Zeichen ausdenken, ein dauerndes Merkmal unserer gegenseitigen Liebe, dafür, dass ich dein und du meines Herzens ewige Zuneigung bist, ein Zeugnis, das kein Vergessen je vertilgen könnte.“ Mit Festigkeit schob er sein Skapulier zur Seite, machte seine Brust frei, nahm einen Schreibgriffel zur Hand, schaute auf die Stelle, wo sein Herz klopfte und sprach: „Starker Gott, gib mir heute Kraft und Stärke, mein Verlangen auszuführen, denn du sollst heute in den Grund meines Herzens eingegraben werden.“ Und er ritzte mit dem Griffel in das Fleisch über seinem Herzen den Namen „IHS“ ein. Die Buchstaben blieben auf seinem Herzen als Narbe sein Leben lang stehen. Sooft das Herz klopfte, bewegte sich der Name Jesu mit. Begegnete ihm später Widerwärtiges, so betrachtete er das liebevolle Zeichen und die Verdrießlichkeit verlor an Gewicht. Noch war alles im „Rosenbereich“.

Studium bei Meister Eckhart

Der Dominikaner-Orden pflegte die begabten jungen Mönche in Deutschland zur weiteren Ausbildung in der Theologie nach Köln zu schicken, einer Bildungsstätte, in welcher auch Albertus Magnus und Thomas von Aquin studiert und gelehrt hatten. Seuse saß dort drei Jahre zu Füßen Meister Eckharts, einer zum Widerspruch herausfordernden Persönlichkeit von unerreichbarer Hoheit. Während Seuses Aufenthalt in Köln ereignete sich die Denunzierung Meister Eckharts als Pantheist, die ihm eine Verurteilung des Kölner Erzbischofs eintrug. Durch den päpstlichen Legaten kam es zwar zu einem Freispruch, schließlich aber wieder zu einer Verurteilung, welche den Lebensabend des Meisters verdüsterte. Es war keine Leichtigkeit, in jener Zeit zu Eckhart zu stehen. Seuse gehörte nicht zu den opportunistischen Menschen, die sich in der Stunde der Gefahr wegschleichen, er stand treu zu seinem Lehrer. Daraufhin verdächtigte man ihn, den angehenden Professor, ebenfalls der Häresie. Auf einem Generalkapitel in den Niederlanden musste er sich seines häresiefreien Glaubens verantworten. Zwar blieb Seuse ungetadelt, seine weiteren Studien in Paris aber wurden gestrichen. Von Köln musste er „stante pede“ nach Konstanz zurückkehren, ohne akademischen Hoheits-Titel. Seine bisherige „Rosenkrone“ begann zur „Dornenkrone“ zu werden.

Pastorales Wirken im Bodensee-Raum

Bald wurde Seuse auch in Konstanz, wo er den Patres wissenschaftliche Vorlesungen hielt, von seinem Amt als Lektor abgesetzt. Gedemütigt stieg er vom Katheder herunter. Er wurde ein Opfer des Strudels, in den sein so hoch verehrter Meister Eckhart geraten war. Nun erfuhr er zum ersten Mal die Wahrheit des Wortes: „Im Untergang werden alle Dinge vollbracht.“ Seuse widmete sich von seinem 40. Lebensjahr an ausschließlich der Seelsorge in Wort und Schrift, mit ausdrucksvollen, mystischen Bildern. Darin entfaltete er ein wunderbares Charisma. Er war nicht wie sein Meister Eckhart (1260-1328) der spekulative Denker, auch nicht wie Johannes Tauler (1300-1361) der hinreißende Prediger, aber er war ein begnadeter Seelsorger, der auf diesem Gebiet beide weit übertraf. Religiös empfindsamen Menschen war er ein gesuchter Beichtvater. Das Geheimnis seiner Seelsorge lag in seiner Milde; hierin war er durchaus ein Vorgänger des hl. Franz von Sales. Er weinte mit den Weinenden, trauerte mit den Trauernden und freute sich mit den Lachenden. In ihm spiegelte sich das Leuchten der Bergpredigt: Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Das Jesuskind warf ihm in Visionen Rosen zu und er streute sie aus, damit die Menschen darüber gehen konnten.

