„Theologie des Leibes“ für die Seelsorge

Die Sexualität als Liebeskraft leben

Corbin und Birgit Gams haben sich die sog. „Theologie des Leibes“, die uns der hl. Papst Johannes Paul II. als Vermächtnis hinterlassen hat, zur Lebensaufgabe gemacht. Sie versuchen diesen Schatz für die Seelsorge und das Leben in Ehe und Familie fruchtbar zu machen. Corbin, lizenzierter Theologe, engagiert sich für den Studienlehrgang „Theologie des Leibes“ an der päpstlichen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz sowie für die „Initiative Christliche Familie“ der österreichischen Bischofskonferenz. Birgit, Sozialpädagogin, ist Bereichsleiterin eines Wohnhauses für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Zusammen mit Pfarrer Leo Tanner haben die beiden ein Buch herausgegeben,[1] in dem sie Hilfen und Orientierung anbieten, wie man seine Sexualität auf christliche Weise verwirklichen und als Liebeskraft entdecken kann. Nachfolgend stellen sie das Buch selbst vor.

Von Corbin und Birgit Gams

Es geht um Liebe, immer und in allem. Liebe ist das, was uns antreibt, was uns Begeisterung und Motivation schenkt, was dem Leben Sinn und Erfüllung gibt. Unser Leben ist bestimmt durch die Sehnsucht nach Lieben und Geliebt-werden. Gleichzeitig erleben wir, dass gerade diese Sehnsucht mit all ihrer Kraft, mit all ihrem Antrieb alles andere als eindeutig ist. Wir erhoffen uns die Erfüllung unserer Liebessehnsucht von Beziehungen, Menschen, Dingen, Tätigkeiten, die wir allzu häufig mit dieser Sehnsucht überladen oder überfordern. Wir werden enttäuscht, wir sind eifersüchtig, wir steigern uns in Begierden hinein, die krank machen können. Die Sehnsucht nach Liebe ist nicht nur Antrieb zur Suche nach Glück und Erfüllung, sondern, wenn sie zu Sucht und Eifersucht pervertiert, ist sie zugleich Auslöser für menschliche Dramen, Tragödien, Verzweiflung, Depressionen, Schreckenstaten und sogar Kriege aller Art.“ Mit diesen Worten führt Bischof Dr. Stefan Oster in das Buch „Sexualität als Liebeskraft leben“ ein, das von Leo Tanner in Zusammenarbeit mit uns erschienen ist.

Die Wunden des Herzens heilen

Es geht um Liebe, aber was ist Liebe und wie kann sie gelingen? Warum führt uns die Liebe, nach der wir uns sehnen, so oft in die Verzweiflung? Was lässt die Liebe austrocknen? Kann die Liebe ein Leben lang halten? Zu diesen und vielen anderen Fragen möchten wir in unserem neuen Buch eine Orientierung und Hilfestellungen anbieten. Damit greifen wir auch das Anliegen von Papst Franziskus auf, der am 5. Februar 2015 bei der Frühmesse in Santa Marta sagte: „Ich habe in der Vergangenheit von der Kirche als einem Feldlazarett gesprochen. So ist es! Es gibt so viele Verletzte! Es gibt so viele Menschen, die der Pflege bedürfen! Das ist der Auftrag der Kirche: Pflegt die Wunden des Herzens, öffnet Gott die Tore, denn Er ist gut und vergibt alles, weil Gott ein zärtlicher Vater ist. Gott wartet immer auf uns!“

Gerade in unserer Zeit leiden viele Menschen unter den Verletzungen, die ihnen im Bereich der Sexualität zugefügt wurden. Dies kann durch sexuellen Missbrauch geschehen sein, durch die Vermittlung fragwürdiger Lehren über die Sexualität, durch eigene unkluge Entscheidungen, durch Süchte und Abhängigkeiten und vieles mehr. Zugleich leben wir in einer Zeit, in der Gott vielen Menschen fremd geworden ist. Wirkliches Mitgehen und Suchen nach Antworten von Menschen mit Beziehungsfragen erwarten viele heute nicht mehr von der Kirche. Doch mitten in dieser Situation bewirkt der lebendige Gott, dass ihn Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen ganz neu entdecken und fragen: Wie können wir jetzt – vielleicht nach vielen schmerzlichen Erfahrungen – beginnen, unsere Sexualität als Liebeskraft zu leben. Wie können erste Schritte dazu aussehen?

Der Plan Gottes für die Sexualität

15 Mitautoren geben in dem Buch „Sexualität als Liebeskraft leben“ wertvolle Informationen zu einer Fülle von Themen rund um das Thema Liebe und Sexualität, ergänzt durch viele Zeugnisse und Lebensberichte. Grundlegend ist dabei die Botschaft der Heiligen Schrift. Die Vision Gottes zeigt den ursprünglichen Plan Gottes für die Sexualität. Die Sexualität ist eine Gabe Gottes, eine Kraft, Liebe zu empfangen und Liebe zu geben. Diesem Thema ist der 1. Hauptteil des Buches gewidmet.

Viele Menschen erleben aber auch den Schmerz in der Liebe. Die Sexualität wird nicht nur als beglückend erlebt, sondern ist Quelle von Scham, Angst und Unsicherheit. Weshalb dies so ist und wie wir Heilung und Befreiung in diesem Bereich erfahren können, darum geht es im 2. Teil des Buches. Der 3.Teil zeigt die Entwicklungs- und Reifungswege auf, zu denen wir eingeladen sind.

Die Liebe, um die es dabei geht, fasst alle drei Aspekte zusammen: Eros – die sinnlich-erotische Liebe, Philia – die Freundesliebe und Agape – die sich selbstlos schenkende und fördernde Liebe.

Eros ohne Agape und Philia degradiert die erotische Liebe zu bloßem Sex. Diese Liebe wird dann zur Ware, zu einer ,,Sache“, die man kaufen und verkaufen kann. Daher ist es notwendig, dass die schenkende Agape-Liebe sowohl die erotische als auch die freundschaftliche Liebe durchdringt. Diese Liebe ist nicht etwas, das uns in den Schoß fällt. Sie ist ein herausfordernder Lernprozess. Häufig erscheint uns dies zu unromantisch und zu anspruchsvoll, und wir neigen dazu, schnelle, einfache Lösungen zu suchen, die nicht viel kosten.

