Päpstlicher Rat für die Evangelisierung des Westens

Ende April 2010 überraschte der Vatikan mit der Meldung, Benedikt XVI. werde in Kürze einen neuen Päpstlichen Rat errichten. Geplant sei ein Dikasterium, das sich ganz der Neuevangelisierung widmen werde. Dabei habe der Papst in erster Linie die traditionell katholischen Länder im Blick. Pfarrer Erich Maria Fink geht der Frage nach, welche Anliegen sich hinter dieser Initiative verbergen. Er beleuchtet die Ankündigung besonders auf dem Hintergrund der früheren Tätigkeit Joseph Kardinal Ratzingers als Präfekt der Glaubenskongregation.

Von Erich Maria Fink

Am 27. April 2010 berichtete die italienische Tageszeitung Il Giornale, der Heilige Stuhl werde in den nächsten Wochen mit einem Apostolischen Schreiben die Errichtung eines „Päpstlichen Rats für die Neuevangelisierung“ bekannt geben. Mit der Leitung werde Kurienerzbischof Rino Fisichella beauftragt, der bislang Rektor der Lateran-Universität und Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben ist. Um das neue Dikasterium übernehmen zu können, werde er seine beiden bisherigen Ämter abgeben. Sein Nachfolger als Rektor an der Lateran-Universität werde der Salesianerpater Enrico Dal Covolo.

Meilenstein kirchlicher Erneuerung

Die Initiative Benedikts XVI. wird schon jetzt als die bisher wichtigste Neuerung seines Pontifikats bezeichnet. Gewiss ist zumindest, dass sie einen tiefen Einschnitt in die Römische Kurie bedeutet und als Meilenstein in die Geschichte der Kirche eingehen wird. Wir können einen zweifachen Hintergrund ausmachen. Einmal greift Papst Benedikt XVI. mit dieser Maßnahme ein zentrales Anliegen seines Vorgängers auf. Johannes Paul II. sprach ständig von der Aufgabe der Neuevangelisierung und brachte sie besonders mit den neuen geistlichen Gemeinschaften in Verbindung. Benedikt XVI. zeigte schon als Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregation eine überraschend große Wertschätzung für solche Bewegungen. Bekannt sind seine engen Kontakte mit der Gemeinschaft Comunione e Liberazione. Sie wurde von Luigi Giussani gegründet, der bereits unter Papst Johannes Paul II. einen eigenen Rat für die Neuevangelisierung vorgeschlagen hatte. Nun scheint Benedikt XVI. diese Idee verwirklichen zu wollen, nachdem Angelo Kardinal Scola, der Patriarch von Venedig, neuerdings einen Vorstoß in diese Richtung unternommen hatte. Übrigens war Scola als Rektor der Lateran-Universität Vorgänger von Rino Fisichella, der nun für das neue „Ministerium“ im Vatikan vorgesehen ist.

Evangelisierung des Westens

Bisher ist das Anliegen der Neuevangelisierung verschiedensten vatikanischen Abteilungen zugeordnet. Soweit es um die Entstehung neuer Bewegungen oder um Veranstaltungen wie die Weltjugendtage geht, ist es beim Laienrat angesiedelt. Nehmen die Gemeinschaften die Gestalt von Kongregationen an, sind Ordenskongregation bzw. Kleruskongregation zuständig. Daneben gibt es die einschlägige Kongregation für die Evangelisation der Völker. Vermutlich wird auch ihr der angekündigte neue Päpstliche Rat zugeordnet. Im Gegensatz zum großen Missionsanliegen der Kirche aber soll sich der neue Rat um die Missionierung der Ersten und der Zweiten Welt kümmern, also um die traditionell katholischen Länder. Konkret geht es um die Neuevangelisierung Europas, der USA und Lateinamerikas. Gerade Mittel- und Südamerika bereiten Papst Benedikt XVI. ernste Sorgen. Große Teile der katholischen Bevölkerung wandern zu Freikirchen oder anderen religiösen Gruppen ab. Eine der wichtigsten Aufgaben Kardinal Ratzingers als Präfekt der Glaubenskongregation war die Auseinandersetzung mit der dortigen Befreiungstheologie. Und darin dürfen wir den zweiten Hintergrund für seine Initiative sehen. Er ist bis heute überzeugt, dass die Theologie der Befreiung eine Hauptursache für die Krise der Kirche in den lateinamerikanischen Ländern darstellt. So sehr er eine „Option für die Armen“ begrüßt, so sehr lehnt er die ausschließliche Konzentration auf innerweltliche Veränderungen ab. Durch diese pastorale Verengung entstand nach Ansicht des Papstes ein geistliches Vakuum. Nun füllen es die Freikirchen aus, indem sie an erster Stelle von der Gegenwart des Herrn, von der Vergebung der Sünden und vom ewigen Leben sprechen. Die Forderung Kardinal Ratzingers und nun Benedikts XVI. lautet: Die Kirche muss zu Gott und zum unverkürzten Evangelium zurückkehren. Dann werden ihr die Menschen auch wieder folgen.

Erbe Papst Johannes Pauls II.

Wie verstand Papst Johannes Paul II. den Auftrag zur Neuevangelisierung? In zahlreichen Ländern, die das Evangelium bereits vor vielen Jahrhunderten angenommen haben, scheint der Glaube heute verloren zu gehen. Johannes Paul II. forderte dazu auf, diese Länder nicht nur zum Evangelium zurückzuführen, sondern ihnen die Botschaft Jesu Christi auf eine neue Weise zu verkündigen. Es gehe nicht nur um eine Re-Evangelisierung, sondern auch um eine neue Art, die Werte des Evangeliums zu vermitteln. Im Zentrum stehe der Mensch. Ihn gelte es zunächst neu zu entdecken und zu verstehen, um ihm die Geheimnisse der Frohen Botschaft nahe bringen zu können. Das Anliegen Johannes Pauls II. hat nichts mit einem Verrat am übernatürlichen Charakter der christlichen Erlösungslehre zu tun. Vielmehr war er überzeugt, dass jeder Mensch auf Gott hin angelegt ist und im Grund seiner Seele Jesus Christus sucht. Christus sei die einzige Antwort gerade auch auf die modernen Fragen des Menschen. Nur in ihm könne der Mensch die Verwirklichung seiner Sehnsüchte finden. Deshalb sei es für eine fruchtbare Evangelisierung heute so notwendig, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen und ihnen mit der Botschaft des Evangeliums entgegen zu kommen.

Programm der Neuevangelisierung

In diesem Sinn entwickelte Johannes Paul II. von Anfang an die sog. „Theologie des Leibes“, die von der Erfahrung des Menschen im Bereich der Sexualität ausgeht und in seine ganzheitliche Wahrnehmung eingebettet ist. So gelang es dem Papst, die katholische Morallehre annehmbar zu machen und vor allem die kirchliche Sicht der Sexualität mit einer Sprache auszudrücken, wie es in der Lehrtradition der Kirche noch nie vorgekommen war. Auf ähnliche Weise entfaltete er im Rahmen der Weltjugendtage über 20 Jahre hinweg ein Programm, das ganz auf die Charismen junger Menschen eingeht und ihre Anlagen für den Aufbau des Reiches Gottes fruchtbar macht. Er stattete die Jugendlichen mit einer Vision der Hoffnung aus und sandte sie als Apostel, ja als „Protagonisten“ der Neuevangelisierung in die Welt von heute. Dabei stellte er ihnen den „Aufbau einer neuen Zivilisation der Liebe“ vor Augen, welche die Würde der menschlichen Person als unumstößliche Grundlage voraussetzt. Indem die jungen Menschen die Heiligkeit des Lebens verteidigen, so betonte Johannes Paul II., bringen sie bereits Christus in die Welt, verkündigen sie bereits auf authentische Weise das Evangelium. Als Maßstab jeder Missionstätigkeit gab er ihnen die Seligpreisungen der Bergpredigt an die Hand. Die Missionare der Zukunft müssten Menschen der Seligpreisungen sein.

Vision der Hoffnung

Entscheidend für das Programm der neuen Evangelisierung war für Johannes Paul II. die Vision der Hoffnung. Natürlich war für ihn der Horizont jeglicher Verkündigung die Verheißung des ewigen Lebens. Aber, um die Menschen in der heutigen Zeit aus ihrer Lähmung herauszureißen und sie für das Evangelium zu begeistern, vermittelte er ihnen zuallererst eine positive Sicht in die Zukunft, eine geschichtliche Vision der Hoffnung. Auch wenn die Welt den Anschein erwecke, als gehe sie dem Abgrund entgegen, so bereite Gott doch eine neue Zeit des Friedens und der Heiligkeit vor. Mit einer unglaublichen Gewissheit beteuerte er, Gott sei dabei, einen „neuen Frühling“ für die Menschheit und ein „neues Pfingsten“ für die Kirche vorzubereiten. Doch müssten wir uns für diese „neue Ankunft des Herrn in der Gnade“ bereiten und mit aller Kraft dafür arbeiten. Als „Wächter des Morgens“, die vom bevorstehenden Anbruch des neuen Tages überzeugt seien, müssten die Apostel der neuen Evangelisierung in eine tiefe Gemeinschaft mit Jesus Christus treten und aus seinen Quellen der Gnade schöpfen.

Ausgießung des Heiligen Geistes

In diesem Rahmen erschloss Johannes Paul II. ganz neu die Bedeutung der Gnadenangebote der Kirche, besonders der Eucharistie. Er bezeichnete sie als lebendige Quelle, als reiche Ausgießung des Heiligen Geistes. So mündet das Bemühen um die Neuevangelisierung bei Johannes Paul II. in ein intensives Leben des Gebets und der Sakramente ein, insbesondere in die eucharistische Anbetung. Doch erscheinen diese religiösen Vollzüge in einem neuen Licht. Die Motivation, zu beichten und die Hl. Messe mitzufeiern, erweitert sich. Die Gläubigen bleiben nicht bei dem Verständnis stehen, die Sonntagsmesse sei eine Pflicht, von deren Erfüllung das ewige Leben abhängt. Vielmehr werden sie als entscheidende Lebensvollzüge wahrgenommen. Denn in ihnen erlangt der Mensch Licht und Kraft, um sein eigenes Leben als „Geschichte der Liebe“ verwirklichen zu können und die Welt als „Zivilisation der Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe“ mitzugestalten. Ebenso wird das Wort Gottes in der Heiligen Schrift und in der Lehre der Kirche als stärkende Quelle des Heiligen Geistes verstanden. Je mehr sich der Mensch dafür öffnet, umso mehr wird er innerlich erfüllt und in seinem Herzen bereichert.