Das verschlissene Fußtuch als liebes Kleinod

Bei seinen Vorträgen in vielen Frauenklöstern rund um den Bodensee betonte er das geduldige Ertragen von Leiden, das sich Loslösen von der Welt, um aus Liebe zum Bräutigam der Seele die ungeordneten Neigungen zu überwinden. Sein „Buch der Wahrheit“, das „Büchlein der ewigen Weisheit“ und sein „Briefbüchlein“ sind zum Teil aus persönlichen Aufzeichnungen dieser Vorträge vor den Schwestern hervorgegangen. Unter anderem notierte die Dominikanerin Elsbet Stagel von Töss als treue Schülerin seine Ausführungen in „Steno-Art“ mit. Einmal saß er frierend in seiner Klosterzelle und beobachtete im Kreuzgang einen Hund, wie er ein verschlissenes Fußtuch im Maul herumzerrte. Er warf es empor und nieder und zerrte Löcher hinein. Dann ließ er es einfach liegen und machte sich davon. Da rief Seuse aus: „Kann es nicht anders sein, gib dich darein und sieh, gerade wie sich das Fußtuch schweigend misshandeln lässt, so tu auch du!“ Er ging hinab in den Kreuzgarten, holte sich das Fußtuch und bewahrte es viele Jahre als liebes Kleinod auf. Wenn er in Ungeduld auffahren wollte, so nahm er es hervor, damit er sich selbst darin erkannte und schwieg.

Seuse als Prior im Inselkloster und sein „Untergang“

Von seinen „äußeren Werkzeugen“, die Seuse lange Zeit hindurch für seine harten Bußübungen verwendet hatte, verabschiedete er sich, indem er sie einfach im angrenzenden Bodensee versenkte. Es genügte ihm, die Dornen anzunehmen, die ihm Jesus mit seinen mystischen Rosen im Übermaß bereitete. Seuse wurde zum Prior des Dominikanerklosters in Konstanz gewählt. Das bedeutete für ihn nach der Verdächtigung der Häresie und sonstiger „Dornen“ eine späte Rehabilitation. Doch selbst dieser „Bonus“ gereichte ihm zu einer neuen Quelle der Demütigung. Schon seine erste Ansprache als Prior wurde mit geringschätzigen Bemerkungen quittiert. Kurz darauf beschuldigte ihn frech ein lasterhaftes Mädchen, das er zur Umkehr ermahnt und dennoch stets mit Almosen bedacht hatte, der Vater ihres unehelichen Kindes zu sein. Der gute Ruf Seuses wurde nun endgültig zerstört und in den Schmutz gezogen. Das Geschwätz in der Stadt nötigte ihn, seine Predigttätigkeit einzustellen, sein Prioren-Amt niederzulegen und Konstanz zu verlassen. Diese Demütigung war die letzte Dorn-Erfahrung, gleichsam die Dornenkrönung, die der Selige zu bestehen hatte. Die spätere Untersuchung durch den Ordensgeneral ergab seine völlige Unschuld, aber die Flut der Verleumdung war bereits über ihn hinweggerollt und zum wiederholten Male hatte er die bebende Erfahrung zu bestehen, dass alle Dinge im Untergang vollbracht würden. Der Ausgestoßene ging nach Ulm, wo er am 15. Januar 1366 seinem Schöpfer die Seele zurückgab. Seuses Grabstätte, die zunächst verehrt wurde, fiel der Vergessenheit anheim. Die Grabungen nach der Bombardierung des 2. Weltkriegs blieben ohne Erfolg. „Im Untergang werden alle Dinge vollbracht!“

Europa ohne Christus?

Bereits in vierter Auflage ist dieses Jahr das Buch „Europa ohne Christus? Ein Essay"[1] von Stefan Meetschen erschienen. Der Schriftsteller und freie Journalist (geboren 1969 in Duisburg) lebt heute in Warschau und blickt voll Sorge auf das „christliche Abendland“, das gerade dabei ist, sich seiner christlichen Wurzeln zu entledigen. Er schildert ungeschminkt die aktuelle Lage, gibt sich aber nicht der Hoffnungslosigkeit hin. Einsatzfreudig zeigt er eine Strategie auf, nach der Christen auf die derzeitige „Christianophobie“ in Europa antworten könnten. Nachfolgend eine sorgfältige Auswahl aus seinem Buch – die Quintessenz seiner Überlegungen.

Von Stefan Meetschen

„Christianophobie“ – eine neue Form der Verfolgung?

