Erste christlich-soziale Abgeordnete:

Selige Hildegard Burjan

Am 29. Januar 2012 wurde im Wiener Stephansdom Hildegard Burjan, die Gründerin der Schwesterngemeinschaft „Caritas Socialis“ (CS), von Kardinal Angelo Amato seliggesprochen. Hildegard wurde am 30. Januar 1883 im sächsischen Görlitz als zweite Tochter liberaler jüdischer Eltern geboren. 1895 zog die Familie nach Berlin, 1899 in die Schweiz. 1903 maturierte Hildegard in Basel und begann an der Universität Zürich mit dem Studium der Germanistik und Philosophie. Später studierte sie in Berlin Sozialwissenschaften. 1907 heiratete sie den gebürtigen Ungarn Alexander Burjan, der ebenfalls jüdischer Abstammung war. Als sie am Ostersonntag des Jahres 1909 von einer schweren Krankheit wie durch ein Wunder geheilt wurde, wandte sie sich dem katholischen Glauben zu und wurde am 11. August desselben Jahres getauft. Die zweite Hälfte ihres Lebens widmete sie ihrem außergewöhnlichen sozialen Engagement, bis sie am 11. Juni 1933 an einem schweren Nierenleiden verstarb. Als Gedenktag wurde der 12. Juni festgesetzt.

Von Weihbischof Andreas Laun

In Heiligen-Biographien wird der Leser sehr oft mit dem ganz Außergewöhnlichen, mit Wundern und vor allem mit Heroismus konfrontiert. Ich will nicht bestreiten, dass dies auch mit Recht geschieht. Etwa wenn man hört, wie einer der Lübecker Märtyrer nur Stunden vor seiner Hinrichtung den Eltern schreibt, er sei glücklich, weil er schon in einigen Stunden Jesus sehen werde! Oder von einem kleinen Mädchen, dem Jesus erscheint und es um seine Liebe bittet, und wie es mit der Glut eines Kindes Ja sagt und dieses Ja sein kurzes Leben lang durchhält. Oder wie sehr die oder der Heilige die Jungfräulichkeit liebte und eher sterben wollte, als diese aufzugeben. Unzählige andere Beispiele ließen sich nennen, alle staunenswert, alle unterschiedlich, und doch auch wieder „gleich“ in der Radikalität ihrer Liebe, ihres Glaubens, ihrer Treue. Ja, sie ermutigen und sind vorbildlich, aber sie können auch einen kleinen, traurigen Beigeschmack haben: „Ich hatte nie eine Erscheinung, ich wurde nie Zeuge eines Wunders, weder an einem anderen Menschen noch an mir selbst. Mein Christsein mag echt sein, als heroisch und großartig aber lässt es sich wohl nicht bezeichnen, eher als ‚Mittelmaß‘, wenn es auch in meinem Leben, christlich gesehen, ‚Höhepunkte‘ gab. Muss ich nicht folgern: Gott liebt mich sicher auch, aber doch weniger als die Heiligen, die Unbekannten und erst recht die Bekannten, die die Kirche sogar selig und heilig zu sprechen pflegt? Wie schön für sie, für mich nur schön in der Distanz der Bewunderung.“

Einer der großen Heiligen war der hl. Franz von Sales, Bischof von Genf auf dem Papier, Bischof von Annecy in der Wirklichkeit der Zeit nach der Reformation. Er würde dem wehmütigen Gedanken von eben lebhaft und mit aller Entschiedenheit widersprechen und sagen: Heiligkeit besteht nicht nur im Martyrium. Wunder und das Außergewöhnliche sind ihr nicht wesentlich. Heiligkeit ist nur ein anderes Wort für große Liebe zu Gott und den Menschen. Also können wirklich alle heilig werden, Junge und Alte, Große und Kleine, „graue Mäuse“ und strahlende Schönheiten, Gesunde und Kranke, Frauen und Männer, Schwarze und Weiße, Generaldirektoren und Straßenkehrer, Kaiser und Bedienstete, Laien, Ordensfrauen und Kleriker, mit einem Wort: alle – und zwar jeder dort, wo er lebt, und in der Situation, in die ihn Gott gestellt hat. Auf jeden Einzelnen hin könnte man die Anekdote von Papst Johannes XXIII. abwandeln: Einem Buben, der ihm einmal sagte: „Ich will Papst werden wie du“, antwortete er: „Warum nicht, ich habe es ja auch gemacht!“ Also „heilig werden wie dieser und jener Heilige“ – warum nicht, „der oder die hat es ja auch gemacht“.

Von 1996 bis 2012 wurden der Kirche in Österreich immerhin acht neue, „moderne“ „Selige“ geschenkt, fünf davon starben im Nazi-Terror um ihres Glaubens und ihrer Treue zum Gewissen willen, drei starben an Krankheit und Erschöpfung, nämlich Jakob Kern, Kaiser Karl und Hildegard Burjan, die nun zur „Ehre der Altäre“ erhoben wurde. Der hl. Franz von Sales hätte seine Freude an ihr gehabt; denn ihr Leben war nicht außergewöhnlich durch Wunder und historische Großtaten, wohl aber „außergewöhnlich im Gewöhnlichen“! Ihr Leben ist rasch erzählt: Sie war von Geburt Jüdin, wuchs ohne Glauben heran, fand dann doch zum Glauben an Christus, heiratete und trug eine Risiko-Schwangerschaft aus! Zunächst ging sie in die Politik und war die erste Frau im österreichischen Parlament, zog sich angesichts des damals auch in der „christlich-sozialen“ Partei wachsenden Antisemitismus aus dieser zurück. Obwohl verheiratet gründete sie eine Frauengemeinschaft namens „Caritas socialis“, die es sich zur Hauptaufgabe gestellt hat, sich für Arme und Unterdrückte, damals besonders Frauen einzusetzen! Hildegard starb früh, nur 50 Jahre alt. Wenn man von „ihrer Spiritualität“ sprechen soll, könnte man sagen: auch darin „salesianisch“, weil einfach katholisch ohne Sonderformen oder gar Übertreibungen: tief im Glauben verankert und vom Gebet getragen, aber zugleich nüchtern, vernünftig, tatkräftig, je nach Aufgabe und Situation! Darum eine wahrhaft große Frau, als Vorbild geeignet für jeden Christen und auch für Nicht-Christen!

Will man etwas „Heroisches“ bei der sel. Hildegard finden, würde ich sagen: Gott hat uns mit ihr eine „österreichische Gianna Molla“ geschenkt, die über Österreich hinaus eine „zweite Patronin“ im Kampf für die ungeborenen Kinder sein kann! Denn auch ihr rieten die Ärzte „aus Gesundheitsgründen“ zur Abtreibung und sie sagte „Nein!“

Damit tat Hildegard Burjan dasselbe wie Gianna Molla – nur mit dem Unterschied: Gianna starb, Hildegard hingegen überlebte, weil der Plan Gottes für sie ein anderer war! Dabei sollte man nicht übersehen: Es gibt bei allen Völkern viele Frauen, die genauso tapfer aus Liebe zu ihrem Kind ihr Leben aufs Spiel gesetzt oder auch hingegeben haben! Als Beispiel möchte ich eine Wiener Jüdin nennen, deren Mann mir erzählte: Seine Frau war an Krebs erkrankt, aber die Krankheit war unter Kontrolle bis zu dem Tag, an dem sie ein Kind erwartete! Die Ärzte sagten: „Abtreibung! Oder der Krebs bricht wieder aus, und dann können wir Ihnen nicht mehr helfen. Sie werden sterben!“ Gegenfrage der Mutter: „Wieviel Zeit habe ich noch?“ Die Ärzte schätzten „ein knappes Jahr“, woraufhin die Frau sagte: „Das geht sich aus!“ Dann ging sie nach Hause und gebar Monate später ihr Kind. Kurz darauf starb sie, wie man ihr vorausgesagt hatte.

Die Frau war Jüdin, aber man darf sie als eine der vielen „unbekannten Heiligen“ – Paulus würde sagen „Gottesfürchtigen“ (Apg 13,16) – zusammen mit Gianna Molla und zusammen mit Hildegard Burjan verehren. Denn Gott – so sagt der hl. Thomas von Aquin – hat zwar uns an Seine Sakramente gebunden, aber nicht Seine Gnade. Und Paulus sagt: „Gott will das Heil aller Menschen“ (1 Tim 2,4). Und dieses Heil der Gottesnähe zeigt sich in manchen Fällen in heroischer Liebe!

Hildegard Burjan ist eine Heilige, die zum Heroismus einlädt, wo er nötig wird, aber sie ist vor allem auch eine Heilige, die Mut macht zur „gewöhnlichen, alltäglichen Heiligkeit“. So ist sie für die meisten Christen als Vorbild vielleicht wichtiger als Andere, deren Leben und Sterben voll der „sichtbaren Wunder“ sind. Gemeinsamer Nenner aller Heiligkeit, wie immer sie ausschaut, sind Glaube, Hoffnung und Liebe!

Schutzpatronin für die ungeborenen Kinder

Christoph Kardinal Schönborn beschrieb in seiner Homilie bei der Seligsprechungsfeier von Hildegard Burjan den Wendepunkt ihres Lebens mit den Worten: „Am 2. Oktober 1908 wird die 25-jährige, jung verheiratete Hildegard in Berlin ins katholische St. Hedwigs-Krankenhaus eingeliefert. Nach sieben Monaten vergeblicher Operationen und Behandlungen ist sie am Karsamstag dem Tod nahe. Am nächsten Tag, am Ostermorgen, tritt die Heilung ein. Die Ärzte und sie selber sehen es als Wunder. Ihr langes Suchen nach Sinn, ihr Sehnen nach Gott hat das Ziel erreicht: Sie kann glauben. Gott hat sie geführt. Und: Sie hat die geistlichen Schwestern des Krankenhauses erlebt, die sie monatelang selbstlos gepflegt haben: ‚So etwas wie diese Schwestern kann der natürliche, sich selbst überlassene Mensch nicht vollbringen … Ich habe die Wirkung der Gnade erlebt, so kann mich auch nichts mehr zurückhalten.‘“ Hildegard Burjan ließ sich nicht nur taufen. Ihr neues Leben sollte von nun an ganz Gott gehören.

Von Wilfried Marbach

Wohl für alle, welche die Seligsprechung Hildegard Burjans im Stephansdom oder über die Medien miterleben durften, war das ein ergreifendes Erlebnis. Wurde uns mit der Seligen Hildegard Burjan nicht eine überzeugende Schutzpatronin für das bedrohte Leben ungeborener Kinder geschenkt? Dieser Aspekt schien mir bei der Seligsprechung  zu wenig angesprochen.

Die 1883 in Görlitz an der Neiße Geborene promovierte 1908 mit magna cum laude zum Dr. phil. und studierte noch Sozialwissenschaften. Bald nach ihrer Eheschließung mit Alexander Burjan erkrankte sie lebensgefährlich und wurde von den „Barmherzigen Schwestern vom hl. Karl Borromäus“ gepflegt. Die aufopfernde Hingabe der Schwestern beeindruckte sie zutiefst. Die von den Ärzten bereits Aufgegebene wurde am Ostersonntag völlig überraschend und unerwartet geheilt. 1909 konvertierte Hildegard Burjan vom jüdischen zum röm.-katholischen Glauben. Das Ehepaar übersiedelte nach Wien, wo Hildegard Burjan trotz dringender Warnungen der Ärzte ihre Tochter Elisabeth zu Welt brachte. Die Ärzte befürchteten, dass die Mutter die Geburt ihres Kindes nicht überleben würde. Hildegard Burjan aber legte ihr und das Schicksal ihres Kindes vertrauensvoll in Gottes Hand.

Das von Rom anerkannte Wunder für diese Seligsprechung, betrifft eine Frau, die sich sehnlichst Kinder wünschte, die sie aber nach Meinung der Ärzte wegen verschiedener Operationen nicht bekommen konnte. Die heute noch Lebende wandte sich in ihrer Not an Hildegard Burjan und schenkte schließlich drei gesunden Kindern das Leben, was nach Auskunft der Ärzte medizinisch nicht erklärbar ist.

Die epochalen Sozialleistungen der Ordensgründerin der „Schwesterngemeinschaft Caritas Sozialis“ in der damals so unbeschreiblich verelendeten Nachkriegszeit wurden entsprechend gewürdigt. Sonderbarerweise wurde ein für Hildegard Burjans Wirken so typisches Objekt, das der Seligen besonders am Herzen lag, kaum erwähnt: Hildegard Burjan initiierte den Bau einer Gedächtniskirche für den verstorbenen Altbundeskanzler Prälat Dr. Ignaz Seipel, der Christkönigskirche am Vogelweidplatz in Wien XV, der ein Volksfürsorgehaus angeschlossen wurde, in dem vor allem Kriegerwitwen, Alleinerzieherinnen, völlig Verarmte usw. aufgenommen und neben der Heimarbeit entsprechend betreut werden konnten. Bundeskanzler Dollfuß unterstützte diese Initiative und gründete ein Komitee, dem sowohl Hildegard Burjan als auch Architekt Holzmeister angehörten.  Für den Bundeskanzler war es auch ein Anliegen, dass dadurch seelsorglich unversorgte Gebiete des Arbeiterbezirkes erschlossen werden konnten. Die Gedächtniskirche beherbergte in der Krypta die Särge von den Bundeskanzlern Dr. Ignaz Seipel und Dr. Engelbert Dollfuß, bis sie nach der Machtübernahme der Nazis entfernt werden mussten. Weder Hildegard Burjan noch Bundeskanzler Dollfuß erlebten die Fertigstellung der Kirche und der anschließenden Sozialbauten.