In diesem Buch laden wir dazu ein, sich auf einen Weg zu machen, um die Liebe und die Sexualität tiefer im Licht der Wahrheit zu sehen. Dies schließt auch die Bereitschaft ein, den eigenen Standpunkt zu überprüfen. So kann und wird diese Schrift herausfordern. Sie kann Kritik und Widerstand – auch im eigenen Innern – hervorrufen. Manche Leser werden nichts damit anfangen können oder sogar enttäuscht sein. Andere werden dranbleiben, reflektieren, überlegen und korrigieren.

Vorbereitung auf die Ewigkeit

Unser christlicher Glaube verleiht unserem Leben eine unendlich größere Perspektive als die meisten Menschen ahnen. Ob unser Leben kurz oder lange währt, das Ziel ist die Ewigkeit. Dieses unser irdisches Leben ist wesentlich eine Zeit der Vorbereitung auf die Ewigkeit, eine Zeit der Reifung und Heiligung. Wir sind berufen, in der Liebe zu wachsen und „himmelsfähig“ zu werden. Dazu hat Gott uns dieses Leben gegeben und uns darin eine Sendung anvertraut. Damit wir uns hier auf dieser Erde nicht allzu sehr zuhause fühlen, hat uns Gott so tiefe Sehnsüchte ins Herz gelegt, dass sie auf dieser Erde niemals ganz erfüllt werden können. Wir sind für etwas viel Größeres geschaffen, als uns diese Erde je geben könnte, denn „unsere Heimat … ist im Himmel“ (Phil 3,20). Wir sind für eine Ewigkeit voller Liebe in der Gemeinschaft mit Gott geschaffen.

Wenn wir die Kirche betrachten, gibt es eine Sicht der Kirche von außen und eine Sicht von innen. Nehmen wir als Beispiel eine Kathedrale. Wenn wir die Glasfenster einer Kathedrale von außen betrachten, sind sie nicht besonders schön. Meist erscheinen sie dunkel und schmutzig. Wenn wir im Innern der Kathedrale stehen und durch die gleichen Fenster das Licht der Sonne hindurch scheint, dann zeigen die Fenster ihre wunderbare, farbige Pracht. Es ist das Licht, welches die Fenster zum Leuchten bringt. Von außen ist diese Schönheit nicht sichtbar. Ob ich die Kirche von außen oder von innen betrachte, entscheidet mein Standort. Der Weg zur Innenansicht geht durch das Eingangstor. Hier berühren wir das größte Problem der Kirche von heute: Viele Gläubige, selbst solche, die mit großem Engagement in der Kirche arbeiten, stehen geistlich draußen vor der Kirche. Von dort aus schauen sie auf die „Glasfenster der Kathedrale“ – auf die Sichtweise des Evangeliums zum Leben, zur Sexualität, zur Familie und finden diese völlig veraltet und überholt. Ja, von außen sehen sie auch beim besten Willen nicht schön aus! Wer nicht seinen „Standort“ gewechselt hat und von innen auf die Glasfenster schaut, wird ihre Schönheit niemals sehen können.

Es geht im christlichen Leben nicht nur darum, Wunden zu pflegen und zu heilen, sondern Verletzungen und Leiden wo immer möglich zu vermeiden. Wir Christen sollen Orientierungspunkte für die Menschen in der Welt sein und uns dadurch eben auch von der Welt unterscheiden. Das Licht soll leuchten. Unser Leben soll Andere zum Nachdenken bringen, für sie eine Ermutigung oder ein Anruf sein.

Die „Theologie des Leibes“ erschließt die Schönheit der Liebe

Daher möchte das Buch einladen in die Tiefe der kirchlichen Lehre über die Liebe, die Sexualität und die Familie einzutreten und ihre Schönheit zu entdecken. Grundlage dazu ist die „Theologie des Leibes“ von Johannes Paul II. Die „Theologie des Leibes“ ist der Titel einer Reihe von 129 Katechesen, die Johannes Paul II. zwischen 1979 und 1984 im Rahmen der Mittwochsaudienzen gehalten hat. Diese Ansprachen sind biblische Betrachtungen über die Bedeutung des Leibes, der Sexualität und der ehelichen Liebe. Aber diese Reflexionen sind nicht nur für Ehepaare von Bedeutung, sie gehen weit darüber hinaus. Johannes Paul II. erschließt uns in diesen Katechesen die Schönheit der Liebe und lehrt uns, die Würde und den Wert des menschlichen Lebens zu achten. Er hilft uns, das tiefe Geheimnis der Menschwerdung Gottes zu erahnen und zeigt uns einen Weg, wie wir im Leben Christi, in seinem Sterben und in seiner Auferstehung den Sinn unseres eigenen Lebens finden.

Alles, was die katholische Kirche durch die Jahrhunderte zum Thema Ehe, Liebe und Sexualität gesagt hat, wurde von Johannes Stöhr in einem Werk von ca. 2000 Seiten zusammengetragen. Allein 1630 Seiten davon hat der hl. Johannes Paul II. verfasst. Er hat über das Thema Ehe, Familie und Sexualität mehr gesagt als alle Päpste vor ihm gemeinsam.

Was bewegte Johannes Paul II., sich mit solcher Hingabe dem Thema der menschlichen Liebe zu widmen? Er selbst schreibt in seinem Buch „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“: „Als junger Priester lernte ich die menschliche Liebe zu lieben. Das ist eines der grundlegenden Themen, auf das ich mein Priesteramt, meine Aufgabe auf der Kanzel, im Beichtstuhl und auch im geschriebenen Wort konzentriert habe. Wenn man die menschliche Liebe liebt, so entsteht auch das lebendige Bedürfnis, alle Kräfte zugunsten ,der schönen Liebe‘ einzusetzen. Denn die Liebe ist schön.“

Johannes Paul II. war überzeugt, dass ein kraftvolles sittliches Leben die Grundlage der Freiheit, der Demokratie und der Kultur ist. Er betonte die Notwendigkeit sittlicher Kulturen, die in der Lage sind, die enormen ökonomischen, politischen, ästhetischen und auch sexuellen Energien zu zügeln und zu lenken, welche in freien Gesellschaften freigesetzt werden. Die Zukunft des Menschen liegt für Johannes Paul II. in den Händen von Männern und Frauen, die fähig sind, das ursprüngliche Gute und Schöne zu erkennen und zu wählen.