Seit einigen Jahren kursiert – insbesondere unter Intellektuellen, Gelehrten und auch im Vatikan – ein neues Wort: Christianophobie. Ein Schlagwort, welches das Phänomen Intoleranz und Diskriminierung gegen Christen meint und plötzlich mehr und mehr für Westeuropa verwendet wird.

Dieses Phänomen setzt sich aus der Angst vor dem (eigentlich) unbekannten christlichen Glauben zusammen sowie dem Hass und den Ausschreitungen gegen seine Anhänger, die Christen, und die von ihnen jenseits aller Konfessionsgrenzen vertretenen Symbole, Lehren und Werte. Ein Hass, der sich in Europa nicht nur aus einer zunehmenden Unkenntnis des Glaubens speist, sondern paradoxerweise auch aus einem vermeintlichen Wissen, einem Überdruss an Kenntnis. (S. 10)

Zusammenfassende Analyse des Phänomens (S. 69ff.)

1. Es gibt eine neue Ideologie des Bösen in Europa, eine „Anti-Evangelisierung“. Diese Ideologie wird auch vom aktuellen Zeitgeist getragen, der gegenüber dem Christentum in Europa besonders feindlich ist, was sich in Christianophobie ausdrückt.

2. Diese Ideologie wird nicht von einer klar bestimmbaren oder erkennbaren Gruppe betrieben. Sie hat heterogene Anhänger: Liberale, 68er, Grüne, Freidenker, Humanisten, Homo-Lobbyisten, aber auch Christdemokratische Politiker.

3. Diese Ideologie hat lebensfeindliche, destruktive Ziele: Tötung von Ungeborenen und Alten; Zerstörung der Familie; Zerstörung des Guten, Wahren und Schönen.

4. Diese Ideologie hat auch Einfluss auf das christliche Milieu: auf Bischöfe, Geistliche und Laien sowie verschiedene kirchliche Einrichtungen wie Schule, Krankenhäuser, Akademien.

5. Es existieren verschiedene Bezeichnungen, um diese Ideologie, ihr Wirken und ihren philosophischen Hintergrund zu bestimmen („Diktatur des Relativismus“, „political correctness“, „Kultur des Todes“).

6. Die neue Ideologie des Bösen instrumentalisiert die Menschenrechte (Toleranz, Würde, Freiheit etc.), um traditionelle und religiöse Werte unter demokratischem Anschein auszuhebeln und die Christen sozial zu diskriminieren – bis hin zur Kriminalisierung. Die christliche Basis dieser Rechte wird geleugnet und verdrängt.

7. Die Christianophobie ist geprägt von einem tiefen kulturellen und traditionellen Selbsthass. Die Ursache dieses Selbsthasses liegt vermutlich in der lange zurückliegenden politischen Machtstellung der Kirche in Europa.

8. Es gibt gegen die neue Ideologie des Bösen keinen breiten gesellschaftlichen Widerstand und bisher auch keinen breiten christlichen Widerstand, nur einzelne Protestaktionen.

9. Prominente Christen werden durch ein Netz von Medien, Politikern, öffentlicher Meinung gezielt zum Schweigen gebracht, ignoriert oder stigmatisiert (unfreiwilliges Ghetto).

10. Viele Christen wehren sich nicht gegen diese neue Form der Verfolgung, sondern verstecken sich (freiwilliges Ghetto).

Mit welcher Strategie sollten Christen antworten?

Was tun? Was dagegen tun? Wie können oder sollen Christen angemessen auf all die unterschiedlichen aktuellen Beispiele von Christianophobie in Europa reagieren? … Ist Widerstand gegen die neue Ideologie des Bösen und die dazugehörige öffentliche Stimmung überhaupt noch möglich? Sollten Christen sich nicht lieber aus all den politischen und gesellschaftlichen Streitereien raushalten? Oder … hilft mitunter nur noch eine Revolution? Eine großangelegte Neuevangelisierung, um dieses manipulierte und manipulierende Europa zu retten? Mit welcher Strategie sollten Christen antworten? (S. 77)

Es lässt sich in Europa vieles zum Positiven wenden, wenn sich die entschiedenen Christen aller Konfessionen entsprechend dafür einsetzen.

