„Demografisches Problem ist durch Einwanderung nicht zu lösen“

Plädoyer für einen radikalen Kurswechsel der Familienpolitik

Karl-Heinz B. van Lier (geb. 1953) plädiert für einen radikalen Kurswechsel in der Familienpolitik. Er ist überzeugt, dass die staatlichen Rahmenbedingungen mit ausschlaggebend für den alarmierenden Kindermangel in Deutschland sind. Er spricht von einer finanziellen Ausbeutung der Familien und einer damit einhergehenden prekären demografischen Entwicklung. Immerhin hat das reiche Deutschland die niedrigste Geburtenrate der ganzen Welt. Als Karl-Heinz B. van Lier am 26. Juni 2015 auf der Tagung „Zukunft gestalten für unsere Kinder“ auf Burg Rothenfels seinen Vortrag hielt, hatte er noch nicht die Flüchtlingsströme vor Augen, die sich in diesen Tagen auf Deutschland zubewegen. Doch sprach er von der Hoffnung unserer Politiker auf eine massenhafte Einwanderung zur Lösung des Problems. Umso aktueller erscheint nun sein Plädoyer. Van Lier selbst ist verheiratet und hat fünf Kinder. Er ist Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für Rheinland-Pfalz und Leiter des Politischen Bildungsforums. Er veröffentlicht hier eine gekürzte Fassung seines Vortrags.

Von Karl-Heinz B. van Lier

Staatliche Umerziehung der Gesellschaft

Die Familie steht heute im Fokus des Veränderungswillens unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte. Dazu gehört neben der Wirtschaft und den Medien in erster Linie die Politik. Die Veränderung der traditionellen Familie als überholtes Lebensmodell ist das erklärte Ziel beinahe aller Parteien. Hier hat eine normative Politik mit der Umerziehung der Familie längst begonnen.

Es geht weder der Regierung noch den Parteien darum, den Familien zu ihrem Recht zu verhelfen, sie entsprechend Art. 6 des Grundgesetzes zu schützen, sondern sie entsprechend anderer Lebensentwürfe den Ideen des staatlich verordneten Gender-Mainstreams, des Feminismus bzw. der Gleichstellung anzugleichen, sie zu optimieren. Dabei ist Gender als ein Virus zu begreifen, welches die Vitalität der Gesellschaft angreift, welches das unvoreingenommene Vertrauen in den Anderen und den Gemeinsinn zugunsten der Selbstoptimierung über Bord wirft. Wir müssen wissen: Gender kennt keine Familie, nur das eigene Geschlecht. Konsequent zu Ende gedacht, steht am Ende die atomisierte Gesellschaft.

Der FOCUS vom 15. Juni 2015 hat beispielsweise den bezeichnenden Aufmacher: Single. Die neue Lust aufs Leben. So funktioniert der Solo-Lifestyle. Ich halte dagegen: Der Mensch kommt in Familie oder gar nicht vor. Auch Singles sollten sich mit dieser Wahrheit auseinandersetzen, denn deren Zukunft hängt von Familien ab.

Finanzielle Ausbeutung der Familien

Die materielle Schwäche der Familie hat mit unserem Parlament zu tun, das bis heute die Auflagen der vier Familienurteile des Bundesverfassungsgerichts (Trümmerfrauenurteil, Pflegeversicherung, Mehrwertsteuer und Kinderexistenzminimum) ignoriert; und die Transferausbeutung von den Familien zu den Kinderlosen, d.h. die eklatante finanzielle Schlechterstellung von Familien, zementiert.

Nachzulesen ist dies in der Publikation „Sozialstaatsdämmerung“ von Dr. Jürgen Borchert, ehem. Sozialrichter in Darmstadt. Er erläutert darin sehr anschaulich, dass die sogenannten staatlichen Familienleistungen wie Eltern-, Betreuungs- und Kindergeld tatsächlich von den Familien selbst finanziert werden, und zwar durch die immensen indirekten Verbrauchssteuern. Er resümiert:

„Die Erzeugung, Ernährung und Bildung von Kindern, die hohe Leistung der Reproduktivität und Produktivität von ‚Humankapital‘, zählt nichts, ist ökonomisch nicht anerkannt, wird staatlich sogar bestraft.“ In seiner Bildersprache sieht das Missverhältnis von Familienleistung und Familienlastenausgleich wie folgt aus: „Der Staat treibt den Familien über die Steuer und Sozialabgaben die Sau vom Hof und gibt ihr drei Koteletts zurück.“

Im Gegensatz zu heute war früher ein Facharbeiter als Alleinverdiener in der Lage, seine Familie und sogar ein Reihenhaus zu finanzieren.

Und die Ausbeutung wird vom IFO-Institut bestätigt, wenn es feststellt: Wer ein Kind erzieht, schenkt der Gesellschaft 77.000 Euro. Es gibt, so Borchert, in Deutschland eine strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien, die die Kinderlosen deutlich höhere Einkommen erzielen und Eltern mit mehr als zwei Kindern in die Armutsfalle laufen lässt.

Forderung nach einer gerechten Altersvorsorge

Es geht nicht darum, Kinderlose zu bestrafen, sondern darum, die Erziehungsleistung der Familie zu honorieren. Wie könnte dies aussehen? Für die Erziehung von Kindern sollte es in der gesetzlichen Rentenversicherung künftig pro Kind nicht mehr nur drei Entgeltpunkte geben, sondern zehn Entgeltpunkte. Um diese Maßnahme gegenfinanzieren zu können, sollte die Zahlung eines durchschnittlichen Rentenbeitrags an die Rentenversicherung künftig nicht mehr einen Entgeltpunkt pro Jahr ergeben, sondern nur noch 0,7 Entgeltpunkte. Man muss wissen, dass ein Entgeltpunkt einem Anspruch auf eine monatliche Rentenzahlung ab dem 67. Lebensjahr in Höhe von 28 Euro entspricht. Diese Aufwertung der Erziehungsleistung würde erstens für mehr intragenerationelle Gerechtigkeit sorgen. Und zweitens in der Gegenwart Eltern entlasten, weil sie deutlich weniger Altersvorsorge aus ihrem an sich schon geringen Nettoeinkommen leisten müssten. Umgekehrt würden Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, auf die Erziehung von Kindern verzichten wollen oder müssen, gezwungen werden, durch die reduzierten Rentenerwartungen mehr Geld aus ihrem Nettoeinkommen für ihre private Altersvorsorge zurückzulegen.

Im Ergebnis würden in der Gegenwart Eltern finanziell besser gestellt und Kinderlose relativ schlechter gestellt werden – ohne Strafsteuer oder ähnlich schwierig vermittelbare Konzepte. Das hätte erfreuliche Auswirkungen auf die Attraktivität unterschiedlicher Lebensformen.

Notwendigkeit eines spürbaren Leistungsausgleichs

Die fehlende Wertschätzung der Leistung von Familien mag der Grund sein für das fehlende Verständnis von Leistungsgerechtigkeit. Hätten wir eine solche Leistungsgerechtigkeit, dann könnten sich junge Menschen mit Kinderwunsch darauf verlassen, dass sie sich als Eltern finanziell nicht schlechter stellen als Kinderlose. Dafür sollten sie denn auch einen Familienlastenausgleich erhalten, der den Namen verdient, zumal wir uns vorstellen können, dass durch die Geburt eines Kindes die Lebenskosten sprunghaft ansteigen. Ihnen dagegen zuzurufen: „Geld zeugt keine Kinder!“, verkennt völlig die finanzielle Situation dieser Zielgruppe.

Und ich gehe einen Schritt weiter: Wenn die Bundesregierung im Zuge der Wirtschaftskrise 2008/2009 aus Angst, die Autoindustrie könnte Schaden nehmen, eine Abwrackprämie von 2.500 Euro pro Wagen beschließt und mit 5 Mrd. Euro Steuergelder immerhin 600.000 Autobesitzer begünstigt, warum kann sie dann nicht angesichts der demografischen Schieflage und der fehlenden Leistungsgerechtigkeit einen spürbaren Leistungsausgleich für Familien beschließen? Und da es sich um Kinder handelt, könnte die Summe verdoppelt werden. Denn so Kardinal Frings: „Die Zukunft des Landes hängt nicht von der Anzahl der Kraftwagen ab, sondern von der Anzahl der Kinderwagen.“

Frauenerwerbspolitik statt Familienpolitik

Die schlechte finanzielle Ausstattung der Familien war für die Familienpolitik eine ideale Ausgangslage, im Schulterschluss mit der Wirtschaft eine neue Familienpolitik auszurufen, die man getrost auch als Frauenerwerbspolitik bezeichnen kann. Ihr heilbringendes Paradigma lautet: „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“.

Wir erinnern uns: Es war das Jahr 2007, an welchem das christdemokratische Familienleitbild von Familienministerin von der Leyen auf den Kopf gestellt wurde mit der Ankündigung, 780.000 Krippenplätze bis 2013 bauen zu wollen. Die Opposition von SPD, Grüne und Linke klatschen Beifall. Solche Zahlen hatten sie sich selbst nicht zu präsentieren getraut. Bürgerliche Kreise, die bis heute die Unterscheidung von Erziehen und Betreuen vornehmen, sind bis heute sprachlos.

Lassen wir uns nicht täuschen: Diese Maßnahme galt keineswegs dem Wohl der Kinder, sondern war primär als Erwerbsoffensive für Mütter zu verstehen. Dazu passt denn auch die Devise der Bundesregierung: „Kinder dürfen nicht länger ein Hindernis für Beruf und Karriere sein.“ Also ist für Babys und Kleinstkinder eine Exit-Strategie zur Optimierung des Bildungspotentials vorgesehen. Es ging also primär um die Mütter. Denn: 50 Jahre Geburtenschwund bescheren uns bereits heute eine Hypothek auf die Zukunft, die wir scheinbar nur noch durch den Umbau der Gesellschaft korrigieren können.

Dazu gehört aufgrund des steigenden Fachkräftemangels in der Wirtschaft die Einwanderung von ausländischem Personal sowie die „Mobilisierung der stillen Reserve“, so der Sozialtechnokrat Rürup, der damit die Mütter als Arbeitskräfte meinte, die ganztägig der Erwerbstätigkeit nachgehen sollen. Die Betreiber dieser Offensive sind: Politik im Schulterschluss mit der Wirtschaft.

Der Sekundant der doppelten Erwerbsarbeit der Eltern ist die feministisch gender-orientierte Familienpolitik, die die Gleichheit von Mann und Frau über die Arbeit verwirklicht sehen will. Platon, Sparta und Karl Marx lassen grüßen! Das DDR-Krippen-System ist auf dem besten Wege, eine gesamtdeutsche Renaissance zu erleben. Zugegeben etwas bunter, kleinteiliger, pluraler in der Trägerschaft, aber – die Sprache bzw. die Begrifflichkeit „Krippe“ verrät es – dem damaligen staatlichen Betreuungssystem zum Verwechseln ähnlich.

Bemerkenswert ist, dass diese machtvoll etablierte Krippenpolitik unter einer Kanzlerin Merkel vonstatten ging, die selbst von Glück sprach, nie von ihren Eltern in eine Krippe gesteckt worden zu sein (nachzulesen in einem CICERO-Interview).

Förderung der Wirtschaft auf Kosten der Kinder

Die Verlierer sind unsere Kinder. Die massenhaft erfolgte Delegation von Verantwortung an Institutionen wird den humanen Kern unseres Gemeinwesens beschädigen.

• Die Freiheit der Familie wird durch die Gleichheit eines vorsorgenden Staates eingetauscht! Das Ende des zweckfreien Spiels des Kindes ist eingeläutet, denn die selbstbestimmte Freizeit passt in keine pädagogische Matrix.

• Die Sozialingenieure haben vergessen, dass das Leben selbst, das abenteuerliche Herumstreunen in Wäldern und an Bächen mit Freunden der beste Lehrmeister ist.

• Kinder verschwinden aus unserem Alltag.

• Besonders Kleinstkinder sind überfordert. Der Bindungsforscher Bowlby und Christa Meves weisen auf den hohen Gefährdungsgrad für psychische Fehlentwicklungen hin.

• Zuwendung, Sicherheit und Urvertrauen als Basis einer guten Entwicklung können bei meist zu hohen Kinder-Personal-Schlüsseln nicht garantiert werden.

• Die 3 „Z“ von Pestalozzis Erziehungsmotto: Zeit, Zuneigung, Zärtlichkeit verkommen in vielen Kitas schnell zu den 3 „S“: still, satt, sauber. Und aus Erziehung wird Aufsicht.

• Die Nebenwirkungen der optimierten Fremdbetreuung zeigen sich heute schon. Das System produziert vermehrt Schulabbrecher!

• Und wer sich jüngst die Deutschlandkarte mit den Startup-Unternehmen in ganz Deutschland angeschaut hat, dem ist aufgefallen, dass die neuen Bundesländer deutlich unterrepräsentiert sind. Ich führe dies auf die Krippenerziehung zurück, die eher auf Anpassung im Kollektiv ausgerichtet ist als auf die Durchsetzung individueller Ideen.

Was ich geradezu beängstigend empfinde, ist die Gewissheit, dass die ganztägig kollektive Betreuung zunehmend Bestandteil des neuen Lebenslaufs einer ganzen Nation wird: von frühester Kindheit an bis ins Erwachsenenalter hinein!

Kindermangel heißt „demografischer Wandel“

Die eigentliche Wertschätzung von Ehe und Familie, ihre große Leistung, die sie über allen anderen Lebensentwürfen heraushebt, ist die Weitergabe und Pflege menschlichen Lebens. Sie ist Garant der Zukunft unseres Volkes.

Doch sprechen wir in Deutschland über alles, aber bitte nicht über Familiengründung. Darüber nur zu sprechen, klingt für viele schon etwas „vorgestrig“, gar politisch unkorrekt. Und das in einem Land, das eines der reichsten der Welt ist und die niedrigste Geburtenrate der Welt aufweist.

Mit Schuld daran ist sicher der Wohlstand, die Trägheit vieler Bürger, die Angst davor haben, lebenslange Verantwortung für jemand anderen übernehmen zu müssen.

Um die Dramatik des demografischen Niedergangs zu verstehen, muss man wissen, dass wir seit 1972 eine ziemlich konstante zusammengefasste Geburtenziffer von 1,4 Kindern pro Frau haben. Für die Bestandserhaltung der Population benötigen wir 2,1 Kinder, d.h. jede kommende Generation wird um ein Drittel kleiner sein als die derzeitige. Wer auf eine Schubumkehr hofft, muss wissen, dass der tatsächliche Geburtenwunsch der Deutschen gerade einmal bei 1,66 liegt. In Frankreich mit einer Geburtenziffer von 2,1 liegt der Geburtenwunsch bei 3,0 Kindern.

Es muss uns verwundern, dass es angesichts dieser desaströsen Entwicklung von Seiten der zuständigen Familienpolitik niemals eine ernsthafte Intervention gegen den Schrumpfungsprozess – etwa im Sinn der franz. Bevölkerungspolitik – gegeben hat, wenn wir einmal von Halbsätzen von Familienministerinnen absehen. So setzt die Wirtschaft weiter auf Wirtschaftswachstum und die Politik auf die demografische Schrumpfung, im Stillen auf die Segnungen massenhafter Einwanderung hoffend. Selbst Japan, das hinter Deutschland den vorletzten Platz in der Geburtenrate hat, hat inzwischen den Paradigmenwechsel mit einer Drei-Kind-Politik à la francaise eingeläutet.

Keine Lösung durch massenhafte Einwanderung

Es ist evident, dass die fehlende Wertschätzung von Ehe und Familie, von Leben überhaupt, mit dem Geburtenschwund zusammenhängen. Die Schuld allein der Politik zuzuschieben, heißt die Tatsache zu ignorieren, dass eine ganze Elterngeneration vergessen hat, mit den eigenen Kindern über Kinder zu sprechen, sprich über die Weitergabe des Lebens zu sprechen.

Von der amtierenden Bundesfamilienministerin Schwesig ist zu hören, dass die Erhöhung der Geburtenzahlen nicht Thema ihrer Familienpolitik sei, sondern vielmehr die Gleichstellung der Frau. Zukunftsvergessenheit nenne ich eine solche Haltung.

Auch sie gehört zu jenen, die, wie seinerzeit Annette Schavan, den sog. „demografischen Wandel“ als Chance bezeichnen. Wer wie ich jahrelang in einem karibischen Land gelebt hat, das von Kindern und Jugend geprägt ist, die eine nie gekannte Dynamik und Lebensfreude versprühen, der empfindet den Begriff „Chance“, bezogen auf Kindermangel, beinahe als Zynismus.