Vor diesem Hintergrund kann man daher sagen: „Wie es um die Sexualität steht, so steht es um die Ehe und die Familie. Wie es um die Ehe und die Familie steht, so steht es um die Gesellschaft.“ Oder wie Johannes Paul II. selbst sagte: „Wie die Familie, so die Nation, denn von der Familie hängt der Mensch ab.“ Wenn die sexuelle Vereinigung auf Liebe und Leben ausgerichtet ist, entstehen Familien und Kulturen, die auf Leben und Liebe ausgerichtet sind. „Wenn er sich gegen die Liebe und das Leben richtet, bringt der Sexualakt den Tod hervor – was Johannes Paul II. mutig eine ,Kultur des Todes‘ nennt. Eine ,Kultur des Todes‘ ist eine Kultur, die den unendlichen Wert der menschlichen Person leugnet und den Tod als ,Lösung‘ ihrer Probleme wählt…“,  sei es in der Euthanasie, in der Abtreibung, in Krieg und Folter oder welches Gesicht der Tod auch immer hat. Johannes Paul II. sagt deshalb: „Es ist eine Illusion zu meinen, man könne eine echte Kultur des menschlichen Lebens aufbauen, wenn man den jungen Menschen nicht hilft, die Sexualität, die Liebe und das ganze Sein in ihrer wahren Bedeutung und in ihrer tiefen Wechselbeziehung zu begreifen und zu leben.“

In seinen Katechesen zeigt uns Johannes Paul II. die Schönheit und die Größe der menschlichen Berufung, er zeigt uns aber auch die Gebrochenheit des menschlichen Herzens und die Notwendigkeit der Heilung und der Erlösung. „Der Mensch ist zum Großen geschaffen – für Gott selbst, für das Erfülltwerden von ihm“, schreibt Benedikt XVI. „aber sein Herz ist zu eng für das Große, das ihm zugedacht ist. Es muss geweitet werden.“ Die Theologie des Leibes will unser Herz weiten, damit wir den Menschen, die Liebe und die Sexualität so verstehen, wie Gott sie gedacht hat.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Birgit & Corbin Gams/Leo Tanner: Sexualität als Liebeskraft leben – Orientierung und Hilfen. Bischof Dr. Stefan Oster SDB mit Geleitwort zu diesem Buch. Hardcover, 232 S., 19,90  Euro (D/A), 24,90 SFr – Bestelladresse: Vision Liebe, z. Hd. Corbin Gams, Marktstr. 47, A-6850 Dornbirn – E-Mail: office@visionliebe.com – Internet: www.visionliebe.com/shop/

Ringen um Wahrheit und Liebe

Corbin und Birgit Gams veranschaulichen ihre Ausführungen über das christliche Verständnis von Sexualität mit zahlreichen Beispielen aus dem praktischen Leben. Besonders wertvoll sind Zeugnisse, in denen Menschen mit ihren Problemen und Erfahrungen selbst zu Wort kommen.

Lara: „Von Jesus persönlich beschenkt“

Ich bin leider geschieden und dank Gottes Barmherzigkeit seit zehn Jahren wieder glücklich verheiratet. Als Mitglied der katholischen Kirche war es mir immer wichtig, einen Weg zu finden, der trotzdem gehorsam gegenüber der Kirche ist.

Bei Exerzitien brachte mir ein Priester die geistige Kommunion nahe und bat mich innig: „Gehorsam ist immer seliger!“ Zufällig las ich zeitgleich in einem Buch von Richard Rohr über den „freiwilligen Gehorsam“. Dies machte mich bereit, die hl. Kommunion „geistig“ zu empfangen und dies trotz Angst vor Gefühlen der Trauer und des Ausgeschlossenseins.

Daher bin ich auch sehr dankbar, dass der Pfarrer vor Ort nicht nur Kleinkindern, sondern auch Erwachsenen die Möglichkeit gibt, während der Kommunionspendung, wie die Anderen auch, nach vorne zu kommen und sich segnen zu lassen. Durch das liebevolle Segnen des Priesters fühle ich mich jedesmal von Jesus persönlich beschenkt. Das vermittelt mir das Gefühl des Dazugehörens und stärkt meine Verbundenheit mit der Kirche.

Nadine: „Mein Herz nur für den Einen“

Mit 14 Jahren fand ich Anschluss in einer Jugendgruppe, die Gottesdienste musikalisch gestaltete. Mich faszinierte ihre Entschlossenheit, für Gott und mit Gott zu leben und ihr eigenes Handeln danach zu richten. Auch in Bezug auf „Warten vor der Ehe“ haben die Jugendlichen klar dafür Stellung genommen. Ich erlebte das erste Mal, dass nicht nur meine Eltern überzeugt ihren Glauben leben, sondern auch total „coole“ und normale junge Leute. Dies weckte in mir das Verlangen, auf meine große Liebe zu warten. Die jungen Männer, die ich in meiner Jugend kennenlernte, ließ ich nie ganz in mein Herz hinein. Es entstanden Freundschaften, doch zu einer Partnerschaft kam es nie. Mein Herz wollte ich nur EINEM öffnen, wenn ich mir sicher war, dass ich mir eine Zukunft mit ihm vorstellen könnte. Ich wusste, wenn er bereit ist, auf die Sexualität bis zur Ehe zu warten und für mich dieses „Opfer“ bringt, dann werden wir in der Ehe auch die Tiefen überstehen.

Als ich 25 Jahre alt war, eroberte Christian mein Herz und tut es heute noch jeden Tag von Neuem. Ich bin so überglücklich, dass ich mein Herz und auch meine körperliche Liebe für ihn aufgehoben habe. Die Zeit, bis zur Hochzeit auf die körperliche Vereinigung zu warten, war nicht einfach und wir sind immer wieder an unsere Grenzen gestoßen. Das Warten brachte dennoch viel Schönes mit sich. Es ist eine Zeit, in der man kreativ wird, dem anderen die Liebe auf vielerlei Weisen zu zeigen, außer der Sexualität. Dies haben wir mit in die Ehe genommen und praktizieren es heute noch.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Papst Franziskus empfängt 1000plus

Ein starkes Zeichen für das Leben!