Stern der neuen Evangelisierung

Als Stern der Neuevangelisierung dürfen wir nach Johannes Paul II. die gelebte Gemeinschaft unter den Gläubigen verstehen. Natürlich verwendet er die Bezeichnung „Stern der Neuevangelisierung“ als besonderen Titel für Maria. Denn als unübertreffliches Vorbild geht sie uns mit ihrem Glauben und mit ihrer Liebe zu Jesus Christus voran. Doch ist Maria auch die „Mutter der Kirche“. Sie allein kann die Christen in Einheit zusammenführen. Ohne ihre mütterliche Liebe wird es nicht gelingen, die Spaltungen innerhalb der katholischen Kirche und zwischen den verschiedenen Kirchen und christlichen Gemeinschaften zu überwinden. Von einer solchen Einheit aber wird der Erfolg der Neuevangelisierung abhängen. Allerdings dürfen wir nicht darauf warten, bis eine sichtbare Einheit im Großen hergestellt ist. Es gilt, nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde im Kleinen zu beginnen und konkret „ein Herz und eine Seele“ zu werden. Eine besondere Rolle spielen dabei die neuen geistlichen Bewegungen. Sie leisten in vieler Hinsicht einen unersetzlichen Beitrag für eine Evangelisierung, wie sie sich Johannes Paul II. vorgestellt hat. Er betrachtete all diese Aufbrüche als Geschenk des Heiligen Geistes für unsere Zeit, ja als „Zeichen der Zeit“ im Sinn des II. Vatikanischen Konzils. Ihrer Pionierarbeit widmete Johannes Paul II. seine Aufmerksamkeit und seine volle Anerkennung. Dabei verwies er die neuen Gemeinschaften auf ihre Verantwortung für die Gesamtkirche. Umgekehrt versuchte er die Ortskirchen dafür zu gewinnen, sich für die neuen Aufbrüche zu öffnen und ihnen in den Pfarreien Raum zu geben.

Auseinandersetzung mit dem Marxismus

Johannes Paul II. formte sein christliches Menschenbild in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Dass er unter einem kommunistischen System seinen philosophischen und theologischen Weg finden musste, kann als besondere Vorsehung Gottes betrachtet werden. Täglich setzte er sich der Frage aus: Was ist am marxistischen Weltbild falsch, was macht diesen Entwurf so anziehend, wo verbirgt sich in diesem Denken das Körnchen Wahrheit? Gleichzeitig versuchte er ein Leben lang, die christliche Antwort auf die Frage nach dem Menschen zu geben. Sein gewaltiges Lebenswerk ist auf diesem Hintergrund zu verstehen. Es durchbricht die herkömmlichen Denkschemata der Theologie und wagt sich in neue Lebensbereiche vor. Umso leichter können wir nachvollziehen, wie schmerzlich für Johannes Paul II. die subtile Ausbreitung der marxistischen Irrtümer im freien Westen war. Doch einer regelrechten Katastrophe kam für ihn das Einsickern marxistischen Gedankenguts in die katholische Theologie gleich. Dieses Ärgernis konnte den sanften Karol Wojtyla in Rage bringen. Als er 1983 bei seinem ersten Besuch in Nicaragua mit dem weltbekannten Poeten und „Befreiungstheologen“ Ernesto Cardenal zusammentraf, wurde die ganze Welt Zeuge seiner Erregung. Cardenal wollte den Papst mit einem Kniefall begrüßen und ihm den Ring küssen. Doch Johannes Paul II. begann, ihn mit erhobenem Zeigefinger auszuschelten. Die Fotos gingen um die ganze Welt. Ernesto Cardenal war 1965 zum Priester geweiht worden und hatte sich 1977 zum ersten Mal an politischen Aufständen beteiligt. Er beschrieb seine Entwicklung mit den Worten: „Das Evangelium hat uns radikalisiert, ich bin durch das Neue Testament zum Marxisten geworden.“ Schließlich trat er der Sandinistischen Befreiungsfront bei, die 1979 der jahrzehntelangen Diktatur der Familie Somoza ein Ende bereitete. Danach wirkte er acht Jahre lang als Kulturminister der Revolutionsregierung seines Landes.

Kampf gegen die Befreiungstheologie

Die Befreiungstheologie betrachtete Johannes Paul II. als persönliche Herausforderung sowie als Gefahr für die ganze Kirche. Er beauftragte Kardinal Ratzinger, der von 1981 an die Glaubenskongregation leitete, sich diese Thematik vorzunehmen. Am 6. August 1984 erschien unter der Federführung Ratzingers die Instruktuion Libertatis nuntius über einige Aspekte der „Theologie der Befreiung“. Das Dokument sorgte für großen Wirbel. 1985 setzte Johannes Paul II. ein weiteres Zeichen. Er suspendierte Ernesto Cardenal aufgrund seiner politischen Tätigkeit vom Amt als katholischer Priester. Dieser bemühte sich nie um die Aufhebung der Sanktion, obwohl er 1987 sein politisches Engagement aufgab und 1994 auch der Sandinistischen Befreiungsfront den Rücken kehrte – aus Protest gegen den seiner Ansicht nach autoritären Führungsstil von Daniel Ortega. Heute pflegt Cardenal freundschaftliche Beziehungen zum venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, der keinen Hehl aus seiner marxistischen Einstellung macht und den Marxismus unter neuen Namen zu exportieren versucht. Einen ausgeprägten Konflikt trug Kardinal Ratzinger in der Folgezeit auch mit Leonardo Boff und Gustavo Gutiérrez aus. Letzterer hatte der Befreiungstheologie ihren Namen gegeben. Den Theologen Leonardo Boff verurteilte er zu einem Jahr Lehr- und Predigtverbot. Nachdem Boff schließlich geheiratet hatte, verlor er ohnehin alle kirchlichen Funktionen.

Neuevangelisierung Lateinamerikas

Beim ersten Brasilienbesuch Papst Johannes Pauls II. im Jahr 1980 bekannten sich noch 90% der Bevölkerung zur katholischen Kirche. Heute sollen es bereits 30% weniger sein. Angesichts dieses massenweisen Abzugs zu protestantischen Freikirchen und Sekten erklärte Benedikt XVI. die Neuevangelisierung Lateinamerikas nun zur Chefsache. 2007 zeigte er den brasilianischen Bischöfen im Wallfahrtsort Aparecida noch einmal seine theologische Linie auf. Leonardo Boff kritisierte heftig, dass sich der Papst bis heute gegen die marxistische Befreiungstheologie wende. Anstatt seine eigene marxistisch verbrämte Vergangenheit zu bedauern, warf Boff Benedikt XVI. vor: „Die Befreiungstheologie ist für diesen Papst zu einer Obsession geworden.“ Aber „die marxistische Befreiungstheologie“ existiere „nur in seinem Kopf und nicht in der Realität. Er tritt damit auf einen toten Hund ein.“ Doch Benedikt XVI. ist sich klar bewusst, dass sich die Probleme in Lateinamerika viel differenzierter darstellen. Der Kontinent befindet sich in einer entscheidenden Phase seiner religiösen Geschichte. Die politischen Umbrüche waren und sind eine hochsensible Angelegenheit, bei der die Kirche vielseitigen Gefahren ausgesetzt ist. Das Vertrauen der Bevölkerung kann nur gewonnen werden, wenn sich ein absolut aufrichtiges Bemühen um die Armen und Unterdrückten mit einem tiefen und übernatürlichen Glaubensgeist verbindet. Dazu müssen alle vorhandenen Kräfte freigesetzt und gebündelt werden: die Basisgemeinden mit ihrem Engagement für die Armen, die charismatischen Aufbrüche, die marianischen Wallfahrtsorte und Gebetsgruppen, die Verbundenheit mit der Weltkirche. Nichts anderes möchte Benedikt XVI., als dass der katholische Glaube in seiner ganzen Fülle und Schönheit aufleuchtet, auch im krisengeschüttelten Europa.

Bemühen um Wesentlichkeit

Am 19. April 2010 hielt Kurienbischof Dr. Josef Clemens in Marktl am Inn, dem Geburtsort Benedikts XVI., anlässlich des 83. Geburtstags und des fünften Wahljahrestags des Papstes einen Festvortrag. Dr. Clemens war lange Jahre Privatsekretär Benedikts XVI. in dessen Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation. In seinem Referat charakterisierte er das derzeitige Pontifikat als „Bemühen um Wesentlichkeit“. Einen Schlüsseltext dafür sieht Dr. Clemens in der Ansprache, die der Papst am 13. Mai 2007 vor der Generalversammlung des lateinamerikanischen Bischofsrates im brasilianischen Aparecida gehalten hat. Kürzlich warf der Befreiungstheologe Leonardo Boff dem Papst vor: „Im Vatikan konzentriert man sich mehr auf Politik als auf die Verkündung der christlichen Botschaft.“ Die nachfolgenden Aussagen Benedikts XVI. beweisen genau das Gegenteil. Außerdem stellt die Aussage Boffs eine ungeheuerliche Verdrehung der Tatsachen dar. Wer jahrzehntelang gegen eine Verkürzung des kirchlichen Auftrags auf gesellschaftspolitisches Engagement gekämpft hat, war Kardinal Ratzinger in seiner Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie. Gerade er setzte sich gegenüber Boff dafür ein, dass die christliche Botschaft wieder zum Tragen kommt. Ein kleiner Auszug aus dem umfangreichen Vortrag.

Von Bischof Josef Clemens

An erster Stelle des Bemühens um Wesentlichkeit steht für den Glaubenden, aber auch für den Suchenden die Frage nach Gott. Papst Benedikt XVI. hat sich in seiner Eröffnungsansprache der Generalversammlung des lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM im brasilianischen Aparecida (2007) dieser Frage auf dem Hintergrund zweier häufig zu hörender Einwände gestellt, nämlich der Gläubige fliehe vor der Wirklichkeit dieser Welt mit ihren drängenden Problemen. Oder anders gesagt: Es sei der Kampf gegen Armut und Unterdrückung dringlicher als die Beschäftigung mit der Frage nach Gott.[1] Der Papst geht in seiner Ansprache, die als ein Schlüsseltext des bisherigen Pontifikats anzusehen ist, von der Frage nach dem Begriff der „Wirklichkeit“ aus, der ja nicht nur die materiellen Güter, die sozialen, ökonomischen und politischen Bereiche umfassen kann. Dazu sagt der Heilige Vater:

„Hierin liegt genau der große Irrtum der im letzten Jahrhundert vorherrschenden Tendenzen, ein zerstörerischer Irrtum, wie die Ergebnisse sowohl der marxistischen wie der kapitalistischen Systeme beweisen. Sie verfälschen den Wirklichkeitsbegriff durch die Abtrennung der grundlegenden und deshalb entscheidenden Wirklichkeit, die Gott ist. Wer Gott aus seinem Blickfeld ausschließt, verfälscht den Begriff ,Wirklichkeit‘ und kann infolgedessen nur auf Irrwegen enden und zerstörerischen Rezepten unterliegen. Die erste grundlegende Aussage ist also folgende: Nur wer Gott kennt, kennt die Wirklichkeit und kann auf angemessene und wirklich menschliche Weise auf sie antworten. Angesichts des Scheiterns aller Systeme, die Gott ausklammern wollen, erweist sich die Wahrheit dieses Satzes als offenkundig.“[2]

Papst Benedikt XVI. geht weiter und fragt: Aber wer kennt Gott bzw. wie können wir ihn kennen lernen? Für den Christen ist die Antwort klar: „Nur Gott kennt Gott, nur sein Sohn, der Gott von Gott, wahrer Gott ist, kennt ihn … Daher rührt die einzige und unersetzliche Bedeutung Christi für uns, für die Menschheit. Wenn wir nicht Gott in Christus und durch Christus kennen, verwandelt sich die ganze Wirklichkeit in ein unerforschliches Rätsel; es gibt keinen Weg, und da es keinen Weg gibt, gibt es weder Leben noch Wahrheit.“[3]

Und der Hl. Vater fährt fort: „Gott ist die grundlegende Wirklichkeit, nicht ein nur gedachter oder hypothetischer Gott, sondern der Gott mit dem menschlichen Antlitz; er ist der Gott-mit-uns, der Gott der Liebe bis zum Kreuz.“[4]

Papst Benedikt XVI. fragt weiter nach der Möglichkeit einer wirklichen Kenntnis Christi und der entsprechenden Lebensform in seiner Nachfolge, die zum wahren Leben führt, das anderen, der Gesellschaft und der Welt mitgeteilt werden kann. Und er antwortet: „Christus gibt sich uns vor allem in seiner Person, in seinem Leben und in seiner Lehre durch das Wort Gottes zu erkennen.“[5] Daraus folgt für den Christen die Wichtigkeit der Kenntnis des Wortes Gottes. Nur so kann es zur Nahrung für ein Leben im Glauben werden, nur so kann der Glaubende erfahren, dass das Wort Jesu Geist und Leben ist.