Und dies vor dem Hintergrund, dass es in keinem Land der Welt so viele kinderlose Frauen wie in Deutschland gibt, wobei der Anteil der Akademikerinnen bei über 40 Prozent liegen soll, so der Demografieexperte Birg. Dieser ist im Übrigen überzeugt, dass wir unser demografisches Problem nicht mittels Einwanderung lösen können.

Erst in den letzten beiden Jahren sind alarmierende Zeitungsüberschriften zu lesen wie: „Ohne Kinder keine Zukunft“ so Allgemeine Zeitung – Demographie: „Deutschland riskiert die Bevölkerungskatastrophe“. Die F.A.Z. titelt: „Kindermangel gefährdet den Standort, und Land ohne Kinder“.

Und selbst Teile der Politik scheinen inzwischen der normativen Kraft des Faktischen Rechnung tragen zu wollen. Es gibt erste Stimmen aus der Politik, die davon sprechen, dass die Demografie „all unsere Errungenschaften zunichte macht“. So der amtierende CDU-Ministerpräsident Haseloff aus Sachsen-Anhalt. Er fordert wie auch Prof. Kirchhof, Prof. Biedenkopf, Prof. Milbradt u.a. einen radikalen Kurswechsel der Familienpolitik.

Aufruf zum mutigen Zeugnis

Am Ende möchte ich zwei Wünsche äußern:

1. Familienverbände sollten auch weiterhin ihre Verantwortung für die Familien wahrnehmen. So gesehen sollten sie getrennt marschieren und vereint schlagen, einerseits für die Idee der Familie und der Ehe werben, andererseits konzertiert mit anderen Familienverbänden gegen Marginalisierung und staatliche Vereinnahmung vorgehen.

Großdemonstrationen in Madrid, Paris und Rom zur „Verteidigung der Familie“ sind ein ermutigendes Beispiel.

2. Es wird uns nicht erspart bleiben, auf die Auswirkungen eines weiter anhaltenden Geburtenmangels hinzuweisen. Das gehört zum Ceterum Censeo unserer Tage, quasi als Weckruf für die Politik und die Medien. Was wir brauchen, das ist ein öffentlicher Diskurs zum Thema Bevölkerungspolitik. Denn eine Gesellschaft ohne Kinder hat keine Zukunft! Und das nicht nur wegen der Rentenversicherung, die an die Wand fährt, wegen des wachsenden Pflegenotstands und rückläufiger Wirtschaftswachstumszahlen, sondern weil uns eine Dimension verloren geht, die die Sozialtechnokraten nicht im Blick hatten, als sie von „Chance“ gesprochen haben, weil wir ohne Kinder emotional verarmen, weil uns die Liebe abhandenkommen wird, die von den Kindern auf uns zurückstrahlt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Familienverbände gehen in die Offensive

Eltern verlangen Beitragsgerechtigkeit

Der Deutsche Familienverband (DFV) und der Familienbund der Katholiken (FDK) haben die Kampagne „Wir jammern nicht, wir klagen!“ ins Leben gerufen. Hintergrund ist die Tatsache, dass Eltern, welche Kinder betreuen und erziehen, monatlich mit mindestens 238 Euro je Kind zu viel belastet werden. Genau jene, welche das Kranken-, Renten- und Pflegeversicherungssystem am Leben halten, etwa 14 Millionen Familien, werden benachteiligt. Obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits 2001 festgestellt hat, dass der gesellschaftliche Beitrag, den Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder erbringen, genauso viel wert ist, wie das Geld, das in die Sozialversicherung eingezahlt wird, reagiert der Gesetzgeber nicht. Im Rahmen der Aktion sind inzwischen hunderte Anträge auf Beitragsreduzierung bei den Krankenkassen eingegangen, dutzende Eltern klagen vor den Sozialgerichten und in Kürze wird das Bundessozialgericht drei Musterverfahren, die der FDK Freiburg betreut, entscheiden. Dann ist für die zwei größten Familienverbände der Bundesrepublik der Weg frei, um eine Entlastung für Eltern mit unterhaltsberechtigten Kindern vor dem Bundesverfassungsgericht zu erstreiten. Aus einer Stellungnahme von Dr. Jürgen Borchert, der fast 30 Jahre Richter am Hessischen Landessozialgericht war.

Von Jürgen Borchert

Die Nachricht begeistert mich: Endlich ist der Startschuss für den ersten „Elternaufstand“ in der Geschichte der Bundesrepublik gefallen! Er ist überfällig. Viel zu lange haben Eltern es sich bieten lassen, von der Politik nach Strich und Faden belogen und durch die Sozialgesetzgebung um die Früchte ihrer Erziehungsarbeit betrogen zu werden. Dass die Politik selbst die bindenden Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts, die unverzichtbare Elternarbeit in den Sozialsystemen den Geldbeiträgen gleichwertig zu berücksichtigen, wie feuchten Kehricht behandelt, macht massenhaften Widerstand zur Pflicht.

„Wo kein Kläger, da kein Richter“

Es ist auch richtig, den ersten Schritt wieder auf dem Rechtsweg zu unternehmen. Denn nur das Bundesverfassungsgericht hat nach unserer Verfassung die Macht, der Willkür des Gesetzgebers Einhalt zu gebieten, wenn dieser die Interessen der Nachwuchsgeneration und der 20-Prozent-Minderheit, zu welcher Familienhaushalte mit unterhaltsberechtigten Kindern mittlerweile geschrumpft sind, Jahr um Jahr systematisch übergeht und die Grundrechte von Eltern und Kindern mit Füßen tritt. Und nur das Bundesverfassungsgericht hat die Macht, seiner eigenen Rechtsprechung den gebotenen Respekt zu verschaffen – und auch die Pflicht! Aber: Wo kein Kläger, da kein Richter. Deshalb sind Massenklagen richtig und überfällig, denn sie signalisieren allen drei Gewalten – Legislative, Exekutive und Judikative –, dass die Familien das Unrecht in Massen kapieren und sich nicht mehr von den legislativen Hütchenspielen übers Ohr hauen lassen.

Familiengerechtigkeit in der Sozialversicherung betrifft keine Kleinigkeit, sondern es geht bei jedem einzelnen Kind um tausende von Euro. Pro Jahr!

Weil die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich die Erschöpfung des Rechtswegs voraussetzt, führt erst einmal auch kein Weg an den Sozialgerichten vorbei. Dies ist nicht zuletzt notwendig, weil der Gesetzgeber mit dem Pflegevorsorgefonds ab 1.1.2015 die schlimme Spirale der Verletzung elterlicher Grundrechte ein weiteres Mal gedreht hat.

Mitmachen unter Beistand des FDK

Der Kampf um das Recht wird für die Familien gewiss kein Zuckerschlecken. Die Misere hat ja ursächlich auch damit zu tun, dass Abgeordnete, Beamte und Richter nicht sozialversichert sind. Sie wissen deshalb auch überhaupt nicht, wie sich der riesige Abgabenkeil zwischen Brutto und Netto anfühlt (einschließlich des sog. „Arbeitgeberanteils“, der unbestritten vorenthaltener Lohn ist, vgl. § 275 Abs. 2 Nr. 6 Handelsgesetzbuch), der Familienfinanzen stranguliert. Deshalb fehlt es von vornherein an Empathie. Aber die Massenklagen werden dazu führen, dass die Probleme bekannter werden – und das ist stets der erste Schritt der politischen Einflussnahme.

Wichtig ist, dass die Kläger wissen, dass Gerichtskosten nicht anfallen, in den ersten beiden Instanzen kein Anwalt nötig ist und sie keinerlei Nachteile befürchten müssen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Eltern und Kinder haben in Deutschland keine echte Lobby

Familie ist etwas Wunderbares

Arne Gericke (geb. 1964) ist ein christlicher Politiker aus Tessin bei Rostock, der sich leidenschaftlich für die Belange der Familien einsetzt. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Sperrklausel von drei Prozent bei der Europawahl gekippt hatte, wurde er 2014 als Spitzenkandidat der Familien-Partei Deutschlands in das Europäische Parlament gewählt. Dort ist er Mitglied der Europäischen Christlichen Politischen Bewegung (ECPM). Gericke gehört der Evangelischen Landeskirche an. Aufgewachsen ist er in Papua-Neuguinea, wo seine Eltern als Missionare tätig waren. 2012 erhielt er vom Bundesfamilienministerium in Berlin die Auszeichnung als „Spitzenvater“, da er zuhause seine vier Kinder und drei Pflegekinder betreute, um seiner Frau den Wiedereinstieg in die Arbeit zu ermöglichen. Sie ist leitende Krankenschwester in einer psychologischen Tagesklinik in Rostock. Inzwischen sind die Kinder zwischen 13 und 25 Jahre alt. Die Familien-Partei verzichtet bewusst auf religiöse Aussagen, doch Gericke bekennt sich ausdrücklich zu den christlichen Werten. Dies hat er auch in seinem engagierten Interview mit unserer Zeitschrift zum Ausdruck gebracht.

Interview mit Arne Gericke MdEP

Kirche heute: Herr Gericke, Sie sind Mitglied des Europäischen Parlaments. Können Sie uns kurz Ihren politischen Werdegang und den Hintergrund Ihres Engagements schildern?

Arne Gericke: Begonnen habe ich mein politisches Engagement als Vater. Ja – denn in diesem neuen Lebensabschnitt, später mit sieben Kindern, habe ich feststellen müssen: Es läuft vieles schief für Familien in Deutschland. Eltern und Kinder haben keine echte Lobby unter den etablierten Parteien. Und genau damals bin ich in einer Fußgängerzone auf einen Infostand der Familien-Partei gestoßen. Ein Jahr später war ich im Vorstand der Partei.

Kirche heute: Was haben Sie vor Ihrer politischen Laufbahn beruflich gemacht? 

Arne Gericke: Ich habe – geboren in Hamburg, aufgewachsen in Papua-Neuguinea – eine Berufsausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann absolviert und Anfang der 1990er Jahre ein Getränkehandelsunternehmen in Tschechien aufgebaut. Seit 1994 war ich Leiter eines Seniorenheims in Mecklenburg-Vorpommern und war dann Hausmann in Elternzeit, um meiner Frau ihre berufliche Karriere zu ermöglichen.

Kirche heute: Können Sie auch ein wenig auf Ihre eigene familiäre Situation eingehen? 

Arne Gericke: Als siebenfacher Vater – vier eigene Kinder, drei Pflegekinder – steht bei mir Familie ganz oben an. Es war und ist eine wunderbare Aufgabe, unsere Kinder auf ihrem Weg ins Erwachsensein zu begleiten – und ich kann sagen: Es hat auch mir unglaublich viel gegeben, mich bereichert. Familie ist etwas Wunderbares. 

Kirche heute: Sie haben sich sehr deutlich gegen den sog. „Rodriguez-Bericht“ des Europaparlaments geäußert, der am 9. September 2015 verabschiedet worden ist. Ihr Protest war überschrieben mit den Worten: „EU-Sexualkunde ist das Letzte, was Europa braucht!“ Im Grunde ist die Bevölkerung ahnungslos. Was sollte sie über diesen Bericht wissen? 

Arne Gericke: Die Bürgerinnen und Bürger sollten wissen, dass das nicht das erste Papier dieser Art im Frauenausschuss war. Es ist Teil einer linken Kampagne, mit der Linke, Liberale und Grüne versuchen, wo nur möglich, die traditionelle Familie, die Rechte der Eltern und eine bejahende Kultur des Lebens auf EU-Ebene in Frage zu stellen. Wohlwissend, dass Europa gar nicht zuständig ist. Deshalb tun sie das am liebsten mit sogenannten „Initiativberichten“, die nicht umgehend gesetzgebend sind – aber Weichen stellen. Als christlicher Abgeordneter halte ich konsequent dagegen – und würde mir wünschen, wir hätten mehr Geschlossenheit im konservativen Lager.

Kirche heute: Welche Konsequenzen hat diese Entscheidung des EU-Parlaments?

Arne Gericke: Keine gesetzgebende. Umso bedeutsamer aber ist die symbolische Wirkung. Schon jetzt merken wir: Wo nur möglich, ziehen die Gender-Ideologen im Europaparlament Querverweise zu anderen, passenden Dokumenten. So wird es auch mit diesem Bericht sein. Es geht darum, Fakten zu schaffen – Fakten zu verdrehen. Gleichzeitig merke ich: Wir erreichen mit jedem dieser unsäglichen Berichte mehr Verbände, mehr Bürger, die sich dagegen zu Wort melden. Ich meine: Wir Christen sollten noch viel lauter – und proaktiver sein. Bestimmen wir die Agenda – überlassen wir das nicht den Linken.

Kirche heute: Auch der sog. „Noichl-Bericht“, der bereits im Juni vom Europäischen Parlament angenommen wurde, sorgte in traditionellen Kreisen für Empörung. Was hat es mit diesem Bericht auf sich?

Arne Gericke: Der Bericht der bayerischen SPD-Kollegin Maria Noichl sollte einen Fahrplan für die künftige Gleichberechtigungs-Politik skizzieren. Statt aber sich auf die Notwendigkeiten zur echten Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu konzentrieren, mutiert dieser Bericht zu einem legislativen Gruselkabinett, einer lebensfeindlichen Unsäglichkeit – inklusive mehrfacher Forderung nach einem „Menschenrecht auf Abtreibung“.

Kirche heute: Was können wir als einfache Bürger tun? Wie sollten wir auf diese politischen Manipulationen reagieren?

Arne Gericke: Als einzelner Bürger sollte man sich nicht davor scheuen, die Europaabgeordneten in konkreten Fällen anzuschreiben und nachzuhaken. Ich beispielswiese versuche alle Bürgeranfragen zu beantworten. Wir sollten das Abstimmungsverhalten der einzelnen Abgeordneten kontrollieren – ich veröffentliche dazu nach wichtigen Abstimmungen gerne die offizielle Abstimmungsliste. Und letztlich: Als Bürger sollten wir bis zu den nächsten Europawahlen nicht vergessen, wofür die einzelnen Parteien in zentralen christlichen Themen stehen – und ganz bewusst unsere Stimmen vergeben.

Kirche heute: Ihnen liegt natürlich besonders die Familienpolitik am Herzen. Wo hat sie Ihrer Ansicht nach in Deutschland derzeit ihre größten Schwächen?

Arne Gericke: Deutschland ist nicht familienfreundlich. Familien mit Kindern werden vielmehr vielfach diskriminiert. Die Politik kommt über schöne Worte kaum hinaus – was wir ja zuletzt bei der eher peinlichen Debatte um eine Kindergelderhöhung um 10 Euro erlebt haben. Überhaupt verliert sich die Familienförderung oftmals einzig und allein in mehr staatlicher Fremdbetreuung. Deutschland hat keinen familienpolitischen Plan – im Gegenteil: Kinderreichtum ist ein Armutsrisiko. Gerade im Alter. Erziehungsarbeit ist gesellschaftlich nicht anerkannt. Weder Steuer- noch Rentensystem sind familienfreundlich ausgestaltet. Zudem haben Familien in Deutschland politisch keine Stimme – wenn, dann geht es allenfalls darum, die traditionelle Familie als Kernelement der Gesellschaft auf Druck anderer Interessensgruppen in Frage zu stellen.

Kirche heute: Was müsste sich konkret ändern? Welchen Kurswechsel würden Sie vorschlagen?

Arne Gericke: Deutschland braucht – wie Europa insgesamt – eine schlüssige Familienstrategie. Zusammen mit meiner Familien-Partei fordere ich ein echtes Erziehungsgehalt für Eltern daheim von 1700 Euro monatlich (bis zum 12. Lebensjahr stufenweise absinkend) – damit Erziehungsleistung endlich wirklich anerkannt wird und der „Beruf Eltern“ etwas zählt. Eltern, die ihre Kinder in die Fremdbetreuung geben, zahlen genau diesen Betrag zur monatlichen Unterbringung. Das ist echte Wahlfreiheit. Wir wollen ein kostendeckendes Kinderkostengeld. Anpacken muss Deutschland eine familiengerechte Reform des Renten- und Steuersystems. Zur Entlastung im Bereich der Hausarbeit will ich – nach belgischem Modell – die Einführung sogenannter „Haushaltsschecks“. Das entlastet nicht nur Eltern in der Hausarbeit – es eliminiert zudem einen kompletten Schwarzmarkt. Und wir stehen für ein familiengerechtes Wahlrecht: Eine Stimme von Geburt an, bis zum 16. Lebensjahr auf die Eltern übertragen.