Am 17. Juni 2016 empfing Papst Franziskus eine Delegation der Lebensschutz-Initiative 1000plus in Privataudienz. Begleitet wurde sie von dem Rottenburg-Stuttgarter Weihbischof Thomas Maria Renz. Kristijan Aufiero, der das Projekt im Jahr 2009 initiiert und nun dem Heiligen Vater vorgestellt hat, berichtet voller Dankbarkeit von der beeindruckenden Begegnung. Durch dieses Zeichen päpstlicher Solidarität erfährt die Initiative mit ihrem Plan, die Beratungsarbeit für Frauen im Schwangerschaftskonflikt bis zum Jahr 2020 auf eine Kapazität von 10.000 Beratungsfällen jährlich auszubauen, eine überraschende Bestärkung.

Von Kristijan Aufiero

„Che bellissimo lavoro!“ – zu Deutsch: „Was für eine wunderschöne Arbeit!“ Das waren die ersten Worte des Heiligen Vaters, nachdem ich ihm unser Projekt 1000plus auf Italienisch erläutert hatte.

Als wir am 17. Juni um 11 Uhr morgens an der Vatikanischen Porta St. Anna – 200 Meter vor dem Eingang des Apostolischen Palastes – tatsächlich von Kardinal Piacenza abgeholt werden, dämmert uns langsam: „Ja, es ist wirklich wahr, der Heilige Vater empfängt 1000plus!“ Ausgerüstet mit einem gerahmten Papabile-Poster, einer 1000plus-Babyflasche und einem Pileolus (päpstliche Kopfbedeckung) als Gastgeschenk folgen wir erwartungsvoll den Schritten des Kardinals.

Um ganz ehrlich zu sein: Nicht einmal im Traum hatten wir es für möglich gehalten, dass uns das Oberhaupt der katholischen Kirche tatsächlich im Rahmen einer Privataudienz empfangen würde – auch wenn wir in einem Brief vom 31. März 2016, der auf Vermittlung einer langjährigen 1000plus-Unterstützerin und -Beterin persönlich übergeben werden konnte, genau darum gebeten hatten.

1000plus schreibt an den Papst

In diesem Brief stand unter anderem: „Mit Ihren Worten richten Sie uns immer wieder auf und helfen uns, eine Arbeit zu tun, die uns immer wieder an unsere Grenzen führt. Sie geben uns die Gewissheit, dass wir nicht alleine stehen in diesem Kampf. Sie sind uns Ansporn, niemals nachzulassen im Ringen um jedes einzelne Frauenherz und um jedes Kind. […] Bitte segnen Sie unsere Beratung und Hilfe, die wir derzeit für über 3.000 Schwangere im Jahr zur Verfügung stellen können. Bitte beten Sie dafür, dass wir mit unserer Babyflaschen-Aktion die notwendigen Ressourcen finden, um in Zukunft noch mehr ungewollt schwangere Frauen beraten und ihnen so helfen zu können, damit sie sich für ihre Kinder entscheiden können. Bitte gewähren Sie uns eine Audienz.“

Franziskus ist von 1000plus begeistert

Und tatsächlich: Papst Franziskus hat Lilia-Maria, ein kleines, waschechtes „1000plus-Mädchen“, die dazugehörige Mama, unsere Heidelberger Beratungsleiterin Cornelia Lassay, Weihbischof Thomas Maria Renz und den dreiköpfigen Pro Femina-Vorstand persönlich empfangen und sich aufmerksam angehört, was wir zu sagen hatten: Dass Barmherzigkeit der Dreh- und Angelpunkt all dessen ist, was wir für Schwangere und für ihre ungeborenen Kinder tun! Dass wir ein christliches Projekt sind, das von Christen verschiedener Konfessionen getragen und unterstützt wird! Dass wir seit Projektstart über 10.000 Schwangere beraten konnten! Dass sich über 60% der beratenen Frauen, die vor einer Abtreibung standen, nach unserer Beratung doch für ihr Baby entscheiden! Dass wir diese ganze Arbeit vor allem mit Hilfe der Babyflaschen-Aktion finanzieren!

Man kann es nicht anders sagen: Papst Franziskus hat sich begeistert und beeindruckt von 1000plus gezeigt. Zurück bleiben tiefe Dankbarkeit für dieses eindrückliche Zeichen der Solidarität, für den zugesprochenen Mut, nicht nachzulassen und nie aufzugeben, und für den päpstlichen Segen für unser Tun, für dieses Projekt und für die Menschen, die 1000plus tragen.

Schon genug „Hilfe statt Abtreibung“?

„Wie könnte es zu viele Kinder geben? Das wäre, als würde man sagen, es gäbe zu viele Blumen!“ Dieser Satz wird Mutter Teresa zugeschrieben. Analog dazu kann man fragen: „Wie könnte es jemals genug Hilfen für ungewollt schwangere Frauen und ihre ungeborenen Babys geben?“ Und dies gilt umso mehr, als nach Papst Franziskus bisher noch nicht genug für verzweifelte Schwangere in diesen Notlagen getan worden ist. So wies der Pontifex in seinem Apostolischen Rundschreiben Evangelii Gaudium darauf hin, dass es neben dem unantastbaren Lebensrecht der Ungeborenen auch die kompromisslos barmherzige Hinwendung zu Frauen in Notlagen braucht: „Es ist nicht fortschrittlich, sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indem man ein menschliches Leben vernichtet. Doch es trifft auch zu, dass wir wenig getan haben, um die Frauen angemessen zu begleiten […] Wer hätte kein Verständnis für diese so schmerzlichen Situationen?“ (214)       

Eine überkonfessionelle Initiative auf christlichem Fundament wie 1000plus, die sich der Not dieser Frauen annimmt, um ihnen ein Leben mit ihren ungeborenen Babys zu ermöglichen – dies wird von einer sehr großen Anzahl an kirchlich engagierten Personen als karitative Bereicherung begrüßt und nach Kräften unterstützt. Für sie alle war der päpstliche Segen für 1000plus eine riesengroße Ermutigung!