Selige Hildegard Burjan, erbarme Dich ganz besonders unserer ungeborenen Kinder, der Zukunft Österreichs, der Zukunft Europas!

 

Bildunterschrift 1: Hildegard Burjan mit ihrer Tochter Lisa, die sie am 27. August 1910 zur Welt brachte. Bis zur Geburt des Kindes musste sie sich in ihrem sozialen Engagement vorerst noch zurückhalten. Denn angesichts ihrer angegriffenen Gesundheit bedeutete dies für sie Lebensgefahr. Die Ärzte hatten ihr aufgrund der gegebenen medizinischen Indikation zu einer Abtreibung geraten. Doch sie wehrte entschieden ab. Die Geburt brachte sie tatsächlich wieder dem Tode nahe und machte einen längeren Spitalsaufenthalt notwendig.

Bildunterschrift 2: Hildegard hieß mit ihrem Mädchennamen Freund. Am 2. Mai 1907 heiratete sie den gebürtigen Ungarn Alexander Burjan, den sie während ihrer Studienzeit kennengelernt hatte. Nach ihrer Hochzeit übersiedelten die beiden nach Berlin.

Neuer Heiliger der Russisch-Orthodoxen Kirche:

Alexander Schmorell: Wächter des Geistes

Wer die sechs Flugblätter der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ liest, ist erschüttert. Zugleich erfüllen einen diese unvergleichlichen Dokumente mit Hoffnung. Denn sie zeigen, dass sich der menschliche Geist nie vollkommen unterdrücken lässt. Er vermag sich über alle menschlichen Macht- und Drohgebärden zu erheben und die wahren Werte des Menschseins zu offenbaren. Dennoch fragt man sich, woher diese Studenten während des Dritten Reichs die Kraft genommen haben, solche Gedanken zu formulieren und dafür ihr Leben zu riskieren. Eine Schlüsselrolle spielte der Deutsch-Russe Alexander Schmorell. Pfarrer Erich Maria Fink nimmt seine Verherrlichung, das heißt seine Heiligsprechung durch die russisch-orthodoxe Kirche Anfang Februar dieses Jahres zum Anlass, das Geheimnis seines Lebens auf dem Hintergrund seines christlichen Glaubens zu beleuchten.

Von Erich Maria Fink

Alexander Schmorell ist als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Mitbegründer der Studentengruppe „Weiße Rose“ weltweit bekannt. Dagegen wissen nur Wenige, dass er kurz nach seiner Geburt in der russisch-orthodoxen Kirche die Taufe empfangen hat und bis zu seinem Lebensende diesen religiösen Wurzeln treu geblieben ist. Darüber hinaus wurde meist ignoriert, dass sein ganzes Lebenszeugnis in erster Linie seinem tiefen Glauben entsprang. Das mutige Aufstehen gegen das Regime Hitlers ist nur von seinen christlichen Überzeugungen her zu verstehen. Ohne die spirituelle Kraft Schmorells hätte es wohl keine Flugblätter und keine „Weiße Rose“ gegeben. Er war die entscheidende Quelle, die seine Freunde inspirierte und ermutigte. Darauf hat nun die Heiligsprechung durch die russisch-orthodoxe Kirche am 4. und 5. Februar 2012 ein Schlaglicht geworfen. Sie hat den religiösen Hintergrund des heroischen Widerstands von Alexander Schmorell und der „Weißen Rose“ neu in Erinnerung gebracht.

Verwurzelung in der russisch-orthodoxen Kirche

Alexander Schmorell verlor mit knapp zwei Jahren seine Mutter und mit vier Jahren, als sein aufgeweckter Geist bereits unauslöschbare Eindrücke von der russischen Erde und Kultur aufgenommen hatte, seine Heimat. So suchte er als junger Mensch seine Identität und fand sie in der Spiritualität der russisch-orthodoxen Kirche, die ihm ein Gespür für seine Sendung und eine Vorstellung von seiner Zukunft vermitteln konnte. Nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs wollte er nach Russland zurückkehren, zu dem er eine immer tiefere Liebe entwickelte. Ohne dieses Ringen um seinen Ort im Leben lässt sich die Entwicklung seiner Persönlichkeit kaum erklären. Die Zerrissenheit, die nicht nur äußerlich seinen Weg prägte, sondern ihn auch in der Tiefe seiner Seele umtrieb, drängte ihn zu einer grundsätzlichen Reflexion über das menschliche Leben. So bildeten sich im Herzen dieses jungen Mannes eine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit heran, auf die wir heute nur mit Verwunderung blicken können. Voller Staunen stehen wir vor seinem Freiheitsbedürfnis, seiner Zielstrebigkeit, seinem klaren Blick, seiner Aufrichtigkeit und seinem ganz eigenen Urteil. Eine einfache Frau wurde ihm bei diesem Abenteuer zur geistigen Geburtshelferin. Es ist die russische Kinderfrau Feodosija Lapschina, die in den entscheidenden Jahren seiner kindlichen und jugendlichen Entwicklung die verstorbene Mutter ersetzte.

Alexander wurde am 16. September 1917 in der südrussischen Stadt Orenburg geboren. Sie liegt am eurasischen Grenzfluss Ural, der dem gesamten Gebirgszug den Namen gegeben hat. Sein Vater Hugo Schmorell war Arzt und stammte aus einer deutschen Familie. Diese war Mitte des 19. Jahrhunderts aus Ostpreußen nach Russland ausgewandert, um mit Pelzen zu handeln. Seine russische Mutter hieß Natalija Petrovna Vvedenskaja und war eine orthodoxe Pfarrerstochter. Bereits im Herbst 1918 starb sie an einer Typhus-Epidemie. Hugo heiratete 1920 ein zweites Mal, nämlich Elisabeth Hoffmann, die Tochter eines deutschstämmigen Brauereibesitzers in Orenburg. Aufgrund des russischen Bürgerkriegs emigrierte Hugo 1921 mit seiner Familie nach Deutschland und ließ sich als praktizierender Arzt in München nieder. Die Kinderfrau Alexanders entschloss sich, die Familie ins Ausland zu begleiten. Von ihr lernte er die russischen Märchen und Lieder kennen. Da sie kein Deutsch beherrschte, wuchs er zusammen mit seinen jüngeren Halbgeschwistern Erich und Natalija zweisprachig auf. So war Russisch seine eigentliche Muttersprache, die Sprache seiner Kinderlieder und vor allem auch seiner Gebete. In München fand er Kontakt zur russisch-orthodoxen Auslandskirche und erhielt privaten russisch-orthodoxen Religionsunterricht.

Später besuchte Alexander das Neue Realgymnasium in München, wurde nach dem Abitur zum Reichsarbeitsdienst im Allgäu eingezogen und leistete ab 1937 Militärdienst in Österreich, in der Tschechoslowakei, in Frankreich und Russland. Gleichzeitig begann er ein Medizinstudium in Hamburg, das er in München fortsetzte. Hier formierte sich der Widerstand gegen die Naziherrschaft, der am 24. Februar 1943 zu seiner Verhaftung und am 13. Juli 1943 zu seiner Hinrichtung im Gefängnis München-Stadelheim durch das Fallbeil führte. Bei den Verhören und in den Briefen an seine Familie brachte er unzweideutig zum Ausdruck, dass sein russisch-orthodoxer Glaube ausschlaggebend für seine Haltung war. Er leistete Widerstand, da er die Herrschaft der Nationalsozialisten als ein Regime erkannte, das Gott und die Menschen verachtete. Bis zu seinem Tod wurde er vom Priester der russisch-orthodoxen Gemeinde begleitet. Es handelte sich um den späteren Erzbischof Alexander der Diözese „Berlin und Deutschland“.

„Es ist allerhöchste Zeit, diese braune Horde auszurotten!“

Bereits 1935 lernte Alexander auf dem Gymnasium Christoph Probst kennen, im Herbst 1940 beim Studium in München Hans Scholl und ab dem Sommersemester 1942 auch Willi Graf. Ab Anfang 1941 lud er Hans Scholl in sein Elternhaus nach München-Harlaching ein. Er versammelte Gleichgesinnte um sich, um mit ihnen theologische, philosophische und literarische Werke zu lesen und zu diskutieren. Von Mai bis Juli 1942 verfasste er zusammen mit Hans Scholl die ersten vier Flugblätter. Im Dezember 1942 suchte er mit Hans Scholl den Kontakt zu Prof. Dr. Kurt Huber. Gemeinsam verfassten sie im Januar 1943 das fünfte Flugblatt „Aufruf an alle Deutschen!“, das Schmorell anschließend in österreich. Städten verteilte. Zusammen mit Hans Scholl und Willi Graf schrieb er auch Parolen wie „Nieder mit Hitler“ und „Freiheit“ an Hauswände in München.

Von Schmorell soll beispielsweise der folgende Abschnitt im zweiten Flugblatt stammen, der den Mord an den Juden zum ersten Mal öffentlich bekannt gemacht hat:

„Nicht über die Judenfrage wollen wir in diesem Blatte schreiben, keine Verteidigungsrede verfassen nein, nur als Beispiel wollen wir die Tatsache kurz anführen, die Tatsache, daß seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialischste Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann. Auch die Juden sind doch Menschen – man mag sich zur Judenfrage stellen wie man will –, und an Menschen wurde solches verübt. Vielleicht sagt jemand, die Juden hätten ein solches Schicksal verdient; diese Behauptung wäre eine ungeheure Anmaßung; aber angenommen, es sagte jemand dies, wie stellt er sich dann zu der Tatsache, daß die gesamte polnische adlige Jugend vernichtet worden ist (gebe Gott, daß sie es noch nicht ist!)? Auf welche Art, fragen Sie, ist solches geschehen? Alle männlichen Sprößlinge aus adeligen Geschlechtern zwischen 15 und 20 Jahren wurden in Konzentrationslagern nach Deutschland zu Zwangsarbeit, alle Mädchen gleichen Alters nach Norwegen in die Bordelle der SS verschleppt! Wozu wir dies Ihnen alles erzählen, da Sie es schon selber wissen, wenn nicht diese, so andere gleich schwere Verbrechen des fürchterlichen Untermenschentums? Weil hier eine Frage berührt wird, die uns alle zutiefst angeht und allen zu denken geben muß. Warum verhält sich das deutsche Volk angesichts all dieser scheußlichsten, menschenunwürdigsten Verbrechen so apathisch? Kaum irgend jemand macht sich Gedanken darüber. Die Tatsache wird als solche hingenommen und ad acta gelegt. Und wieder schläft das deutsche Volk in seinem stumpfen, blöden Schlaf weiter und gibt diesen faschistischen Verbrechern Mut und Gelegenheit, weiterzuwüten – und diese tun es. Sollte dies ein Zeichen dafür sein, daß die Deutschen in ihren primitivsten menschlichen Gefühlen verroht sind, daß keine Saite in ihnen schrill aufschreit, im Angesicht solcher Taten, daß sie in einen tödlichen Schlaf versunken sind, aus dem es kein Erwachen mehr gibt, nie, niemals? Es scheint so und ist es bestimmt, wenn der Deutsche nicht endlich aus dieser Dumpfheit auffährt, wenn er nicht protestiert, wo immer er nur kann, gegen diese Verbrecherclique, wenn er mit diesen Hunderttausenden von Opfern nicht mitleidet. Und nicht nur Mitleid muß er empfinden, nein, noch viel mehr: Mitschuld. Denn er gibt durch sein apathisches Verhalten diesen dunklen Menschen erst die Möglichkeit, so zu handeln, er leidet diese „Regierung“, die eine so unendliche Schuld auf sich geladen hat, ja, er ist doch selbst schuld daran, daß sie überhaupt entstehen konnte! Ein jeder will sich von einer solchen Mitschuld freisprechen, ein jeder tut es und schläft dann wieder mit ruhigstem, bestem Gewissen. Aber er kann sich nicht freisprechen, ein jeder ist schuldig, schuldig, schuldig! Doch ist es noch nicht zu spät, diese abscheulichste aller Mißgeburten von Regierungen aus der Welt zu schaffen, um nicht noch mehr Schuld auf sich zu laden. Jetzt, da uns in den letzten Jahren die Augen vollkommen geöffnet worden sind, da wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, jetzt ist es allerhöchste Zeit, diese braune Horde auszurotten. Bis zum Ausbruch des Krieges war der größte Teil des deutschen Volkes geblendet, die Nationalsozialisten zeigten sich nicht in ihrer wahren Gestalt, doch jetzt, da man sie erkannt hat, muß es die einzige und höchste Pflicht, ja heiligste Pflicht eines jeden Deutschen sein, diese Bestien zu vertilgen!“

„Wohl ist der Mensch frei, aber er ist wehrlos wider das Böse ohne den wahren Gott“

Gleichzeitig war sich Alexander Schmorell darüber im Klaren, dass es sich beim Phänomen des Nationalsozialismus um ein Geheimnis des Bösen handelt. Im vierten Flugblatt heißt es: „Jedes Wort, das aus Hitlers Munde kommt, ist Lüge. Wenn er Frieden sagt, meint er den Krieg, und wenn er in frevelhaftester Weise den Namen des Allmächtigen nennt, meint er die Macht des Bösen, den gefallenen Engel, den Satan. Sein Mund ist der stinkende Rachen der Hölle, und seine Macht ist im Grunde verworfen. Wohl muß man mit rationalen Mitteln den Kampf wider den nationalsozialistischen Terrorstaat führen; wer aber heute noch an der realen Existenz der dämonischen Mächte zweifelt, hat den metaphysischen Hintergrund dieses Krieges bei weitem nicht begriffen. Hinter dem Konkreten, hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren, hinter allen sachlichen, logischen Überlegungen steht das Irrationale, d. i. der Kampf wider den Dämon, wider den Boten des Antichrist. Überall und zu allen Zeiten haben die Dämonen im Dunkeln gelauert auf die Stunde, da der Mensch schwach wird, da er seine ihm von Gott auf Freiheit gegründete Stellung im ordo eigenmächtig verläßt, da er dem Druck des Bösen nachgibt, sich von den Mächten höherer Ordnung loslöst und so, nachdem er den ersten Schritt freiwillig getan, zum zweiten und dritten und immer weiter getrieben wird mit rasend steigernder Geschwindigkeit – überall und zu allen Zeiten der höchsten Not sind Menschen aufgestanden, Propheten, Heilige, die ihre Freiheit gewahrt hatten, die auf den Einzigen Gott hinwiesen und mit seiner Hilfe das Volk zur Umkehr mahnten. Wohl ist der Mensch frei, aber er ist wehrlos wider das Böse ohne den wahren Gott, er ist wie ein Schiff ohne Ruder, dem Sturme preisgegeben, wie ein Säugling ohne Mutter, wie eine Wolke, die sich auflöst.