Kirche heute: Die Flüchtlingsströme, die sich derzeit auf Europa und insbesondere auf Deutschland zubewegen, sind ein brennendes, aber auch ein sehr heikles Problem. Wie sollte sich Europa nach Ihrem Ermessen verhalten?

Arne Gericke: Europas nationale Regierungen hätten schon vor Jahren den Mut haben sollen, eine gemeinsame europäische Asylpolitik zu wagen. Schon im Europawahlkampf habe ich immer gesagt: Wir brauchen den EU-Asylantrag, eine faire Verteilung unter den Mitgliedsstaaten und eine Koordinierung durch die EU. Dabei bleib ich bis heute – und habe die Position inzwischen zu einer umfassenden Asyl-Agenda ergänzt, die Vorschläge für die regionale, nationale und europäische Ebene macht. Klar ist: Europa kommt in der Flüchtlingsfrage nicht vom Fleck, weil nationale Regierungen blockieren. Das ist untragbar. Was ist zu tun? Zunächst müssen wir Kommunen und Ehrenamtliche bei der Bewältigung dieses Flüchtlingsstroms unterstützen. Wir müssen den Menschen, die jetzt vor Europas Toren stehen, helfen. Wir müssen kriminelle Schlepperbanden konsequent bekämpfen und unsere Außengrenzen schützen. Die Identität Europas besteht auch darin, wie man mit Notleidenden umgeht – und das ist auch ein Teil der christlichen Identität Europas. Dabei ist Europa gut beraten, jetzt auf Papst Franziskus zu hören: „Wenn ein Flüchtling eintrifft, und alle Sicherheitsmaßnahmen sind gegeben, dann ist es klar, dass man ihm Zuflucht gewähren muss, weil das ein Gebot der Bibel ist.“ Alle technischen Maßnahmen müssen sich daran orientieren.

Kirche heute: Wie schätzen Sie die längerfristige Entwicklung ein?

Arne Gericke: Wir haben sicher den Höhepunkt noch nicht erreicht – und werden die Lösungen für diese Herausforderung auch nicht in Europa finden. Flucht muss man dort verhindern, wo sie entsteht. Das gilt im Besonderen für den nordafrikanischen Raum. Und es gilt für Syrien – wo die Weltgemeinschaft seit vier Jahren nicht fähig ist, eine Lösung zu finden. Wer Krieg verhindern will, muss Frieden stiften. Wer Armut stillen will, der muss Entwicklung fördern. Als Koordinator meiner Fraktion in der EU-Delegation zu den Staaten Afrikas, des Pazifiks und der Karibik sowie zuständiger Berichterstatter plädiere ich deshalb für eine echte „Steuer gegen Armut“: 0,2 Prozent auf alle Finanztransaktionen. Die Hälfte davon bleibt in den Ländern, die sie erheben. Die andere Hälfte fließt in Entwicklungsländer.

Kirche heute: Uns würde auch eine persönliche Frage interessieren: Welche Rolle spielt für Sie der Glaube?

Arne Gericke: Eine sehr große. Ich bin engagierter Christ, lese die Bibel, besuche samt Familie den Sonntagsgottesdienst. Und seit ich Abgeordneter bin, hat mein Glaube noch eine ganz andere, neue Dimension: Ich trage Verantwortung – und hinterfrage meine Entscheidungen in Hinblick auf meinen Glauben. Auch deshalb habe ich mich auf europäischer Ebene der ECPM (European Christian Political Movement) angeschlossen, der einzigen christdemokratischen Partei auf europäischer Ebene.

Kirche heute: An welchen Werten orientieren Sie sich vorrangig in Ihrem politischen Engagement?

Arne Gericke: Es wäre ein Einfaches zu sagen: an den christlichen. Auch wenn es stimmt – aber das sagen alle gerne. Lassen Sie es mich noch konkretisieren: Es ist zum einen die Heilige Familie – und ihr Einstehen für das unbedingte „angenommen sein“, ihr Ja zum Leben. Dann sind es sicherlich die sieben Tugenden – Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Glaube, Hoffnung, Weisheit, Tapferkeit oder besser: Mut und Mäßigung. Prägend ist für mich auch die christliche Tradition des „Ehrbaren Kaufmanns“, wie ich sie über meinen Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung kennenlernen durfte. Ich versuche, dem eine europäische Dimension zu geben – und habe es schon in zwei offiziellen EU-Dokumenten erfolgreich geschafft.

Kirche heute: Wie sehen Sie die Zukunft des Christentums in Europa?

Arne Gericke: Für mich gilt da 1. Petrus 2,5: Und auch ihr, als die lebendigen Steine, bauet euch zum geistlichen Hause. Genauso aber Jakobus 2,14: Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Beides ist essentiell, wenn wir über die Zukunft des Christentums in Europa sprechen. Ich wünsche mir, dass lebendige, christliche Bausteine das Europa der Zukunft gestalten. Ich bin überzeugt: Genau das war der visionäre Geist europäischer Gründerväter wie Robert Schuman. Ihre christlichen Ideale braucht Europa neu – gerade jetzt.

Kirche heute: Wir bedanken uns bei Ihnen ganz herzlich für das bewegende Gespräch. Es ist für unsere Leser sicherlich ein großer Gewinn. Für Ihre Zukunft wünschen wir Ihnen von Herzen Kraft und Mut, besonders aber Licht und Weisheit des Heiligen Geistes.

 

„Ich fühle mich wie ein Frühwarnsystem“

Arne Gericke ist Mitglied im Frauenausschuss des Europäischen Parlaments, einem 70-köpfigen Gremium. Wieder einmal kam er am 18. September 2015 kopfschüttelnd aus dem Sitzungsraum. Denn der Ausschuss hatte beschlossen, was er im kommenden Jahr schwerpunktmäßig debattieren möchte: Das Problem der „pink taxes“ auf Kosmetikprodukte für Frauen und „mehr Gleichberechtigung im Zeitmanagement“. Nicht diskutieren will eine Mehrheit aus Linken und Liberalen dagegen Themen wie die „Rolle der Frauen im Islam“ und die Probleme einer „Leihmutterschaft“.

Die Begründung? „Man wolle die Themen Islam und Leihmutterschaft nicht aufgreifen“, so Gericke, „weil es keine Themen für den Frauenausschuss seien. Damit machen Linke und Liberale diesen Ausschuss lächerlich. So ist dieser Ausschuss überflüssig. Mit der Auswahl der Kernthemen für 2016 schreiben Linke, Liberale und Grüne die Irrfahrt dieses Gremiums fort. Mehr noch: Sie stellen die Weichen ins sachpolitische Niemandsland!“ Doch Gericke wolle nicht aufgeben. Er fühle sich wie ein Frühwarnsystem gegen die Gender-Ideologie.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
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Über die Irrtümer der Gender-Ideologie

Vergewaltigung der menschlichen Identität

Der Religionspädagoge Andreas Späth (geb. 1971) ist der Herausgeber eines neuen, knapp 150 Seiten umfassenden Buchs über die Gender-Ideologie.[1] Er selbst führt mit einem ausführlichen Beitrag zum Thema hin, in dem er Gender Mainstreaming als „Gesinnungsterror“ bezeichnet. Die eigentlichen Autoren des Buchs sind Manfred Spreng und Harald Seubert. Als Gehirnforscher legt Spreng dar, dass zwischen Mann und Frau unüberbrückbare neurophysiologische Unterschiede bestehen und durch die Gender-Ideologie die normale Gehirn-Entwicklung der Kinder gefährdet wird. Seubert greift die Gedanken auf und kritisiert aus religionsphilosophischer Sicht das Vorhaben: „Lasst uns den neuen Menschen machen!“ In einer Nachbemerkung warnt er, die Kulturwissenschaften befänden sich im Bann eines neuen Fetischs.

Von Andreas Späth

„Gender Mainstreaming“ – ein Schlagwort ist in aller Munde und doch kaum fassbar. Uneingeweihte meinen, dies sei nichts anderes als die Gleichstellung von Mann und Frau. Der Journalist Volker Zastrow warnte schon 2006, dahinter verberge sich nichts anderes als eine „politische Geschlechtsumwandlung“. Worum es tatsächlich geht, will das Buch mit dem Titel „Vergewaltigung der menschlichen Identität"[1] durchleuchten und auf den Punkt bringen. In einer bisher einzigartigen Zusammenschau von Natur- und Geisteswissenschaft zerlegen der Gehirnforscher Manfred Spreng und der Religionsphilosoph Harald Seubert das Konstrukt des Gender Mainstreaming in seine Bestandteile. Sie zeigen die geistesgeschichtlich trüben Quellen auf, ebenso die verheerenden Folgen, denen der Mensch durch die Vergewaltigung seines natürlichen Wesens ausgesetzt ist, und zwar durch eine Ideologie, die schon seine grundlegenden Anlagen im Gehirn missachtet.

Was einst durch die rot-grüne Bundesregierung zur politischen „Querschnittsaufgabe“ erklärt wurde, wird als nicht umsetzbar enttarnt. Jenseits ideologischer Flügelkämpfe entfernt das Buch alle Tarnkappen. Zum Vorschein kommen vor allem die Irrationalität und physiologische Unmöglichkeit des Menschen, so zu sein, wie es die Gender-Ideologie postuliert.

Wer dieses Buch gelesen hat, erkennt, dass den Gender-Apologeten nicht gefolgt werden darf, wenn der Mensch nicht seiner Identität beraubt werden soll. Denn unter der Gender-Ideologie fällt seine Geschlechtsidentität wie der Kopf auf einer Guillotine.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Manfred Spreng/Harald Seubert: Vergewaltigung der menschlichen Identität. Über die Irrtümer der Gender-Ideologie, Hrsg. Andreas Späth, geb., 168 S., ISBN 978-3-9814303-9-4, Euro 7,90 (D).

„Salzburger Erklärung“

Leben nach dem Schöpferwillen Gottes

Die „Salzburger Erklärung“ ist das Ergebnis des bekenntnisökumenischen Kongresses der Internationalen Konferenz Bekennender Gemeinschaften (IKBG/ICN), der vor kurzem in Salzburg stattgefunden hat. Am 6. September 2015 wurde der Text ohne Gegenstimme angenommen. Inhaltlich beschäftigt sich das Dokument mit den brennenden Themen wie Ehe und Familie, Abtreibung und Gender-Ideologie. Der volle Titel lautet: „Die heutige Bedrohung der menschlichen Geschöpflichkeit und ihre Überwindung. Leben nach dem Schöpferwillen Gottes.“

Die Erklärung bringt zum Ausdruck, was für jeden Christen selbstverständliche Überzeugung sein müsste. Denn sie beruht ganz auf dem Fundament der biblischen Offenbarung. Doch in unserer Zeit ist sie eine Sensation, ja ein echtes Hoffnungszeichen. Wie könnten die Christen die Welt von heute im Sinn des Evangeliums umgestalten, würden alle gemeinsam mit einer solch klaren Sprache ihre Stimme erheben! Der folgende Text ist die offizielle Kurzfassung, erarbeitet von Prof. Dr. Harald Seubert und Dr. Werner Neuer. Die angegebenen Nummern [Nr. 1–34] beziehen sich auf die volle Form, in der die Aussagen ausführlich begründet werden.

Einführung: Die heutige Bedrohung der menschlichen Geschöpflichkeit und die Notwendigkeit einer ökumenischen „Ökologie des Menschen“ – Was uns zu dieser Erklärung veranlasst! [Nr. 1–5]

Seit den siebziger Jahren ist die Sensibilität für die Bedrohung der Natur und ihrer Ressourcen deutlich gewachsen. Viel weniger ist im öffentlichen Bewusstsein, dass nicht nur die den Menschen umgebende Umwelt, sondern auch der Mensch selbst in seiner Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit heute auch in demokratischen Staaten schwerwiegenden Gefährdungen ausgesetzt ist:

Dies zeigt sich besonders drastisch vor der Geburt in der faktischen Verleugnung der Menschenwürde durch die weithin legalisierte Abtreibung, der jährlich Millionen Kinder zum Opfer fallen, und am Ende des Lebens durch die z.T. bereits legalisierte aktive Sterbehilfe, deren europaweite Ausdehnung viele fordern.

Es zeigt sich aber auch darin, dass die konstitutive Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als Mann und Frau (im Feminismus und Genderismus) bestritten wird, dass die Schöpfungsordnungen von Ehe und Familie massiv abgewertet und die Fruchtbarkeit als eine wesentliche Komponente der menschlichen Sexualität weithin verneint werden. In all diesen Verfallserscheinungen vollzieht sich ein alarmierender, aber weithin in seiner Tragweite nicht erkannter Prozess der „Abschaffung des Menschen“ (C. S. Lewis) durch den Menschen.

Auf diese gefährliche Entwicklung antwortet die Salzburger Erklärung im Sinn einer „Ökologie des Menschen“ (Benedikt XVI.), die dem Menschen als Geschöpf Gottes gerecht zu werden sucht und zu einem Leben nach den Schöpfungsordnungen Gottes ermutigt:

• In drei Teilen entfaltet die Erklärung zunächst das allen Kirchen vorgegebene biblische Schöpfungszeugnis als Grundlage eines schöpfungsgemäßen Lebens (s. u. I.),

• thematisiert dann die gegenwärtigen Angriffe auf den Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes, weist diese als unbiblisch und unmenschlich zurück (s. u. II.)

• und ruft abschließend zu einer Umkehr und Neubesinnung auf das in der Bibel bezeugte Leben nach den Schöpfungsordnungen auf (s. u. III.).

I. Das biblische Schöpfungszeugnis vom Menschen als Fundament einer „Ökologie des Menschen“ – Was wir zu Gottes Lob bezeugen und bekennen! [Nr. 6–12]

1. Wir bezeugen und bekennen die Schöpfung als Geschenk der Liebe Gottes, auf das der Mensch mit der ganzen Kreatur im Lobpreis antworten soll. Dieser Lobpreis ist in der Heiligen Schrift (v.a. in den Psalmen) und in der Geschichte der Christenheit (z.B. im Sonnengesang des hl. Franziskus) vielfach bezeugt. Der heute oft unbeachtete Geschenkcharakter allen kreatürlichen Lebens ist das Fundament jeder „Ökologie des Menschen“, die der Geschöpflichkeit gerecht werden will.

2. Wir bezeugen und bekennen mit dem biblischen Schöpfungszeugnis, dass der Mensch als Ebenbild Gottes und als Mann und Frau geschaffen ist (Gen 1,26 f.).

3. Mann und Frau sind im Sinn der Schöpfungsordnung auch in der endlichen, von Sünde gekennzeichneten Welt dazu berufen, durch ihr Handeln die selbstlose ewige Liebe (Agape) des dreieinigen Gottes abzubilden. Dies manifestiert sich in der Ehe als auf vorbehaltlose Liebe und Treue gegründete (Gen 2,24) lebenslange personale Bindung von Mann und Frau (Mk 10,9; Röm 7,2). Der Lebensbund der Ehe umfasst Geist, Seele und Leib. Auf die Ehe begründet sich die Familie als Generationen umgreifende unverbrüchliche Gemeinschaft der Liebe. Ehe und Familie sind und bleiben daher die unveräußerlichen und unersetzlichen Keimzellen von Staat und Gesellschaft. Die Familie bildet die beste Voraussetzung für die Erfüllung des Kulturauftrages, die Erde von Generation zu Generation nach dem Gebot und Willen Gottes zu gestalten (Gen 1,28). Dies bedeutet nicht, dass Ehen und Familien als Gemeinschaften sündiger Menschen nicht scheitern könnten. In diesen (leider inzwischen zahlreichen) Fällen sollten sich die Christen vor jeder moralischer Verurteilung hüten und mit liebender und barmherziger Hilfe zur Schadensbegrenzung beitragen!

4. Wir bekennen uns dazu, dass der v.a. in den Zehn Geboten (Ex 20, Dtn 5) niedergelegte Wille Gottes des Schöpfers bei allen Spaltungen und dogmatischen Unterschieden zwischen den verschiedenen Konfessionen eine universale, verbindliche, fundamentale Grundüberzeugung der ganzen Christenheit auf Erden ist. Es ist zentraler Bestandteil der großen ethischen Gemeinsamkeit der Christen in Vergangenheit und Gegenwart, zumal diese auch in wesentlichen Punkten mit der vor- und außerchristlichen Naturrechtstradition übereinstimmt, die das dem Wohl des Menschen Dienliche zum Ausdruck bringt.