Denn: Noch ist Europa vom Christentum stark geprägt! Die europäische Zeitrechnung zum Beispiel geht von der Geburt Christi aus, die europäische Arbeit ruht an den großen kirchlichen Feiertagen, viele Vornamen haben einen christlichen Ursprung. Dazu kommen als sichtbare Zeichen die vielen Kirchen und Kathedralen in allen europäischen Ländern, die künstlerischen Spuren des Christentums in zahlreichen europäischen Museen, Konzerthallen und Bibliotheken. Mögen die Intentionen dafür auch nicht immer richtig sein, als Anlass und kulturhistorische Werbeplattform für ein Gespräch über den Glauben stehen diese kulturellen Überlieferungen jedoch offen. (S. 79)

Ein „neues Europa“ mit der Hilfe Gottes

Sind die Christen zu Beginn des 21. Jahrhunderts tatsächlich so müde und mutlos, dass sie die beispiellose Umkehrung aller Werte und Tugenden in Europa, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden hat und immer verheerender zu erleben ist, ohne Widerstand hinnehmen? Oder fühlen sie sich vielleicht doch auch angesprochen von den Worten, welche Papst Benedikt XVI. an die Teilnehmer eines Kongresses der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) am 24. März 2007 richtete? „Ihr habt die Aufgabe, mit der Hilfe Gottes ein ,neues Europa‘ zu bauen, das realistisch, aber nicht zynisch ist, reich an Idealen und frei von naiven Illusionen und sich an der ewigen und lebensspendenden Wahrheit des Evangeliums inspiriert. Seid deshalb auf europäischer Ebene aktiv präsent in der öffentlichen Debatte … und begleitet diesen Einsatz mit einem wirksamen kulturellen Handeln.“ (S. 80)

Drei Kategorien von Einsatzmöglichkeiten

Prinzipiell lassen sich die Einsatzmöglichkeiten von Christen für ein christliches Europa in drei Kategorien gliedern: die spirituelle Ebene, die berufliche Ebene und die private Aktionsebene. (S. 81)

Spirituelle Ebene

Die Macht des Gebetes ist unbestritten. In der Heiligen Schrift und im Leben der Heiligen finden sich zahlreiche Hinweise, die belegen: Ohne Gebet geht gar nichts, fehlt dem Einsatz für Gott, für das Gute das richtige Fundament. Warum also nicht jeden Tag ein „Vaterunser“ für Europa beten? Vielleicht zu einer festen Zeit – 12 Uhr mittags. High Noon, sozusagen. Ein kurzes Innehalten, ein kurzes Konzentrieren auf Europa. Auf diese Weise tragen wir dazu bei, ein „neues“ Europa, ein Europa des Geistes, zu bauen. Denn: Das „Vaterunser“ gibt Europa seine Seele zurück. … (S. 81f.)

Berufliche Ebene

Jeder Berufstätige gibt in seinem Berufsumfeld Zeugnis – von seiner Familie, seinen Reisen, seinen Hobbys. Warum nicht auch von seinem Glauben und seiner Einstellung zu dem, was gerade in Europa aktuell und nötig ist? Dies sollte nicht zwanghaft geschehen, aber während der Mittagspausen oder bei Unternehmensausflügen gibt es vielleicht Gelegenheiten, aufzuzeigen, dass die christlichen Werte solider und realistischer sind als das, was heute aus ihnen in der Öffentlichkeit gemacht wird. … (S. 83)

Private Aktionsebene

„Ich würde ja gerne etwas tun, aber ich weiß nicht was“ – solch einen heiligen Stoßseufzer hört man oft in kirchlichen Kreisen. In abgewandelter Form lautet er: „Ich würde ja gern etwas tun, aber ich bin leider schon in wahnsinnig viele Dinge eingespannt.“ Nun denn – wer wirklich Lust hat, etwas für Europa aus christlicher Überzeugung zu tun, der wird sich nicht hinter solchen Statements verstecken, sondern mit ganzer Energie mitmachen bei einer Initiative, die den Namen „Europa für Christus“ trägt. … (S. 83f.)

„Europa für Christus“ ist ein Netzwerk, das europaweit und auch ökumenisch hilft, den Christen mehr Selbstbewusstsein und mehr Bildung zu geben. Für den öffentlichen Diskurs um Europa.