Gibt es, so frage ich Dich, der Du ein Christ bist, gibt es in diesem Ringen um die Erhaltung Deiner höchsten Güter ein Zögern, ein Spiel mit Intrigen, ein Hinausschieben der Entscheidung in der Hoffnung, daß ein anderer die Waffen erhebt, um Dich zu verteidigen? Hat Dir nicht Gott selbst die Kraft und den Mut gegeben zu kämpfen? Wir müssen das Böse dort angreifen, wo es am mächtigsten ist, und es ist am mächtigsten in der Macht Hitlers.“

Was die jungen Studenten im eigenen Erleben der Diktatur erspürt hatten, fand ein gewaltiges Echo in der Ansprache des deutschen Papstes Benedikt XVI. am 28. Mai 2006 im KZ Auschwitz-Birkenau. Wie das zarte Pflänzchen der „Weißen Rose“ – völlig auf sich gestellt –  die Ereignisse zu beurteilten versuchte, so wagte auch der Papst eine Bewertung. Man ist unwillkürlich an die Geistigkeit Schmorells erinnert, wenn er über den Holocaust sagte:

„Im tiefsten wollten jene Gewalttäter mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maße des Menschseins aufgerichtet hat. Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören – ihnen selber, die sich für die Starken hielten, die es verstanden hatten, die Welt an sich zu reißen. Mit dem Zerstören Israels, mit der Schoah, sollte im letzten auch die Wurzel ausgerissen werden, auf der der christliche Glaube beruht und endgültig durch den neuen, selbstgemachten Glauben an die Herrschaft des Menschen, des Starken, ersetzt werden.“

Am 2. Juli 1943, also 11 Tage vor seiner Hinrichtung, schrieb Alexander Schmorell in einem Abschiedsbrief: „… Jetzt aber bin ich soweit, dass ich auch in meiner jetzigen Lage, froh und ruhig, zuversichtlich bin – mag kommen, was da wolle. Ich hoffe, dass auch Ihr eine ähnliche Entwicklung durchgemacht habt und daß Ihr mit mir zusammen nach den tiefen Schmerzen der Trennung auf dem Standpunkt angelangt seid, wo Ihr für alles Gott dankt.

Dieses ganze Unglück war notwendig, um mir die Augen zu öffnen – doch nicht nur mir, sondern uns allen, all denen, die es getroffen hat – auch unsere Familie. Hoffentlich habt auch Ihr den Fingerzeig Gottes richtig verstanden.“

Den abschließenden Aufruf des vierten Flugblatts leiteten die Verfasser mit den Worten ein: „Wir weisen ausdrücklich darauf hin, daß die Weiße Rose nicht im Solde einer ausländischen Macht steht. Obgleich wir wissen, daß die nationalsozialistische Macht militärisch gebrochen werden muß, suchen wir eine Erneuerung des schwerverwundeten deutschen Geistes von innen her zu erreichen.“

Im Vertrauen auf Gott und das ewige Leben setzte Schmorell für diese Erneuerung sein irdisches Leben ein. Im Gestapo-Verhör sagte er: „Wir waren uns jedoch darüber klar, dass die Herstellung von staatsfeindlichen Druckschriften eine Handlung gegen die nationalsozialistische Regierung darstellt, die im Ermittlungsfalle zu schwersten Bestrafungen führen würde. Was ich damit getan habe, habe ich nicht unbewusst getan, sondern ich habe sogar damit gerechnet, dass ich im Ermittlungsfalle mein Leben verlieren könnte. Über das alles habe ich mich einfach hinweggesetzt, weil mir meine innere Verpflichtung zum Handeln gegen den nationalsozialistischen Staat höher gestanden ist.“ Entschieden wies er auch die Möglichkeit zurück, seine Taten zu bereuen und ein Gnadengesuch zu stellen. Vielmehr ging er im jungen Alter von 25 Jahren gefasst in den Tod.

Brücke zwischen Deutschland und Russland

Die Gerichtsprotokolle hören sich wie eine Lebensbeichte an. Vertrauensselig, wie ein Kind seiner Mutter die innersten Geheimnisse seines Herzens anvertraut, erklärte Schmorell den Beamten die Konflikte und die Entwicklung seines Gewissens sowie den daraus resultierenden Lebenslauf. Mit kindlicher Lauterkeit versichert er, dass es ihm darum gegangen sei, sowohl dem deutschen als auch dem russischen Volk rettend zu Hilfe zu kommen.

Seine Sympathie für Russland brachte er beispielsweise auch in seinen Briefen an Angelika Probst zum Ausdruck.[1] Am 28. August 1937 schrieb er ihr: „Aber gerade deshalb sehne ich mich wahrscheinlich besonders stark nach ihr (der Heimat), denn ich habe sie mir in meiner Phantasie so verdichtet und erstehen lassen, wie ich sie mir denke und wie sie mir gefällt, weit, unendlich weit, mit einfachen, offenen und ehrlichen Menschen.“

Und am 26. April 1941: „Mein Vater erzählte von Russland, er erinnerte sich so gerne an diese unwiederbringlichen Zeiten. Er sprach von dem Gut, das sie im Ural-Gebirge hatten. Es war groß – 64.000 Hektar – lag am Fuße des Gebirges, weit weg von jeder Stadt – es war ein Paradies.“

Ganz Russland betrachtet Alex. Schmorell als seinen Heiligen. Es war beachtlich, welche Aufmerksamkeit die Medien seiner „Verherrlichung“ schenkten. Sogar in den Hauptnachrichten wurden die wichtigsten Stationen seines Lebens nachgezeichnet. Schmorell aber ist nicht nur der Stolz der derzeitigen Verantwortungsträger, welche die offizielle staatskirchliche Linie vertreten. Ihn haben auch die Oppositionellen schon vor seiner Heiligsprechung als ihren Patron entdeckt. So steht er zum Beispiel den Anführern des „Russischen Politischen Komitees“ als leuchtendes Beispiel vor Augen. Zusammen mit anderen Vereinigungen organisieren sie im Vorfeld der Präsidentenwahl am 4. März 2012 die Großdemonstrationen gegen Putin. Sie weisen auch darauf hin, Alexander Schmorell habe in den 30er Jahren Kontakt mit dem sog. „Nationalen Arbeitsbund der neuen Generation“ (heute „NTS – Bund der russischen Solidaristen e.V.“ mit Sitz in Frankfurt/M.) aufgenommen. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Exilrussen, die dem Bolschewismus in Russland den Kampf angesagt hatten und im Untergrund aktiv waren. Viele von ihnen wurden ab Sommer 1943 Opfer der NS-Diktatur.

Aber Alexander Schmorell lässt sich von keiner Seite vereinnahmen, weder von einem Land, noch von einer Konfession, noch von einem politischen Lager. Seine weite Anerkennung ist zu begrüßen; denn er vermag allen die Augen für die Kraft und Verantwortung des menschlichen Geistes zu öffnen, Masken zu zerbrechen und so Völker und Gläubige wieder zu verbinden. Er ist Wächter des Geistes, der die wahre Freiheit verteidigt, welche die entscheidende Grundlage für unsere Würde bildet und uns zum unerschrockenen Einsatz für göttliche Ideale befähigt. 


[1] Alexander Schmorell – Christoph Probst. Gesammelte Briefe, hrsg. von Christiane Moll, Lukas Verlag, Berlin 2011.

Verherrlichung von Alexander Schmorell

Die Russisch-Orthodoxe Auslandskirche besitzt in München eine Kathedrale der „Neumärtyrer und Bekenner Russlands“. Sie war Schauplatz der Feiern der Verherrlichung von Alexander Schmorell am 4. und 5. Februar 2012. Diese Heiligsprechung gilt zunächst nur für die Diözese Berlin und Deutschland. Es ist aber zu erwarten, dass sich weitere Diözesen bald anschließen werden. Wir freuen uns sehr, dass der für Berlin und Deutschland zuständige Erzbischof Mark „Kirche heute“ ein Interview gegeben hat.

Interview mit Erzbischof Mark

Kirche heute: Was hat Alexander Schmorell aus Ihrer Sicht den Menschen in der heutigen Zeit zu sagen?

Erzbischof Mark: Christliche Grundeinstellungen sind nicht der Zeit und dem Ort untertan, sondern sind immer und überall gültig. Gerade die Jugend sollte sich an ein solches Beispiel des bedingungslosen Eintretens für christliche Werte bewusst werden.

Kirche heute: Wie haben Sie die Feiern seiner Verherrlichung erlebt? Was waren die Höhepunkte?

Erzbischof Mark: Höhepunkte waren zunächst das letzte Totengedenken am Grab des Ermordeten auf dem Friedhof im Perlacher Forst. Dies ist vor der Verherrlichung eines Heiligen üblich. Es war hier besonders denkwürdig, da unsere Gemeinde über die vergangenen Jahrzehnte hinaus mehrmals jährlich am Grab derartige Totengedenken durchgeführt hat. In der Gemeinde leben noch Menschen, die die unweit des Grabes des Märtyrers Alexander Schmorell begrabene Kinderfrau persönlich kannten und mit ihr engen Kontakt pflegten. Weiterer Höhepunkt war das Heraustragen der Ikone im Morgengottesdienst mit der Verherrlichung des Märtyrers, wodurch er in die Millionen zählende Schar der russischen Neumärtyrer und Bekenner eingereiht wurde. Besonders feierlich war die sonntägliche Liturgie mit hohen Würdenträgern aus Russland und Europa.

Kirche heute: An der Feier haben hochrangige Ehrengäste teilgenommen. Welche wichtigen Aussagen haben sie zur Verherrlichung von Alexander Schmorell gemacht?

Erzbischof Mark: Es wurde hervorgehoben, dass dieser Märtyrer des 20. Jahrhunderts Russland und Deutschland verbindet, das russische und das deutsche Volk. Gleichzeitig hat er ein Zeichen des Widerstands gegen jedwede Diktatur und Totalitarismus gesetzt – er wandte sich ausdrücklich sowohl gegen den Nationalsozialismus als auch gegen den Bolschewismus und trat für die Wiederherstellung der Monarchie in Russland ein, die er als einzige rechtmäßige Staatsform ansah.

Kirche heute: Waren auch Vertreter der katholischen Kirche anwesend? Haben sie in irgendeiner Weise mitgewirkt oder einen Beitrag geleistet?

Erzbischof Mark: Der anwesende Weihbischof der Diözese Freising und München verlas eine Grußbotschaft während des auf die Liturgie folgenden Empfangs.

Kirche heute: In verschiedenen Publikationen heißt es, eigentlich sei Alexander Schmorell bereits 1981 unter die Heiligen der orthodoxen Kirche aufgenommen worden, nur sei damals keine kirchliche Verherrlichung gefeiert worden. Wie ist diese Information zu verstehen?

Erzbischof Mark: Diese Meinung entspricht nicht den Tatsachen. Die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland hat 1981 eine große Schar von Neumärtyrern und Bekennern verherrlicht, deren Lebensbeschreibungen im Detail untersucht wurden. Dies waren jedoch überwiegend Menschen, die in Russland selbst das Martyrium erlitten hatten. Damals war die Zeit für die Verherrlichung Alexander Schmorells noch nicht reif – es war noch kein genügender zeitlicher Abstand zu seinem Martyrium gegeben. Außerdem unterschied sich sein Leben und Tod grundsätzlich von dem der Schar der russischen Neumärtyrer dadurch, dass er außerhalb Russlands und von einem anderen Regime ermordet wurde.