In dieser Grundsatzrede vor 162 Bischöfen sowie 104 Experten und Beobachtern antwortet Papst Benedikt XVI. auf eine sich heute immer mehr ausbreitende Tendenz, die Beziehung zu Gott von der Gemeinschaft der Kirche zu „isolieren“, bzw. den Glauben zu „privatisieren“. Dem entgegnet der Hl. Vater: Der Glaube „gibt uns eine Familie, die universale Familie Gottes in der katholischen Kirche. Der Glaube befreit uns von der Isolation des Ich, weil er uns zur Gemeinschaft führt: Die Begegnung mit Gott ist in sich selbst und als solche Begegnung mit den Brüdern, ein Akt der Versammlung, der Vereinigung, der Verantwortung gegenüber dem anderen und den anderen …“[6] 


[1] Benedikt XVI.: Eröffnungsansprache zu Beginn der 5. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik in Aparecida am 13. Mai 2007, in: Aparecida 2007, Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, in: Stimmen der Weltkirche Nr. 141, 320-342.
[2] Benedikt XVI.: Eröffnungsansprache Aparecida 326 f.; vgl. auch die Predigt zur Amtseinführung, in: Der Anfang 35: „Dazu sind wir da, den Menschen Gott zu zeigen. Und erst wo Gott gesehen wird, beginnt das Leben richtig. Erst wo wir dem lebendigen Gott in Christus begegnen, lernen wir, was Leben ist.“; vgl. auch die Predigt auf dem Freigelände der Neuen Messe in München-Riem, in: ders.: Apostolische Reise nach München, Altötting und Regensburg, 9.-14. September 2006, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 174, 36-42.
[3] Benedikt XVI.: Eröffnungsansprache Aparecida 327.
[4] Ebd.
[5] Benedikt XVI.: Eröffnungsansprache Aparecida 328; vgl. dazu die Enzyklika Deus caritas est 5: „Am Anfang des Christseins seht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.“
[6] Benedikt XVI.: Eröffnungsansprache Aparecida  327; vgl. auch die Predigt auf dem Islinger Feld in Regensburg, in: ders.: Bayernreise 64-69.

Klarstellungen von Kardinal Lehmann zur Missbrauchsaffäre

Anfang April erschien in der FAZ eine Stellungnahme von Kardinal Lehmann zum Missbrauch in der Kirche. Pater Engelbert Recktenwald FSSP hält den Artikel für einen „hervorragenden Beitrag“. Es geht um Diagnose und Therapie. In all den angeschnittenen Fragen bringt Kardinal Lehmann entscheidende Nuancen zur Sprache, welche in der öffentlichen Diskussion oft zu kurz kommen. Mit seinen Überlegungen ermöglicht er einen ausgewogenen Blick auf die derzeitige Krisensituation. P. Recktenwald bietet eine scharfsinnige Relecture und arbeitet die wertvollen Elemente in der Klarstellung von Kardinal Lehmann heraus.

Von Engelbert Recktenwald

Am 1. April hat Karl Kardinal Lehmann in der FAZ einen Artikel zum Missbrauchsskandal veröffentlicht, der einige bemerkenswerte Gedanken enthält.

Krise: zwischen Schuldbekenntnis und erhobenem Zeigefinger

1. Zunächst geht Kardinal Lehmann auf den Krisencharakter ein, den die Missbrauchsskandale für die Kirche angenommen haben. „Selbst wenn zahlreiche außerkirchliche Faktoren beteiligt sind, hat es keinen Sinn, mit dem Finger zuerst auf andere zu zeigen. Man könnte sonst dem Eindruck kaum entrinnen, man wolle von der eigenen Verantwortung ablenken oder das Geschehene relativieren.“

Wie recht der Kardinal mit dieser Warnung hat, zeigt der reflexhafte Aufschrei, als Bischöfe wie Mixa und Kardinal Schönborn auf die Sexualisierung der Gesellschaft verwiesen, und zwar nicht einmal als Hauptursache, sondern als einen Faktor unter vielen. Dieser Verweis wurde als absurd abgetan, etwa durch Katharina Schuler in der ZEIT (die freilich auch Widerspruch fand beispielsweise durch Michael Prüller von der österreichischen Presse, der mit Dr. Manfred Lütz daran erinnerte, dass noch vor etwa 25 Jahren die kirchliche Verurteilung von Pädophilie als „repressives Hemmnis für die ,Emanzipation der kindlichen Sexualität‘ bekämpft“ wurde).

„Freilich“, so Lehmann, „darf man sich auch nicht den Mund verbieten lassen und muss deutlich sagen, dass es sich offenbar um einen gesellschaftlichen Missstand handelt.“ Das blenden gerne alle jene Leute aus, die wie Stephan Hebel von der Frankfurter Rundschau die Ursache der Missbrauchsfälle in den Strukturen der katholischen Kirche verorten, diese Fälle also als ein spezifisch katholisches Problem darstellen und deshalb von der Kirche fordern, sich „konsequent einer Welt voller Versuchungen“ zu öffnen: so als ob eine sexualisierte Welt voller Versuchungen das Heilmittel gegen die pädophile Versuchung wäre!

Aufklärung: zwischen Vertuschen und vorschneller Verurteilung

2. Bei allem Vorrang der Zuwendung zu den Opfern und des Interesses an Aufklärung darf man, so Lehmann, an der Unschuldsvermutung eines Verdächtigen nicht einfach vorbeigehen, solange die Untersuchungen nicht abgeschlossen sind. „Wer vorschnell vom ,Vertuschen‘ redet, der hat keine Ahnung, wie schwierig es ist, sich über lange Zeit in einer unklaren Situation zu befinden.“

Diese Ahnungslosigkeit zeigt sich meines Erachtens beispielsweise im Versuch der New York Times und des Spiegel, dem früheren Präfekten der Glaubenskongregation daraus einen Strick zu ziehen, dass er im Laufe des Verfahrens gegen Stephen Kiesle eine gründlichere Untersuchung forderte. Man macht Kardinal Ratzinger die Wahrung gerechter Verfahrensprinzipien zum Vorwurf!

Pädophilie: zwischen unheilbarer Neigung und Ersatzhandlung

3. Lehmann erinnert an die Schwierigkeit, Pädophilie klar zu definieren und zu umgrenzen. In den Handbüchern der Sexualmedizin finde man bis zu 23 verschiedene Beschreibungen von sexuellem Missbrauch. Die neueste Forschung in den letzten Jahrzehnten komme zur Feststellung: „Pädophilie in diesem strengen Sinn [Neigung zu Kindern in der vorpubertären Entwicklungsphase] hat nichts mit einem gelegentlichen moralischen Ausrutschen zu tun, sondern entspringt einer tiefsitzenden Neigung, die sehr viele Fachleute für unheilbar halten.“

Dies zwang zur Erkenntnis, dass die von kirchlicher Seite aus gehegte Hoffnung auf Umkehr und Heilung der Täter eine Fehleinschätzung war.

Dem möchte ich eine weitere Folgerung hinzufügen: Die Erkenntnis der Pädophilie als eine tiefsitzende Neigung bedeutet die Widerlegung der Theorie etwa eines Peter Bürger, Kindesmissbrauch als Ersatzhandlung einer durch repressive Sexualmoral unterdrückten Sexualität anzusehen. Auch der Zölibat scheidet damit als Ursache aus.

Sexualität: zwischen Bejahung und Pervertierung

4. Bei allen „wunderbaren Höhen“, zu denen die Sexualität als Gesamttrieb führen könne, weise sie „auch abgründige Tiefen auf, die eine Pervertierung des Menschlichen zeigen“. Sie sei „nicht so unschuldig romantisch, wie man dies – gegenüber allen Verteufelungen des Geschlechtlichen – oft meinte“.

Mit dieser treffenden Bemerkung räumt Lehmann mit der schon von Wilhelm Reich geäußerten und von den 68ern forcierten Utopie auf, man brauche nur alle Tabus, die einem Ausleben der Sexualität im Wege stehen, hinwegzuräumen, um den Menschen den Weg zum vollkommenen Glück zu öffnen.

Moraltheologie: zwischen unbedingter Normethik und Proportionalismus

5. „Aber gleich, wann und wo, es darf niemals die geringste Entschuldigung bieten für Handlungen, die in jedem Fall verbrecherisch und sündhaft sind. Bei manchem, der eine starke Neigung dazu in sich verspüren mochte, wurden die Widerstandskräfte durch solche Entschuldigungen geschwächt.“

Hier setzt Kardinal Lehmann wie selbstverständlich voraus, dass es Handlungen gibt, die in jedem Fall sündhaft, d.h. in sich schlecht sind. Wegen des Festhaltens an dieser Lehre wurde Papst Johannes Paul II. von deutschen Moraltheologen vehement angegriffen. Man vergleiche etwa die Auseinandersetzung um diese Lehre im Zusammenhang mit der Kontroverse um die Verantwortungsethik, in der Spaemann eine klärende Rolle spielte. Welches sind die Entschuldigungen, von denen Kardinal Lehmann spricht? Die Ideologie der Pädophilenbewegung („Lust am Kinde“) und die „schönfärberische Verherrlichung antiker Knabenliebe“. Welches aber war das kirchliche Einfallstor, das das Wirksamwerden solcher Entschuldigungen auch bei katholischen Priestern ermöglichte? Darauf gibt Lehmann keine Antwort. Es war der so genannte Proportionalismus, der die Existenz in sich und unter allen Umständen sündhafter Handlungen leugnete. Darauf hat Papst Benedikt XVI. am 12. Juli 2008 aufmerksam gemacht: „Wir müssen darüber nachdenken, was in unserer Erziehung, in unserer Lehre der letzten Jahrzehnte unzureichend war: in den 50er, 60er und 70er Jahren gab es das Konzept des ethischen Proportionalismus: es bestand in der Ansicht, dass nichts in sich schlecht ist, sondern nur in seiner Proportion zu anderem; mit dem Proportionalismus war die Möglichkeit gegeben, in Bezug auf einige Dinge – eines davon kann auch die Pädophilie sein – zu denken, dass sie in bestimmten Proportionen gut sein können. Nun, da muss ich ganz klar sein: das war niemals eine katholische Lehre. Es gibt Dinge, die immer schlecht sind, und Pädophilie ist immer schlecht.“ Dass Kardinal Lehmann bei dieser Gelegenheit darauf verzichtet, mit den verheerenden Auswirkungen anpasserischer Moraltheologie abzurechnen und die beiden letzten Päpste gegen deren Angriffe wegen ihres prophetischen Festhaltens an der unbedingten Verurteilung sexuellen Missbrauchs festzuhalten, ist der einzige gravierende Mangel, den ich dem ansonsten hervorragenden Beitrag des Kardinals vorwerfen muss.