Umso mehr ist zu kritisieren und zu beklagen, dass diese biblisch begründete große Gemeinsamkeit der Kirche (magnus consensus) heute unter dem Einfluss des Zeitgeistes v.a. innerhalb der protestantischen Kirchen vielfach in Zweifel gezogen wird. Den Maßstab bilden dann nicht mehr Schrift und Bekenntnis, sondern der ideologisch einseitige und weitgehend entchristlichte Zeitgeist. Auf diese Weise wird ein zentraler Bestandteil des christlichen Zeugnisses für die Welt entkräftet und die Einheit der Kirche Jesu Christi auf dem Fundament der Wahrheit und Liebe beschädigt. Wir rufen deshalb entschieden zur Neubesinnung auf (s. u. III.)!

II. Die gegenwärtigen Angriffe auf den Menschen und seine Geschöpflichkeit – Was wir vor Gott und den Menschen beklagen! [Nr. 13–28]

1. Wir beklagen vor Gott und den Menschen, dass auch ohne geschichtliche Katastrophen wie Krieg und Terror menschliches Leben gerade in den hochentwickelten westlichen Industrienationen heute vielfach bedroht ist:

a) Die größte Bedrohung erfolgt vor der Geburt durch die in vielen Ländern seit Jahren legalisierte Abtreibung. Obwohl es sich unzweifelhaft um eine Massentötung handelt, haben sich viele Menschen an diesen Zustand gewöhnt. Wir beklagen die ungezählten Kinder, die bereits Opfer dieser Massentötung geworden sind und fordern mit allem Nachdruck ein Ende aller gesetzlich legitimierten und geduldeten Tötungen!

• Die vorgeburtliche Diagnostik (z.B. Amniozentese, Chorionbiopsie) wird vielfach dazu missbraucht, kranke und behinderte Kinder vor der Geburt zu entdecken und abzutreiben. Wir erklären dazu: Eine Gesellschaft, die das Lebensrecht des kranken und beschädigten Lebens infrage stellt, verstößt gegen die Menschenwürde und das unantastbare Recht jedes Menschen auf Leben. Sie untergräbt damit ihre eigenen ethischen und rechtlichen Fundamente, wie sie etwa im Grundgesetz und in jeder zivilisierten Verfassung niedergelegt sind.

• Wir beklagen alle Formen vorgeburtlicher Tötung durch pharmakologisch bewusst herbeigeführte oder in Kauf genommene Nidationshemmung (Verhinderung der Einnistung eines bereits befruchteten Eies in die Gebärmutter). Wir beklagen, dass solche Formen des Tötens vor der Nidation heute vielfach überhaupt nicht mehr als Tötungen von Menschen wahrgenommen und verworfen werden, weil der biologisch eindeutige Beginn menschlichen Lebens mit der Befruchtung (Vereinigung von Ei- und Samenzelle) heute vielfach nicht mehr anerkannt wird.

• Ebenso nachdrücklich verwerfen wir den verantwortungslosen Umgang mit Ungeborenen bei der Reagenzglasbefruchtung, durch die das Leben vieler überzähliger Embryonen gefährdet oder preisgegeben wird. Auch hier wird die gebotene Ehrfurcht vor dem unantastbaren Lebensrecht des Menschen missachtet.

b) Auch das menschliche Leben nach der Geburt ist an seinem Ende in wachsendem Maße bedroht: Durch zunehmende Legalisierung der sog. aktiven Sterbehilfe („Euthanasie“) wird die längst bestehende „Kultur des Todes“ (Johannes Paul II.) gefördert und zementiert. Dies ist umso verwerflicher, als die moderne Palliativmedizin vor allem in der Schmerzbekämpfung große Fortschritte gemacht hat. Wir rufen daher alle christlichen Kirchen dazu auf, sich dem Dammbruch einer europa- oder weltweiten Euthanasie entschieden zu verweigern und alles ihnen Mögliche zu tun, um ihn zu verhindern. Damit verbindet sich der christliche Auftrag, den Sterbenden die Hoffnung des ewigen Lebens zu bezeugen und ihnen in Wort und Tat ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen.

2. Wir beklagen vor Gott und Menschen die Bedrohung der menschlichen Geschöpflichkeit, wie sie heute vor allem in der Gender-Ideologie (Genderismus) und ihren zerstörerischen Konsequenzen deutlich wird.

a) Die Gender-Ideologie, die inzwischen auf den politischen Ebenen von Regierung, EU und UNO zur handlungsbestimmenden Leit-Ideologie geworden ist, bestreitet die natürlich vorgegebene Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als Mann und Frau (engl. sex) und missdeutet das Geschlecht als lediglich soziale und individuelle Konstruktion (engl. gender), über die letztlich jeder Mensch selbst verfügen kann und soll. Als verantwortungsvolle Staatsbürger protestieren wir energisch gegen den geradezu totalitären, demokratisch in keiner Weise legitimierten Versuch, die Gender-Agenda vom Kleinkindalter an in Europa und der Welt durchzusetzen. Wir verwahren uns entschieden gegen das von der Gender-Ideologie geplante Programm einer Umerziehung des Menschen und den damit verbundenen Eingriff in Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Die Gender-Agenda zielt auf eine unbedingte Freiheit, die sich von Gottes Schöpfungsordnungen (Ehe, Familie, [Hetero-]Sexualität etc.) radikal löst, obwohl diese dem Wohl des Menschen dienen und sich als Ordnungen der Liebe erweisen. Indem sich die hier propagierte Freiheit von den Schöpfungsordnungen loslöst, löst sie sich vom konkreten Menschen und den kreatürlichen Bedingungen seines Daseins ab und wird so zu einer Freiheit ohne Liebe, weil sie den konkreten Menschen in seiner vorgegebenen Kreatürlichkeit verfehlt. Der Mensch wird bei dieser Verleugnung der kreatürlichen Grundlagen seines Menschseins zum beliebigen Erfinder seiner selbst erklärt. Er will in letzter Konsequenz wieder einmal „sein wie Gott“. Wie bereits die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus, mehrere Bischofskonferenzen und zahlreiche Stellungnahmen bekennender Christen und Theologen unterschiedlicher Kirchenzugehörigkeit bekundet haben, ist dieser Anmaßung der Gender-Ideologie im Namen der biblischen Offenbarung und der Vernunft entschieden zu widersprechen und ihr gegenüber festzustellen: Das Menschenbild des Genderismus ist völlig unvereinbar mit dem Menschenbild der biblischen Offenbarung und den Ergebnissen unvoreingenommener Naturwissenschaft. Die Christenheit ist unbeschadet ihrer konfessionellen Differenzen gegenüber einer forcierten Gender-Mainstreaming-Agenda zu einem möglichst gemeinsamen und möglichst entschiedenem bekenntnisökumenischen Widerstand aufgerufen! – Wir halten mit der biblischen „Ökologie des Menschen“ zugleich fest, dass Mann und Frau in ihrer Unterschiedlichkeit gleich-würdige Geschöpfe und Ebenbilder Gottes sind, die einander bedürfen und zum liebenden und ergänzenden Für- und Miteinander in der Ehe und zur Würde und Aufgabe von Vater- und Mutterschaft in der Familie berufen sind, die als Keimzelle der Gesellschaft zugleich Keimzelle einer menschenwürdigen Zukunft ist. Es liegt auf der Hand, dass die Gender-Ideologie für Ehe, Familie und Gesellschaft zerstörerische Konsequenzen unabsehbaren Ausmaßes zur Folge hat (s. u. b)).

b) Die Konsequenzen der Gender-Ideologie für Ehe und Familie, Vaterschaft und Mutterschaft, Sexualität und Fortpflanzung sind in vieler Hinsicht zerstörerisch, da sie die Fundamente des Menschseins und des menschlichen Miteinanders in einer bisher nie gekannten Radikalität verleugnen und untergraben:

• Ehe und Familie haben heute weitgehend die Anerkennung und Wertschätzung verloren, die ihnen aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung für das Wohl der Partner, der Kinder und der Gesellschaft insgesamt zukommt, obwohl selbst die Verfassungen der Rechtsstaaten ihre schutz- und förderungswürdige Sonderstellung anerkennen. Angesichts dessen hat die Kirche mehr denn je die Aufgabe, die Unüberbietbarkeit von Ehe und Familie als gute Schöpfungsordnungen Gottes zu betonen. Die christlichen Kirchen können daher aufgrund ihrer Bekenntnisbindung die soziale, begriffliche und rechtliche Gleichstellung von Ehe und homosexuellen Partnerschaften nicht akzeptieren. Was nach Gottes Willen verschieden ist, darf vom Menschen nicht als gleich angesehen und behandelt werden. Damit werden weder homosexuelle Menschen diskriminiert noch solche, die unverheiratet sind.

• Auch Vaterschaft und Mutterschaft als äußeres (biologisches) und inneres (geistigseelisches) Fundament der Familie haben die ihnen zukommende Wertschätzung weithin verloren, insofern sie vielfach auf ihre biologische Zeugungsfunktion reduziert werden und ihre eminente psychologische, religiöse und soziale Bedeutung für die nachwachsende Generation ignoriert wird. Eine radikale Aufwertung insbesondere der (heute oft diskriminierten!) Mutterschaft, aber auch der Vaterschaft wäre dem Wohl der Kinder und Enkel, aber auch der ganzen Gesellschaft dringend zu wünschen.

• Die heute vielfach vollzogene Trennung von Sexualität und Fortpflanzung ist zwar schon seit den 1960er Jahren zu beobachten und hat bereits zu einem in Friedenszeiten historisch einmaligen Geburtenrückgang geführt, wird aber durch den Genderismus weiter verstärkt, weil für diesen die Heterosexualität aufgrund ihrer Zeugungsfähigkeit gegenüber den anderen (nicht zeugungsfähigen) Varianten von Sexualität keinerlei besondere Qualität besitzt. Der Genderismus ignoriert (wie die Lesben- und Schwulenbewegung) den exklusiven, neues Leben und damit menschliche Zukunft eröffnenden Charakter der Sexualität zwischen Mann und Frau. Die dem Genderismus eigene prinzipielle Trennung von Sexualität und Fortpflanzung ist zutiefst zukunftslos und verfehlt das biblisch begründete christliche Verständnis menschlicher Sexualität, das offensichtlich (nicht ausschließlich, aber) wesentlich auf die Weckung und Entstehung neuen Lebens hingeordnet ist.

III. Die Notwendigkeit einer Neubesinnung auf das biblische Schöpfungszeugnis vom Menschen – Wozu wir vor Gott und den Menschen aufrufen! [Nr. 29–34]

1. Im Sinn der „Ökologie des Menschen“ erheben wir entschieden Einspruch gegen alle Formen der Bedrohung menschlichen Lebens vor und nach der Geburt. Ein besonders alarmierendes Signal ist es, dass das Europäische Parlament am 10. März 2015 mit dem Beschluss eines „Menschenrechts auf Abtreibung“ das Grundrecht auf Leben preisgegeben hat. Als bekennende Christen unterschiedlicher Konfessionen protestieren wir entschieden gegen diesen für die Zukunft Europas Tod bringenden Beschluss, der umgehend zurückgenommen werden muss! Als Christen sagen wir weiter unser entschiedenes Nein zu allen Lebens- und Denkformen, in denen sich der Mensch gegen die Schöpfungsordnungen Gottes auflehnt und sie zu umgehen sucht.

2. Vor Gott und den Menschen rufen wir daher zur Neubesinnung auf die biblische Offenbarung auf. Sie bezeugt, wie die schöpferische Liebe Gottes den Menschen befähigt, im Einklang mit der Schöpfung aus Liebe zu Gott und zum Mitmenschen seinem Schöpfungsauftrag gerecht zu werden. (Röm 5,5; 1 Kor 13). Das biblische Zeugnis zeigt uns, wie kreatürliches Leben, bei aller Sündhaftigkeit und Gebrochenheit, Abglanz des göttlichen Urbildes sein und werden kann. Es ermöglicht uns, aus der Liebe als Existenzmitte zu leben und damit bereits in unserer irdischen Existenz Zeugnis von der überirdischen Herrlichkeit Gottes zu geben.

3. Vor Gott und den Menschen rufen wir zu einer biblisch begründeten Wiedergewinnung einer „Ökologie des Menschen“ auf. Denn das Leben nach den Schöpfungsordnungen Gottes vereint die Christenheit aller Konfessionen und Denominationen. Die unbedingt gebotene Rückkehr und Umkehr zu diesem Fundament bedeutet daher auch das öffentliche ökumenische Bekenntnis zur „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche“ (una, sancta, catholica et apostolica Ecclesia).

4. Der Mensch ist von Gott als „Krone der Schöpfung“ bestimmt. Diese schöne und tiefe Wahrheit ist exemplarisch in Psalm 8 ausgedrückt, dessen staunendes Gotteslob diese Erklärung beschließen soll: (…)

Salzburg, den 6. September 2015

Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften (IKBG/IKB)

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
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Das Ziel ist die Umkehr zu Christus

Wahre Ökumene

Weihbischof Dr. Andreas Laun hat selbst am internationalen Kongress „Bekennender Gemeinschaften“ Anfang September in Salzburg teilgenommen. Voller Begeisterung kehrte er von dieser Begegnung zurück. Er habe den Geist wahrer Ökumene erlebt. Für ihn waren die Gespräche richtungweisend für das Bemühen der ganzen Kirche um die Wiederherstellung der vollen und sichtbaren Einheit. Beeindruckt hat ihn besonders die Selbstverständlichkeit, mit der evangelische Christen das Zeugnis der letzten Päpste anerkennen, ohne Hemmungen und mit großer Hochachtung aus deren Dokumenten zitieren und feststellen, dass die Nachfolger des hl. Petrus den Irrtümern der heutigen Zeit kraftvoll widerstanden haben. Für Weihbischof Laun ist die „Salzburger Erklärung“ sowohl ein wertvoller Beitrag im gemeinsamen Kampf gegen Gender-Mainstreaming und andere Irrwege, auf denen sich die Gesellschaft und manche kirchliche Kreise heute befinden, als auch ein neuer Ansporn für den ökumenischen Austausch und die ernsthafte Zusammenarbeit mit Christen anderer Konfessionen.

Von Weihbischof Andreas Laun

Der lange Weg bis zur aufrichtigen Ökumene

In einem Gespräch über die Reformation und ihre Folgen soll Konrad Adenauer gesagt haben: „Wäre ich der Papst gewesen, ich hätte mir Luther kommen lassen und mit ihm gesprochen, er war doch kein so unvernünftiger Mann!“  Nun, es gab keinen Tag, an dem sich der Reformator gedacht und dann beschlossen hätte: „Ich will eine Reformation machen, heute beginne ich damit und spalte die Kirche!“ Nein, so war es natürlich nicht, aber ohne Absicht passierte es doch, die Kirchenspaltung war da! Man weiß ziemlich genau, wie es geschah. Obwohl der Kaiser Karl V. den Papst geradezu anbettelte, ein Konzil einzuberufen, Rom hörte nicht auf ihn, und so kam es, wie es kommen musste: Die Einheit der Kirche ging verloren, und die Folgen waren schlimm: Die Verhärtungen mündeten in Streitigkeiten, man begann sich immer gröber zu beschimpfen, schließlich folgte die Gewalt: Religionskriege brachen aus, und in der Folgezeit beschloss man auf der politischen Ebene den schrecklichen Grundsatz: „Cuius regio eius et religio! Im Klartext: Die politische Macht bestimmt die Religion der Untertanen! Eine im Verhältnis zum blutigen Krieg harmlose, aber dennoch unvorstellbar leidvolle Folge waren die Vertreibungen der je Anderen! Es dauerte lange bis zu „Toleranz-Edikten“ und noch länger bis zur Ökumene im heutigen Sinn: Christus wollte die Einheit, wir müssen um sie beten und das Unsrige dafür tun. Man begann wieder miteinander zu reden, man schloss Freundschaften und arbeitete im caritativen Bereich zusammen, man hörte einander zu und versuchte einander zu verstehen und enthielt sich mehr und mehr des Aufrechnens alter Schulden und des Aufwärmens alter Geschichten. Mehr noch: Statt dessen gab es sogar Bitten um Vergebung für das, was geschehen war.