Papst Franziskus – ein guter Hirte

„Der gute Hirte“, dieses Bild habe ich am 17. Juni vom Heiligen Vater aus nächster Nähe gewonnen und es ist mir nachdrücklich haften geblieben. Der gute Hirte, der an die Ränder und darüber hinausgeht, um Verletzte zu versorgen, um Verzweifelte zu trösten und um Gebeugte aufzurichten. Der gute Hirte, dem die Not des einzelnen Menschen nicht egal ist. Der gute Hirte, der nicht verurteilt. Der gute Hirte, bei dem Barmherzigkeit immer eine Frage tätiger Nächstenliebe ist – denn mit wohlfeilen Willensbekundungen ist es niemals getan!

Für mich ist Papst Franziskus der große Mutmacher unserer Zeit. Ein großer Papst für unsere Tage, in denen das Klima durch politischen Unfrieden und auch so manchen innerkirchlichen Zwist erschreckend rau geworden ist. Er macht 1000plus Mut, die Arbeit für ungewollt schwangere Frauen und ihre ungeborenen Babys entschlossen auszubauen.[1] Und er macht mir als katholischem Christen Mut, dass die Barmherzigkeit Gottes wirklich stärker und größer ist als alle Probleme und Verwirrungen unserer Zeit und unseres Lebens! Beten wir jeden Tag für unseren Heiligen Vater! Sein unbeirrtes Wirken für eine Kultur des Lebens und der Barmherzigkeit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden!

„Was für ein Segen, dass es 1000plus gibt!“

Lilia-Maria war mit zwei Jahren das jüngste Mitglied unserer 1000plus-Delegation im Vatikan. Ihre Mutter berichtete uns von der Wahl, vor die sie einst durch ihren Partner gestellt wurde: „‚Ich oder das Kind‘ – nie werde ich diesen Satz vergessen. Ich hab‘ mich so unsagbar einsam gefühlt.“ Als sie an die vielen Gespräche mit unserer Beraterin Cornelia Lassay zurück dachte, kamen ihr die Tränen. „Sie hatte einfach immer Zeit für mich, egal wann. Sie hat mich stark gemacht und mir die Hoffnung zurückgegeben, dass alles gut werden kann.“ Im Laufe des Beratungsprozesses haben wir ihr die Finanzierung einer Haushaltshilfe für die letzten beiden Schwangerschaftsmonate zugesagt und später einen finanziellen Zuschuss für die Anschaffung notwendiger Möbel. „Ohne Sie hätte ich die falsche Entscheidung getroffen und mir das sicher nie verziehen“, sagte uns Frau B. Dann blickte sie auf die kleine Lilia-Maria und sagte: „Was für ein Segen, dass es 1000plus gibt!“

Papst Franziskus empfängt Tag für Tag die Großen dieser Welt: Staatsmänner, Schauspieler und Prälaten mit Rang und Namen. Doch in dem Moment, in dem der Papst die kleine Lilia-Maria, unser „1000plus-Mädchen“, segnete, dachte ich mir: „Er ist immer ganz und zu allererst Hirte, egal, wer ihm gegenübersteht.“

Nach dieser Begegnung habe ich keinen Zweifel: Mit dieser bislang einmaligen Privataudienz für eine deutsche Pro-Life-Organisation, deren dezidiertes Motto „Hilfe statt Abtreibung“ lautet, hat der Heilige Vater ein bewusstes und eindrückliches Zeichen gesetzt: Dafür, dass wir Schwangeren und ihren Babys als Christen zuallererst Liebe schulden, keine Verurteilung! Dafür, dass es beim Lebensschutz auf die konkrete Annahme des Einzelnen ankommt, nicht auf das Skandieren politischer Parolen! Und dafür, dass echte Beratung und praktische Hilfe entscheidend sind – nicht etwa moralische Empörung! Wir dürfen für diesen Papst dankbar sein!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Projekt 1000plus: Widenmayerstr. 16, 80538 München – Telefon: 089/54041050 – Internet: www.1000plus.de – E-Mail: kontakt@1000plus.de – Spendenkonto: IBAN: DE47700205000008851400 – BIC: BFSWDE33MUE

Für eine „Kultur der Familie“

Das vollkommenste Bild für Gott

Es wird oft davon gesprochen, dass die Familie Grund zur Sorge gibt. Das kommt nicht von ungefähr. Wir sehen viele Ehen und Familien, die auseinanderbrechen, Eltern, die sich nicht mehr mit ihren Kindern verstehen, und die große Zahl der Patchworkfamilien, die weiter stetig zunimmt. Doch Corbin und Birgit Gams sind der Überzeugung, dass die Familie nicht in erster Linie ein „Problemthema“, sondern vielmehr als Grund zur Hoffnung wahrgenommen werden sollte, als eine Quelle der Erneuerung für die Kirche und die Gesellschaft. Als Kirche müssten wir die lebendige Kraft, das tiefe Charisma und das eigentliche Wesen der Familie betrachten, um so eine Kultur der Familie von innen heraus zu erkennen und zu leben. Dieses Licht, das Gott durch die Familien der Kirche und der Welt schenkt, gelte es immer tiefer zu entdecken und zu erfassen.

Von Corbin und Birgit Gams

Die Wahrheit der Familie

Was ist die tiefste Wahrheit und die tiefste Würde der Familie? Der amerikanische Theologe Christopher West fasst eine Kernaussage Johannes Pauls II. zusammen, wenn er schreibt, dass es auf der ganzen Welt kein besseres, kein vollkommeneres Bild für Gott gibt als die Gemeinschaft von Mann und Frau und das Leben, das daraus hervorgeht.[1] Die Wahrheit und die Würde der Familie können wir nur im Blick auf Gott erkennen. Wenn wir auf ihn blicken, erkennen wir was Liebe ist: Liebe bedeutet immer, mit einer anderen Person in Beziehung zu sein. Wenn in Gott also drei Personen sind, dann „fließt“ ein unendlicher Liebesstrom von einer Person zur anderen. Geben – empfangen – zurückschenken, so kann man diesen Strom bezeichnen. Der Vater, der den Sohn liebt, der Sohn, der den Vater liebt, und diese Liebe ist so real, dass eine dritte Person, der Heilige Geist, aus dieser Liebe hervorgeht.