Kirchenrecht: zwischen Sorge um die Täter und Zuwendung zu den Opfern

6. Mit Recht bezeichnet es Kardinal Lehmann als tragisch, dass bei aller Eindeutigkeit der kirchlichen Lehre über die Verwerflichkeit sexuellen Missbrauchs eine „lückenlose und unbestechliche Aufklärung“ in manchen Fällen nicht „mit der letzten Akribie und Unabhängigkeit“ betrieben wurde. Als Gründe nennt er einerseits „die Einstellung, sich mehr um die Täter kümmern zu müssen als um die Opfer“, andererseits das Anliegen, die Institution Kirche vor einem Makel zu bewahren.

Das ist richtig, und Gott sei Dank hat sich das seit der Zeit, in der Kardinal Ratzinger die Sache in die Hand nahm, geändert. Es gibt aber noch weitere Gründe, und das ist die Vernachlässigung in der Anwendung der strengen Bestimmungen des Kirchenrechts. In seinem Brief an die irischen Katholiken beklagt Benedikt XVI. die „wohlmeinende aber fehlgeleitete Tendenz, Strafen für kanonisch irreguläre Umstände zu vermeiden“. Diese Vermeidung wurzelt in der Ideologie, die Kirche als Liebeskirche einer angeblich mehr oder weniger menschenfeindlichen Rechtskirche entgegenzusetzen. In einer Liebeskirche sind Strafen verpönt und Kirchengesetze überflüssig. Diese Denunziation des Kirchenrechts war in mancher zeitgeisthörigen Strömung moderner Theologie sehr beliebt. Auch hier hätte man sich ein kritisches Wort des Kardinals zum Irrweg moderner Theologie gewünscht.

Lehramt: zwischen Vorreiterrolle und Opfer von Ignoranz

7. Der Kardinal schildert den Wandel, der sich in der Kirche seit zehn Jahren vollzogen hat: weg von der oben genannten Einstellung zu einer Vorreiterrolle in Bezug auf Aufklärung, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch. Es war die Kirche, die 2003 in Rom den „weltweit ersten Kongress über Pädophilie“ veranstaltet hat, „mit einer Vielzahl von kirchlich nicht gebundenen Fachleuten“. Sechs große Bischofskonferenzen, darunter die deutsche, haben Leitlinien in Kraft gesetzt, die sich bewährt haben. „Allerdings schreien jetzt oft jene in der Kirche am meisten nach Verbesserung, die sie kaum gelesen“ haben.

Medien: zwischen Ausblendung der Täter und Beschuldigung des Kollektivs

8. Kardinal Lehmann zeigt sich überrascht, „wie wenig vom einzelnen Täter und von seiner Verantwortung die Rede ist“. Es sei nicht zu verstehen, dass in der öffentlichen Diskussion nicht auch das Einstehen einzelner Täter für die von ihnen angerichteten Schäden zur Sprache komme. „Aber man sucht ja schon lange Schuld zuerst beim Kollektiv und fast immer beim ,System‘.“ Das ist eine klare Anspielung auf P. Klaus Mertes SJ, der mit der Veröffentlichung der Skandale im Berliner Canisius-Kolleg den Stein ins Rollen und vor allem gleich in die gewünschte Richtung gebracht hatte: Nicht der einzelne Täter interessierte ihn, sondern das „System“, d.h. die Kirche mit ihrer Morallehre, dem Zölibat, der Hierarchie. Viele Theologen griffen den Ball sogleich auf und wiederholten die Phrasen so lange, bis sich in der Öffentlichkeit die durch Fakten nicht gedeckte Vorstellung durchsetzte, Zölibat und verklemmte Sexuallehre seien an den Missbrauchsfällen schuld. Auch in diesem Zusammenhang sollte allen Bischöfen klar werden: Der gefährlichere Feind, der die Kirche verunglimpft, sitzt nicht in den Redaktionsstuben, sondern in der Kirche und ihren Fakultäten.

II. Vatikanum: zwischen Weltoffenheit und innerer Stärkung

9. Kardinal Lehmann sieht die Missbrauchsfälle auch im Zusammenhang mit der Situation der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Er möchte seine Kritik nicht auf das Konzil selber, sondern auf dessen misslungene Rezeption bezogen wissen. „Eine erneuerte Zuwendung zur modernen Welt war notwendig. Aber man hatte die Sogwirkung dieser Welt wohl vielfach unterschätzt. Hemmungen entfielen, eine falsche Toleranz konnte sich ausbreiten. Die ,Welt‘ erwies sich als mächtiger. Die für die Zuwendung zur Welt noch wichtiger gewordene Spiritualität, innere Stärke und Selbstbehauptung hingegen schrumpften.“

Es ist dem Kardinal hoch anzurechnen, dass er damit der Diagnose von Papst Benedikt XVI. ausdrücklich Recht gibt. Dieser hatte viel Prügel dafür einstecken müssen, u.a. von Christian Geyer in der FAZ. In seinem Hirtenbrief an die Iren hatte er geschrieben: „Der schnelllebige soziale Wandel hat oft genug das traditionelle Festhalten der Menschen an den katholischen Lehren und Werten beeinträchtigt. Viel zu oft wurden die sakramentalen und andächtigen Gebräuche vernachlässigt, die den Glauben erhalten und ihm erlauben, zu wachsen, wie etwa die regelmäßige Beichte, das tägliche Gebet und jährliche Einkehrtage. Bedeutsam war während dieser Zeit ebenfalls die Tendenz vieler Priester und Ordensleute, Weisen des Denkens und der Einschätzung säkularer Realitäten ohne ausreichenden Bezug zum Evangelium zu übernehmen. Das Programm der Erneuerung, das das Zweite Vatikanische Konzil vorgelegt hat, wurde häufig falsch gelesen; im Licht des tiefen sozialen Wandels war es schwer, die richtigen Weisen der Umsetzung zu finden.“

Die biblisch verstandene „Welt“ sei „tief in die Kirche eingebrochen“, bringt es Kardinal Lehmann auf den Punkt. Dementsprechend schließt er sich auch der Forderung des Papstes nach Umkehr, nach einer vorbehaltlosen Selbstreinigung auf allen Ebenen und einer spirituellen Erneuerung an.

Es wäre wünschenswert, wenn diesen mutigen Worten auch jene Taten folgen würden, zu denen der Papst aufgefordert hat, z.B.: „Besondere Aufmerksamkeit sollte ebenfalls der eucharistischen Anbetung zuteil werden; in jedem Bistum soll es Kirchen oder Kapellen geben, die speziell diesem Zweck gewidmet sind. Ich fordere Pfarreien, Seminarien, Ordenshäuser und Klöster dazu auf, Zeiten eucharistischer Anbetung zu organisieren, so dass sich alle beteiligen können. Durch intensives Gebet vor dem anwesenden Herrn könnt Ihr Wiedergutmachung leisten für die Sünde des Missbrauchs, die so viel Schaden angerichtet hat.“

Diese Worte sind zwar an die Iren gerichtet, aber die Bischöfe haben uns ja versichert, dass der Hirtenbrief des Papstes auch für Deutschland Geltung habe.

Anmerkung: Weitere Informationen zum Thema gibt es auf www.kath-info.de, der von Pater Recktenwald betreuten Website.

Das wahre Gesicht der Anti-Baby-Pille

Dr. Gabriele Marx wurde 1951 in Dresden geboren und arbeitet seit über 30 Jahren als Frauenärztin. Inzwischen ist sie überzeugt: „Die Einnahme der Antibabypille stellt eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar.“ Ja, sie spricht sogar vom „tödlichen Risiko“ und verschreibt auch keine Pille mehr. Der Weg zum wahren Glück bestehe nicht darin, die Fruchtbarkeit mit Hormonen zu bekämpfen, sondern seine „Sexualität verantwortungsbewusst und im Einklang mit der Natur zu leben“. Dass die evangelische Theologin Margot Käßmann am 13. Mai 2010 ausgerechnet im katholischen Münchner Liebfrauen-dom die Pille als „Geschenk Gottes“ bezeichnet hat, lässt sich an Dreistigkeit kaum überbieten. Unbekümmert charakterisierte sie die Pille als Hilfe zu einer „Liebe ohne Angst“ und zu einer „verantwort-lichen Elternschaft“, als ob es der katholischen Kirche gerade um diese Werte nicht gehe. Kurz zuvor hatte die Nordische Bischofs-konferenz, welche die Bistümer der Länder Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden umfasst, ein deutliches Plädoyer für die weitsichtige Lehre der Kirche in der Enzyklika Humanae vitae abgelegt. In ihrem gemeinsamen Hirtenwort zum Familienkongress vom 14. bis 16. Mai im schwedischen Jönköping betonen die Bischöfe „die menschliche Sexualität“ als „Ausdruck der gegenseitigen Liebe und Hingabe zwischen den Ehepartnern“ sowie „die Hinordnung der Sexualität auf die Zeugung neuen Lebens“.

Von Gabriele Marx

Seit 1980 bin ich Frauenärztin. So wie das für viele junge Frauenärzte üblich war, habe ich zu Beginn meiner Tätigkeit künstliche Verhütungsmittel verschrieben, bis ich in meiner Praxis einige schwere Zwischenfälle erlebte: Eine 35 Jahre alte Frau hatte zweimal hintereinander einen schweren Schlaganfall erlitten; eine 17jährige Sportlerin nahm die Pille nur zur Zyklusregulation – Folge: halbseitige Lähmung nach schwerem Schlaganfall; eine 25jährige erlitt einen Herzinfarkt. Drei Fälle, relativ schnell hintereinander. Wenn man die Beschreibung der Nebenwirkungen von Medikamenten auf Beipackzetteln liest, dann ist das eindrücklich, jedoch längst nicht so eindrücklich, wie wenn man einen solchen Fall in der Praxis hat.

Viele Nebenwirkungen

Ich war erschüttert. Ich schaute genauer hin. Ich begann, mit den Frauen über ihre Zufriedenheit zu sprechen. Ich erkannte sehr schnell, dass die Frauen im Grunde genommen nur hilflos waren. Sie waren auf Verhütung aus und wussten keine anderen Mittel als die Pille, in der Annahme, das sei das kleinste Übel. Meine Skrupel wuchsen unermesslich, als ich realisierte, dass die Pille kein reiner Eisprunghemmer, sondern gar nicht selten ein Frühabtreibungsmittel ist.

Ein holländisches Forschungsergebnis der Universität Utrecht ermittelte ca. 30% Eisprünge bei den heute gängigen Hormonpräparaten. Diese Eier werden zu ca. 10% befruchtet und können sich nicht in der Gebärmutter einnisten, weil die nährende Schleimhaut fehlt. Diese wird unter der Pille nicht aufgebaut, was als zusätzlicher Sicherheitsfaktor gilt. Somit wirkt die Pille zu einem gewissen Grade frühabtreibend!

Damit begann meine kritische Auseinandersetzung mit der Verhütung allgemein: Ich riet den Frauen von der Pille ab und klärte intensiv über die Nebenwirkungen auf. Als ich 1991 meine eigene Praxis eröffnete, verschrieb ich die Pille nicht mehr.