„Versöhnte Verschiedenheit“ ist keine Einheit

Soweit so wirklich gut! Aber wie es in dieser Welt, gezeichnet von der Sünde, so ist: Derjenige, der immer fleißig bleibt im Versuch zu zerstören und Gutes zu hindern, also der Teufel, hat subtile Mittel, die wirklich von Gott gewollte Einigung zu verhindern: Erstens reitet er natürlich auf den allzu menschlichen Empfindlichkeiten und Vorurteilen, zweitens aber versucht er die ökumenischen Bemühungen vom eigentlichen Ziel abzulenken. Einer seiner Erfolge ist der Begriff der „versöhnten Verschiedenheit“! Denn „versöhnt“ klingt natürlich gut in den Ohren von Christen und mit „Verschiedenheit“ kann man edle Dinge verbinden, vor allem auch die Toleranz und, sehr angenehm, den Gedanken: „Wir haben das Ziel erreicht, wir können die „alte Geschichte“ abhaken! So viel besser das ist im Vergleich zur Vorgeschichte, es ist noch nicht das, was Gott von uns will: Jesus sprach von der Einheit und wollte „Seine Kirche“, nicht „unsere“, und nur eine einzige, nicht viele Kirchen, auf dem von Ihm bestimmten „Felsen bauen“, auf dem Fundament der Apostel. Daraus folgt die große Aufgabe für alle Christen: Das Erreichte dankbar bewahren und den letzten großen Schritt mit der Hilfe Gottes in Angriff nehmen!

Reformation als Spaltung kann man nicht „feiern“

Ökumene darf daher weder bei freundlichen Treffen bei Café und Kuchen und nicht einmal im caritativen Handeln stehen bleiben. Die Aufgabe ist vielmehr: Keine „Feier der Reformation“, denn niemand „feiert eine Scheidung“! Wir alle, Katholiken, Orthodoxe und evangelische Christen jeder Ausprägung sollten die Spaltung beweinen, nicht nachdenken, wer vielleicht mehr schuldig war, und nach vorne, in die Zukunft hinein, schauen, denken und uns um die Einheit im Glauben bemühen! Dabei kann man sich erinnern an den damals leider unbeachtet gebliebenen Vorschlag, den der hl. Franz von Sales direkt nach dem großen Unglück der Trennung machte: „Lasst den Protestanten alle Sonderheiten und alles Geld, wenn sie nur den Glauben der Kirche wieder annehmen!“

Papst Benedikt XVI. hat auf dieser Grundlage viele Christen in England zur Einheit geführt, und den Weg wird man weiter gehen müssen: Ringen um die Einheit im Glauben! Das kann freilich nur gelingen, wenn zwei Bedingungen gegeben sind: Die Erste besteht im Einsatz gebildeter und gütiger Theologen: Männer, die wissen, wovon die Rede ist, und dabei alles vermeiden, was den Gesprächspartner eher verhärten könnte als Licht in die Sache selbst zu bringen! Die zweite Bedingung ist spiritueller Natur: Alle, die an diesem Dialog teilnehmen, müssen alle Reste von Herzenshärte, Überheblichkeit, Eitelkeit, Rechthaberei, Vorurteile und Empfindlichkeiten in ihrem Herzen mit Hilfe der Gnade Gottes bekämpfen und so bereit werden zur Umkehr – zur Umkehr zu Jesus Christus!

Das Ziel darf nicht „Sieg“ sein, sondern Hingabe und Offenheit für das Licht der Welt, das Jesus Christus ist! Dass solche Umkehr auch schmerzt, ist klar, aber ohne diesen Schmerz geht es eben nicht! In diesem Sinn: „Rückkehr-Ökumene“ nein, wenn das Wort den „Sieger“ bezeichnen soll, zu dem der Besiegte „zurückkehrt“, aber Rückkehr-Ökumene ja, wenn es Rückkehr ohne Vorbehalte zu Gott bedeutet! Und nur das darf es bedeuten!

Wir haben den Geist wahrer Ökumene erlebt

Die evangelischen Christen, die die „Salzburger Erklärung“ zum Thema Gender vorbereitet haben, haben diese im Geist der wahren Ökumene erarbeitet! Zielvorgabe war ein Text, dem wirklich alle Teilnehmer – Katholiken, Anglikaner, Orthodoxe und Vertreter von Freikirchen – zustimmen können! Und dies ist gelungen! Und so könnte die Salzburger Erklärung ein Vorbild sein. Eine gemeinsame, ökumenische Erklärung um der Wahrheit willen! Möge sie wenigstens ein kleiner Schritt in die richtige Richtung sein und in ihrer Wirkung vom Segen Gottes begleitet werden!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
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Aufklärung ist Sache der Eltern

Seid wachsam – zum Wohl der Kinder!

Mit einem neuen Flyer ermutigt die Familienkommission der Österreichischen Bischofskonferenz alle Eltern dazu, die Aufklärung ihrer Kinder selbst in die Hand zu nehmen und den schulischen Sexualkunde-Unterricht aufmerksam zu begleiten. Sie sind die ersten und wichtigsten Erzieher ihrer Kinder. Staat und Regierung dürfen ihnen dieses Recht und diese Pflicht nicht nehmen. Auch nicht beim Thema Sexualität und Aufklärung! Es gilt das Prinzip der Subsidiarität. Staat und Schule müssen in Absprache und im Einverständnis mit den Eltern unterstützend mitwirken. Aufklärung ist Sache der Eltern. Und diese dürfen es nicht zulassen, dass sie übergangen werden.

Von Weihbischof Andreas Laun

Liebe Familien, wieder einmal möchte ich Ihnen sagen, wie wichtig Sie für die Kirche und für die Welt sind. Ohne Familien kein Leben und keine Zukunft! Und darum auch der Kampf der Feinde Gottes gegen die Familien. Besonders deutlich und direkt hat dieser Kampf mit der kommunistischen Bewegung begonnen, setzte sich in Form der Lebensverachtung im NS-Staat verdeckt und getarnt fort und kommt heute wieder in der Gestalt der Gender-Ideologie ans Tageslicht! Aber natürlich auch jetzt getarnt als Kampf für Gerechtigkeit!

Papst Franziskus hat diese Ideologie in seiner direkten Art „dämonisch“ genannt. Der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe auf Jagd, heißt es im Petrusbrief (1 Petr 5,8). Na ja, wenn der Löwe brüllt, wird er erfolglos bleiben, aber man könnte den Vergleich weiterführen und sagen: Die Löwen, die jagen, schleichen sich an! Wie auch immer: Die Gefahr ist groß, und es ist ganz wichtig, dass wir Christen nicht schlafen, nicht schönreden, was nicht schön ist, die Gefahr nicht unterschätzen, weil sie die meisten von uns noch nicht am eigenen Leib erleben. Aber seien Sie vorsichtig: Vielleicht ist sie bereits bei den Kindern in der Schule sehr groß geworden, größer als wir meinen? Glauben Sie bitte unserem Papst und übrigens auch der Schwester Lucia, der letzten Seherin von Fatima: Sie kannte „gender“ noch nicht, aber sie warnte wohl prophetisch schon vor Jahren den heutigen Kardinal von Bologna: Satan führt einen dramatischen Kampf gegen die Familien und damit eigentlich gegen Christus! (Siehe den Beitrag „Totalitäre Politik der Gender-Ideologen“ von Weihbischof Laun in „Kirche heute“ Nr. 8/9-2015, S. 4-5).

Liebe Familien, ich möchte euch nicht Angst machen, nur bitten, wachsam zu sein! Es geht um Euch, um Eure Kinder, um uns alle! Hilfen in dieser Richtung bietet der Flyer „Aufgeklärt?"[1] Grundtenor dieser kurzen Info-Broschüre ist die Ermutigung: Aufklärung ist Sache der Eltern und nicht Sache des Staates!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Zu beziehen ist der Flyer bei der Familienkommission der Österreichischen Bischofskonferenz: Institut für Ehe und Familie (IEF), A-1010 Wien, Spiegelgasse 3/8, Tel. +431 515 52-3658, E-Mail: office@ief.at

Genau das richtige Buch für Eltern heute

Robert und Michi Schmalzbauer, die Verantwortlichen der Initiative Christliche Familie, sind Eltern von 8 Kindern. Sie schildern ihre Erfahrungen mit dem Buch „Stark. Selbstbewusst. Aufgeklärt“ von Maria und Richard Büchsenmeister.[1]

Von Robert und Michi Schmalzbauer

Im Jahr 2003 hatten wir vier kleine Kinder und noch wenig Ahnung vom Thema Sexualerziehung. Richard und Maria Büchsenmeister haben uns damals durch ihre guten Vorträge die wertvollsten Dinge zu diesem Thema mitgegeben. Sexualität ist ein so wichtiger Bereich, gerade heute, wo so viel Verwirrung jungen Menschen den Weg zu einem erfüllten Leben erschwert. Sexualerziehung richtig verstanden, so haben wir gelernt, beginnt tatsächlich schon im Kleinkindalter und findet im Elternhaus statt. Heute sind unsere älteren Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden und – wir haben sie gefragt – unglaublich dankbar dafür, sie haben sosehr davon profitiert.

Danke, liebe Maria und Richard, dass ihr euch so sehr in dieses Thema hineingearbeitet und euer Wissen in den Erfahrungshorizont junger Eltern übersetzt habt. Mögen dieses Buch alle Väter und Mütter rechtzeitig lesen und in ihrer Erziehung umsetzen – es lohnt sich, unsere Kinder sind es wert!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Maria und Richard Büchsenmeister: Stark. Selbstbewusst. Aufgeklärt. Sexualerziehung vom Kleinkindalter bis in die Vorpubertät, geb., 110 S., ISBN 978-3-902336-04-0, Euro 12,50 (A).

Empfehlenswerte Fachliteratur:

Campbell, Ross: Kinder sind wie ein Spiegel

Ein Handbuch für Eltern, die ihre Kinder richtig lieben wollen
Francke, ISBN 978-3-86827-238-3, 144 S., Euro 10,30

Chapman, Gary/Campbell Ross: Die 5 Sprachen der Liebe für Kinder
Wie Kinder Liebe ausdrücken und empfangen
Francke, ISBN 978-3-86827-437-0, 221 S., Euro 15,40

Trobisch, Ingrid/Rötzer, Elisabeth: Mit Freuden Frau sein
dip3, ISBN 978-3-902686-87-9, 260 S., Euro 16,40

Rötzer, Josef/Rötzer, Elisabeth: Natürliche Empfängnisregelung – das Original
Die sympto-thermale Methode – der partnerschaftliche Weg
Herder, ISBN 978-3-451-30629-7, 143 S., Euro 17,50

Kuby, Gabriele: only you – Gib der Liebe eine Chance
fe-medienverlag, ISBN 978-3-939684-51-0, 80 S., Euro 5,20

Lerchen, Wilma: Liebe wählt aus
Wie finde ich den richtigen Partner? Freundschaft und Sexualität – Zufall oder Entscheidung? Schönstatt, ISBN 978-3-935396-22-6, 96 S., Euro 8,20

Schneider, Holm: Ein Baby im Bauch
Einfach und genial – Wenn in Mamas Bauch ein Baby heranwächst
Neufeld, ISBN 978-3-86256-058-5, 48 S., Euro 8,10

Lindgren, Astrid: Ich will auch Geschwister haben
Eine wunderbare Gelegenheit, mit seinem Kind über dieses Thema ins Gespräch zu kommen, Oetinger, ISBN 978-3-7891-6033-2, 32 S., Euro 12,40

Elsbett, George: God, Sex & Soul
Leiblichkeit & Sexualität, ein Perspektivenwechsel
Catholic Media, ISBN 978-3-939977-25-4, 198 S., Euro 12,40

Lehmann, Regula: Sexualerziehung? Familiensache!
Just do it – Bevor andere es tun!
Brunnen, ISBN 978-3-7655-1528-6, 271 S., Euro 14,40

Büchsenmeister, Maria und Richard: Stark – Selbstbewusst – Aufgeklärt
Sexualerziehung vom Kleinkindalter bis in die Vorpubertät
ehefamiliebuch, ISBN 978-3-902-33604-0, 110 S., Euro 12,50 (A)

Krammer, Roman/Steinhofer, Eva: Die religiöse Kindererziehung durch die Eltern im staatlichen und kirchlichen Recht, Fachstelle Beziehung-Ehe-Familie, St. Pölten

 

Hilfreiche Webseiten für Erziehung und Pastoral:

Ehe, Sexualität und das Geschenk des Lebens: www.derguteweg.at

Sexualpädagogik, Beitrag zur Persönlichkeitsbildung: www.teenstar.at

Initiative Christliche Familie: www.christlichefamilie.at

SaverSurfing – Soll das Internet mein Kind aufklären?: www.safersurfing.eu

Institut für Natürliche Empfängnisregelung: www.iner.org

Sex&Sieben – Orientierung zu Pubertät, Liebe und Sexualität: www.6und7.net

Ein Service von Eltern für Eltern: www.sexualerziehung.at

Prinzipien Sexualpädagogik: www.prinzipien-sexualpaedagogik.org

Studiengang Leib-Bindung-Identität: www.leib-bindung-identitaet.org

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Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Pastorales Wort an Eheleute nach einer Trennung

Gescheiterte Ehe?

Im Blick auf die bevorstehende Familiensynode greift Professor Dr. Andreas Wollbold, der Inhaber des Lehrstuhls für Pastoraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, noch einmal die Frage nach dem Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen auf. Er ruft in Erinnerung, dass es beim Thema „eheliche Beziehungen“ nicht um eine verhandelbare Sache, sondern um das ewige Heil des Menschen geht. In einfühlsamer Weise legt er die Möglichkeiten dar, welche sich aus kirchlicher Sicht für einen gläubigen Menschen auftun, dessen Ehe „gescheitert“ ist. Sein Wort richtet sich sowohl an die betroffenen Eheleute als auch an die Seelsorger. Es ist ihm ein Anliegen, die Haltung der Kirche im Licht des Glaubens, aber für jeden verständlich aufzuzeigen.[1]

Von Andreas Wollbold

„Trennung von Tisch und Bett“ ist keine Scheidung

Scheidung mit Wiederheirat oder eine neue Verbindung stehen gegen das ausdrückliche Wort Jesu: Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen (Mt 19,6). Aber Scheidung ist Alltag geworden und so fragen sich viele: Ist das Gebot Jesu heute nicht unrealistisch? Gibt es nicht Situationen, in denen ein weiteres Zusammenleben nur noch Schaden anrichten würde? Ja, das gibt es, und die Kirche hat darum immer auch die Möglichkeit der Trennung eingeräumt, etwa bei häuslicher Gewalt oder Erniedrigung oder bei einem andauernden Verhältnis des anderen. Doch eine solche „Trennung von Tisch und Bett“ ist keine Scheidung im Sinn der Beendigung der Ehe, auch wenn die zivile Scheidung häufig mit Blick auf ihre Rechtsfolgen notwendig ist, also etwa um nicht in die Schulden des anderen hineingerissen zu werden. Doch auch bei einer zivilen Scheidung ist das Eheband nicht zerrissen. Es wird sozusagen auf Distanz gelebt. Das ist mehr als eine fromme Floskel. Im Gebet für den anderen, vielleicht auch in gemeinsamer Verantwortung für Kinder, manchmal auch in erneutem Beistand etwa in Krankheit oder bei sozialem Abstieg kann man weiterhin für den anderen da sein, auch wenn ein Zusammenleben nicht mehr infrage kommt.

Treue zum Eheband ist ein beeindruckendes Zeugnis

Aber was ist, wenn nach Trennung das Alleinleben schwerfällt und eine neue Beziehung entsteht? Unfreiwillig allein leben zu müssen, vielleicht auch verlassen worden zu sein, gehört zu den schwersten Prüfungen eines Lebens. Als Christ wird man jegliche Hilfe suchen, die einem bei ihrer Bewältigung hilft: Unterstützung durch Seelsorger, Freunde, die eigene Familie und Gleichgesinnte; praktische Hilfen, die das Alleinleben zu einem vollgültigen und glücklichen neuen Lebensentwurf machen können; das Bewusstsein, gerade in der Treue zum Eheband, das der andere beschädigt hat, nicht der Loser zu sein, sondern darin vor Gott Würde und Wert zu finden; nicht zuletzt auch die verstärkte Hinkehr zu Gott, zum Gebet, zu den Sakramenten, zu einem geistlichen Leben, das trägt und in schweren Stunden tröstet. Es gibt das Beispiel vieler Verlassener, die in Treue zum Sakrament entschieden allein leben und keine neue Verbindung suchen, und dies gehört zu den beeindruckendsten Zeugnissen für die Macht der göttlichen Gnade.