Johannes Paul II. sagt: „In seinem tiefsten Geheimnis ist Gott nicht einsam. Er ist eine Familie, denn er hat in sich Vaterschaft, Sohnschaft und das Wesen der Familie – die Liebe."[2] An dieser Stelle muss genau hingesehen werden. Johannes Paul II. sagt nicht, dass Gott wie eine Familie ist. Die Familie ist nicht lediglich eine Metapher für Gott. Nein: Gott ist nicht wie eine Familie. Er ist eine Familie, denn er allein hat all jene Eigenschaften, die eine Familie zutiefst ausmacht:

Gott hat in sich bedingungslose Liebe, Hingabe, Treue, den Geist der Kindschaft, den Geist der Elternschaft. Er allein besitzt all diese Eigenschaften in vollkommener Weise. Die Familien dagegen besitzen diese Eigenschaften immer nur im übertragenen Sinn und in unvollkommener Weise. Daher ist für Johannes Paul II. die Dreifaltigkeit das Urmodell der Familie.[3]

Mit diesen Gedanken zeigt uns Johannes Paul II. die tiefe Dimension der christlichen Ehe auf. Der Mensch ist als Individuum Abbild Gottes, durch seinen Verstand, seinen Willen, und vor allem durch seine Freiheit. Johannes Paul II. führt diesen Gedanken weiter und sagt: Wir sind nicht nur als Individuum Abbild Gottes, sondern auch in der Gemeinschaft von Mann und Frau in der Ehe. Die Einheit von Mann und Frau ist ein Abbild der Liebe Gottes, ist ein Abbild der Gemeinschaft, die die Dreifaltigkeit untereinander hat.[4] Durch ihre Liebe, ihre Hingabe, ihr „Sich dem andern zum Geschenk machen“ ist die Familie Abbild oder Abglanz des dreieinigen Gottes. Johannes Paul II. drückt das in den wunderbaren Worten aus: „Gott hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen: den er aus Liebe ins Dasein gerufen hat, berief er gleichzeitig zur Liebe."[5]

Unermüdlich ruft der „Heilige der Familien“ den Familien zu: „Die Zukunft der Welt und der Kirche führt über die Familie!"[6] So ist die Familie nicht nur die erste Zelle der Liebe und des Lebens – nein, ihre Bedeutung ist relevant für Kirche und Welt. Hier wird deutlich: die Familie hat einen missionarischen Auftrag. Sie hat einen missionarischen Auftrag aber nicht dadurch, dass sie etwas Besonderes tun oder leisten müsste – nein – allein durch ihr Sein! Der wichtigste Beitrag, den die Familien zur Neuevangelisierung leisten können, ist ihr „Familie-Sein“. Wenn eine Familie ihr „Familie-Sein“ wirklich lebt, wird alles andere daraus hervorfließen. Wenn die Familie wahrhaft ihre Berufung lebt, können andere Menschen die Liebe Gottes in und durch diese konkrete Familie sehen und erfahren!

Was also ist die Berufung der Familie? Die Familie ist berufen, eine wirkliche Gemeinschaft von Personen zu werden, die in Liebe verbunden ist. So wird klar, warum der hl. Johannes Paul II. den Familien zuruft: „Familie, werde, was du bist!"[7] Was ist also die Familie?

Die Familie ist Abbild der Liebe Gottes – vertiefe es!

Die Familie ist Quelle neuen Lebens – lebe es!

Die Familie ist eine Liebesgemeinschaft[8] – belebe sie!

Die Familie ist ein Gut für die Kirche[9] – staune darüber!

Die Familie ist die erste Schule menschlicher Werte[10] – lehre sie!

Die Familie ist ein echter Weg der Heiligung[11] – gehe ihn!

Die Familie ist der Ort „barmherzigen Weidens und Hütens"[12] – weide und hüte die Deinen!

Die Familie ist heilig und unantastbar[13] – empfange es!

Die Schönheit der Familie

Die Hauptwirkung der Familie nach außen besteht nicht in dem, was eine Familie in Kirche und Staat, in Gemeinde und Pfarrei an Aufgaben übernimmt und leistet. Die Hauptwirkung der Familie nach außen besteht einfach in ihrem Sein, einfach weil sie Familie IST. „Christliche Eheleute, ihr seid die frohe Botschaft für das dritte Jahrtausend … macht mit Gottes Hilfe aus eurer Familie eine Seite des Evangeliums für unsere Zeit!"[14] Einfach Familie sein, ist nicht Passivität sondern höchste Aktivität. Es fordert eine ganze Lebenshingabe.

Durch die Art, wie eine Familie lebt, gibt sie Zeugnis von der Liebe Gottes.

Ein Ehepaar mit 8 Kindern schreibt dazu:

„Wir haben gemerkt, dass, wenn wir Familien unser ganz normales Leben führen, Menschen berührt sind, einfach weil wir da sind. Da war der normalerweise sehr kurz angebundene Hautarzt. Er hat bei einem unserer Kontrollbesuche verwundert nachgefragt, warum wir so viele Kinder haben, wer wir sind und wie wir das schaffen. Dann hat er sein Herz ausgeschüttet und von seinen Sorgen als geschiedener, alleinerziehender Vater erzählt. Die Verkäuferin beim Möbeldiscounter, die plötzlich von ihrem verstorbenen Kind erzählt und sich ein wunderbares Gespräch über das Geschenk des Lebens ergibt. Ein älteres Ehepaar, das beim Friedensgruß in der heiligen Messe zu weinen beginnt. Die Liste wäre lang und diese Erfahrung teilen wir mit so vielen Freunden. Wir Familien haben so viele Möglichkeiten an unterschiedliche Orte zu kommen, an die sonst nie ein Priester, eine Schwester, eine pastorale Mitarbeiterin oder Mitarbeiter kommt: in die Schulen, Kindergärten, bei Ärzten, in Geschäften, Ämter, Werkstätten oder die Musikschule … Gott berührt die Menschen und dann beginnen sie zu fragen. So öffnet sich eine Tür. Das bietet so viele Gelegenheiten zum Gespräch, es ist eine Möglichkeit, um von der Liebe Christi Zeugnis zu geben.“

Ein anderes Beispiel, das meine Frau und ich (Corbin) erlebt haben:

Ein Hotelier hat meine Frau und mich eingeladen unverbindlich für seine Hotelgäste an fünf Vormittagen während einer Ferienwoche Impulse zu Ehe und Familie zu geben. Eine Frau kam danach auf mich zu und sagte: Herr Gams, können wir mal sprechen? Es hat sich herausgestellt, dass dies der letzte Urlaub dieses Ehepaares sein sollte, eines Ehepaares, das schon über 25 Jahre verheiratet war und große Kinder hatte. Für die Zeit nach dem Urlaub stand eine „harmonische“ Trennung auf der ToDo-Liste des Lebens. Am Nachmittag hatten wir das Gespräch. Es ist mir gelungen, ihr die Augen für das eine oder andere zu öffnen. Deshalb hat sie ihren Mann bedrängt, dass wir gemeinsam ein Gespräch versuchen sollen. Was kam bei diesem Gespräch heraus? Der Mann – voll berufstätig – war Mitglied in 20 unterschiedlichen Vereinen. In mehr als fünf Vereinen (auch kirchlichen Vereinen) engagierte er sich derart, dass er keine Zeit hatte zu Hause zu sein. Er war immer weg. Das gemeinsame Leben fand nicht mehr statt, die Liebe war vertrocknet. Nach unserem Gespräch wurde ihm klar, was von seiner Seite aus schief gelaufen war. Er war immer der Meinung „ich mach doch alles recht“. Beide sind sich in dieser Woche wieder näher gekommen – was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht. Aber eines bleibt mir in Erinnerung: ein wahrhaft kräftiger, hoffnungsvoller und entschiedener Händedruck von Seiten des Mannes.

„Familie leben“ heißt nicht, sich in Aktionen zu verausgaben, die zuweilen zum Aktionismus werden können und wie bei dem genannten Beispiel die eigentlichen Lebensaufgaben verdrängen. „Familie leben“ heißt: „als Familie – Familie sein“.

Für eine Kultur der Familie – in der Kirche

Es scheint, dass ein Perspektivenwechsel angesagt sein könnte. Es gilt, die Familie zum Herz und zur Mitte, ja zum Ausgangspunkt für alle pastoralen Überlegungen zu machen. Johannes Paul II. hat es so formuliert: Die Familie ist das Herz der Kirche.[15] Es geht vor allem darum, die Familien zu stärken, zu ermutigen und auszurüsten, um noch besser als christliche Familie leben zu können. Aber wie? Gleich vorweg: Dies ist mit wirklichen Anstrengungen verbunden! Für den konkreten Dienst an den Familien ist ein Bild hilfreich, das Michaela und Robert Schmalzbauer bei ihrem Vortrag über „Familie und Neuevangelisation"[16] in Rom 2014 anlässlich des Symposiums „Evangelii gaudium“ gehalten haben. Sie verwenden das Bild eines Hauses.

Das Fundament eines Hauses besteht aus Beton, es ist eine gute Mischung von Wasser und Sandzement. Das Wasser für unseren Beton ist: den Familien den Weg zur inniglichen Begegnung mit Christus[17] zu bereiten, wie Papst Franziskus es ausdrückt. Die lebendige Christuserfahrung „von Herz zu Herz"[18] ist der Schlüssel dazu. Eine solche Christusbeziehung trägt und lässt die Ehe erblühen.

Der Sandzement ist die große Wertschätzung, die die Familien von Seiten der Kirche brauchen. Warum: Weil das Selbstwertgefühl der Familie nahezu verloren gegangen ist. Gerade das braucht die Familie heute, um wieder leuchten zu können. Im tiefsten brauchen Familien somit nicht nur gute Worte, sondern vor allem Taten. Es braucht wahre Diener der Familien!

Eine große Gefahr im Bereich der Familienpastoral ist, dass Familien häufig für kirchliche Zwecke „benutzt“ werden. Es geht nicht darum, Familien zu sammeln, damit sie evangelisieren und Aufgaben in den Pfarreien übernehmen. Es geht nicht darum, Familien zu sammeln, damit die Pfarreien und Gemeinschaften etwas vorweisen können und Zahlen präsentieren können. Es geht nicht um ‚meine Pfarrei‘, ‚meine Gemeinschaft‘ – es geht um die Familien als Ziel, nicht als Mittel.[19]

Bauen wir an unserem Haus der Familie weiter:

Die Mauern und das Dach sind das Rahmenprogramm, wie wir alles gestalten. Es braucht Orte, Veranstaltungen, Programme, in denen man besonders den jungen Familien – denn sie sind die Zukunft - mit großer Wertschätzung entgegenkommt und ihre Bedürfnisse wahrnimmt. Es ist wesentlich auch in die Niedrigkeiten der Familie hinabzusteigen und sich in die Lage der jungen Familien hineinzuversetzen.

Die Inneneinrichtung besteht schließlich aus den Inhalten, die die Kirche den Familien bringt: die Christusbeziehung, das Gebet, die Katechese, das Studium der kirchlichen Dokumente, die Vermittlung der Schönheit der Lehre, die Stärkung der Ehe, das Pflegen der ehelichen Beziehung, die Bedeutung der Sexualität, die Berufung zum Mann- bzw. Frausein, die Offenheit für das Leben und verantwortete Elternschaft, die Erziehung der Kinder, das Engagement in der Kirche und vieles mehr.

Wodurch werden Ehepaare aufgebaut? Wie können sie sich selber aufbauen? Wie kann die Kirche den Familien die frohe Botschaft näherbringen, dass sie Abglanz der Dreifaltigkeit sind? Wie kann das „Familie – werde, was du bist“ in Ehe und Familie konkret werden?

Papst Franziskus schreibt in Amoris laetitia: „Die Familie lebt ihre besondere Spiritualität, indem sie zugleich Hauskirche und lebendige Zelle für die Verwandlung der Welt ist."[20] Genau das ist der Punkt: in ihrem Hauskirche-Sein nimmt sie teil an der Verwandlung der Welt.