Die Verherrlichung aller Neumärtyrer und Bekenner Russlands war eine gesamtkirchliche Verherrlichung, die später auch von der Kirche in Russland (Moskauer Patriarchat) übernommen wurde. Die Verherrlichung des Märtyrers Alexander Schmorell dagegen ist eine lokale Verherrlichung, die zunächst nur für die Deutsche Diözese Bedeutung trägt. Ob diese Verherrlichung von anderen Diözesen und Kirchen übernommen wird, ist eine Frage des Willens dieser Diözesen und der Zeit. Die Diözese von San Francisco und Westamerika hat diese Verherrlichung bereits am vergangenen Sonntag übernommen.

Kirche heute: Wie steht das Moskauer Patriarchat zur Verherrlichung von Alexander Schmorell?

Erzbischof Mark: Das Moskauer Patriarchat ist davon unterrichtet. Als selbstverwaltende Kirche hat die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland, wie z.B. auch die Ukrainische Kirche, das Recht, selbständig Heilige zu verherrlichen. Drei Bischöfe der Kirche des Moskauer Patriarchats haben am Sonnabend und Sonntag mit uns an der Verherrlichung teilgenommen.

Kirche heute: Am 17. Mai 2007 erfolgte die offizielle Wiedervereinigung der Russisch-Orthodoxen Auslandskirche mit dem Moskauer Patriarchat. Wie haben sich seitdem die Beziehungen entwickelt?

Erzbischof Mark: Die Beziehungen haben sich organisch entwickelt, wie es zwischen Teilen einer Landeskirche üblich ist. Wir tauschen uns in allen wichtigen Fragen aus, Bischöfe der Auslandskirche nehmen an allen wichtigen Ereignissen der Kirche in Russland und vor allem an den Konzilen teil.

Kirche heute: Alexander Schmorell wird auch in der katholischen Kirche hoch geachtet. Wie stehen Sie dazu, wenn nun auch katholische Gläubige Alexander Schmorell als Heiligen verehren? Verstehen Sie es eher als Vereinnahmung oder als positives Zeichen einer wünschenswerten ökumenischen Annäherung?

Erzbischof Mark: Ich verstehe dies als ein positives Zeichen, das bei gutem Willen zu einem besseren gegenseitigen Verstehen in den getrennten Traditionen führen kann.

Kirche heute: Welches von Alexander Schmorell überlieferte Wort berührt Sie persönlich am meisten?

Erzbischof Mark: Mich berührt am meisten seine Absage an die Möglichkeit einer „Begnadigung“ seitens eines Unrechtsregimes unter der Bedingung der „Reue“ für seine Taten und sein mutiges Einstehen für seinen orthodoxen Glauben und seine Aussage, er würde genauso handeln, wenn ihm noch ein Leben gegeben würde.

Zerreißprobe unter chinesischen Katholiken dauert an:

Begegnung mit Chinas „Untergrundkirche“

Im Jahr 2007 hat Papst Benedikt XVI. einen Brief an die katholische Kirche in China gerichtet. Darin bringt er den sehnlichen Wunsch zum Ausdruck, dass die Katholiken der papsttreuen „Untergrundkirche“ und der von den Kommunisten eingesetzten „Patriotischen Vereinigung“ aufeinander zugehen und im Geist der Vergebung die Einheit suchen. Chinesische Bischöfe hatten das Schreiben als Meilenstein bezeichnet. Doch die Situation ist weiterhin kompliziert und von unseligen Spannungen erfüllt. Insbesondere ruft die Frage der Bischofsernennungen bis heute Konflikte hervor. Der nachfolgende Erfahrungsbericht wirft ein erhellendes Licht auf die kirchliche Lage in China und regt zum Gebet für die Evangelisierung des Landes an. Benedikt XVI. setzte für den 24. Mai sogar einen jährlichen „Weltgebetstag für China“ ein, der 2008 zum ersten Mal begangen wurde. Als Datum wählte der Papst den Festtag der Gottesmutter von Sheshan, dem größten Marienwallfahrtsort Chinas nahe Shanghai.

Von Marie-Elisabeth Van

Der Wagen hält an einer Straßenecke. Die Schwestern diskutieren heftig und ändern im 30-Sekunden-Takt den „Schlachtplan“. Wir sollen einen Priester treffen, der seit sieben Jahren im Gefängnis ist, nun aber einige Tage im Krankenhaus behandelt wird. Überraschenderweise ist es ihm heute erlaubt, seine „Eltern“ zu besuchen, die in Wirklichkeit fromme Christen mit guten Beziehungen zur Polizei sind. Sie besitzen einen Massagesalon, wohin der Priester unter Aufsicht von zwei Beamten gebracht worden ist.

Diskutiert wird nun, wie die Ordensfrauen und wir – zwei aufsehenerregende Europäer – unbemerkt ebenfalls in den Massagesalon gelangen könnten. Schließlich bekommen wir Anweisungen für das weitere Vorgehen. Die Schwestern huschen alle über die Straße; wir selbst fahren noch dreimal um den Block und verlassen den Wagen an einer anderen Straßenecke vor dem Haupteingang des Massagesalons. Ein Mann empfängt uns lächelnd und bedeutet uns, ihm schweigend zu folgen. „Westler“ besuchen bekanntlich gerne solche asiatischen Salons, so dass unser Besuch keine allzu große Skepsis zu erwecken droht. Es will nur keiner mit uns gesehen werden, denn in dieser Millionenstadt – für unsere chinesischen Gastgeber eine Kleinstadt – ist Besuch aus dem Westen noch sehr selten. Wenn irgendwo Ausländer auftauchen, strömt sofort das Volk zusammen und bestürmt den chinesischen Begleiter mit Fragen.

Genau diese Fragen aber können sich die Katholiken aus dem Untergrund nicht leisten. Denn wie kommt es zum Beispiel, dass unsere Begleiterin, die doch alle kennen und die aus ärmlichen Verhältnissen stammt, fließend englisch spricht? Da ist doch etwas „faul“. Tatsächlich, denn sie ist in Wirklichkeit Ordensfrau und hat mit Hilfe eines Stipendiums vier Jahre in Europa studiert. Dort haben wir sie auch kennen gelernt, und nun hat sie uns eingeladen, die Realität kennen zu lernen, in der sie und ihre Mitschwestern ihren Glauben zu leben versuchen.

Der Orden ist noch sehr jung, die chinesische Gründung eines Bischofs, der auf den Ruf der Muttergottes in Fatima antworten wollte: Buße tun für die Bekehrung der Sünder. Die Schwestern fasten dreimal die Woche, beten zwei bis drei Rosenkränze am Tag, dazu das ganze Stundengebet und eine Stunde stilles Gebet und Anbetung. Dies jedoch alles im Untergrund. Die eigentliche Buße liegt daher gar nicht so sehr in den frommen Werken, als vielmehr in dem Leben, das ihnen die Umstände auferlegen.

Die Verfolgungssituation bringt es mit sich, dass die einzelne Schwester noch nicht einmal ein Bett ihr eigen nennen kann. Zu zweit bis viert, oder gar mehr, teilen sie sich ein Bett und einen Tisch in einem Zimmer, das ihnen zugleich als Kapelle, Schlaf-, Studien- und Arbeitszimmer, Küche und Badezimmer dient. An ein eigenes Kloster war bisher nicht zu denken. Christliche Familien erklären sich darum bereit, eines ihrer Zimmer den Schwestern zu Verfügung zu stellen, was dann auch bedeutet, dass sie die Schwestern durchfüttern müssen. Dort bleiben sie so lange, bis sie entweder ein Nachbar an die Polizei verpfeift oder aber die Familie das Zimmer nicht länger entbehren kann.

„Unsere Schwester“ musste auf diese Weise während eines Noviziatsjahres 30 Mal umziehen. Das war im Jahr 1995, als die Verfolgung besonders schlimm wütete. Oft mussten alle Schwestern auf der Straße übernachten oder unter dem Stroh auf einem Traktor-Anhänger. Selbst in der Hocke können sie nun schlafen. Diese radikale Teilhabe an der Heimatlosigkeit des Menschensohnes, der keinen Ort hat, wo er sein Haupt niederlegen kann, bringt die materielle Armut mit sich.

Als unsere Freundin nach dem Studium in Europa in ihre Kommunität zurückkehrte und sich erkundigte, wo denn ihre Sachen seien – Bücher, Tagebücher und allerlei Persönliches, was man so in zehn Jahren Ordensleben ansammelt –, erhielt sie zur Antwort, dass diese leider auf der Flucht verloren gegangen seien. Die verantwortliche Schwester habe nämlich aufgrund des „Schismas“ in der Diözese die Kommunität verlassen. Doch dazu später. Zunächst einmal kehren wir in den Massagesalon zurück.

Der Priester war mit den Polizisten bei seinen „Eltern“ im ersten Stock, während wir, kaum dass wir den Salon betreten hatten, in den Hinterhof „gescheucht“ wurden. Nun musste alles schnell gehen. Finger auf den Mund – bloß keinen Laut von uns geben und ab in den vierten Stock. Dort saßen wir nun leise zitternd und beteten im Flüsterton den Rosenkranz. Nach etwa einer halbe Stunde geht schließlich die Tür auf, und der Priester kommt lächelnd herein. Es war den „Eltern“ gelungen, die Polizisten zu einer Massagebehandlung zu überreden. Als die beiden entblößt auf der Pritsche lagen, kam ein anderes „Familienmitglied“ und bat, den Priester unter vier Augen zu einer Beichte sprechen zu dürfen. Warum die Polizisten ihm das gewährten, war für uns unverständlich, aber es funktionierte. Die „Beichtenden“ waren wir, und der Priester aus unserer Gruppe spendete – statt zu beichten – dem „Beichtvater“ erst mal die Krankensalbung.

Der Priester litt offensichtlich unter großen Schmerzen, doch der Besuch aus Europa war ihm wichtig. Sein Hauptanliegen war die Einheit des Klerus in der eigenen Diözese. Der eigentliche Bischof sitzt seit Jahren im Gefängnis, niemand weiß wo. Der Bischof der sog. „offiziellen Kirche“ ist gestorben. Daraufhin hat die Regierung einem Weihbischof angeboten, nach 10 Jahren Einzelhaft das Gefängnis verlassen zu dürfen, um die Administration der Diözese zu übernehmen. Dieser hat – nach Rücksprache mit Rom – das Angebot zur Befreiung angenommen, fährt nun aber einen sehr versöhnlichen Kurs mit der von Rom unabhängigen Patriotischen Assoziation. Das wiederum nimmt ihm der Großteil der Untergrundkirche übel. Denn, mit den Kommunisten macht man keine Geschäfte und schon gar nicht setzt man die Autonomie der Katholischen Kirche aufs Spiel. Die Katholiken der sog. „Untergrundkirche“ haben für ihren Glauben jahrzehntelang einen hohen Preis gezahlt; vor allem der Klerus zum Teil mit dem eigenen Blut. Die einzig denkbare Haltung dem Regime gegenüber war kompromisslose Treue zu Rom.

Auslöser der Unterdrückung war die Machtergreifung des Kommunismus im Jahre 1949. Der Religion, bekanntlich als „Opium für das Volk“ diffamiert, sollte ein Ende bereitet werden. Das Christentum mit seinen Institutionen und dem „ausländischen Personal“ galt insbesondere als „Instrument des Imperialismus“ der Westmächte und war bald Objekt der Verfolgung und Vernichtung. Sämtliche Missionare wurden des Landes verwiesen, die Nuntiatur in Beijing (Peking) 1951 geschlossen, einheimische katholische Priester und evangelische Pastoren in Gefängnisse und Arbeitslager gesteckt, wo auch vor Folter nicht halt gemacht wurde. Weil jedoch der Glaube im Volk nicht auszurotten war, versuchte die Regierung alsbald zumindest dessen Ausübung der eigenen Kontrolle zu unterwerfen. Das „Büro für Religiöse Angelegenheiten“ verpasste jeder Religion eine interne Organisation als Verwaltungsinstitution, im Fall der katholischen Kirche „Patriotische Vereinigung“ genannt und 1957 errichtet.

„Katholisch“-Sein war nun geduldet, jedoch in der Verkehrung des Wortes nur in der Form einer autonomen, chinesischen, von der Regierung kontrollierten Kirche. Das bedeutete vor allem die totale Trennung vom Papst als dem Oberhaupt der Universalkirche, aber auch Einmischung in Angelegenheiten, die direkt den Glauben und die Disziplin der Kirche betreffen. Spürbar wurde und ist die Trennung zum Teil bis heute noch in der Frage der Bischofsernennungen. So spaltete sich die katholische Kirche Chinas in einen Teil, der dem Papst unter allen Umständen die Treue halten wollte – die sog. „Untergrundkirche“ –, und solche, die aus pastoralen Gründen sich auf Kompromisse mit den staatlichen Anordnungen einließen, umgangssprachlich die „offizielle Kirche“ genannt.

Die größere Öffnung und Liberalisierung Chinas seit den 1980er Jahren brachte auch für die Religion eine politische Lockerung. Doch ist die Lage der Kirche immer noch kompliziert, die Spaltung noch nicht überwunden. Fast allen Bischöfen, auch wenn sie unerlaubt geweiht worden sind, liegt die Einheit mit Rom am Herzen, und so bitten sie häufig Rom nach einer unerlaubten Weihe um die nachträgliche Aufnahme ins Bischofskollegium.