Die Risiken und Nebenwirkungen der Pille sind nicht geheim. Sie sind veröffentlicht. Es ist daher kaum zu verstehen, warum Ärzte Hormone zur Verhütung empfehlen und die Frauen über die Nebenwirkungen im Unklaren lassen. Viele Frauen, die zu mir kommen, sagen: „Warum sind Sie die Einzige, die darüber spricht?“ Eine Erhebung unter 401 in Brandenburg tätigen Ärztinnen (veröffentlicht in der Zeitschrift für klinische Medizin) hat ergeben, dass die Ärztinnen selbst kaum mit der Pille verhüten, ganz im Gegensatz zur Gesamtbevölkerung!

Auch in niedrigstmöglicher Dosierung bleiben Pillen ein hochpotentes Hormon, das dem Cortison ähnlich ist. Wissenschaftliche Studien ergeben 20 Todesfälle auf 100.000 Anwenderinnen.

Der Cholesterin-Senker Lipobay wurde am 08.08.2001 von der Firma Bayer freiwillig vom Markt genommen. Denn unter diesem Medikament gab es 0,2 Todesfälle je 100.000 Anwender! Nun ist Lipobay im Gegensatz zur Pille ein Arzneimittel für Kranke. Bei der Pille geht es dagegen um Todesfälle bei gesunden Frauen! Eine medizinisch ziemlich einmalige Tatsache.

Schlaganfall und Infarkt

Woher kommt das hohe Schlaganfall- und Infarktrisiko bei Einnahme der Pille? Die Pille gaukelt durch hohe Hormongaben dem Körper vor, eine Schwangerschaft sei eingetreten. Jetzt sorgt der Körper für schnelle Blutgerinnung. Bei der Geburt und Nachgeburt ist das wichtig, damit Blutungen rasch aufhören. Geschieht dies jedoch über Jahre hinweg, so werden die Wände der Blutgefäße porös. Es können Blutgerinnsel entstehen, die sich lösen und Blutgefäße verstopfen können. Es kommt zur Embolie oder zum Infarkt. Das kann sich in der Lunge, im Gehirn oder in anderen Organen ereignen. Die Augen können betroffen sein oder auch der Darmbereich. Das Risiko besteht unabhängig vom Alter und der Gesundheit der Frau (lediglich Übergewicht stellt immer ein besonderes Risiko dar).

Es gibt Alternativen

Die Weltgesundheitsorganisation hat die Pille 2005 als krebserregend bezüglich Brust-, Leber- und Muttermundkrebs definiert. Eine weitere Folge ist die Zunahme der Sterilität. Denn die künstliche Hormongabe mit der Pille führt zur kompletten Einstellung der körpereigenen Produktion der weiblichen Hormone zur Fortpflanzung. Wird die Pille abgesetzt, weiß der Körper lange nicht, wie er damit umgeht. Weitere Folgen können Leberschäden, erhöhte Anfälligkeit für Geschlechtskrankheiten, Depressionen, Libidoverlust, Kopfschmerzen, Migräne, Haut- und Augenerkrankungen und mehr sein, auf die ich hier aus Platzgründen nicht eingehen kann.

Sehr viele Zwischenfälle werden nicht gemeldet. Experten schätzen die Dunkelziffer auf 80%. Denn es ist mühsam, viele Fragebögen auszufüllen und Nachweise zu führen, dass die jeweilige Erkrankung mit der Einnahme der Pille zusammenhängt. Doch die Pille umgibt der Mythos, das absolut sicherste Nachwuchsverhinderungsmittel zu sein. Ein falscher Mythos. Die theoretische Sicherheit bei der Pille liegt je nach Präparat zwischen 0,2 und 4,3 Schwangerschaften auf 100 Frauen, die ein Jahr lang mit der Pille verhüten. Bei der natürlichen Methode liegt die Wahrscheinlichkeit bei 1,5 bis 4,1. Die Sicherheit ist also vergleichbar mit der der Pille. Die praktische Sicherheit (Anwendungssicherheit) der Pille ist noch deutlich geringer, gerade bei Jugendlichen. Die Ursachen: Pille vergessen, Antibiotika-Einnahme, Zeitunsicherheit bei der Einnahme usw... Und es ist erwiesen, dass gerade bei durch Versagen der Pille verursachten Schwangerschaften mit besonderer Härte der Abtreibungswunsch folgt.

Dennoch verschreiben Frauenärzte den jungen Mädchen die Pille, zunächst zur „Zyklusregulierung“, dann „sicherheitshalber“, falls sie mal einen Freund haben. Im Ernstfall haben sie dann weder Mut noch Motivation, „Nein“ zu sagen. Angesichts der Risiken, Nebenwirkungen und Folgeerscheinungen völlig unverständlich! Fruchtbarkeit, Weiblichkeit und Mütterlichkeit gehören zur Frau. Sie mittels Hormonen wie eine Krankheit zu bekämpfen, ist der falsche Weg. Mich jedenfalls hat das Elend der Frauen und der Jugend veranlasst, keine Anti-Baby-Pille mehr zu verschreiben, sondern Jugendliche und Erwachsene einzuladen auf den Weg zum wahren Glück – indem sie verantwortungsbewusst und im Einklang mit der Natur leben.

Anmerkung: Das beachtenswerte Zeugnis von Dr. Gabriele Marx wurde erstmals im Januar 2010 in „Der Durchblick“, Nr. 67, veröffentlicht.

Kampf einer katholischen Schülerin

Zu nachfolgendem Beitrag bemerkt Weihbischof Dr. Andreas Laun: „Diesen Brief schrieb eine 15-jährige Schülerin, wohnhaft in der Diözese Salzburg, ohne mein Zutun. Ich habe nur an wenigen Stellen geglättet und ihn ein wenig gekürzt. Ich veröffentliche ihn, um vor allem die Herzen der Verantwortlichen in der Kirche zu berühren: ‚Wegschauen’ und ‚Vertuschen’ in Fragen der Wahrheit ist heute noch häufiger als im Bereich des Missbrauchs – und ebenso gefährlich, vielleicht in mancher Hinsicht sogar noch schlimmer! Der Gemeinde in Pergamon (Offb 2,14-16) wird gesagt: ‚Aber ich habe etwas gegen dich: Bei dir gibt es Leute, die an der Lehre Bileams festhalten …
So gibt es auch bei dir Leute, die in gleicher Weise an der Lehre der Nikolaiten festhalten. Kehr nun um! Sonst komme ich bald und werde sie mit dem Schwert aus meinem Mund bekämpfen.’ Uns wird der Herr viele andere Irrlehren, die wir dulden, vorhalten und uns zur Rechenschaft ziehen, die Bischöfe zuerst!“

Brief einer 15-jährigen Schülerin

Ich möchte kurz einige Situationen aus meinem Leben erzählen, wie es mir so tagtäglich an einem Gymnasium in einer fünften Klasse geht.

Wir sind einundzwanzig Schüler, mehr Mädchen als Buben. Und von den zwanzig „verirren“ sich vielleicht drei oder vier mehr als zwei Mal im Jahr in die Kirche, wie unser Religionslehrer so schön sagte! Jeden Tag wappne ich mich in der Früh mit Gebet für den Kampf, ja, ein wahrhaftiger Kampf ist das Schülerleben eines katholischen Schülers!

Meine Eltern und ich experimentierten mit Esoterik. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wir die „Sieben Tibeter Übungen“ gemacht haben und immer wieder neue, bunte, schöne Steine von der „Steinefrau“ mitgenommen haben. Aber dann fand meine Mama mit Hilfe einer Barmherzigen Schwester den Weg zu Gott. Auch neue Freundinnen im Glauben erzählten ihr von Medjugorje! Im Jahre 2000 fuhr die ganze Familie nach Medjugorje und wurde bekehrt! Wir spürten, dass Gott REAL ist!

Und jetzt bin ich da, versuche, in, mit und für Jesus zu leben. Natürlich habe auch ich den Moment der „Entscheidung“ erlebt, ob ich nun meinen weiteren Weg mit oder ohne Jesus gehen will. Ich habe „JA“ gesagt!

Zuerst ein paar Fakten über die Schule. Ich glaube, fast mehr als die Hälfte der Lehrer sind entweder aus der Kirche ausgetreten oder haben mit ihr nur noch wenig am Hut. Einmal habe ich eine ältere Lehrerin in der Kirche gesehen und sie fand das höchst erstaunlich, dass ich allein noch in die Kirche gehe! Da frage ich mich: Ist das normal? Bin ICH normal? Was ist für die heutige Welt normal? Was machen die Jugendlichen meines Alters? Saufen gehört zu den kleinsten Sachen, glaube ich.

Jetzt möchte ich von ein paar Situationen erzählen, in denen ich sehr gelitten habe. Vor allem, weil ich ja so ungebildet bin, nicht gerade gut im Debattieren! Das Einzige, was ich wirklich kann, ist zu versuchen, Jesus mit meinem ganzen Herzen zu lieben und ihm mein Wesen zu schenken, mit allen Schwächen und Fehlern.

Einmal nahmen wir in Geographie das Thema „Frauen“ durch. Die Lehrerin fragte uns, wo wir Frauen denn noch benachteiligt seien, außer im Berufsleben. Stille. Da schrie sie (wirklich, sie schrie): „Na denkt einmal nach! Die katholische Kirche ist der größte Frauenfeind überhaupt!“ Zustimmendes Murmeln in der Klasse (Aha, ach ja, genau, stimmt…) und ich dachte mir: Was? Bitte? ICH bin ein wahres Mitglied dieser so „frauen-feindlichen Institution“ und komme mir überhaupt nicht benachteiligt vor! Im Gegenteil! Ich fühle mich unendlich geliebt!

Ein anderes Mal tauchte die Frage auf, warum so viele aus der Kirche austreten? Kirchensteuer, langweilig? Wieder Stille. Das einzige, womit die Kirche in Verbindung gebracht wird, sind Steuern. Geld, Geld und nochmals Geld! Ach! Würden sie doch an die guten Seiten denken! Nein, tut niemand! Die Kirche wird wegen allem kritisiert, vor allem, wenn man zahlen „muss“. Ich finde, jede Organisation braucht Geld, um zu überleben. Der Kirche, die ja eigentlich nur gibt, zahle ich gerne!

Da rief unsere Lehrerin: „Na, denkt doch mal an das Wort konservativ. Also, ist das nicht konservativ, wenn ich nach einer Scheidung exkommuniziert werde?“ Ich war wahrscheinlich die Einzige, die sich gedacht hat: Nein, das hat ja alles einen Sinn.

Ich möchte auch erzählen, was uns im „Religionsunterricht“ so alles beigebracht wird. Meiner Meinung nach ist es eine Schande, so ein Spektakel überhaupt noch Religionsunterricht zu nennen, noch dazu römisch-katholischen! Wir haben ein Buch, in dem wir von der Kirche wenig bis fast nichts lernen. Die meiste Zeit lernt man entweder über andere Religionen oder über Ökumene, aber dabei kommt der katholische Glaube gar nicht vor!

Nun ja, aber das Wichtigste und das Einflussreichste ist der Lehrer! Darf ich kurz schildern, was für mich die Religionsstunden bedeuten?