Erfüllung des Willens Gottes ist eine Frage des Heils

Dennoch noch einmal die Frage: Was ist, wenn eine neue Beziehung entstanden ist und vielleicht auch bereits zu einer zivilen Ehe geführt hat? Da gibt es zum einen die Möglichkeit eines kirchlichen Ehenichtigkeitsverfahrens für die erste Ehe („Annullierung“). Wenn dies aber nicht infrage kommt, muss man sich eingestehen, dass man mit der neuen Verbindung vor Gott ebenso wie vor den Menschen eine Art Gegenzeugnis gegen die Unauflöslichkeit der Ehe und das unzerreißbare Eheband gibt. Meist entwickeln ja die eigenen Angehörigen und Freunde Verständnis und Mitgefühl mit der eigenen Situation und eine neue Beziehung wird dort meistens geradezu mit Erleichterung begrüßt. Doch diese Freude im eigenen Umfeld hat eine Logik, das sogenannte Recht auf einen Neuanfang, und diese Logik steht im Fall der Ehe in einem objektiven Gegensatz zum Wort des Herrn: Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen (Mt 19,6). Dieses Gegenzeugnis beschränkt sich aber nicht bloß auf die Menschen der eigenen Umgebung. Es greift auch entscheidend in das Verhältnis zu Gott ein. Wer nach einer Trennung eine neue Beziehung eingeht, lebt damit zumindest objektiv auf Dauer in einem Zustand schwerer Sünde, den er zudem auch gar nicht beheben will. „Ich mache das selbst mit meinem Herrgott aus“, führt da nicht weiter, denn abseits des geoffenbarten Willens Gottes gibt es kein tragfähiges Verhältnis zu ihm. So kann auch die Kirche um der Bedeutung des Ehesakramentes und der Klarheit gegenüber allen Gläubigen willen über das neue Verhältnis nicht hinweggehen. Ist das zu streng? Das wäre es nur, wenn es dabei um nichts ginge. Dabei geht es aber um nichts weniger als um das Heil, denn es ist an die Treue zu Gottes Gebot gebunden. Es ist wichtig, sich diesen Sachgrund vor Augen zu halten. Andernfalls nimmt man das Verhalten der Kirche persönlich und deutet es als Verlust des Respektes oder als Ausgrenzung. Doch ganz im Gegenteil bleibt man selbstverständlich ein Glied der Kirche, ja, Seelsorger und Gläubige sind ganz besonders dazu aufgerufen, sich Menschen in diesen überaus schwierigen Lebenssituationen mit viel Verständnis, Anteilnahme und Klarheit zuzuwenden.

Die Schöpfungsordnung ist auch heute lebbar

Aus diesem Sachgrund eines Lebens im objektiven Gegensatz zur Ordnung der Ehe kann ein solcherart in einer neuen Beziehung Lebender nicht die Sakramente empfangen. Keine Frage, das ist vor allem für Menschen, die mit der Kirche leben möchten, hart. Im heutigen gesellschaftlichen Klima liegt es dann nahe, die Kirche als unbarmherzig zu beschimpfen, ihre Ordnung zu ignorieren oder sich ganz von ihr zu entfernen. Die Härte des Gebotes der Unauflöslichkeit haben bereits die Apostel empfunden und gesagt: Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten (Mt 19,10). Denn Mose hatte die Scheidung erlaubt, Jesus aber erwiderte: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so (Mt 19,8). So zeichnet sich das Christentum durch den Glauben aus, dass die Reinheit des Anfangs der Schöpfung auch heute lebbar ist – das Bild Gottes kann auch heute aufstrahlen. Umso mehr stellt sich aber die Frage: Was kann die Kirche Menschen in solchen Situationen raten? Bleibt das „Du-darfst-nicht“ ihr letztes Wort, oder spricht sie daneben auch ein „Du-kannst“?

Die Suche kann zum Anlass einer Bekehrung werden

Was also ist für einen Christen positiv nach Trennung und bei einer neuen Beziehung zu tun? Zunächst wird man sich ins Gebet vertiefen und dann den Rat eines verlässlichen Priesters suchen. Bei der Bewältigung und Ordnung der Lebenslage wird man sich vielleicht nicht gleich zum großen Schritt in der Lage fühlen. Doch kleine Schritte in die richtige Richtung sind immer möglich, und sie gilt es zu erkennen und zu gehen. Oft legt die Situation nur bloß, dass die lebendige Beziehung zu Gott schon seit Jahren erkaltet, dass das Glaubenswissen gering und dass die Grundlagen der Ehe nicht mit vollem Ernst angenommen worden sind. So kann die Situation zum Anlass einer Bekehrung werden, die den Glauben neu entdecken lässt.

Dauerhafte Enthaltsamkeit kann der richtige Weg sein

Eine besondere Lösung bietet sich in dem Fall an, wenn die Sexualität bei der neuen Verbindung nicht im Vordergrund steht – und das ist wohl nicht selten der Fall –, sondern Unterstützung, Freundschaft oder auch die Mitverantwortung für die Kinder. Es mag auch sein, dass man letztlich einfach aus dem Grund eine neue Beziehung eingegangen ist, weil das moderne Leben jenseits des jungen Erwachsenenalters weithin auf Paare eingestellt ist – das beginnt schon im Hotel, wo ein Doppelzimmer oft nur wenig mehr kostet als ein Einzelzimmer. Sicher spielen auch die Erwartungen der Umwelt eine Rolle, und sie gehen nach einer gewissen Zeit der Trennung in Richtung auf eine neue Verbindung, so, als würde man damit das Signal geben: „Jetzt endlich geht das Leben auch für mich weiter!“

Wenn Menschen in der neuen Beziehung einfach ein neues Glück suchen, werden Christen ihnen selbstverständlich mit Verständnis begegnen. Doch das bedeutet nicht, es gutzuheißen. „Ich schaffe es nicht, allein zu bleiben“, ist etwas anderes, als zu sagen: „Das ist alles recht so.“ Gerade wenn aber das vorrangige Motiv der neuen Verbindung der Wunsch danach ist, jemanden an seiner Seite zu haben, steht wie gesagt die sexuelle Begegnung nicht selten gar nicht im Vordergrund. Für ein solches Paar kann eine dauerhafte Enthaltsamkeit – die sogenannte Josefsehe – der richtige Weg sein, auch wenn es vielleicht Jahre braucht, bis es ihn vollkommen verwirklichen kann. Sie stellt hohe Anforderungen an die Gesprächskultur – aber das ist ja, nebenbei gesagt, auch die wichtigste Bedingung für das Gelingen jeder Beziehung. Gewiss, auch diese Lösung liegt nicht gerade im Trend der Zeit. Aber unsere Zeit hat wohl insgesamt mehr Probleme im Bereich von Sexualität und Beziehung geschaffen, als sie beseitigt hat. So darf man ihre Lösungskompetenz auch in Fragen der Wiederverheiratung getrost infrage stellen und sich besser der Kirche anvertrauen. Die Kirche hat zweitausend Jahre Erfahrung mit allen Höhen und Tiefen christlicher Ehe. Sie hat vom Herrn klare Richtlinien und dazu die Gnade des Ehesakramentes erhalten, mit deren Hilfe jedes Paar zum Ziel gelangen kann. So ist es eine der großen Aufgaben der Kirche und aller Gläubigen, Menschen jeden Alters und in jeder Lebenssituation zu helfen, diese großen Werte neu zu entdecken und zu verwirklichen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Buchtipp: Andreas Wollbold: Licht für meine Pfade. Das christliche Leben neu wagen, 272 S., ISBN 978-3-9815943-9-3, Euro 19,95 (D), 20,50 (A). www.media-maria.de

Der Einsatz der Kirche für die Jugend (Teil III)

Die dringende Aufgabe der Erziehung

Die Einführung der Weltjugendtage durch Johannes Paul II. ist ohne Zweifel ein Meilenstein in der kirchlichen Jugendarbeit. Sein Nachfolger Benedikt XVI. hat alles getan, um dieses Erbe weiterzuführen. Doch setzte er auch eigene Akzente. Ihm lag vor allem eine solide Katechese am Herzen. Kurienbischof Dr. Josef Clemens stellt ein Dokument vom 21. Januar 2008 vor, das in Deutschland verständlicherweise so gut wie unbekannt ist. Es handelt sich um ein „Schreiben an die Diözese und die Stadt Rom über die dringende Aufgabe der Erziehung“. Doch ist es äußerst aufschlussreich im Hinblick auf „die Beziehung von Benedikt XVI. zur Welt der jungen Menschen“.

Von Bischof Josef Clemens, Rom

Benedikt XVI. bei seinem Amtsantritt

Wie sein Vorgänger, so nutzte auch Benedikt XVI. den Tag seines Amtsantritts, um den jungen Generationen seine Nähe zu versichern und er tat dies in großer Einmütigkeit mit seinem Vorgänger: „So möchte ich heute mit großem Nachdruck und mit großer Überzeugung aus der Erfahrung eines eigenen langen Lebens Euch, liebe jungen Menschen, sagen: Habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, der erhält alles hundertfach zurück. Ja, öffnet, macht die Türen weit für Christus – dann findet ihr das wirkliche Leben."[1]

Ein Leben für die Jugend

Im Rückblick auf die Beziehung von Benedikt XVI. zur Welt der jungen Menschen möchte ich betonen, dass sein gesamtes Leben dem Einsatz für die Jugend gewidmet war. Joseph Ratzinger erkannte in seinem akademischen Dienst zugunsten eines vertieften Verständnisses und einer verstärkten Weitergabe des Glaubens – besonders an die jungen Generationen – die Berufung seines Lebens.[2] Als Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie (1952-1978), Erzbischof und Kardinal von München und Freising (1978-1981), Präfekt der Glaubenskongregation (1981-2005) und Papst (2005-2013) hat er all seine Kräfte diesem Ziel gewidmet.

Vorwort zum „Youcat“

In dieser Hinsicht ist sein Vorwort zum Jugendkatechismus „Youcat“ aufschlussreich, der vor dem WJT in Madrid 2011 publiziert wurde. Papst Benedikt XVI. schrieb: „Studiert den Katechismus mit Leidenschaft und Ausdauer! Opfert Lebenszeit dafür! Studiert ihn in der Stille Eurer Zimmer, lest ihn zu zweit, wenn Ihr befreundet seid, bildet Lerngruppen und Netzwerke, tauscht Euch im Internet aus. Bleibt auf jede Weise über Euren Glauben im Gespräch! Ihr müsst wissen, was Ihr glaubt. Ihr müsst Euren Glauben so präzise kennen wie ein IT-Spezialist das Betriebssystem eines Computers. Ihr müsst ihn verstehen wie ein guter Musiker sein Stück. Ja, Ihr müsst im Glauben noch viel tiefer verwurzelt sein als die Generation Eurer Eltern, um den Herausforderungen und Versuchungen dieser Zeit mit Kraft und Entschiedenheit entgegentreten zu können."[3]

Sonderaudienz für die Stadt Rom

Papst Benedikt XVI. hat sich angesichts der nicht zu leugnenden Krisenphänomene im Jugendsektor der Diagnose eines dringend notwendigen Einsatzes im Erziehungsbereich angeschlossen, der Eltern, Lehrer, Priester und alle anderen hier Verantwortlichen in gleicher Weise angeht.[4] Ein deutliches Beispiel seines diesbezüglichen Engagements finden wir im Brief an die Diözese und die Stadt Rom über die dringende Aufgabe der Erziehung der neuen Generationen, der von ihm selbst in einer Sonderaudienz auf dem Petersplatz am 23. Februar 2008 vorgestellt und überreicht wurde.[5]

Leidenschaftlicher Aufruf zur Erziehung

Da der Brief an die Diözese und die Stadt Rom gerichtet war, musste der Papst einer Argumentation folgen, die für Gläubige und Nichtgläubige annehmbar war. In seiner Rede auf dem Petersplatz konnte er jedoch eine spezifisch christliche Antwort auf diese dringende Notwendigkeit vorstellen. Der Papst betont, dass der Glaubende angesichts aller Schwierigkeiten, Ungewissheiten und Zweifeln sich von einer „großen Hoffnung und von einem starken Vertrauen“ getragen fühlt, d.h. „dass jenes klare und endgültige „Ja“, das Gott in Jesus Christus zur Menschheitsfamilie gesagt hat (vgl. 2 Kor 1,19-20), auch für unsere Jugendlichen und Heranwachsenden gilt […] Darum ist die Erziehung zum Guten auch in unserer Zeit möglich. Sie ist eine Leidenschaft, die wir im Herzen tragen müssen. Sie ist ein gemeinsames Unternehmen, zu dem jeder aufgerufen ist, seinen Beitrag zu leisten."[6]

Eltern schenken Vertrauen in das Leben

Der Papst wendet sich zuerst an die Eltern, die mit ihrer wechselseitigen Liebe und Treue einen unersetzbaren Beitrag bei der Erziehung ihrer Kinder leisten: „Dies ist das erste und große Geschenk, das eure Kinder brauchen, um harmonisch aufzuwachsen, Selbstvertrauen und Vertrauen in das Leben zu gewinnen und so ihrerseits die Fähigkeit zu echter und großherziger Liebe zu erlernen."[7]

Gute Erzieher vermitteln ein klares Urteil

Um ein guter Erzieher zu sein, muss ein entsprechender Lebensstil, eine Lebenskohärenz und eine Entschiedenheit vorhanden sein, um den jugendlichen Charakter zu mäßigen und den jungen Menschen ein klares Urteil über Gut und Böse zu vermitteln, so dass sie sich selbst tragfähige Überzeugungen und Lebensregeln erarbeiten können. Benedikt XVI. erinnert an die Pflicht der Lehrer, nicht nur Informationen und Sachkenntnisse zu vermitteln, sondern auch eine Antwort auf die große Frage nach der Wahrheit zu geben, die als eine Leitlinie im weiteren Leben dienen kann.[8] Er ermahnt alle im Erziehungssektor tätigen Männer und Frauen, die gleiche Gesinnung wie Jesus Christus zu haben (vgl. Phil 2,5), d.h. vertrauenswürdige Freunde und Zeugen einer freimachenden Wahrheit zu sein (vgl. Joh 8,32).