Seit dem Brief des Papstes an die Katholische Kirche in China aus dem Jahre 2007 scheint besonders viel in Bewegung geraten zu sein. Die sprichwörtliche Papsttreue der „Untergrundkirche“ ist nun Quelle der Hoffnung für eine neu zu gewinnende Einheit der Kirche. Denn gerade von den Christen aus dem Untergrund wird nun Schweres verlangt. Der Papst ruft sie auf, „Spannungen, Spaltungen und Schuldzuweisungen zu überwinden“. Und das bedeutet vor allem für die Untergrundkirche, das viele, von den Glaubensbrüdern aus der „Patriotischen Vereinigung“ erlittene Unrecht vergeben zu müssen.

Papst Benedikt XVI. macht sich in seinem Brief die Worte Johannes Pauls II. zu eigen und schreibt: „Mein sehnlichster Wunsch ist, dass ihr den inneren Eingebungen des Heiligen Geistes nachkommt und euch gegenseitig all das vergebt, was zu vergeben ist, euch einander näherkommt, euch gegenseitig akzeptiert und alle Barrieren überwindet, um all das zu umgehen, was euch trennen kann.

Vergesst die Worte Jesu beim Letzten Abendmahl nicht: ,,Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Joh 13,35) (Brief, Nr. 6).

Die Theorie klingt schön, doch die Praxis ist hart. Kehren wir zurück in „unsere Diözese“: Den Brief des Papstes kennen die Katholiken dort alle, doch ist dessen Umsetzung natürlich Auslegungsfrage. Es herrscht viel Unsicherheit unter den Gläubigen. Zum Beispiel lernten wir sehr überzeugende junge Ehepaare kennen, die fern der Heimat in Peking arbeiten. Weil sie dort keinen Anschluss an eine „Untergrundgemeinde“ haben, gehen sie am Sonntag in die offizielle Kirche, trauen sich aber nicht, „the Body of God“, wie sie die Hl. Kommunion nennen, zu empfangen – aus Angst, dadurch Rom untreu zu werden. Dass der Sakramenten­empfang bei Unerreichbarkeit eines Spenders der eigenen Gemeinschaft im Notfall auch von einem zwar unerlaubt, aber dennoch gültig geweihten Amtsträger erlaubt ist, war ihnen nicht bekannt.

Was den aus dem Gefängnis entlassenen Bischof betrifft, glauben nun die frommen Leute, er sei von Rom abgefallen. Ein großer Teil des Klerus hat ihm den Rücken zugekehrt und verweigert die Hl. Kommunion solchen Gläubigen, die zu anderer Gelegenheit Einheit mit dem Bischof bekundet haben. Vor allem für die dem Bischof treuen Ordensfrauen ist die Lage penibel. Da sie selbst noch dem Untergrund zugehören, sind sie auf die Gastfreundschaft und materielle Hilfe der Gläubigen angewiesen. Denen aber drohen die Priester mit faktischer „Exkommunikation“ für den Fall, dass sie einer Schwester Unterkunft gewähren. Nur ein klares Wort aus Rom – so ist man hier überzeugt – kann die Einheit wiederherstellen. Denn da ist sich der Untergrund treu geblieben: wenn 100 % sicher ist, dass der Hl. Stuhl hinter dem Bischof steht, dann deckt auch der Klerus diesem sofort den Rücken.

„Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“ Die Einheit der Christen ist die erste Voraussetzung für eine fruchtbare Evangelisation, die Asien so dringend nötig hat. Wenn man durch die anscheinend gänzlich konsumorientierten Straßen der chinesischen Großstädte schlendert, wo man im Unterschied zu anderen asiatischen Ländern erstaunlich wenig Gotteshäuser – egal welcher Religion – sieht, so hat man das Gefühl, dass diese große Kultur ihrer religiösen Seele beraubt worden ist. Der Kommunismus hat ein großes geistliches Vakuum geschaffen, das die Menschen nun mit Konsum zu füllen suchen. Zugleich aber spürt man den enormen Durst nach jenem „lebendigen Wasser“ (Joh 4,10-15), das nur Jesus geben kann. Genau diese Bewässerung der auf religiösem Gebiet so fruchtbaren Erde Asiens mit dem Wort Gottes scheint aber immer noch nur begrenzt möglich. Freilich können die Mitglieder der Patriotischen Assoziation relativ freizügig agieren, jedoch um einen hohen Preis. Glaubensinhalte, die dem Regime nicht passen – wie das 5. Gebot: „Du sollst nicht töten“ (was natürlich auch das ungeborene Leben betrifft), dürfen nicht offen verkündigt werden. Zahlreich sind die Frauen, auch unter den Christen, die grausame Gewissensnöte erleiden, weil man sie zu einer Abtreibung gezwungen hat. In vielen Provinzen müssen die Frauen die Spirale tragen und sich diesbezüglich alle drei Monate einer Untersuchung unterziehen. Dass die Spirale unter Umständen abtreibende Wirkung hat, wissen die wenigsten. Auch ist es praktisch unmöglich, Fragen der Empfängnisregelung aus kirchlicher Sicht zu besprechen oder gar danach zu leben. Familien die ansonsten bereit sind, für den Papst in den Tod zu gehen, haben fast alle nur ein Kind.

Die Kultur des Todes ist mit Händen zu greifen. Gleichzeitig gibt es große Hoffnung, dass bald neue Zeiten anbrechen. Der geistige Hunger ist im ganzen Land zu spüren. Wann immer wir die Möglichkeit hatten und unsere Gastgeber, die wir nicht unnötig gefährden wollten, in sicherer Entfernung wussten, haben wir versucht, mit den Menschen über Gott zu sprechen. Nur einmal hat uns ein tibetischer Soldat schroff den Dialog verweigert. Erst nach vielen Stunden Autofahrt – wir teilten uns mit ihm ein Privattaxi und saßen auf der einzigen Überlandstraße der Region im Stau – bekannte er uns: er würde sich schon manchmal Fragen nach Gott und einem Leben nach dem Tod stellen, jedoch sei ihnen als Militärs streng verboten, jemals mit anderen über solche Dinge zu sprechen.

Maria hat sich wie immer als unsere Wunderwaffe erwiesen. Wir hatten als „Munition“ einige hundert wundertätige Medaillen dabei, die von den Menschen dankbar, manchmal sogar unter Tränen entgegengenommen wurden. Zweitausend Jahre lang ist es den Missionaren nie wirklich gelungen, dem Großteil der Chinesen die befreiende Botschaft von der Liebe Jesu Christi zu bringen. Immer noch hält der Drache Land und Menschen in seinen Klauen gefangen. Ich bin jedoch überzeugt, dass der in Fatima verkündete Triumph des unbefleckten Herzens die Wende für China bringen wird. Maria wird auch hier schließlich dem Drachen den Kopf zertreten. Dazu jedoch bedarf sie unserer Hilfe mit der schlichten Waffe des Rosenkranzgebets.

Christus mitten in der „Stadt ohne Gott“

Dr. François Reckinger berichtet über den „Marsch für das Leben“, an dem er vergangenen Herbst in Berlin selbst teilgenommen hat. Er nimmt Bezug auf das Foto von Gegen-Demonstrantinnen und die Erwähnung des Begriffs „Stadt ohne Gott“ in der Januar-Nummer von „Kirche heute“ (S. 5f). Der Artikel hätte ihn dazu bewogen, „ein Zeugnis zu geben, wie gerade in diesem Geschehen und in dessen Auswirkungen auf die Gegen-Demonstranten die Anwesenheit Gottes spürbar“ geworden sei.

Von François Reckinger

Der „Marsch für das Leben“ am 17. September 2011 in Berlin begann um 13 Uhr auf dem Platz vor dem Bundeskanzleramt. Als ich eine halbe Stunde vorher dort ankam, hatten sich die Gegen-Demonstranten schon um die ersten Teilnehmer herumgestellt. Sie bedienten uns mit schriller Musik aus Trillerpfeifen und einem krächzenden elektronischen Gerät, hielten Schilder hoch, auf denen wir u.a. als „homophobes Pack“ beschimpft wurden, und skandierten von Zeit zu Zeit Sprechchöre mit Texten wie etwa: „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat!“

Anweisung vorab: liebend reagieren! 

Zum festgesetzten Zeitpunkt begannen die Begrüßungen und Ansprachen auf dem Podium. Die gute Qualität der dort installierten Lautsprecheranlage sicherte eine ausreichende Verständlichkeit trotz der nicht nachlassenden akustischen Störversuche seitens unserer Zaungäs­te. Für den bevorstehenden Marsch bekamen wir vom Podium her hervorragende Anweisungen. Vor allem: Auf Beleidigungen und Anrempelungen nicht reagieren! Außerdem sollten wir Männer an den beiden Außenseiten der jeweiligen Reihen marschieren, um Frauen gegebenenfalls vor Tätlichkeiten zu schützen. Aus seiner reichen Erfahrung mit solchen Veranstaltungen beschrieb ein Mitglied des Leitungsteams eine bewährte Art, mit Eindringlingen umzugehen: Wenn Gegen-Demonstranten versuchen, in die Reihen des Marsches einzudringen, können mehrere Teilnehmer stehen bleiben, die Eindringenden umringen, liebend anschauen und – ohne zu reden – im Herzen intensiv für sie beten. Die Betreffenden hätten dies meist nicht ausgehalten, sondern sofort das Weite gesucht.

Eine überraschende Begegnung

Unterwegs hatte ich dann ein wunderbares persönliches Erlebnis. Dazu muss ich erwähnen, dass ich einige Zeit zuvor, Anfang Juni 2011, in Potsdam einen Vortrag zum Thema „Schulischer Sexualkunde-Unterricht“ gehalten hatte. Übrigens war ich dorthin aufgrund eines Artikels in „Kirche heute“ eingeladen worden, den ich in der Dezember-Nummer 2010 (S. 14-16) zum selben Thema veröffentlich hatte. An diesem Vortrag nahmen mehrere junge Leute teil, die sich tadellos benahmen. Am Ende ließen sie den älteren Herrschaften den Vortritt, um ihre Meinung zu äußern und Fragen zu stellen, bevor sie sich selbst zu Wort meldeten. Als es soweit war, brachten drei von ihnen entschieden Positionen zum Ausdruck, die der katholischen Morallehre widersprechen. Ich ging auf ihre Äußerungen ein und erklärte, dass ich beim Vortrag zu bestimmten Punkten – um nicht zu langweilen – die Belege für meine Aussagen nicht angeführt hätte. Ich würde sie aber zusammen mit dem gesamten Text des Vortrags in den nächstfolgenden Tagen auf meine Homepage setzen.

Zurück zu unserem Marsch am 17. September in Berlin. Er zog sich lange hin, und es war warm. Wir begannen Müdigkeit zu verspüren, aber offenbar auch die durchschnittlich sehr viel jüngeren Gegen-Demonstranten. Sie marschierten jetzt, in kleine Einheiten aufgeteilt, an unserer Seite – von der Polizei wirksam auf Seitenstreifen und Bürgersteige verwiesen. Gewiss skandierten sie noch ab und zu ihre gewohnten Parolen, aber das klang bereits eher wie eine „Pflichtübung“. Es machte anscheinend keinen Spaß, wenn niemand von uns reagierte! Plötzlich sprach mich eine junge Gegendemonstrantin an, die zusammen mit ihrer Freundin seit ein paar Minuten links neben mir ging. Ganz menschlich und freundlich fragte sie: „Na, Herr Reckinger, wie geht es Ihnen denn?“ Ich muss ziemlich dumm dreingeschaut haben, als ich ebenso freundlich antwortete: „Gut geht es mir, aber…“; denn sie kam mir sofort zu Hilfe und sagte: „Erinnern Sie sich an Ihren Vortrag in Potsdam…?“ Ja, natürlich, das war sie, die an jenem Abend wohl die zäheste meiner Gesprächspartner/-innen gewesen war.

Umgehend rollte sie ein Transparent auseinander, das sie mit sich trug und am Ausgangspunkt der Demonstration offenbar mit ihren Leuten hochgehalten hatte. Es plädierte für eine positive Sicht homosexueller Praxis. Sie zeigte mir den Text und sagte: „Sie schreiben doch im Internet, dass Homosexualität gegen die Schöpfungsordnung Gottes verstößt.“ Sie hatte also meinen damaligen Hinweis aufgegriffen und sich meine Homepage angeschaut! Ich gab zur Antwort: „Ja, ich schreibe, dass homosexuelle Praxis nach der Lehre des Christentums gegen die Schöpfungsordnung verstößt. Und dass dem so ist, das heißt dass das Christentum dies lehrt, ist eine objektive Tatsache, die Sie überall nachlesen können.“

In diesem Augenblick wurde ich auf zwei junge Gegen-Demonstranten aufmerksam, die unmittelbar hinter meinen beiden Marschpartnerinnen hergingen. Sie waren ungehalten darüber, dass sich das Mädchen auf ein Gespräch mit mir eingelassen hatte. Doch die Angesprochene drehte sich selbstbewusst um und gab Kontra: „Aber er steht wenigstens zu seiner Überzeugung, während viele andere, wenn man sie darauf anspricht, auszuweichen versuchen.“

Daraufhin raunte einer von ihnen seinem Kollegen zu, der mit meiner Nachbarin offenbar näher verbunden war: „Dann hilf ihr doch, dass sie mal mit dem fertig wird!“ Der gab zur Antwort: „Aber du siehst ja, sie hält ja noch zu ihm. Der hat ihr ins Gehirn geschissen!“ In der Vorstellungswelt und im Jargon des Redenden bedeutete die Aussage das Maximum an Anerkennung, das er mir gegenüber – ungewollt – aussprechen konnte, nämlich, dass ich angefangen hätte, Einfluss auf das Mädchen zu gewinnen.