Einmal hätten wir die anerkannten Religionsgemeinschaften in Österreich in Gruppen ausarbeiten müssen. Ich weiß nicht mehr, ob die katholische Kirche dabeistand, aber ein Mitschüler fragte: „Herr Professor, dürfen wir die katholische Kirche auch machen?“ Ich freute mich unbeschreiblich! Einer interessierte sich doch dafür! Doch die Antwort unseres Lehrers schockierte mich: „Hmmm, nein … nein, da kennen wir uns eh aus, das brauchen wir nicht noch einmal, das ist so viel Zeit.“ Da reichte es mir und ich sagte: „Entschuldigen Sie, Herr Professor: Wenn eine Gruppe den Islam in 10 Minuten machen kann, wird jemand auch die katholische Kirche in kurzer Zeit erklären können!“ Bei mir dachte ich, „beim Loretto-Gebetskreis kann man in 90 Sekunden erklären, warum man glaubt“. Das gibt es am Anfang immer: ein 90 Sekunden-Zeugnis. Er gab sich geschlagen und versuchte sich herauszureden.

Aber dann kam das Thema Haiti. Der Lehrer legte eine „Gedenkminute“ ein, wäre aber nie auf die Idee gekommen, ein Stück Rosenkranz, nur ein Ave Maria oder Vaterunser zu beten. Überhaupt beten oder singen wir nie in Religion. Einmal haben wir meditiert oder Atem-Übungen gemacht, einmal wollte er auch Qui Gong oder Tai Chi oder so was machen. Ich habe nie mitgemacht. Natürlich diskutierten wir über Haiti und er zitierte gerne die Zeitungstitelseite, auf der es hieß: „Jetzt kann auch ich nicht mehr glauben“.

Ich wollte so gerne einmal mit dem Lehrer reden, ihm sagen, wie schlecht es mir nach jeder Religionsstunde geht, wie traurig und niedergeschlagen ich bin! Er redet von Gott, als wäre er ein entfernter Gegenstand, der großteils grausam ist und der uns das Leben schwermachen will! Ich meine, ich kann seine Ansichten nicht ändern und es steht mir auch nicht zu, ihn deshalb zu verurteilen, doch das Schlimmste ist: Er LEHRT die Schüler, die sowieso nichts von der Kirche mitbekommen und dann nur das Schlechte in Erinnerung behalten!

Und weiter: Wir hatten eine Besprechungsstunde wegen den Priestern, die Kinder missbraucht haben. Wir durften alle einen Zettel schreiben und ich dachte mir: Endlich! Ich kann mich dazu äußern, ohne gedemütigt zu werden! Denn, dass die halbe Klasse so wenig wie möglich mit mir zu tun haben will, lässt mich natürlich nicht kalt.

Ich schrieb, dass das natürlich eine große Tragödie ist und dass ich das überhaupt nicht in Ordnung finde. Aber, jetzt kann man doch nicht hergehen und von einem auf alle schließen! In den Augen meiner Klassenkameraden sind jetzt alle Priester Kinderschänder! Die Kirche ist BÖSE! Ich könnte mir jedes Mal die Augen ausweinen, so sehr schmerzt mich das! Und nicht nur, dass es mir in der Schule schlecht geht, ich nehme die Trauer und die schlechte Laune ja mit nach Hause und lebe dort weiter! Mein ganzer Tag vergeht nur, indem ich krampfhaft überlege, was ich denn tun könnte! Doch was vermag so ein kleiner Wurm wie ich gegen so viele, die viel mehr geachtet sind? Ich stehe alleine in einer Schule, in der ich keinen kenne, der vielleicht eine Jugendbewegung wie „Loretto“ oder „Totus Tuus“ kennt, oder den ich vielleicht schon öfters in der Kirche gesehen habe.

Unser Religionslehrer ist geschieden, er scheint die Sakramente nicht so ernst zu nehmen, er kritisierte die Kirche, statt sie uns verständlich zu machen – und dennoch DARF er Religion unterrichten! Ich verstehe das nicht! Wo sind da die klaren Vorschriften? Ein römisch-katholischer Religionslehrer sollte wirklich katholisch sein und FÜR die Kirche reden!

Viele haben auf die Zettel Sachen draufgeschrieben wie: „Sollen die Pfarrer halt Selbstbefriedigung machen“ oder, „Wie kann Gott das zulassen“, oder, noch schlimmer: „Das Zölibat gehört abgeschafft!“ Zu meinem großen Entsetzen hat unser Lehrer all das befürwortet! Er hat gesagt: „Selbstbefriedigung könnte eine Lösung sein“, und: „Es sollte jeder entscheiden können, ob er heiraten will oder nicht!“ Dazu kann ich nur sagen: So etwas Unchristliches habe ich schon lange nicht gehört! Der Mensch ist als MANN und FRAU geschaffen worden. Sie sind für die Liebe zueinander bestimmt, während Selbstbefriedigung eine Befriedigung des Egobedürfnisses ist! Und das Zölibat ist eine der schönsten Sachen, rein und heilig! Ich kann nur beten und hoffen, dass es nicht abgeschafft wird, wie in der Klasse jetzt diskutiert wird: „Ja, ja, das schaffen die im Vatikan eh bald ab.“

Ist es schon soweit? Dass WIR Christen uns selbst beschmutzen, damit ungläubige Leute wie diese wieder in die Kirche kommen? Soll ich meine persönliche Meinung sagen? Die Kirche wird nur von denen beschimpft, die sie am wenigsten kennen. Die wirklichen Katholiken haben ja kaum etwas oder nichts auszusetzen! Aber diese „Besserwisser“ wollen sich nichts erklären lassen und verunreinigen nur unser Heiligtum! Manchmal denke ich: Sollen die doch ihre eigene Kirche gründen! Was übrig bleibt, ist dann reiner Wein.

Zurück zum Religionslehrer. Ich konnte mir sein „Wie kann Gott so etwas zulassen?“ nicht mehr anhören. Ich zeigte auf und sagte: „Herr Professor, wir Menschen haben von Gott den freien Willen geschenkt bekommen und so haben wir auch eine gewisse Verantwortung!“ Der Herr Lehrer hielt kurz inne und entschuldigte seine vorherigen Worte mit einem: „Ja, ja, genau der Meinung bin ich auch!“ – Ich hätte heulen können vor Wut! Vor allem, weil er genau in der nächsten Stunde wieder gesagt hat: Wie Gott das zulassen kann, ist unerklärlich.

Überhaupt ist es in der Schule in letzter Zeit so, dass ich mich wirklich schon fürchten muss, wenn das Thema „Kirche und Glaube“ auftaucht! Ja! Ich FÜRCHTE mich! Weil dann immer nur geschimpft wird und ich fast gar nichts ausrichten kann, außer vielleicht mit einem ins Gespräch zu kommen, der ein bisschen interessiert ist und meine Antworten logisch findet.

Nun möchte ich zu den letzten und fast auch schlimmsten Themen kommen: die Sakramente, Homosexualität, Scheidungen und der Papst. Wir nahmen einmal die Sakramente durch. Besonders eingehen möchte ich auf die Eucharistie, das Thema, das meine Gruppe bekam. Endlich etwas richtig Katholisches! Ich suchte den ganzen Nachmittag Bilder und druckte auch etwas über das Wunder von Lanciano aus.

Ich erklärte auch meiner Freundin, was sie sagen sollte. Sie hat keine Ahnung, was die Eucharistie überhaupt ist, woher denn auch! Es kam der Tag der „Präsentation“! Ich freute mich schon darauf, meinen Mitschülern etwas mitzugeben, doch da sagte der Lehrer auf einmal: „Das mit der Hostie muss man sich bildlich vorstellen. Also, das braucht man nicht so ernst nehmen, wie die streng Katholischen es tun. Ja, das heißt jetzt nicht, dass bei der Wandlung etwas verwandelt wird, das ist nur ein Symbol und wie beim Telefonieren: Der andere ist da, aber nicht wirklich.“ Das versetzte mir den größten Stich. Was? Was lehrt denn die katholische Kirche? ICH glaube, dass das wahrhaftig Jesu Herz ist!

Eine seiner weiteren Bemerkungen war: Nur die Ursakramente sind „wirklich wichtig“! Wörtlich: „Priester wird eh fast keiner, zur Beichte gehen wir auch nicht so oft, naja, Krankensalbung, ist halt das, was man ganz zum Schluss bekommt, und die Ehe wird oft geschieden.“ Für mich brach wirklich eine Welt zusammen. Ich meine, wer kann schon ruhig bleiben, wenn sein allerbester Freund von allen bespuckt, miss-interpretiert und beschimpft wird? Ich nicht!

Dann kam die nächste Stunde. Ich kann nicht beschreiben, was das für Schmerzen waren! Es ist, als ob man von einem zum anderen geschupst würde und nie gibt es Ruhe! Jeder Tag ist für mich ein Kampf. Jede Religionsstunde macht mich noch trauriger und verzweifelter. Hört denn keiner mein Rufen? Hilft mir denn niemand? Erkennt niemand die Gefahr, dass alle meine Mitschüler die gleiche Einstellung der Kirche gegenüber bekommen? Bin ich die Einzige, die den Religionsunterricht unwürdig findet?!

Nach Meinung des Lehrers sollte der Zölibat abgeschafft werden. Er sagte, der Papst verbietet die Verhütung, also auch Kondome und das, obwohl Kondome ein Mittel gegen Aids wären! Doch nicht nur das: Er behauptet, die Kirche sei „verstockt“, wenn es um das Thema Sexualität geht, und das ginge auf Augustinus zurück. Aber ich zeigte auf, bereute es sofort wieder und sagte dennoch: Das hätte ich noch nie gehört, überall sei nur gut von der Sexualität geredet worden! Er erwiderte, dass die Kirche schon noch altmodisch in einigen Punkten sei wie zum Beispiel bezüglich der Homosexualität.

Ich dachte, ich hör nicht recht. Meine Antwort darauf war: In der Bibel steht: „Du sollt mit einem Mann keinen geschlechtlichen Verkehr haben wie mit einer Frau, es wäre ein Gräuel.“ Darauf der Lehrer: „Ja schon, aber dann müsste man auch wörtlich nehmen, dass man die Frau bei Ehebruch steinigen muss!“ Ich hatte keine Antwort darauf. Ich konnte nicht mehr. Ich sah ihn an und er mich. Wie zwei Krieger. Ich meine, ich habe nicht gestritten, ich würde ihn nie beleidigen, doch wir spürten, dass er sich mit meiner Ansicht nicht zufrieden geben wollte und ich mich seiner nie im Leben anschließen würde!

Dann ging ein Schreckensschrei durch die Klasse! „Hilfe, wie alt ist der Papst? 82? Ja so redet der auch daher! So ein gestörter!“

Es entwickelte sich alles in die verkehrte Richtung. Ich glaube, nach dieser Stunde werde ich mich nie wieder melden. Ich werde schweigen, bis die Stunde vorbei ist. Wie gerne würde ich nur EINMAL einen Unterricht haben, in dem etwas gelehrt und erklärt wird, in dem uns Gott näher gebracht wird! Ich würde dafür auch eine Woche fasten.

So geht es mir Tag für Tag, Religionsstunde für Religionsstunde. Ich würde mich so gerne verstecken, dem entrinnen, aber es geht nicht und ich kann es nicht ändern!