Jugendliche sind zur Selbsterziehung aufgerufen

Im letzten Teil seiner Rede bezieht der Papst in origineller Weise die Jugendlichen selbst in den Erziehungsprozess ein, weil dieser von einer Beziehung zwischen Personen geprägt ist, in welchem „immer die Freiheit und die Verantwortlichkeit derer im Spiel sind, die erzogen werden."[9] Und Benedikt XVI. wendet sich direkt an die jungen Menschen und erinnert sie, „dass ihr dazu berufen seid, selbst die Verantwortung zu übernehmen für euer sittliches, kulturelles und geistliches Wachstum. Es liegt also an euch, das Erbe der Wahrheit, des Guten und des Schönen, das sich im Laufe der Jahrtausende herausgebildet hat und das in Jesus Christus seinen Eckstein besitzt, im Herzen, im Verstand und im Leben frei aufzunehmen."[10] Und der Papst versichert ihnen, dass an ihrer Seite nicht nur die Erzieher sind, sondern „vor allem jener Gott, der uns geschaffen hat und der in unseren Herzen verborgene Gast ist“.[11] Er erleuchtet unsere Intelligenz, führt unsere Freiheit zum Guten, er ist unsere Hoffnung und das Fundament unseres Lebens, auf ihn können wir unser ganzes Vertrauen setzen.[12]

Erziehung gliedert sich in fünf Aktionsfelder

Nach Papst Benedikt XVI. lässt sich der konkrete Einsatz der Kirche für die Erziehung in fünf Aktionsfelder gliedern, die untereinander verbunden sind und sich gegenseitig ergänzen:[13] (1.) Gott in einer Welt ohne Gott verkünden,[14] (2.) die Kirche als einen vertrauenswürdigen Begleiter von Freunden entdecken,[15] (3.) die Jugendlichen wie Väter begleiten,[16] (4.) die Suche nach der Wahrheit eröffnen,[17] (5.) den Weg der Liebe zeigen.[18]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Vgl. Benedikt XVI.: Predigt in der Hl. Messe zum Beginn des Petrusamtes, Petersplatz, 24. April 2005, in: O.R. dt., Nr. 17, 29. April 2005, 2f., 3.
[2] Vgl. Joseph Ratzinger,: Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977), Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1998, 176.
[3] Benedikt XVI.: Vorwort zum „Youcat“, Jugendkatechismus der Katholischen Kirche, Pattloch Verlag, München 2011, 6-11, 9f.
[4] Vgl. Fabio Attard: L’emergenza educativa. L’impegno della Chiesa e il recente Magistero, in: Quaderni cannibali, Dezember 2009.
[5] Vgl. Benedikt XVI.: Schreiben an die Diözese und die Stadt Rom über die dringende Aufgabe der Erziehung, 21. Jan. 2008, in: O.R. dt., Nr. 6, 8. Febr. 2008, 9; Benedikt XVI.: Ansprache in der Sonderaudienz für die Diözese Rom zur Vorstellung und Übergabe des „Schreibens über die dringende Aufgabe der Erziehung“, Petersplatz, 23. Febr. 2008, in: O.R. dt., Nr. 11, 14. März 2008, 7.
[6] Benedikt XVI.: Ansprache Sonderaudienz „Schreiben über die dringende Aufgabe der Erziehung“, 7.
[7] Ebd.
[8] Benedikt XVI: Schreiben über die dringende Aufgabe der Erziehung, 9.
[9] Benedikt XVI.: Ansprache Sonderaudienz „Schreiben über die dringende Aufgabe der Erziehung“, 7.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] Vgl. Pontificio Consiglio per i Laici (Hrsg.): Evangelizzare i giovani oggi. Il contributo di Benedetto XVI, Città del Vaticano 2012; Fabio Attard: Ripensare la pastorale giovanile, Libreria Ateneo Salesiano, Roma 2013, 65-75; José Mª Herranz Maté: El mensaje de Benedicto XVI a los jóvenes, in: La ciudad de Dios, Revista agustiniana, vol. CCXXVI, n. 2, Real Monasterio de el Escorial 2013, 333-362.
[14] Vgl. Benedikt XVI.: Botschaft zum XXVI. Weltjugendtag in Madrid 2011, 6. Aug. 2010, in: O.R. dt., Nr. 37, 17. Sept. 2010, 7 f., 7.
[15] Vgl. Benedikt XVI.: Ansprache bei der Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom, 6. Juni 2005, in: O.R. dt., Nr. 24, 17. Juni 2005, 7f., 8.
[16] Vgl. Benedikt XVI.: Ansprache Pastoraltagung Rom 2005, 8; Benedikt XVI.: Ansprache an die Teilnehmer der Pastoraltagung der Diözese Rom, 11. Juni 2007, in: O.R. dt., Nr. 26, 29. Juni 2007, 11 f., 12.
[17] Vgl. Benedikt XVI.: Ansprache bei der Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom, 5. Juni 2006, in: O.R. dt., Nr. 26, 30. Juni 2006, 7f.; Benedikt XVI.: Ansprache bei der Willkommensfeier auf dem Hafengelände Barangaroo, XXIII. Weltjugendtag, Sydney, 17. Juli 2008, in: O.R. dt., Nr. 30/31, 25. Juli 2008, 10; Benedikt XVI.: Ansprache beim Besuch der Katholischen Universität zum 50. Jahrestag der Errichtung der Medizinischen und Chirurgischen Fakultät „Polyklinikum Agostino Gemelli“, Rom, 3. Mai 2012, in: O.R. dt., Nr. 19, 11. Mai 2012, 7f.
[18] Vgl. Benedikt XVI.: Ansprache Pastoraltagung Rom 2005, 8; Benedikt XVI.: Ansprache bei der Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom, Basilika St. Johann im Lateran, 11. Juni 2007, in: O.R. dt., Nr. 26, 29. Juni 2007, 11f., 12; Benedikt XVI: Ansprache für die Teilnehmer der Vollversammlung der Italienischen Bischofskonferenz, 29. Mai 2008, in: O.R. dt., Nr. 24, 13. Juni 2008, 8.

Heiligsprechung am 18. Oktober 2015

Die Eltern der heiligen Theresia von Lisieux

Marie-Céline Martin, eine ältere Schwester der hl. Theresia von Lisieux, hat uns eine Biografie ihrer Eltern hinterlassen. Das Werk ist von unschätzbarem Wert und bildete die entscheidende Grundlage für die Seligsprechung von Louis und Zélie Martin im Jahr 2008, welche nun mit der Heiligsprechung am 18. Oktober 2015 ihren krönenden Abschluss findet. Pfarrer Klaus-Peter Vosen hat zu diesem Anlass die Lebensbilder ins Deutsche übersetzt[1] und ihnen eine meisterhafte Bewertung vorangestellt.

Von Klaus-Peter Vosen

Marie-Céline Martin, die Autorin der beiden biografischen Skizzen, die in diesem Band vorgelegt werden, wurde am 28. April 1869 in Alençon geboren. Sie war das siebte von neun Kindern ihrer Eltern, das vierte von fünf, die dem Kindesalter entwuchsen. 1894, nach dem Tode Louis Martins, dessen Pflege sie übernommen hatte, trat Céline in den Karmel von Lisieux ein, in dem damals bereits ihre Schwestern Pauline (Mutter Agnes von Jesus), Marie (Schwester Maria vom Heiligsten Herzen) und Theresia (Schwester Theresia vom Kinde Jesus und vom Heiligsten Antlitz), die spätere Heilige, lebten. Letztere war die besondere Gefährtin ihrer Jugend gewesen. Im Karmel von Lisieux starb Céline Martin, im Orden zuerst Schwester Genoveva von der heiligen Theresia, später: von der heiligen Theresia und vom Heiligsten Antlitz genannt, fast neunzigjährig am 25. Februar 1959.

In den Jahren 1953 und 1954 unternahm sie es im hohen Alter, je ein kurzes Lebensbild ihres Vaters Louis und ihrer Mutter Zélie zu verfassen. Dies geschah, wie sie selbst angibt, auf Veranlassung der Oberen und aus einem zweifachen Grund: Zum einen hatte das Interesse für Theresia, die „größte Heilige der Moderne“ (Papst Pius X.) dazu geführt, dass man sich auch mit den Persönlichkeiten ihrer Eltern beschäftigte. Von Übersee, den Vereinigten Staaten her, hatte eine Bewegung eingesetzt, die die Seligsprechung von Zélie und Louis Martin forderte. Für einen zu eröffnenden Seligsprechungsprozess aber mussten die Erinnerungen des letzten überlebenden Kindes der beiden Diener Gottes an ihre Eltern von unschätzbarem Wert sein. Und zweitens gab es in Bezug auf Louis Martin eine Auffassung, die diesen als psychisch kranke, jedenfalls in keiner Weise hervorragende Persönlichkeit beschrieb. Dieser Einschätzung, die nach Célines Auffassung grundfalsch war, sollte durch die Niederschrift ihrer Erinnerungen in schriftlicher Form grundlegend entgegengetreten werden.

Historisch genaue und mit reichem Quellenmaterial belegte Darstellung

Diese beiden Anliegen prägen Célines kleine Elternbiografie. Niemand hat das Recht, daran zu zweifeln, dass die Karmelitin sich bei den beiden Lebensskizzen um absolute historische Genauigkeit bemühte. Dies Bestreben ist der vielfältigen Verwendung von Briefmaterial – gerade für die Lebensbeschreibung von Frau Martin! – zu entnehmen. Céline bemüht sich um eine quellengesättigte Darstellung. Bezüglich ihrer Mutter war sie in besonderer Weise auf Quellenmaterial angewiesen, weil Zélie Martin bereits 1877 starb – als Céline acht Jahre alt war. Was ihr an eigenen Erinnerungen oder als schriftliche Quelle zur Verfügung stand, hat die Ordensschwester aber sicher in einer Weise arrangiert und akzentuiert, wie sie einem Bild der Heiligkeit entsprach, das in der Mitte der 50er-Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts – gerade noch – gängig war. Zélie und Louis waren nach dem Urteil ihrer Töchter Heilige. Céline trachtete danach, durch die Darstellung dafür zu sorgen, dass die Kirche ihrer Zeit dieses Urteil sich zu Eigen machen konnte. So erklärt sich Befremdliches: dass vor allem in der Biografie von Frau Martin Heiligkeit hier und da als streng und herb erscheint, dass der Aspekt der Weltentsagung sehr wichtig ist, dass manchmal scheinbar der Gebotsgehorsam die erste Rolle spielt.

Man mag zuweilen den Eindruck des Schablonenhaften haben: Heiligkeit nach einem gängigen Stereotyp geschildert. Im Falle von Louis Martin tritt dieses Charakteristikum weniger hervor. Hier hat Céline in ungleich größerem Maß als bezüglich der Mutter eigene, persönliche Erlebnisse – der Vater starb in ihrem 26. Lebensjahr! So entsteht ein „charakteristischeres“ Porträt, das freundlicher, menschlicher daherkommen mag als das Zélies. Eine mehr heitere Gemütsanlage des Vaters tut wohl ein Übriges. Dennoch muss Céline schon wegen der umlaufenden Gerüchte Louis auch als Heiligen „comme il faut“ beschreiben und stets darauf achten, seine „Normalität“ zu unterstreichen; dort, wo die Zeit des Vaters im Institut „Bon Sauveur“ in Caen geschildert wird, einem „Irrenhaus“ nach der ungerechten Sprechweise der damaligen Zeit, scheint die heldenhafte Tugendübung seiner wachen Zeiten die Verwirrtheit der schlechten Perioden des arteriosklerotischen Patienten zu kompensieren und so das Endurteil eines „normalen Heiligen“ zu rechtfertigen.

Verteidigung des „Kleinen Weges“ in einer konservativen Gesamtsicht

Ein weiterer Gesichtspunkt verdient noch Berücksichtigung: Céline Martin war offenbar eine konservative Persönlichkeit, die zwar originelle Aspekte der Spiritualität Theresias – etwa den „Kleinen Weg“ – vehement gegen Bedenken von Hütern der Tradition zu vertreten wusste und auch selbst in dem einen oder anderen Punkt geistlich in ihrer Zeit eigene Wege ging, so zum Beispiel, wenn sie im Hinblick auf Kalvaria weniger die Größe des Opfers als die Größe der Liebe Christi betonte. Doch bewegte sich all das stets durchaus im Rahmen einer gesunden Rechtgläubigkeit, ja einer konservativen Gesamtsicht.

Céline ist eine begabte Malerin, die „Künstlerin“ unter den Martin-Mädchen: Ihr malerisches Schaffen, ihr „Antlitz Christi“, ihre „Thérèse aux Roses“ atmen ganz den traditionellen Geist des 19. Jahrhunderts. Bei Mutter Agnes beklagt sie sich, als man in der Zeit nach der Invasion der Normandie im Jahre 1944 gezwungen ist, den Karmel zeitweise zu verlassen und in die bombensichere Krypta der Basilika von Lisieux umzuziehen, wo sie verstärkt der „Weltleute“ ansichtig wird, über die immer „schamloser“ werdende Frauenmode. Schon als junge Frau hat sie ihren Onkel Isidore Guérin ermuntert, gegen antiklerikale Agitation literarisch massiv zu Felde zu ziehen. Und als sie stirbt, schickt ausgerechnet Kardinal Ottaviani, lange Sekretär des Heiligen Offiziums und damit oberster Glaubenswächter der Kirche, als Zeichen seiner Verbundenheit zu Céline offensichtlich, einen persönlichen Abgesandten zu ihrem Begräbnis. Das kam zweifellos nicht von ungefähr, es drückt sicher geistige Nähe aus.

Endlich beschreiben jene, die sie gekannt haben, Céline Martin als eine energische, resolute, temperamentvolle Frau. Schon als kleines Mädchen tritt dieser Charakterzug der späteren Ordensfrau zutage. Als sie eine bestimmte Blume pflücken will, befindet sich eine kleine Giftschlange in nächster Nähe, die von Céline sehr wohl wahrgenommen wird. Dennoch lässt sie sich von einer solchen „Lappalie“, die gleichwohl sehr gefährlich hätte werden können, nicht beeindrucken: Um jeden Preis will sie die Blume haben und streckt die Hand aus, um sie zu pflücken. Erst der erschreckte Aufschrei eines Erwachsenen verhindert dies und damit einen möglichen Schlangenbiss. Entschiedenheit kennzeichnet auch Célines Wirken für die Verherrlichung ihrer Schwester Theresia. Durch ihre Schriften, vor allem durch ihre Gemälde und Fotografien, hat sie das Bild Theresias nachhaltig bestimmt. Céline will mit Nachdruck überzeugen, dass ihre Sicht Theresias – und später ihrer Eltern – die richtige ist. Das beeinflusst auch die vorliegenden beiden Bändchen. Es spricht jedoch keinesfalls gegen die Tatsache, dass Céline Martin mit größter subjektiver Wahrhaftigkeit zu Werke ging. 

Fruchtbare Vertrautheit mit ihrer heiligen Schwester Theresia

Ist Célines biografische Arbeit theresianisch? In dem Buch „Geschichte einer Seele“ kommt Theresia vor allem auf ihren Vater häufiger zu sprechen, naturgemäß nur am Rande auf ihre Mutter, bei deren Tod die Heilige ein Kind von viereinhalb Jahren war. Eine Gesamtdarstellung des Lebens ihrer Eltern hat Theresia nicht unternommen, doch man kann vermuten, dass sie bei einer solchen die Akzente ein wenig anders gesetzt hätte als die geliebte ältere Schwester. Man kann sich das schwesterliche Verhältnis zwischen beiden nur schwerlich zu intensiv vorstellen. Als Kinder sind sie unzertrennlich – wie zwei Hühnchen auf dem Bauernhof, die sich nicht trennen lassen, sagt Theresia –, als Jugendliche ist Céline Zeuge von Theresias Weihnachtsgnade von 1886 und bei der Papstaudienz ein knappes Jahr später diejenige, die Theresia dazu ermuntert, Leo XIII. anzusprechen und um seine Erlaubnis zum vorzeitigen Ordenseintritt zu bitten.

Die Vertrautheit wird in den Klosterjahren eher noch stärker, gerade in geistlicher Hinsicht. Céline gilt Theresias letzter Blick vor Theresias Tod. Und dennoch wird gerade in den „Letzten Gesprächen“ die größere geistige Originalität Theresias überdeutlich: Immer wieder korrigiert sie das Denken der Schwester sehr liebevoll, aber durchaus pointiert. Vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden in geistiger und spiritueller Hinsicht vergleichbar mit dem zwischen zwei Freundinnen, von denen die eine Genie besitzt und die andere ihr „Handwerk“ herausragend beherrscht. Dennoch behalten die Bändchen Célines über ihre Eltern ihren Wert, und dieser Wert ist unschätzbar. Es handelt sich um die – wie immer auch akzentuierten und stets im Licht neuer historischer Erkenntnisse zu bedenkenden – Erinnerungen einer liebenden Tochter an Eltern, die das Durchschnittsmaß an menschlicher und christlicher Tugend weit überragten. Die Kirche hat dies bereits durch die Seligsprechung Louis und Zélie Martins am 19. Oktober 2008 in feierlicher Form festgestellt. Neuerlich wird es unterstrichen durch deren Heiligsprechung, die Papst Franziskus am 18. Oktober 2015 in Rom vornimmt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Céline Martin: Meine Eltern Louis und Zélie. Die starken Wurzeln der heiligen Theresia von Lisieux. Geb., 224 S., ISBN 978-3-9454011-6-3, Euro 14,95 (D), 15,40 (A) – Tel.: 07303-952331-0, E-Mail: buch@media-maria.de – www.media-maria.de

Ein neuer Marienstern im „Gnadenweiler Bund“:

Für Frieden in Europa

Unermüdlich setzt sich Pater Notker Hiegl OSB, der Initiator der Gebetsgemeinschaft „Maria Mutter Europas“, für die Verbreitung der Idee eines christlichen Europas unter dem Schutzmantel der Gottesmutter ein. Eine gewaltige Marienstatue hoch in den italienischen Alpen trägt schon seit vielen Jahrzehnten den Titel „Unsere Liebe Frau von Europa“. So war es nur naheliegend, auch dieses Heiligtum als Partner in die Gebetsgemeinschaft aufzunehmen.

Von P. Notker Hiegl OSB

Am 25. Juli 2015 machte ich mich mit einem bekannten Unternehmer auf den Weg zur Marienwallfahrtskapelle Madesimo, welche hinter dem Splügenpass auf der italienischen Seite der Passstraße liegt. Unser Ziel war es, das Heiligtum in die Gebetsvereinigung „Maria Mutter Europas“ von Gnadenweiler-Beuron aufzunehmen.