Wenige Sekunden danach kam von hinten die Anweisung, dass sich die gesamte Gruppe schneller in Richtung Spitze unseres Zuges bewegen sollte. Die Gegen-Demonstranten wollten sich an einer größeren Kreuzung sammeln, an der unser Zug eine andere Richtung einschlagen musste. Dort begleiteten sie dann noch einmal unseren Vorbeimarsch mit ihren Sprechchören. Anschließend wurden sie immer leiser und konnten kaum noch Aufmerksamkeit erregen. Das Gros ihrer „Truppen“ hatte zu diesem Zeitpunkt den „Kriegsschauplatz“ offenbar bereits verlassen.

Ökumenisches Finale in St. Hedwig

Zum ökumenischen Gottesdienst war die katholische Kathedrale St. Hedwig bis auf den letzten Platz gefüllt. Der emeritierte Berliner Weihbischof Wolfgang Weider, der den letzten Teil der Wegstrecke mit uns gegangen war, leitete die Feier, während der evangelische Pfarrer Philip von Preußen eine gute Predigt hielt, in der u.a. Mutter Teresa zu Ehren kam. Die gesamte Veranstaltung war ein gelungenes Beispiel ökumenischen Miteinanders in einem Bereich, in dem einem gemeinsamen Handeln nichts im Weg steht.

Einladung zum „Marsch für das Leben 2012“

Es würde mich freuen, wenn mein Bericht dazu anregen könnte, beim kommenden „Marsch für das Leben“ in Berlin dabei zu sein. Er findet am Samstag, den 22. September 2012 statt – Beginn ist wieder beim Bundeskanzleramt um 13 Uhr. Weitere Informationen gibt es unter: www.marsch-fuer-das-leben.de. Ich möchte dazu einladen, den Marsch bekanntzumachen und Interesse für die Initiative zu wecken.

Ich mache gerne für einen solchen Marsch zugunsten der Ungeborenen Werbung. Ich würde mich aber auch für Demonstrationen zugunsten von bereits Geborenen einsetzen und erachte dies für ebenso notwendig. Eine Teilnahme könnte ich mir vorstellen, wenn es sich um Initiativen handelt, die sich z.B. gegen die Produktion und Lagerung von Atombomben (in allen Ländern, nicht nur im Iran) richten würden, gegen Vorgänge im internationalen Waffenhandel, die gegen die katholische Morallehre verstoßen (und das sind wohl die meisten auf diesem Gebiet), gegen die Mehrzahl der in der Spionage geübten Praktiken oder gegen eine Weltwirtschaftspraxis, die einseitig Europa und Nordamerika favorisiert und die Entwicklungsländer ausbeutet… Wo sich Lebensrechtsbewegungen auch mit derartigen Themen beschäftigen, wäre ich dankbar für entsprechende Informationen: kontakt@f-reckinger.de

Mit Freude dem Osterfest entgegeneilen

Es ist immer wieder überraschend, wie die größte Wirkung von ganz einfachen Dingen erzielt wird. Gerade darin besteht das Geheimnis des Reiches Gottes. In einem schlichten Herzen kann die Gnade ihre Kraft entfalten. Auch für die Fastenzeit brauchen wir uns nicht komplizierte Vorsätze ausdenken. P. Notker Hiegl OSB erinnert an die bewährten Traditionen des Benediktinerordens. Seine Beispiele gipfeln in dem Vorschlag, den der hl. Benedikt sogar in seiner Regel festgehalten hat, nämlich für die Zeit der Vorbereitung auf Ostern ein gutes, angemessenes Buch auszuwählen und es von Anfang bis Ende zu lesen.

Von P. Notker Hiegl OSB

Am Aschermittwoch ruft uns die Hausglocke zusammen. Unter absolutem Stillschweigen begibt sich die Ordensgemeinschaft in den Kapitelsaal. Dem Profess-Alter nach stehen die Mönche aufgereiht im Chorgestühl – wie die Schwalben auf einer Telefonleitung kurz vor ihrem gemeinsamen Abflug in den Süden – und warten auf die Einführung in die Quadragesima, die 40-tägige Fastenzeit. Dazu werden einige Weisungssätze aus der Regel des hl. Benedikt vorgelesen, die Vater Erzabt für die nun beginnende österliche Bußzeit konkret erläutert. Bevor er das Wort ergreift, gibt er einem jüngeren Mitbruder durch ein Handzeichen die Erlaubnis, die Stellen aus der Benediktus-Regel vorzutragen. Und Jahr für Jahr bekommen wir dasselbe zu hören – im Wissen um die Bedeutung des alten Sprichworts: „Repetitio est mater studiorum“ – „Die Wiederholung ist die Mutter der Weisheit“.

Weisungen zur Fastenzeit in der Benediktus-Regel

Um das Jahr 520 – also vor etwa 1490 Jahren – schrieb der hl. Benedikt seine Regel, damals aktuell ebenso wie heute. Und sie gilt für die Mönche wie für alle gläubigen Christen in der je eigenen Form der Umkehr und persönlichen Askese. Für die Ordensgemeinschaft gibt es allerdings außer der kirchlichen noch eine klösterliche Bußordnung. So beginnt das monastische Fasten bereits mit dem Fest Kreuzerhöhung am 14. September.

Hier nun zunächst der etwas längere Text aus dem Kapitel 49 der Regel: „Das Leben des Mönches soll zwar immer eine Beobachtung der Fastenzeit sein. Da jedoch nur wenige die Kraft dazu haben, so mahnen wir, wenigstens in diesen Tagen der Fastenzeit sein Leben ganz rein zu bewahren und in diesen heiligen Tagen zugleich alle Nachlässigkeiten der anderen Zeiten zu sühnen. Dies geschieht dann in würdiger Weise, wenn wir uns vor allen Fehlern hüten und des Gebets mit Tränen, der Lesung, der Zerknirschung des Herzens und der Enthaltsamkeit befleißen. In diesen Tagen wollen wir also zu unserer gewöhnlichen Dienstleistung etwas hinzufügen: besondere Gebete, Abbruch an Speise und Trank. Ein jeder bringe über das ihm bestimmte Maß hinaus etwas aus eigenem Willen, ‚in der Freude des Heiligen Geistes‘ Gott als Opfer dar, das heißt: er entziehe seinem Leibe etwas im Essen, Trinken, Schlafen, Reden, Scherzen und harre in Freude und Sehnsucht des Geistes dem heiligen Osterfest entgegen. Was jeder als Opfer darbringt, das unterbreite er aber seinem Abt; und es geschehe mit seinem Segens-Gebet und Willen; denn was ohne Erlaubnis des geistlichen Vaters geschieht, wird als Anmaßung und eitle Ruhmsucht, nicht als Verdienst angerechnet. Man tue demnach alles mit dem Willen des Abtes.“

Nach einer kurzen Stille liest der beauftragte Mönch noch einen weiteren Impuls aus Kapitel 48 vor: „Für diese Tage der Fastenzeit erhalte jeder aus der Bibliothek ein Buch, das er von Anfang bis Ende ganz lesen soll. Diese Bücher sind zu Beginn der Fastenzeit auszugeben.“ Dann erst beginnt der Erzabt seine Homilie mit konkreten Hinweisen zur Beobachtung der Fastenzeit.

Gebet, Fasten und Opfer

Was unser Erzabt am Aschermittwoch sagen wird, weiß ich natürlich noch nicht. Aber mir kommen zu den obigen Texten folgende Gedanken: Selbstverständlich habe ich als Mönchs-Pfarrer an den verschiedenen Faschingsfeiern teilgenommen, an der Kirchenchor-Fasnet mit vielen herrlichen Bonmots, an der Dorf-Fasnet mit 10 verschiedenen Nummern, vom Kinder-Ballett bis zum etwas derberen Sketsch. Und dann sang die auch durch den Alkohol etwas beschwingte Gemeinde das Schunkel-Lied: „Am Aschermittwoch ist alles vorbei!“ Für viele ist es wirklich so: Einiges ist vorbei. Sie versuchen bis Ostern, etwas von ihrem Winterspeck loszuwerden und schränken den Konsum an Nahrungs- oder Genussmitteln ein. Laut DPA/Deutscher Presse-Agentur verzichtet jeder fünfte Deutsche in dieser Zeit auf Alkohol, Süßigkeiten oder Zigaretten. Manche setzen andere Zeichen. Sie versuchen den Fernsehkonsum mit der Sportschau, den Krimis und den Liebes- und Krankenhaus-Filmen zu reduzieren. Auch unnötiges Autofahren oder Surfen im Internet einzuschränken bzw. ganz zu lassen, ist eine moderne Art zu fasten. Bei uns im Kloster war es bis vor wenigen Jahren „Usus“ (heute freigestellt), eine sog. „Fasten-Schedula“ zu schreiben, das heißt einen Zettel mit den drei Begriffen „Gebet“, „Fasten“ und „Opfer“. Manche Mitbrüder schreiben beim „Gebet“ z. B. einen zusätzlichen täglichen Rosenkranz auf, bei „Opfer“ die Bereitschaft, sich für zwei bis drei Wochen als Geschirr-Spüler zur Verfügung zu stellen. P. Martin selig notierte zum Punkt „Fasten“: „Zweimal in der Woche keine Butter zum Frühstück“. Da es sowieso dreimal keine Butter zum Frühstück gibt, strich ihm Vater Erzabt dieses „Opfer“ durch und schrieb dahinter: „fünfmal!“

Nach der Ansprache des Erzabtes stehen wir auf und begeben uns in Prozession zum Hochamt, wo wir Mönche uns und das in der Kirche anwesende gläubige Volk mit dem Aschenkreuz auf der Stirn bezeichnen lassen. Asche ist das Zeichen der Vergänglichkeit. Wir bekennen uns zu dieser Dimension des Lebens im Wissen, dass wir von Gott kommen und berufen sind, zu ihm zurückzukehren. Wir leben in Gott und dürfen in Gottes Herrlichkeit hineingehen, in das Ewige Leben, hinein in das Ewige Licht, in die Ewige Liebe.

Ein Buch von Anfang bis Ende lesen

 „… erhalte jeder ein Buch aus der Bibliothek, das er von Anfang bis Ende ganz lesen soll.“ Was beweist mir dieser Satz? Zunächst setzt Benedikt voraus, dass die meisten seiner Brüder lesen können, was für uns heutige Menschen auch gilt. Außerdem bedeutet der Hinweis, dass ein Kloster eine Bibliothek besitzt. Es war in den benediktinisch geprägten Gemeinschaften also nicht nur die „Handarbeit“, wie das Flechten von Körben und Matten, im Kurs, sondern auch die „lectio divina“, das Lesen von Schriften, welche sich mit Gott beschäftigen. Natürlich gab es damals noch keine „Schmuck-Bibliotheken“, wie man sie heute in den berühmten Barockklöstern wie Melk, St. Gallen oder Maria Einsiedeln bewundern kann, auch keine Mega-Bibliotheken – wie im Kloster Beuron. Dennoch gab es die Schreibstuben, in denen die Heiligen Bücher vor allem des Alten und des Neuen Testaments vervielfältigt wurden – in unendlich schöner Schrift und mit entsprechenden Initialen.

Jeder Mönch also, der des Lesens kundig war, sollte ein Buch für die Fastenzeit erhalten und es von Anfang bis zum Ende durchlesen, nicht nur so zum „Hineinschnüffeln“, sondern zum intensiven „Studium“, damit er durch die Beschäftigung mit göttlichen Dingen geprägt werde. Denn das Wort ist eine Macht. So kann ich auch heute dieses benediktinische Prinzip des Lesens eines ganzen Buches nur weiterempfehlen. Für den hl. Benedikt geht es dabei in erster Linie um ein Buch aus der Bibel, das heißt um ein Buch aus der 46er Zahl des Alten Testaments oder aus der 27er Zahl des Neuen Testaments, z.B. das Buch „Exodus“, das Buch „Job“ oder das „Lukasevangelium“. Das ist für die Fastenzeit nicht zuviel, daher kann es intensiv und mit der ganzen Kraft des Herzens aufgenommen werden.

Wir sollen unser Fasten, Beten und Opfern nicht zur Schau stellen (vgl. Mt 6,1-6; 16-18). In der Bergpredigt heißt es: „Du aber salbe dein Haar, wenn du fastest, und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest!“ – Wenn jemand gerade eine depressive Phase durchmacht und sich seelisch in einer Talsohle befindet, so muss er nicht unbedingt das Buch „Job“ lesen.

Man darf sich für die Fastenzeit gerne auch vornehmen, ein außerbiblisches Buch „von Anfang bis Ende“ zu lesen. Manchen ist in ihrer Situation zu raten, ein Buch zu wählen, das ihrem Herzen einfach gut tut, z.B. ein Buch von Samuel Langhorne Clemens alias Mark Twain: „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ oder „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“.