Es gibt keine Mitglieder im engeren Sinne, sondern Teilnehmer in ganz Europa. Teilnehmer zu werden, ist ganz einfach. Man geht auf die Homepage www.europe 4christ.net, drückt auf die Flagge seines Landes und gibt seine E-Mail-Adresse an. In maximal drei Minuten ist man dabei! Jeder Teilnehmer bekommt monatlich einen elektronischen Europabrief, der in zehn verschiedenen Sprachen abgefasst ist. In jedem Brief findet man Know-how und Anregungen, die man benötigt, wenn man sich öffentlich zu heißen Themen äußern möchte, die Glaube und Gesellschaft betreffen. Darüber hinaus kann man bei „Europa für Christus“ die „Europafisch-Aufkleber“ bekommen. … (S. 84)

Eine christliche Initiative, ein internationales europäisches Netzwerk, das über Gebet und Informationen via Internet miteinander verknüpft ist. Könnte dies nicht die ultimative Antwort auf die „neue Ideologie des Bösen“ in Europa sein, die „dunkelste Dunkelkammer, die es gibt“ (Juncker über den Europakonvent)? Viel spricht dafür! (S. 85)


[1] Stefan Meetschen: Europa ohne Christus? Ein Essay, fe-Medienverlag, geb., DIN A5, 96 S., ISBN: 978-3-939684-52-7, Euro 5,–

Abschaffung der Begriffe Mutter und Vater?

Im Europarat hat der zuständige Ausschuss den unglaublichen Resolutionsentwurf eingebracht, die Begriffe Mutter und Vater im offiziellen Sprachgebrauch abzuschaffen. Der Katholische Familienverband Österreichs (KFOE) kritisiert die Beschlussvorlage aufs Heftigste und fordert zu mehr Ernst in der Politik auf.

Von Christina Luef

Will Politik, wollen Politiker ernst genommen werden?“ Dies fragt sich der Präsident des Katholischen Familienverbandes Österreichs, Prof. Dr. Clemens Steindl, angesichts der „peinlichen Skurrilitäten“, die unter dem Vorwand, Diskriminierungen zu vermeiden, wieder ins öffentliche Gespräch gebracht werden. Wie in Medien berichtet, wurde vom Ausschuss für Chancengleichheit von Frauen und Männern ein Resolutionsentwurf verabschiedet, in dem die Verwendung des Begriffes „Mutter“ als sexistische Stereotype in Medien bekämpft werden soll. Denn Mutterschaft, so der Ausschuss, sei eine Frauen von der Gesellschaft traditionell zugeteilte Rolle. „Mit dieser Aktion wird die Gender-Debatte ad absurdum geführt. Es ist wirklich erstaunlich, womit sich mit Steuergeldern bezahlte Politiker angesichts der akuten Wirtschaftsprobleme beschäftigen“ zeigt sich Steindl verwundert, der „mehr Ernst in der Politik“ fordert.

Der vom Ausschuss für Chancengleichheit von Frauen und Männern eingebrachte Entwurf bezieht sich unter anderem auf die Unterrepräsentierung von Frauen in Medien. Gleichzeitig unterstellt er den Medien, Frauen als „passive oder Wesen geringeren Werts, Mütter oder Sexobjekte“ abzubilden. „Eine Chancengleichheit kann nicht daraus erwachsen, dass Begriffe und die damit verbundenen Aufgaben und Tätigkeiten unsichtbar gemacht oder durch stupide Wortkreationen wie der in der Schweiz propagierte Begriff ‚das Elter‘ ersetzt werden. Im Gegenteil – es müsste eine gesellschaftliche und politische Aufwertung der Mutter- und Vaterrolle sowie der Familien- und Hausarbeit erfolgen, wozu auch die Medien einen wichtigen Beitrag leisten können“, verlangt Steindl. „Darüber und über die volkswirtschaftlichen Leistungen von Familien sollte diskutiert werden.“

Der Katholische Familienverband ortet hinter dem Bestreben des Ausschusses für Chancengleichheit zudem politisches Kalkül in eine andere Richtung: „Mit der Reduzierung auf den Begriff ‚Frauen‘ wird die Tatsache verschleiert, dass Mütter gegenüber Frauen ohne Kinder und Männern bis in die Pension benachteiligt sind. Diese Diskriminierung von Frauen, die Mütter sind, gegenüber kinderlosen Frauen und Männern wird durch die Entsorgung des Begriffes Mutter verfestigt und aus dem Sprachgebrauch verdrängt“, so der frühere KFÖ-Präsident und Familienpolitik-Experte Dr. Helmuth Schattovits.

Christina Luef ist Generalsekretärin und Pressekontaktperson des Katholischen Familienverbandes Österreich. Zur Arbeit des KFOE s. Homepage www.familie.at

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