Ankunft in Madesimo südlich des Splügenpasses

Kurz nach Chur verließen wir die Autobahn und fuhren die berüchtigte „Via Mala“ hinauf zum Splügenpass (2.125 m). Mit seinen scheinbar nie endenden Kurven ist der Pass unbeschreiblich schön und gewaltig. Oben grüßt die italienische Fahne und heißt die Gäste auf italienischem Gebiet willkommen. Und wieder geht es hinunter, Kurve für Kurve, an einem Stausee vorbei bis ins Gebirgsdorf Madesimo-Motta, einem Teilort von Campodolcino (1.720 m). Darüber thront in rund 2.000 Meter Höhe auf einer idyllischen Alm „Unsere Liebe Frau von Europa“. Superlative sind für diesen Augenblick angemessen: Hinter dem Dörfchen geht es in die Tiefe bis zum Comer See, auf einem der Zwischenhügel befindet sich die goldene Madonna, dahinter breiten sich wie eine Klausurmauer im Halbkreis die Hochberge der Alpen mit über 3.200 m Höhe aus. Mein Gott, wie schön ist deine Welt! Doch wie kommen wir hinauf zu dieser Marienstatue, dem Ziel unserer Wallfahrt? Der Skilift (bis 1.953 m) ist im Sommer nicht in Betrieb, der Autoweg endet nach den 15 Bars, Restaurants und Hotels beim letzten Bauernhof. Ein freundlicher Wirt verweist uns auf Italienisch an „Fausto“, den Eigentümer einer dieser Herbergen. Und mit ihm haben wir den richtigen „Mann des Tages“ gefunden. Er ist der Besitzer der besagten Hochalm. Er und sein Bruder Fernando haben wenige Meter von der Europa-Madonna entfernt in der Zwischenzeit, also seit der Einweihung, eine kleine Gebirgskapelle errichtet. Mit ihrem Gelände-Jeep fahren uns die beiden Brüder nun über Stock und Stein hinauf zur Madonna.

Entstehungsgeschichte der Marienfigur mitten in den Alpen

Der Gründer der Casa Alpina Motta, Don Luigi Re, äußerte im Jahr 1955 bei einem Besuch der „Alpinen Gruppe Casatenovo zu Motta“ den Wunsch, auf dem Pizzo Stella ein Denkmal zum Andenken an die im Weltkrieg gefallenen Gebirgsjäger und zur Verherrlichung der Gottesmutter zu errichten. Die Gruppe stimmte zu und versprach aktive Mithilfe. Der Bildhauer Egidio Casagrande von Borgo Valso erhielt den Großauftrag für die Bronzefigur. Die gesamte Statue wurde mit Feingold überzogen und erstrahlt in wunderbarem Glanz. Die Marienfigur verblieb zunächst in der Pfarrei Casatenovo bei Don King Vergine delle Vette. Begeisterung und Bewunderung rief sie allseits hervor. Schon im Jahr darauf, also 1956, wurde die „Versetzung“ der Statue in die Höhe beschlossen. Es begannen Verhandlungen zwischen Don King und dem Verteidigungsministerium. Nach gründlicher Inspektion wurde der Standplatz auf dem Pizzo Stella verworfen, weil der Gipfel dafür nicht geeignet erschien. Dagegen wurde die Spitze der Serenissima, der jetzige Standpunkt, in Betracht gezogen. Hier wurde als Sockel für die Statue ein Altar mit einer Krypta zum Gedenken an die europäischen Soldaten errichtet (Gedenkplatten in allen europäischen Sprachen erinnern daran), dazu eine große Treppe mit dem Blick hinein in die alpine Wunderwelt. In der Mitte des Sockelschreins wurde Don Luigi Re begraben, der am 14. April 1965 verstarb. Da die goldene Statue mit einer Höhe von gut 12 Metern und einem Sockel von rund 7 Metern in ganz Europa, damals noch geprägt von de Gasperi, Schuman und Adenauer, Interesse erweckte, wurde der Name der Statue in „Our Lady of Europe“ geändert.

Einweihung durch Erzbischof Montini von Mailand

Die heutigen Europäer wissen zumeist nicht mehr, dass die im Jahr 1955 eingeführte blaue Europa-Fahne mit ihren zwölf goldenen Sternen auf die Offenbarung des Johannes in der Bibel zurückgeht. Darin wird die jungfräuliche Gottesmutter Maria als Siegerin mit dem Mond unter ihren Füßen und mit einem Kranz von zwölf goldenen Sternen über ihrem Haupt beschrieben (Offb 12,1). Die Zahl „12“ symbolisiert die 12 Stämme Israels ebenso wie die 12 Apostel im Neuen Testament. Die Europafahne haben wir Paul Levi zu verdanken, der nach der Nazi-Herrschaft zum katholischen Glauben konvertiert war. Später wurde er in Straßburg erster Chef des Informationsdienstes des 1949 gegründeten Europarats. Das Kreuz in der Fahne, wie es die nordischen Länder haben, wurde von den sozialistischen, kommunistischen und liberalen Abgeordneten abgelehnt. Da kam Levi auf die Idee mit den 12 Sternen. Ausgerechnet am 8. Dezember 1955, dem Hochfest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, wurde der Entwurf angenommen. Zum ersten Mal wurde die Europafahne am 13. Dezember 1955 in Paris feierlich gehisst. Während dieser Zeit des europäischen Aufbruchs wurde das Mariendenkmal von Madesimo im Jahr 1958 von Msgr. Giovanni Battista Montini, dem Erzbischof von Mailand und späteren Papst Paul VI., festlich eingeweiht – unter Anwesenheit der Alpine-Gruppe, von Vertretern der Armee sowie ziviler und kirchlicher Prominenz. Montinis hymnisches Gebet auf Europa sei hier angeführt:

„Europa! Dein Name über alles erhaben, unter dem Gnadenschutz der Königin des Himmels und der Erde. Dein erleuchteter Name über Jahrhunderte; wo sich dein Name ausbreitete, entstand Zivilisation, durch dich, du Königin des Friedens. Altehrwürdiger Name, der heute ertönt, als hätte man ihn gerade erst entdeckt, dabei geboren aus der Zeit des Ewigen Gottes. Unser Name, uns so lieber Name, du gesegneter Name über tausenden von Dörfern und tausenden Städten mit ihren unendlichen Straßen, den wohl bestellten Feldern, auf denen uns das Brot geschenkt wird. Kein Krieg mehr, kein Blutvergießen zwischen den Nationen, kein Neid mehr, sondern nur noch brüderliche Einigkeit, Einheit der Christen in der einen unerschütterlichen Kirche. Dein heiliger Name, EUROPA! Hilf, o Mutter Christi, du unsere himmlische Mutter.“

Verbrüderung mit den fünf Kapellen „Maria Mutter Europas“

Nach dem Besuch der Statue und einer Andacht in der Kapelle fuhren wir wieder hinunter zu Faustos Restaurant. Die Frauen der beiden Brüder wurden zum festlichen Akt hinzugezogen und unterschrieben ebenfalls die Teilnahme an der Gebetsvereinigung mit ihrer „Privatkapelle“, welche noch von Don Luigi Re eingeweiht worden war. Die einfache handgeschriebene Verbrüderungsurkunde lautet:

Wir, die unterzeichnenden Illia Fernando und Fausto, beten vor unserer himmlischen „Signora d’Europa“ für den Frieden in Europa und in aller Welt:

Illia Fernando und Gossi Elena sowie Illia Fausto und Curti Natalina.

Bitte an Maria um Frieden in Europa und in aller Welt. Amen.

Zwei Tage später kamen wir nach Beuron und dankten in der „Ursprungskapelle“ von Gnadenweiler für die neue Sechser-Situation. Auch konnte ich mit Vater Erzabt Tutilo Burger (dem Bruder des Freiburger Erzbischofs Stefan Burger) über unseren Besuch in Madesimo sprechen und bekam den Segen für mein weiteres Wirken hinsichtlich der Gnadenweiler Gebetsgemeinschaft. Mariens Schutz über Europa für ihren göttlichen Sohn Jesus Christus!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
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Die vier Marianischen Dogmen (3)

Maria Assumpta

In der Artikelreihe über die vier Marianischen Dogmen der katholischen Kirche stellt Anna Roth in einem dritten Beitrag die Lehre über die „Aufnahme Mariens mit Leib und Seele in den Himmel“ vor. Das Glaubensgeheimnis wird liturgisch am 15. August unter der herkömmlichen Bezeichnung „Mariä Himmelfahrt“ gefeiert. Es stellt in der Ostkirche wie in der Westkirche das wohl älteste Marienfest überhaupt dar. Anna Roth orientiert sich vor allem am Gedankengut von Prof. Dr. Leo Scheffczyk.

Von Anna Roth

Unter dem Pontifikat Pius‘ XII. wurde am 1. November 1950 das Dogma Maria Assumpta wie folgt verkündet: „ … Zur Ehre des Allmächtigen Gottes, welcher der Jungfrau Maria sein besonderes Wohlwollen schenkte, zur Ehre seines Sohnes, des unsterblichen Königs der Zeiten und Siegers über Sünde und Tod, zur Vermehrung der Herrlichkeit seiner erhabenen Mutter und zur Freude und Begeisterung der ganzen Kirche, kraft der Autorität unseres Herrn Jesus Christus, der seligen Apostel Petrus und Paulus und Unserer (eigenen) verkünden, erklären und definieren Wir deshalb …: Es ist von Gott geoffenbarte Glaubenslehre, dass die Unbefleckte Gottesgebärerin und immerwährende Jungfrau Maria nach Vollendung des irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde."[1]

Um was geht es? Bei diesem Assumpta-Dogma geht es vor allem darum, der Gottesmutter Maria die höchste Ehre zu erweisen.[2] Es fällt auf, dass das Assumpta-Dogma, also das Dogma von der Aufnahme Marias in den Himmel mit Leib und Seele, nur definiert werden konnte auf der Basis des vorausgehenden Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Marias, d. h. von der Immaculata Conceptio. Denn bei diesem Dogma wurde über Maria ausgesagt, dass sie nicht nur die Vorhererlöste, sondern bereits die Vollerlöste ist. Über diese Thematik werden wir später, wenn wir das Dogma der Immaculata Conceptio betrachten, noch ausführlich berichten.

Im Gegensatz zu der gesamten übrigen Menschheit kann von Maria ausgesagt werden, dass sie die Vollerlöste ist. Diese Aussage ist begründet durch ihre absolute Reinheit infolge ihrer Sündenlosigkeit. Und diese Sündenlosigkeit Marias begann schon bei ihrer Empfängnis im Mutterschoß ihrer heiligen Mutter Anna. So kann von Maria ausgesagt werden, dass sie immer ohne Sünde war. Und auf dieser Grundlage der Vorhererlösung und Vollerlösung Marias konnte Pius XII. im Jahr 1950 das Assumpta-Dogma definieren und verkünden.

Einige Bemerkungen zur Begründung des Dogmas

Die alte Kirche der ersten vier Jahrhunderte war erst einmal in Unkenntnis, was die Vollendung des irdischen Lebens Marias betraf. Aber die Väter haben in Maria die neue Eva gesehen. Maria ist dem neuen Adam, Jesus Christus, zwar untergeordnet, aber sie ist ihm auf das engste verbunden. Und diese sehr enge Verbundenheit mit ihrem göttlichen Sohn Jesus Christus zeigt sich besonders darin, dass Maria gemeinsam mit Jesus Christus für das Heil der gesamten Menschheit kämpft. Und dem neuen Adam, der sich in Jesus Christus, dem Sohn Gottes manifestiert, wird der absolute Sieg über die Sünde und den Tod vorausgesagt.

Und die Verherrlichung der reinsten Jungfrau Maria zeigt sich in ihrer himmlischen Aufnahme mit Leib und Seele. So wird Maria die „höchste Krone ihrer Vorrechte" zuteil, indem sie „von der Verwesung des Grabes unversehrt bewahrt wurde“.[4] Und so wurde Maria – wie auch ihr göttlicher Sohn – nach dem völligen Sieg über den Tod – mit Leib und Seele zur erhabenen Herrlichkeit des Himmels emporgehoben. So ist es klar, dass Maria, die Vor- und Ersterlöste, bereits von Anfang an auch ihre Vollerlösung, d.h. das Mysterium ihrer Assumptio, in sich trug.

Dogmatische Entwicklung

Im NT gibt es selbst keinen direkten Hinweis auf das Privileg Maria Assumpta. Aber die Gläubigen haben sich schon in sehr früher Zeit mit der Thematik des Hinscheidens der Gottesmutter beschäftigt: In der byzantinischen Liturgie wurde schon im 6. Jh. das Fest der „Entschlafung der Gottesmutter“ gefeiert. Und schon bald folgten Predigten über die „Assumptio“. Am Ende des 11. Jhs. erscheint ein kleines Werk „über die Himmelfahrt der seligen Jungfrau Maria“.[5] Hier wird besonders betont, dass Maria bei Christus ist, und zwar ganzheitlich, mit Leib und Seele. Das 13. Jh. schafft dann die Gewissheit. Denn die großen Theologen der Hochscholastik sind allesamt der Meinung, dass Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden ist. Der hl. Bonaventura bekennt in einer Predigt, dass zu der vollkommenen Seligkeit der Jungfrau Maria die Wiedervereinigung der Seele mit dem Leib gehört.[6] Maria wurde also nach Vollendung ihres irdischen Lebens mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. D.h., dass sie mit Leib und Seele bei Gott ist. Sie ist also nicht nur mit ihrer Geistseele bei Gott, sondern auch mit ihrem Leib, allerdings mit einem verklärten Leib.

Was aber bedeutet die Formulierung: „nach Vollendung ihres Erdenlebens“?

Hier bei dieser Formulierung geht es darum, dass eine Antwort auf die Frage nach dem Tod Marias offenbleiben soll. D.h. also, beide Möglichkeiten sollen offen bleiben: Entweder wurde Maria auferweckt vom Tod und dann verklärt oder ihr irdisches Leben endete ohne eigentlichen Tod. Dann aber musste sie nicht auferweckt werden vor ihrer Verklärung, also vor ihrer Aufnahme mit Leib und Seele in den Himmel. Man geht aber konsequenterweise davon aus, dass, wenn ihr göttlicher Sohn Jesus Christus vom Tod auferweckt werden musste, dies auch bei Maria angenommen werden kann.

Um was geht es? Es geht um die Vorzüge Marias. Diese beiden Vorzüge Marias, die Vorerlösung und die Vollerlösung, sprießen aus einer Wurzel. Diese Wurzel ist es, die entsprießt von der göttlichen Vorsehung von Ewigkeit her, und zwar über die Unbefleckte Jungfrau zur Inkarnation und von der Gottesmutterschaft zur Immerjungfrau – und weiter von der Mutter Maria, die bis unter das Kreuz ihren „Fiat-Weg“ gegangen ist, bis hin zu der mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommene und mit allen Ehren gekrönte Königin des Himmels und der Erde. Mit diesem Assumpta-Dogma leuchtet die Nähe Marias zu ihrem göttlichen Sohn auf, d.h. es leuchtet die Christozentrik Marias auf. Und es ist klar, dass das Dogma Maria Assumpta nicht etwas ist, was nachträglich hinzugefügt werden musste, sondern dass sich in ihm vollendet, was bereits durch das Vorausgegangene bekräftigt worden war.[7]

Die Tradition weiß um die hohen Gnadenvorzüge Marias. Da ist die Gottesmutterschaft, die immerwährende Jungfräulichkeit und die Sündenlosigkeit Marias. Und weil Maria seit Beginn ihres Daseins ohne Sünde war, wäre es inkonsequent, wenn sie an ihrem Lebensende durch die Übergabe an die Herrschaft des Todes in Verweslichkeit ihren Tribut an die Sünde, von der sie immer frei war, hätte zahlen müssen.

In Maria als der Vorhererlösten und der Vollerlösten scheint in herrlicher und einzigartiger  Weise die Erlösungsgnade auf. Sie ist das Urbild aller Erlösten. So kann von Maria ausgesagt werden, dass sie als die Ersterlöste und Vollerlöste die einzige aus der Geschichte herausgelöste Ausnahme ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2015
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[1]  DH 2005, 3903
[2] Vgl. ebd.
[3] Vgl. DH 2005, 3901.
[4] Vgl. ebd.
[5] Leo Scheffczyk: Maria – Mutter und Gefährtin Christi, 2003, 150.
[6] Vgl. Anton Ziegenaus in: Remigius Bäumer/Leo Scheffczyk (Hg.): Marienlexikon, 1992, Bd. 1, 276-284.
[7] Vgl. Leo Scheffczyk: Maria – Mutter und Gefährtin Christi, 2003, 148.

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