Zu Beginn der Fastenzeit dürfen wir Gott bitten: Herr, schenke Deiner ganzen Kirche dieses gewisse „Mehr“ als sonst im Jahreslauf, schenke uns mehr an Eifer für Dich und für den Mitbruder, die Mitschwester an unserer Seite, schenke uns Licht ins Herz – auch durch eine gute Beichte, schenke uns eine gesegnete Fastenzeit und ein leuchtendes Osterfest!

Todesdefinitionen unter der Lupe: Kritik und Synthese

Der natürliche Tod und die „Heilige Viertelstunde“

Noch einmal geht Anton Graf von Wengersky auf die Frage nach dem Tod des Menschen ein, ohne bereits die Vorstellung der christlichen Offenbarung vorauszusetzen. In einem ersten Beitrag hatte er das uralte Erfahrungswissen der Menschheit über Sterben und Tod dargestellt, in zwei weiteren Folgen das aktuelle Wissen der Ärzte und Naturwissenschaftler. Nun versucht er beides zusammenzuführen und eine Synthese zu erarbeiten. Das Ergebnis stellt er am Ende in zwölf Merksätzen zusammen, die ihre Gültigkeit unabhängig von religiösen Aspekten besitzen. Diese Grundlage bietet ihm die Möglichkeit, die gegenwärtige Diskussion über Tod, Organtransplantation und andere ethisch relevante Fragen in der Medizin kritisch zu beurteilen.

Von Anton Graf von Wengersky

Von Ärzten und Bioethikern werden uns verschiedene Todesdefinitionen angeboten (vgl. Abschnitt 2).[1] Sie sind aus dem Umgang der Mediziner mit Sterben und Tod des Menschen entstanden. Sie stellen also sozusagen die medizinisch-naturwissenschaftliche Außenansicht auf den Sterbevorgang und den Tod dar.

Um genauer zu begreifen, was es mit dem Tod auf sich hat, was die wirkliche Natur des Todes ist, was also der „natürliche Tod“ ist, müssen wir versuchen, das Erfahrungswissen der Menschen, die seit Jahrtausenden sterben und das Sterben ihrer Mitmenschen erleben (vgl. Abschnitt 1),[2] mit den uns von der Wissenschaft angebotenen Todesdefinitionen zur Kongruenz zu bringen. Nur diejenige Todesdefinition, die mit den Fakten unseres Wissens um den Tod des Menschen aus der Todesempirie zur deckungsgleichen Übereinstimmung zu bringen ist, kann der natürliche Tod sein. Von diesen Fakten abweichende Todesdefinitionen können uns hingegen allenfalls Teilerkenntnisse vermitteln. Bei direktem Widerspruch zu den uns aus dem Erfahrungswissen der Menschheit bekannt gewordenen Fakten um den Tod ist die entsprechende Todesdefinition sogar als bloße Fiktion zu klassifizieren, also als eine falsche Annahme, die in die Irre führt und unser Handeln nicht tragen kann.

Tod als eindeutiger Punkt auf der Zeitachse

Legt man nun die Aussagen der Medizin (Todesdefinitionen) und das Erfahrungswissen vom Tod des Menschen übereinander, so sticht zunächst eine Diskrepanz ins Auge. Denn die Empirie weiß (im Gegensatz zu dem sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Sterbevorgang) um den Tod als auf einen Punkt der Zeitachse – den Moment des Todes – komprimiertes Kurzzeitereignis: „Er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf“ (Joh 19,30). Im Gegensatz dazu kennen und haben die meisten Todesdefinitionen keinen Todeszeitpunkt. Der von ihnen definierte Tod wird nur ex post als eingetreten festgestellt.

Wie wir im Abschnitt 2 gesehen haben, gibt es nur eine einzige Todesdefinition, bei der der Tod nicht nur in Übereinstimmung mit unserem Erfahrungswissen als Todesmoment erfahren wird, sondern darüber hinaus (wenn die Vorrausetzungen gegeben sind) auch apparativ wissenschaftlich exakt als Augenblicksereignis im Moment seines Eintritts selbst festgestellt und gemeldet werden kann. Es handelt sich dabei um den sog. „klinischen Tod“.

Durch diese Erkenntnis verlieren die anderen ärztlich definierten Todesarten nicht ihre Bedeutung. Es bleibt dabei: Der biologische Tod markiert das Ende aller Absterbevorgänge, auch noch der letzten Zelle in der Leiche des Verstorbenen jenseits des point of no return. Der Hirntod, also das vollständige Absterben des Gehirns, wird bei jedem Sterbevorgang zwischen dem klinischen und biologischen Tod durchlaufen. Der dem klinischen Tod zeitlich vorhergehende, lediglich ärztlich definierte „Hirntod“ hingegen kann wegen der fehlenden Kongruenz mit den Fakten nicht der Tod des Menschen sein und trägt daher die Bezeichnung „Tod“ überhaupt zu Unrecht. Auch die von vielen Wissenschaftlern geforderte Präzisionserhöhung der systematisch fehlerbehafteten Hirntod-Diagnose kann an diesem grundsätzlichen Mangel der Hirntod-Definition nichts ändern. Ebenso hat der Bewusstseinstod mit des Menschen Tod, der ja der Tod des Leibes ist, nach der vorstehenden Analyse nichts zu tun. Biologischer Tod, Hirntod und Bewusstseinstod sind mit unserem Erfahrungswissen über den Tod des Menschen nicht in Übereinstimmung zu bringen. Von allen ärztlichen Todesdefinitionen ist die Kongruenz mit der Empirie allein für den klinischen Tod gegeben.

Nahtod-Erlebnisse jenseits der Todesgrenze

Diese erste Grobsichtung nach dem Todesereignis lässt uns noch mit zahlreichen Schwierigkeiten zurück. Denn unser Erfahrungswissen vom Tod des Menschen besteht über den Tod als Kurzzeitereignis hinaus noch aus zahlreichen weiteren Elementen (vgl. Abschnitt 1: Todeserlebnis, Todesgrenze). Es ist deshalb noch feiner zu prüfen, ob auch diese mit dem apparativ überwachbaren klinischen Tod in Übereinstimmung zu bringen sind.

Das größte Verständnisproblem bereiten dabei die Nahtod-Erfahrungen („Near Death Experiences“ = NDE‘s oben unter 1.2.1). Die NDE‘s sind, wie berichtet, aktuell Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Bemühungen. Zur Zeit liegt eine mit den Fakten voll übereinstimmende Erklärung dieser Erscheinungen nach meiner Kenntnis noch nicht vor. Hier müssen unsere Überlegungen ansetzen.

Zunächst fällt bei der Wahl des Terminus „Nahtod-Erlebnisse“ sogleich auf, dass darin eine Vorab-Festlegung verpackt ist: Diese Erlebnisse sollen aus einem Bereich stammen, bei dem der Betroffene „dem Tode nahe“ war, aber eben noch nicht tot, nicht jenseits der Todesgrenze. Denn von ihren Nahtod-Erlebnissen berichten uns lebende Menschen, die eben weil sie leben – so die Annahme – noch nicht tot gewesen sein können. Hält diese Vorab-Festlegung einer Nachprüfung stand? Als gedanklichen Einstieg in diese Nachprüfung will ich mich zunächst um die etymologische Analyse der möglichen Bedeutungsinhalte des Begriffs „Nahtod“ bemühen. „Dem Tode nahe“ enthält zunächst keine Angabe darüber, auf welcher Seite der Todesgrenze man sich befindet. Die auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinende Voraussetzung, dass nur ein Lebender dem Tode nahe sein kann, ist bei näherer Betrachtung so selbstverständlich nicht. Denn auch ein soeben erst Verstorbener ist, falls er überhaupt noch ist, also existiert, seinem Tode noch ganz nahe.

Es ist mit der Todesgrenze ähnlich wie mit dem, was wir allgemein als „Grenze“ bezeichnen, zum Beispiel geographisch. Die Grenze, etwa die zwischen Bayern und Österreich, ist eine Linie mit der Querausdehnung Null: Bayern und Österreich stoßen in der Grenzlinie unmittelbar aneinander. Wenn ich als Fußgänger aus Bayern nach Österreich gehe, bin ich der Grenze zunächst auf bayrischem Boden nahe. Auch nach Überschreiten der Grenze bin ich der Grenze immer noch nahe, jetzt aber auf österreichischem Boden. Bei der Überschreitung der geographischen Grenze kann ich sogar mit einem Bein im einen, mit dem anderen Bein im anderen der beiden durch die Grenze voneinander getrennten Bereiche stehen. Eine Analyse der Todesereignisse und Todeserlebnisse zeigt, dass das bei der Todesgrenze ähnlich ist (vgl. 2.2 Rawlings).

Zunächst macht aber das geografische Beispiel unmissverständlich klar, dass man beidseits einer Grenze eben dieser Grenze „nahe“ sein kann. Die beabsichtigte begriffliche Einschränkung des Terminus „Nahtod“ auf den Bedeutungsinhalt „vor dem Tod“ ist jedenfalls erst einmal etymologisch unschlüssig. Sprachlich gesehen kann ein „Nahtod-Erlebnis“ ebenso vor wie nach dem Todesereignis angesiedelt sein, solange es nur in dessen zeitlicher Nähe verbleibt. Kann es sein, dass diejenigen, die den Begriff „Nahtod“ mit der Absicht der Abgrenzung gegen das Totsein geschaffen haben, gerade in der oben herausgearbeiteten grenzüberschreitenden Doppeldeutigkeit des Begriffs der Wirklichkeit nähergekommen sind, als sie wussten?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage müssen wir uns einige der bekannten Fakten der NDE‘s noch einmal einzeln vornehmen, wie sie uns von denen erzählt werden, die ihren Tod überlebt haben und uns deshalb überhaupt etwas erzählen können:

Nahtod-Fakt 1: Das „Ich-Subjekt“ sieht seinen eigenen Körper von außerhalb, häufig aus einem gewissen Abstand. Der lebende Mensch kann nur mit den Augen seines Körpers sehen. Es ist ihm bereits unmöglich, sich selbst auf den Hinterkopf zu schauen. Das „sich selbst par distance Daliegensehen“ ist einem lebenden Menschen schlicht nicht möglich.

Nahtod-Fakt 2: Im Nahtod-Erlebnis sind alle Hinfälligkeiten seines verlassenen Leibes vom „Ich-Subjekt“ abgefallen. Blinde, deren leibliche Augen das Sehvermögen eingebüßt hatten, konnten während des NDE wieder sehen. Ein für Lebende unerklärliches Faktum. Auch waren die betroffenen Personen nach der Reanimation wieder blind.

Nahtod-Fakt 3: Das „Ich-Subjekt“ des Nahtoten unterliegt nicht mehr der Gravitation oder anderen irdischen Naturgesetzen. Nahtote beobachten die Bemühungen um ihren Körper häufig von oben, im Krankenhaus von der Zimmerdecke. Ein Bergsteiger, der sich – von einem Wettersturz überrascht – in ein zwischen zwei in den Fels geschlagene Haken gesichertes Biwak gerettet hatte, befand sich bei seinem Nahtod-Erlebnis auf einmal einige Meter von seinem im Biwak verbliebenen Körper entfernt außerhalb der Felswand, jedoch ohne abzustürzen, schwerelos.

Nahtod-Fakt 4: Alle diese extrakorporalen und außerhalb der Naturgesetze liegenden Fakten enden abrupt mit dem Erfolg der Reanimation oder dem selbsttätigen Wiederanspringen des Herzschlags (dieser Nahtod-Fakt entfällt natürlich bei allen, die nach dem Überschreiten der Todesgrenze jenseits derselben verbleiben).

Diese uns vielfach berichteten Nahtod-Fakten stehen im direkten Widerspruch zur Annahme, Nahtod-Erlebnisse seien Erlebnisse eines Sterbenden vor seinem Tod. „Nahtod“ als eine Annäherung an den Tod vom Leben her und noch im Leben ist demnach mit den berichteten Nahtod-Fakten schlicht unvereinbar.

Existenz eines „Ich-Subjekts“ nach dem Tod des Leibes

Auch diese Erkenntnis lässt uns wieder mit neuen Schwierigkeiten zurück: Denn wenn solches Erleben vor der Todesgrenze nicht möglich ist, wie und wo sind Nahtod-Erlebnisse dann einzuordnen? Und wenn es Erlebnisse in der Nähe des eigenen Todes, aber erst nach dem Überschreiten der Todesgrenze sein sollten, wie sind sie dann zu erklären? Ich versuche es:

Nach den Fakten nimmt die Nahtod-Erfahrung ihren Anfang jeweils im Augenblick des Unfalls (wie in „Seit meinem Tod bin ich ein anderer Mensch“)[3] oder des klinischen Todes. Die allenfalls einsetzenden hektischen Bemühungen um seinen Leib beobachtet das „Ich-Subjekt“ schon in der Außenansicht, extrakorporal. Die Unzulänglichkeiten und Unzuträglichkeiten seines verlassenen Leibes, wie Blindheit oder Schmerzen, sind vom „Ich-Subjekt“ mit dem Verlassen des Leibes abgefallen, sein toter Körper bleibt wie ein verlassenes Gefängnis zurück. Und, das ist in allen Fällen gleich, mit dem Wiedereinzug des Lebens in den toten Körper aufgrund des Erfolgs der Reanimation ist abrupt das Ende der extrakorporalen Nahtod-Erfahrung außerhalb der Naturgesetze gekommen.