Hier beende ich meinen Brief. Ich kann all meine Tränen, meine Trauer und meine Verzweiflung nicht ausdrücken. Ich glaube, das Schlimmste ist: Ich muss immer aufpassen, dass ich nicht anfange, zu denken wie sie.

Anmerkung: Die Schülerin erklärt in ihrem Brief auch, warum sie keinen Sex vor der Ehe will und wie sie zu dieser Erkenntnis kam. „Kirche heute“ wird diesen Abschnitt in einer späteren Ausgabe abdrucken.

Die Kinder von Fatima

Am Fatima-Kongress, der vom 13. bis 16. Mai 2010 in der diözesanen Gebetsstätte Wigratzbad stattfand, wirkte auch der bekannte Autor Alfons Sarrach mit. Sein erstes Referat widmete er den Seherkindern von Fatima. Um zu einer tieferen Interpretation der Erscheinungen vorzudringen, geht er vor allem auf die zeichenhaften Begleitumstände ein. Sarrach zeigt auf, dass sich Gott mit den Ereignissen von Fatima einer Menschheit in den Weg stellt, die ihre Identität ohne Gott finden möchte. Ein solcher Weg endet im Unmenschlichen. Die Orientierung an Maria aber führt den Menschen zum Plan des Schöpfers, zu seinen „Träumen“ zurück. Der Artikel stellt eine leicht gekürzte Fassung der Ausführungen Sarrachs dar.

Von Alfons Sarrach

Frau aus der Ewigkeit

Bei der Deutung von Erscheinungen wurde lange den Begleitumständen, dem Äußeren, z.B. dem jeweils anderen Kleid, der Farbe, den Gegenständen, zu wenig Beachtung geschenkt. Die Gestalt, die Botschaft stand im Mittelpunkt. Aber warum zeigt sich die Gottesmutter bei ihren Besuchen in jeweils verschiedenen Gewändern? Gott ist kein Unterhalter und die „Madonna“ kein Modell, das der Schöpfer in jeweils anderer Ausstattung über den Laufsteg gehen lässt, zum Staunen der Menschen. Gott ist tiefstes Schweigen. Wenn Er es durchbricht, hat jedes Wort, jede Geste, die Farbe, jedes Zeichen eine tiefere Dimension, vielleicht sogar Ewigkeitswert.

In Fatima erscheint die „Frau aus der Ewigkeit“ in königlicher Aufmachung. Die ersten Künstler, die sich an den Versuch gewagt haben, das von den Kindern Gesehene möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben, gaben ihr ein goldbesticktes, königliches Gewand. Sie erscheint also mit der für den Menschen damals noch allergrößten Autorität (die meisten europäischen Staaten waren Monarchien). Das lässt bereits auf die Bedeutung der Botschaft schließen.

„Um die Weisen zu beschämen“

Auffallend ist in Portugal besonders das kindliche Alter der Seherkinder. Das Geschwisterpaar Francesco und Jacinta waren erst acht und sechs Jahre jung, Lucia neun. In der Rue du Bac war es 1830 immerhin schon eine Ordensschwester und Bernadette Soubirous in Lourdes war kein Kleinkind mehr, sie hatte ihren 14. Geburtstag gerade hinter sich. Warum in Fatima dieses junge Alter für eine Botschaft, die sich als tiefer Einschnitt in die Geschichte der Menschheit erweisen sollte? Was wollte der Himmel der Menschheit damit sagen?

Vielleicht geben uns die Worte des Völkerapostels Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther einen Denkansatz: „Was der Welt töricht erscheint, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen. Was der Welt schwach erscheint, hat Gott auserwählt, um das Starke zu beschämen. Was der Welt niedrig und verächtlich erscheint, ja, was ihr nichts gilt, hat Gott auserwählt, um das, was etwas gilt, zunichte zu machen“ (1 Kor 1,27-28). Und vor ihm hat es Jesus, wie Matthäus festgehalten hat, in stärkere Worte gefasst: „Ich preise Dich Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass Du es vor den Weisen und Klugen verborgen, Kleinen aber geoffenbart hast“ (Mt 11,25).

Fatima steht am Anfang des blutrünstigen 20. Jahrhunderts, aber die Voraussetzungen für dieses Grauen wurden im 19. Jahrhundert geschaffen, was oft genug verdrängt wird. Es war in seiner intellektuellen Arroganz kaum noch zu übertreffen. Diesen Hochmut hat Karl Marx in die Worte gefasst: „Der Mensch ist der Gott des Menschen.“ Im 20. Jahrhundert wurden diese Worte politisch umgesetzt. Stalin, Hitler, Mao und viele ihrer großen und kleinen Nachahmer ließen sich wie Götter verehren. Hitler nannte sich verschleiert „Werkzeug der Vorsehung“ – er hätte auch Sohn der Vorsehung, d.h. Sohn Gottes sagen können. Und ich habe noch gut in Erinnerung – damals noch ein Kind –, wie Parteiredner spöttisch sagten: „Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen, die Erde gehört uns.“

In einer kleinen Steineiche sahen die Kinder in Fatima am 13. Mai 1917 eine wunderbare Frau, sehr hoheitsvoll. Das Zeichenhafte ist nicht zu übersehen. Die geheimnisvolle Frau stellt sich der Menschheit in den Weg. Verdutzt fragen die Kinder: „Woher seid Ihr?“ Die Dame zeigt auf das blaue Firmament: „Vom Himmel“, mit anderen Worten: aus der Ewigkeit. Es gibt sie also, die Ewigkeit. Mit ihrer Person, ihrem Erscheinen erbringt sie den Beweis. Ein einziger Satz fegt die menschlichen Philosophien des 19. Jahrhunderts hinweg.

„Im göttlichen Licht“

Während des Wortwechsels bei der ersten Begegnung gibt es neben dem Hinweis auf das Jenseits eine zweite Aussage der „Frau aus der Ewigkeit“. Sie öffnet ihre gefalteten Hände und lässt ein geheimnisvolles Licht über die Kinder ausströmen, ein Licht, „das bis ins Herz drang, bis ins Innerste der Seele. In diesem Licht“, so die Seher später, „sahen wir uns selbst in Gott, klarer als man sich im hellsten Spiegel sieht …“ Eine bedeutende Botschaft an die Menschheit, an alle wissenschaftlichen Bereiche, die sich mit dem Menschen befassen (Humanwissenschaften). Die Kinder sahen sich klarer als im hellsten Spiegel. Das heißt, sie erkannten im „göttlichen Licht“, das sie überflutete, ihre wahre Identität. Die Botschaft an alle Menschen lautete: Sucht nicht auf Seitenwegen. Sein wahres Selbst findet der Mensch nur in seinem Ursprung, in Gott!

Die Kinder verstanden, in was sie eingeweiht worden waren. Sie fielen auf die Knie und sprachen ein Gebet, das sie ein Jahr zuvor von einem Engel beigebracht bekommen hatten: „Heiligste Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, ich bete Dich aus tiefster Seele an und opfere Dir den kostbaren Leib, das Blut, die Seele und die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus auf, der in allen Tabernakeln der ganzen Welt gegenwärtig ist, zur Genugtuung für die Schmähungen, Gotteslästerungen, Gleichgültigkeiten, durch die er selbst beleidigt wird.“ Mit diesem Gebet hatte übrigens der große Theologe Karl Rahner seine Probleme. Als Lucia auf die Bedenken des Gelehrten aufmerksam gemacht wurde, antwortete sie schlagfertig: „Der Engel hat eben keine Theologie studiert.“ Wir haben hier eine aussagestarke Gegenüberstellung. Ein unscheinbares portugiesisches Hirtenmädchen widerspricht selbstbewusst einem großen Theologen.

Am Rationalismus und am Materialismus orientierte Geister konnte das nicht beeindrucken. Sie gingen andere Wege. Und der Mensch wurde, wie Konzentrations- und Massenvernichtungslager, Atombomben, Vergewaltigung von Frauen und Kindern im Zweiten Weltkrieg und in Kroatien sowie in Bosnien-Herzegowina gezeigt haben, zur Bestie. Er will von der Suche nach seiner Identität in Gott nichts wissen, verdrängt sie, und landet im Unmenschlichen.

Im 19. Jahrhundert berauschte man sich an Utopien und Phantasien zum Menschenbild. Heute haben wir es wieder, nicht auf der philosophischen, sondern auf der biologischen Ebene. Man träumt vom Gender-Menschen, vom geschlechtslosen Menschen. Damals wurden die philosophischen Voraussetzungen geschaffen. Friedrich Nietzsche träumte ernsthaft vom Übermenschen. Hitler und seine begeisterten Anhänger versuchten es in die Tat umzusetzen.

Die Madonna spricht Klartext

Bei der zweiten Erscheinung, am 13. Juni 1917, knüpft die geheimnisvolle Frau an diesen Gedanken an. Zunächst wurde Lucia angewiesen, das Lesen zu lernen, mit anderen Worten, sich zu bilden. Hinter dieser Empfehlung steckt mehr. Sie gilt der ganzen christlichen Welt. Die Grundausbildung sollte Lucia die Möglichkeit geben, sich der Welt gegenüber verständlich zu machen. Sie musste später ja auf Anweisung der kirchlichen Obrigkeit ihre Erlebnisse schriftlich festhalten, in der modernen Zeit eine wichtige Voraussetzung für Untersuchungen und Nachforschungen.

Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Anteil von Menschen mit höherer Ausbildung im protestantischen, liberalen und jüdischen Bevölkerungsteil weit höher als im katholischen, was natürlich Auswirkungen auf das gesamte gesellschaftliche Leben hatte. Solch ein Defizit kann es unmöglich machen, seinen Standpunkt im religiösen Bereich erfolgreich zu vertreten.

1830 in der Rue du Bac und 1858 in Lourdes ließ Maria vor allem ihr Erscheinungsbild wirken. In Fatima gibt sie diese Zurückhaltung auf. Sie spricht Klartext. Lucia hört die Worte: „Jesus will sich deiner bedienen, damit die Menschen mich kennen und lieben lernen.“ Vor allem auf den ersten Teil des Satzes sollte man achten: „Jesus will sich deiner bedienen…“ Lucia wird gewissermaßen berufen. Aber Berufung bei Gott bedeutet auch immer Partnerschaft. Es kann einem schon der Atem stocken, wenn man darüber nachdenkt. Ein protestantischer, zum Katholizismus neigender Theologe gab mir gegenüber einmal zu verstehen, dass er den Begriff Partnerschaft zwischen Gott und dem Menschen nicht gern gelten lasse. Aber in Fatima macht Gott ja sogar Kinder zu seinen Partnern – in einer bestimmten Sache jedenfalls.

Nicht weniger dramatisch ist der zweite Teil: „ … damit die Menschen mich kennen und lieben lernen“. Sie stellt sich unüberhörbar als Orientierungspunkt bei der Suche des Menschen nach dem idealen Menschenbild vor. Sie geht sogar noch weiter, wenn sie sagt: „Er (Jesus) will die Verehrung meines Unbebleckten Herzens in der Welt begründen.“ Nicht verbreiten, sondern begründen – heißt es –, zur Grundlage der weiteren Entwicklungsgeschichte der Menschheit machen.

Was genau sollte gesagt werden? Verehren heißt hochachten. Verehrung drückt den Wunsch aus, so sein zu wollen wie die (der) Verehrte, sich an ihr auszurichten, ihr nachzueifern. Mit anderen Worten, es ist der Wunsch ihres Sohnes, also Gottes, der Mensch möge den Wert ihrer einmaligen, ihrer einzigartigen Persönlichkeit für seine Zukunft erkennen.

Gott will diese Zeiten sensibilisieren für jenen Menschen, der Menschsein nach den Vorstellungen des Schöpfers verkörpert: Maria aus Nazareth. Ihr gelebtes Menschsein ist Modell, ihre Persönlichkeit Maßstab. „Wer sie (die Verehrung ihres Herzens) übt“, heißt es im Juni 1917 in Fatima, „dem verspreche ich das Heil: diese Seelen werden von Gott bevorzugt werden wie Blumen, die ich vor seinen Thron bringe.“ Das heißt, diese Menschen werden den Vorstellungen Gottes vom Menschen sehr nahe kommen. Sie werden dazu beigetragen haben, den Plan Satans zunichte zu machen, nämlich das Menschsein bis in die Wurzeln hinein zu korrumpieren, zu einer Karikatur zu machen.

Bild vom gescheiterten Menschsein

Wir sehen ja, was um uns herum geschieht. Fast jeden Tag berichtet die Presse von einem Mord unter Eheleuten. Meist Paare zwischen 35 und 45 Jahren. Das ist in diesem Ausmaß neu. „Als Mann und Frau schuf er den Menschen“, heißt es in der Schrift. Jetzt fangen sie an, sich als Mann und Frau und damit den Plan des Schöpfers auszulöschen. Jugendliche bringen ihre Eltern um und Eltern ihre ahnungslosen Kinder.

In Fatima hat ein zähes Ringen um das Menschenbild begonnen. Und zu Boten der Botschafterin dieses Anliegens wurden Kinder. Die „Frau aus der Ewigkeit“ stellt sich nicht nur als die Verkörperung wahren Menschseins vor, sie mutet den Kindern auch das Gegenteil zu. Sie führt ihnen gescheitertes Menschsein vor Augen.

Ungeheure Dramatik liegt über dem Treffen am 13. Juli 1917. Es übersteigt den Rahmen jeglicher menschlicher Regiefähigkeit. Lucia, die älteste, hatte Hemmungen, sich zur Steineiche zu begeben. Sie war der Schläge, Anpöbeleien von Mitgliedern der Familie und in der Nachbarschaft müde. Aber in letzter Minute gab sie dem Drängen der Geschwister Francesco und Jacinta nach. Nicht sehr liebenswert fragte sie jedoch die Dame in der Eiche, was sie von ihr wolle. Als diese antwortete, sie möchten für den Frieden beten, bat Lucia um ein Wunder, um die ungläubige Umwelt zu überzeugen. Überraschenderweise versprach diese ein solches für den Monat Oktober.

Dann jedoch kam sie auf ihr eigentliches Anliegen zurück, sie bat um Gebet und Opfer für die Sünder. Als Sünder ist hier vor allem der ungläubige Mensch gemeint. Unglaube ist Verneinung Gottes. Wenn unter Menschen jemand einen anderen schwer beleidigen will, dann sagt er: Du bist Luft für mich! Mit anderen Worten, du existierst für mich nicht. Das ist genau das, was der Mensch gegenüber Gott millionenfach praktiziert. Immer herausfordernder, immer aggressiver.

Um den Kindern die Bedeutung ihres Anliegens verständlich zu machen, zeigt sie ihnen ein aufwühlendes Bild. Sie führt ihnen auf geheimnisvolle Weise das Schicksal der ewig Verlorenen vor Augen, eines ewigen Lebens fern von Gott, was im Christentum seit langem als „Hölle“ bezeichnet wird. In einem Feuermeer sahen sie versunkene, schwarze Wesen, sie hatten die widerliche Gestalt „unbekannter“ Tiere, durchsichtig wie glühende Kohlen.

Es waren unbekannte, abstoßende, also misslungene Geschöpfe. Es waren Geschöpfe, die ihr Wesen verfehlt hatten. Das aber ist die Hölle: den Sinn, das Ziel seines kurzen Lebens und seines Wesens verfehlen. Gott verfehlen heißt demzufolge auch, sich selbst verfehlen, sich selbst verunstalten. Um diese Menschen zu retten, wolle der Herr die Verehrung ihres Herzens, ihres Wesens allen als verpflichtendes Leitbild bewusst machen.

Dann geht die Mutter des Herrn einen Schritt weiter. Sie macht klar, dass nicht nur der einzelne Mensch seine Bestimmung verfehlen kann, sondern ganze Völker. Sollte die Menschheit das Angebot des Schöpfers nicht annehmen, würde sie die Früchte ihrer Selbstüberschätzung ernten. Der gerade tobende (erste) Weltkrieg gehe zu Ende, aber ein weitaus schrecklicherer zeichne sich ab. Sie gab auch den Zeitpunkt an. Ein Lichtphänomen werde ihn ankündigen. Lucia will dieses Zeichen später im Nordlicht von 25./26. Januar 1938 erkannt haben. Die Menschheit holte zu einer der größten Selbstbestrafungsaktionen ihrer Geschichte aus. Selbstverherrlichung endet in Selbstzerstörung. Nicht Gott ist grausam, sondern der Mensch im Verhältnis zum Menschen, im Verhältnis zu sich selbst. Die Madonna hatte es beim Namen genannt: Massenmorde, der Hungertod von Millionen, Verfolgung gläubiger Menschen.

Vorbehaltloses Vertrauen auf Gott

Bei diesen Berichten drängt sich die Tragik mancher Propheten vor über 2.500 Jahren auf, die das Volk Israel und seine Führung oft vergeblich davor warnten, das Heil bei internationalen Konflikten nicht in der Anlehnung an heidnische, machtbesessene Großmächte zu suchen, sondern allein im Vertrauen auf Gott. Höllenvision, d.h. der Zusammenbruch des Lebenszieles, und die vorgeschlagene Orientierung auf den einen „Unbefleckten Menschen“ haben pädagogisch nur ein Ziel: Es ist die Aufforderung an den Menschen, sich in allen Situationen vorbehaltlos auf Gott auszurichten.

Man sollte meinen, dass mit Botschaften von so gewaltiger Dimension Kinder restlos überfordert sein müssen, selbst wenn sie nur als Überbringer vorgesehen sind. „Ist das Ganze nicht naiv?“, wird sich mancher damals gefragt haben. Aber Gott ist naiv. War es nicht naiv, sich zu inkarnieren und sich Menschen auszuliefern, die sich heute selbst als „Mörderaffen“ bezeichnen? So ein französischer Anthropologe vor einigen Jahren. Gottes Wege sind nicht unsere Wege und Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken.

Die Kinder in Fatima sind auf dem Lande groß geworden. Am Rande Europas. Sie waren Analphabeten. Große Anregungen konnte ihnen das Elternhaus nicht geben. Aber sie wuchsen in einem sehr christlich geprägten Hause auf. Das älteste, Lucia, wurde, obwohl noch nicht zehn Jahre, zur hl. Kommunion zugelassen, weil sie den Katechismus so gut kannte. Das Geschwisterpaar, Francesco und Jacinta, fühlte sich seit Jahren tief zu ihrer Cousine hingezogen. Zwei gute Voraussetzungen für die große Mission, die sie erwartete. Als die Mutter ihnen nahe legte, beim Schafehüten den Rosenkranz zu beten, fanden sie das jedoch sehr mühsam und kamen auf den Gedanken, jeweils nur die zwei ersten Worte zu beten: Vater unser … und Ave Maria! Damit hatten sie ihr Gewissen beruhigt. Sie waren, wie Kinder eben sind.

Aber die Begegnung mit der anderen Welt sollte sie vollkommen verändern. Sie wurden zu Mystikern und damit zum Vorbild für eine suchende Menschheit. In Erinnerung an den Tag, als die Gottesmutter sie in göttliches Licht tauchte, sagte der Junge oft: „Wir brannten in dem Licht, das Gott ist, und verbrannten doch nicht! … Wie ist Gott! Oh, das können wir niemals sagen. … Wie weh tut es mir doch, dass er so betrübt ist! Wenn ich ihn doch trösten könnte!“ Gott trösten in seiner Trauer über die Verirrungen der Welt, das wurde sein ständiger Gedanke. In Indien sagte mir einmal ein Jesuit: „Gott ist auch ein leidender Gott, das hat der Westen vergessen!“

Verantwortung für die Welt

Als Francisco zum ersten Mal auf eine Eiche stieg, um Eicheln zu pflücken, riet die kleine Jacinta, die bitteren zu nehmen. „So können wir mehr Sünder bekehren“, bemerkte sie. Man steht staunend vor dem Verantwortungsbewusstsein dieses Kindes für eine im Sumpf der Sünde versunkene Welt.

Aber je mehr Menschen aus allen Bevölkerungsschichten herbeieilten, um die Kinder kennen zu lernen, desto mehr suchten sie sich zu verbergen. „Es macht mir so große Freude, Jesus zu sagen, dass ich ihn liebe!“ vertraute Jacinta ihrer Cousine Lucia an. „Wenn ich es ihm oft sage, scheint es mir, als ob ich ein Feuer in der Brust hätte; aber es verbrennt mich nicht.“ Ein paar Nebensätze, aber sie verraten viel über das Innenleben des Kindes. Menschen staunten gelegentlich über ihre klugen Antworten. Auf die Frage, woher sie dieses Wissen haben, antwortete die Kleine: „Von der Gottesmutter.“

Das lässt Schlussfolgerungen über die junge Frau in Nazareth zu, in der Gott Mensch werden sollte. Das war kein unbedarftes Mädchen, wie früher oft gesagt wurde, dem der Engel Gabriel die schwerwiegendste Frage in der Geschichte der Menschheit vorlegte. Sie war ja von der Erbsünde nicht beschädigt. Sie wusste sofort, was auf dem Spiel stand und was von ihrer Antwort abhing.

Die Kinder von Fatima vermitteln uns eine stille Ahnung von der Bedeutung der Gnade für die Entfaltung des Lebens. In Fatima hat Maria eine wichtige Phase in der Geschichte des Menschen eingeläutet. In ihrer Person hat Gott ihn abermals vor eine Wahl gestellt – wie am Anfang der Schöpfung – sich nämlich zu einem Menschenbild nach den Träumen Gottes zu entscheiden oder zu einem nach eigenen Vorstellungen. Diese Entscheidung Marias, ihr vorbehaltloses Ja, war eine Entscheidung über Leben und Tod – für uns alle.

 

Neue Broschüre „Die Botschaften von Fatima“

Das katholische Hilfswerk „Kirche in Not“ hat ein neues Büchlein über Fatima herausgebracht. Es informiert kompakt und reich bebildert über die damaligen Ereignisse und bietet Anleitungen zur Gestaltung des persönlichen Glaubens – unter anderem durch das regelmäßige Rosenkranzgebet. Außerdem zeigt es die Bedeutung der Marienerscheinungen für Pater Werenfried van Straaten auf, der das Hilfswerk nach dem Zweiten Weltkrieg als „Ostpriesterhilfe“ gegründet hatte. Das Heft (48 S., farbig, Klammerheftung, ArtNr. 6037) kann für 1,00 Euro incl. 7% MwSt. zzgl. Versandkosten auf www.kirche-in-not.de/shop, Tel. 089-6424888-0 oder per E-Mail: kontakt@kirche-in-not.de bestellt werden.

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