Wir erkennen: Der menschliche Körper benötigt, um lebendig zu sein, sein inkorporiertes „Ich-Subjekt“. Die „Reanimation“ als Wiederbelebung (= Wiederbeseelung) ist vom Leib her gesehen eben das, was man bei diesem Vorgang des Wiederanspringens der Lebensfunktionen eines toten Körpers als Rückkehr des „Ich“, als „Reinkorporation“ in den eigenen Körper bezeichnen kann. Reanimation und Reinkorporation, Wiederbeseelung und Wiedereinleibung im eigenen Leib sind die zwei Seiten ein und desselben Ereignisses.

Die uns von lebenden Mitmenschen berichteten Nahtod-Erlebnisse sind also – dann und nur dann sind alle Nahtod-Fakten zu erklären – in einer mit dem klinischen Tod beginnenden und mit dem Erfolg der Reanimation endenden Zeitspanne einzuordnen. Sie sind postmortal, finden also nicht als Traum oder Halluzination ante mortem, sondern post mortem statt.

Damit kommen wir an eine schwierige Erkenntnisschwelle. Denn das medizinisch-naturwissenschaftliche Wissen der Ärzte beschäftigt sich mit Leben und Tod unseres Leibes, unserer Biologie. Hier bestätigt sich die Aussage von Ralf Stoecker, dass „Leben und Tod eine Sache unserer Biologie sind, nicht unseres Personseins“. Nach unserem Erfahrungswissen gibt es aber auch nach dem Tod des Leibes, also nach dem klinischen Tod, noch ein erlebnisfähiges Subjekt, das von seinem toten Körper getrennte „Ich“.

Dieses „Ich-Subjekt“ existiert, wie wir gesehen haben, extrakorporal und außerhalb der Naturgesetze. In unserem Bemühen um das rechte Verständnis der Vorgänge rund um den Tod des Menschen haben wir hier die Grenzen von Medizin und Naturwissenschaft überschritten. Diese Tatsache erschwert das ärztliche Todesverständnis. Allerdings kommt beispielsweise der holländische Kardiologe Pim van Lommel aufgrund seiner Forschungen zu Nahtod-Erlebnissen auch als Mediziner zu dem Ergebnis, dass der Mensch ein „endloses Bewusstsein“ habe, das den Tod überdauere. Lommels „endloses Bewusstsein“ ist dabei identisch mit dem, was ich hier „Ich-Subjekt“ nenne. Die postmortale Fortexistenz eines „Ich-Subjekts“ oder, einfacher ausgedrückt, das sich an den Tod des Körpers unmittelbar anschließende körperlose Weiterleben des „Ich“ zu akzeptieren, heißt für den Naturwissenschaftler, die Grenzen seiner Wissenschaft einzuräumen und insbesondere die Tatsache anzuerkennen, dass ein vollständiges Verständnis des menschlichen Todes nur interdisziplinär möglich ist, unter Einbeziehung der Metaphysik.

Diese Schwierigkeit besteht überdies nicht nur für die Naturwissenschaftler, sondern ebenso für manche Theologen. Einige von diesen hängen dem Monismus an, lehren also die ausschließliche Körperlichkeit des Seins. Ein Monist muss die Fortexistenz eines „Ich-Subjekts“ über den Tod hinaus als Widerspruch zu seiner Lehre ablehnen. Andere Theologen wiederum sind Anhänger der „Ganztod-Theorie“: Sie anerkennen zwar die Existenz einer Seele im Körper, lehren aber deren Untergang mit dem Tod des Leibes: „Die Seele wird im Tode realontologisch der Nichtung ausgeliefert“ (zitiert aus Ladislaus Boros: „mysterium mortis“, S. 84). Diese von den Jesuitenpatres Karl Rahner und Ladislaus Boros, aber ebenso auch von Hans Küng vertretene Ansicht ist mit der Analyse der Nahtod-Fakten ebenfalls unvereinbar, die uns beim Menschen die Existenz eines nach dem Tod des Leibes weiterlebenden und jenseits des leiblichen Todes erlebnisfähigen „Ich-Subjekts“ aufzeigt.

Ist, wie uns in den NDE‘s vielfach berichtet wird, nach dem Tod unseres Leibes noch ein erlebnisfähiges „Ich-Subjekt“ vorhanden, dann ist unser Sterben und Tod tatsächlich allein ein Absterben unseres Körpers. In der Tat enden im klinischen Tod alle am Körper des Menschen ablesbaren „signs of life“ (oben 1.1): Der Atem erlischt, der Herzmuskel beendet seine Kontraktionen, der gesamte Kreislauf kommt zum Stillstand. Wie wir Menschen es vom Umgang mit Sterbenden wissen: der Tod ist da. Es beginnt, wie es mir gegenüber unlängst ein in Palliativmedizin und Sterbebegleitung erfahrener Arzt genannt hat, die „Heilige Viertelstunde“, die Todesnähe nach dem Tod. So erlebt es der Zuschauer. Auch die uns von Reanimierten erzählten Nahtod-Erlebnisse fallen in diese „Heilige Viertelstunde“, die auf den Tod folgt. Solche Nahtod-Erlebnisse hat natürlich auch der Nichtwiederbelebte. Aber der kann sie uns wegen des Fortfalls der Kommunikationsfähigkeit im Tod (vgl. 2.1) nicht erzählen.

Tritt der klinische Tod auf der Intensivstation ein, so kann statt der „Heiligen Viertelstunde“ eine Phase der Hektik und intensiven Tätigkeit einsetzen, das Bemühen um Reanimation, also um das Wieder-in-Gang-setzen von Herzschlag, Kreislauf und Atmung. Im Erfolgsfalle kehrt das Leben zurück. Und dieser Erfolgsfall der Rückkehr ins Leben ist in der Innenansicht des Patienten regelmäßig das Ende des „Nahtod-Erlebnisses“. Es sei denn, der Kreislauf stockt erneut und der klinische Tod wiederholt sich, das Nahtod-Erlebnis setzt sich in einem Pendeln um die Todesgrenze des klinischen Todes fort (vgl. 2.2 Rawlings).

Für den Arzt, so hört man es häufig, ist Voraussetzung des Reanimationserfolges die Annahme, dass der Patient noch nicht tot war. So meint etwa Birnbacher, die Bezeichnung „klinischer Tod“ lege irriger Weise nahe, „ein Patient, der seinen klinischen Tod überlebt, sei quasi durch ein Wunder gerettet worden“. Der Irrtum liegt hier eher in der Annahme, ein Toter könne nicht wiederbelebt werden. Es ist offenbar für Ärzte, die sich nur medizinisch mit den biologischen Aspekten des Sterbens befassen, schwer zu akzeptieren, dass ein Toter wiederbelebt werden kann. Viele Ärzte ziehen es stattdessen vor, auch den klinisch Toten noch als lebenden Menschen anzusehen. Eine physiologisch begründbare neue Todesgrenze können die mit dieser Annahme sympathisierenden Ärzte aber ebenso wenig anbieten, wie eine Erklärung für die Nahtod-Fakten.

Die Tatsache, dass die uns bekannt gewordenen Nahtod-Erlebnisse dem Tod nicht vorhergehen, sondern dem Tod erst nachfolgen, wird zusätzlich durch den berichteten Fortfall der Todesangst bei Menschen mit Nahtod-Erlebnissen unterstrichen.[4] Todesangst hat der Lebende vor dem bevorstehenden Tod. Die Befreiung von der Todesangst setzt gerade voraus, dass der von ihr Befreite den Tod schon einmal hinter sich gebracht hat und aufgrund seines Nahtod-Erlebnisses jetzt weiß, dass er seinen ihm jetzt neuerlich bevorstehenden Tod nicht fürchten muss.

Der klinische Tod und das Fehlen der „Zeichen des Lebens“

Unsere Grob- und Feinsichtung der Fakten hat also ergeben, dass das Erfahrungswissen der Menschheit zum Tod des Menschen tatsächlich mit einer (und nur einer) der ärztlichen Todesdefinitionen deckungsgleich übereinstimmt – mit dem klinischen Tod. Alle offenen Fragen können hier beantwortet, alle uns bekannt gewordenen Fakten verstanden werden.

Es stellt sich damit weiter heraus, dass wir uns zur Feststellung des Todes nicht auf „signs of death“ (weder auf sichere, noch auf unsichere Todeszeichen) stützen können. Für die Feststellung des Todes kommt es vielmehr auf das Fehlen der „signs of life“ an: Wo noch „Zeichen des Lebens“ (Kreislauf, Herzschlag, Atmung) vorliegen, ist kein Tod und keine Leiche, sondern ein möglicherweise sterbender, jedenfalls aber ein lebendiger Mensch. Erst mit dem Schwinden der Zeichen des Lebens wird die Todesgrenze erreicht, in der sich der Zustand des Lebendigseins und der Zustand des Totseins berühren. Im klinischen Tod wird diese Todesgrenze zum Tod hin überschritten.

Auch erkennen wir als zutreffend, was die Ärzte mit dem Vorsetzen des Wörtchens „klinisch“ vor das Wort „Tod“ ausdrücken wollten: Der „klinische Tod“ ist nicht notwendigerweise endgültig. Von diesem Todeszustand kann ärztliche Kunst, kann Reanimation den Menschen gelegentlich, selten genug, ins Leben zurückholen.

Für den, der ausschließlich naturwissenschaftlich an den Tod des Menschen herangeht, bleibt bei dieser Synthese unseres Wissens natürlich eine unbequeme Kröte zu schlucken: die Erkenntnis nämlich, dass das „Ich-Subjekt“ des Menschen den natürlichen Tod seiner Biologie, seines Leibes überlebt.

Dass der klinische Tod der „natürliche Tod“ des Menschen ist, unterstreicht auch eine weitere Tatsache: die natürliche Verwesung der Leiche des Toten. Die Verwesung hat, im Falle des Ausbleibens einer Wiederbelebung bzw. ihres Erfolges, ihren zeitlichen Startpunkt im klinischen Tod. Hingegen können die sog. „Leichen“ Hirntoter für Monate, in einigen Fällen für Jahre, überleben, ohne die natürliche Folge des Todes, also die Verwesung, zu zeigen. Auch beim sog. Individualtod oder Tod der Person bleibt die Verwesung aus, obzwar sie eine zwingende Folge des natürlichen Todes ist.

Ergebnis in 12 Merksätzen

Ich fasse zusammen, was uns die vorstehende Zusammenführung des aktuellen Wissens der Ärzte und Naturwissenschaftler mit dem uralten Erfahrungswissen der Menschheit über Sterben und Tod an Erkenntnis bringt:

(1) Der klinische Tod ist der natürliche Tod des Menschen.

(2) Der klinische Tod ist ein zeitlich punktuelles Ereignis: der Todeszeitpunkt kann auf die Minute genau angegeben und (auf der Intensivstation) apparativ überwacht werden.

(3) Ein Mensch, dem der klinische Tod erst bevorsteht, lebt.

(4) Das dem klinischen Tod vorhergehende Absterben des Gehirns ist eine bloße Nekrose eines Einzelorgans, aber nicht der Tod des Menschen.

(5) Der klinische Tod fällt mit dem Ende aller Lebenszeichen des Körpers (Kreislauf, Atmung, Herzschlag) zusammen.

(6) Im klinischen Tod stirbt allein der Leib des Menschen.

(7) Das „Ich-Subjekt“ des Menschen überlebt den Tod seines Leibes von diesem getrennt.

(8) Das vom toten Leib (= Leiche) getrennte „Ich-Subjekt“ ist von allen im Leben vor dem Tod bestehenden Hinfälligkeiten des Leibes, wie Schmerzen oder Blindheit, befreit.

(9) Der klinisch Tote kann (im Unterschied zum biologisch Toten) gelegentlich durch Reanimation ins Leben zurückgeholt werden.

(10) Die von Reanimierten berichteten Nahtod-Erlebnisse sind zeitlich nach dem klinischen Tod einzuordnen.

(11) Das zeitliche Ende der berichteten Nahtod-Erlebnisse fällt jeweils mit dem Erfolg der Reanimation zusammen.

(12) Der Mensch kann (im Unterschied zum biologischen Tod) seinen natürlichen Tod mehrmals sterben.

Die vorstehenden Merksätze beruhen auf einem Faktenabgleich des Erfahrungswissens der Menschheit von Sterben und Tod mit dem Wissen der Ärzte. Zur Formulierung der Merksätze hat das Glaubenswissen der Christen noch nichts beigetragen. Deshalb soll die Reihe über den Tod des Menschen im nächsten Heft von „Kirche heute“ mit dem Blick des Glaubens auf die Todesproblematik abgeschlossen werden. Dabei will ich mich an einen Ausspruch des Wiener Alterzbischofs Kardinal König halten, der einmal lächelnd gesagt haben soll: „Wenn die Spitzen der Wissenschaft auf der Suche nach der Wahrheit die Steilhänge der Erkenntnis mühsam durchklettert haben, finden sie sich zu ihrer Überraschung auf einer weiten Ebene wieder, auf der schon eine Vielzahl von Gläubigen lagert.“


[1] in „Kirche heute“ Nr. 1/2012, S. 18ff und „Kirche heute“ Nr. 2/2012, S. 22f.
[2] in „Kirche heute“ Nr. 12/2011, S. 20ff.
[3] in „Kirche heute“ Nr. 12/2011, S. 21.
[4] in „Kirche heute“ Nr. 12/2011, S. 22.

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