Unser Wunsch an die Familie ist: Erkennen Sie als Familie, wie wichtig Sie der Kirche sind. Bleiben Sie sich bewusst, dass das „Familie-Sein“ wichtiger ist als das, was eine  „Familie tut“! Glauben Sie in Ihrem Herzen, dass Sie Abglanz der Dreifaltigkeit sind. Seien Sie mutig, um das zu werden, was Sie schon sind.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Vgl. West: Theologie des Leibes für Anfänger, 24f.
[2] Homilie in der Eucharistiefeier in Puebla de los Ángeles (28. Januar 1979), 2:  L’Osservatore Romano (dt.). Jg. 9, Nr. 6 (9. Februar 1979), 9; AAS 76 (1979), 184.
[3] Johannes Paul II.: Brief an die Familien, 1994, 6.
[4] Johannes Paul II.: Katechese 9:3, 14.11.1079: „Der Mensch wird nicht so sehr im Augenblick seines Alleinseins als vielmehr im Augenblick der Gemeinschaft zum Abbild Gottes.“
[5] Familiaris consortio 11.
[6] Familiaris consortio 75.
[7] Familiaris consortio 17.
[8] Amoris laetitia 66.
[9] Amoris laetitia 87.
[10] Amoris laetitia 274.
[11] Amoris laetitia 316.
[12] Amoris laetitia 322.
[13] Vgl. Amoris laetitia, Gebet zur Heiligen Familie.
[14] Johannes Paul II.: Weltfamilientreffen 2003 Manila, 5f.
[15] Vgl. Johannes Paul II.,: Ansprache zur Weltweihe an das Unbefleckte Herz Mariens, 25.3.1984.
[16] www.novaevangelizatio.va/content/nvev/it/eventi/Incontro-evangelii-gaudium/relazioni-incontro-internazionale/michaela--robert-schmalzbauer.html
[17] Vgl. Evangelii gaudium 3.
[18] Bischof Stefan Oster SDB, aus „Das Kernproblem ist die Gottvergessenheit“ bei der Deutschen Bischofskonferenz, Fulda 2014.
[19] Vgl. Personalistische Norm, Liebe und Verantwortung, Karol Wojtyla.
[20] Amoris laetitia 324.

Zum 65. Priesterjubiläum von Papst em. Benedikt XVI.

Der Priester – Zeichen der Liebe Gottes

Am 29. Juni 1951 wurde Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., zusammen mit seinem Bruder Georg im Freisinger Dom durch Michael Kardinal von Faulhaber zum Priester geweiht. Sein 65-jähriges Priesterjubiläum wurde am Vorabend, dem 28. Juni 2016, unter dem Vorsitz von Papst Franziskus mit einer eindrucksvollen Feierstunde im Vatikan begangen. Professor Dr. Dr. Ralph Weimann (geb. 1976), Rom, nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, um das Priesterbild Benedikts XVI. zu skizzieren und in seiner aktuellen Bedeutung herauszustellen. Der emeritierte Papst wies in seiner Dankansprache mehrmals selbst auf seine Vorstellung vom priesterlichen Dienst hin. An Angelo Kardinal Sodano gerichtet meinte er: „Ich kann nur sagen, dass Sie so, mit diesen Worten, den Kern meiner Vision des Priesteramtes ausgedrückt haben, meines Wirkens.“ Und Gerhard Ludwig Kardinal Müller, dem Präfekten der Glaubenskongregation, sprach er ausdrücklich seinen Dank aus, „für die Arbeit, die Sie zur Darbietung meiner Schriften zum Priesteramt tun. Mit ihnen möchte ich auch den Mitbrüdern helfen, immer neu in das Geheimnis einzutreten, in dem der Herr sich in unsere Hände gibt.“

Von Ralph Weimann

Ende Juni 2016 fand in Rom eine außergewöhnliche Feier statt, an der Papst Franziskus wie auch Papst em. Benedikt XVI. teilgenommen haben. Der Anlass war das 65-jährige Priesterjubiläum von Benedikt XVI., der am 29. Juni 1951 im Dom zu Freising das Sakrament der Priesterweihe empfangen hatte. Priesterjubiläen gibt es viele, doch erst zwei Mal in der Geschichte konnte ein Papst sein 65-jähriges Priesterjubiläum feiern, nach Leo XIII. nun auch Benedikt XVI.

Ein derartiges historisches Ereignis bietet Gelegenheit, einen Blick auf das zu werfen, was den Priester ausmacht, und zu verstehen, wer der Priester ist.

Eine Hilfestellung dazu bietet das Buch „Die Liebe Gottes lehren und lernen. Priestersein heute."[1] Es enthält eine Sammlung von Predigten zur Priesterweihe, zur Diakonenweihe, zur Primiz sowie Jubiläumspredigten, die von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. gehalten wurden. Eingeleitet wird das Buch, das – aus unterschiedlichen Perspektiven – ein umfassendes Bild vom Priester zeichnet, mit einem Vorwort von Papst Franziskus und einer Einführung von Gerhard Kardinal Müller. Dieses Unterfangen ist in der heutigen Zeit von grundlegender Bedeutung, zumal sich die Identität des Priesters in einer schweren Krise befindet, was sich auch in der sinkenden Zahl von Seminaristen niederschlägt.

Die Frage mag berechtigt sein, ob die Theologie von Benedikt XVI./Joseph Ratzinger Antwort zu geben vermag auf die aktuellen Herausforderungen. Papst Franziskus unterstreicht dies mit aller Deutlichkeit, indem er schreibt: „Jedes Mal, wenn ich die Werke von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. lese, wird mir klar, dass er Theologie ,auf Knien‘ betrieben hat und dies noch tut: Auf Knien, weil man sieht, dass er nicht nur ein herausragender Theologe und Lehrmeister des Glaubens ist, sondern ein Mann, der wirklich glaubt, wirklich betet. … Und so verkörpert er auf beispielhafte Weise das Wesen des gesamten priesterlichen Wirkens: jenes tiefe Verwurzeltsein in Gott, ohne das das ganze Organisationstalent, die ganze vermeintlich intellektuelle Überlegenheit, das ganze Geld und die Macht nutzlos sind. Er verkörpert jene ständige Beziehung zum Herrn Jesus, ohne die nichts mehr wahr ist, alles zur Routine wird, die Priester fast schon zu Gehaltsempfängern, die Bischöfe zu Bürokraten werden und die Kirche nicht Kirche Christi ist, sondern etwas, das wir geschaffen haben, eine NGO [Nichtregierungsorganisation], die letztendlich überflüssig ist."[2] Diese Aussagen sollten nicht unterbewertet werden, zumal zwei Eigenschaften beschrieben werden, die schon bei den Kirchenvätern zu finden sind: die Heiligkeit des Lebens und die Orthodoxie der Lehre. Beide Aspekte bildeten in den ersten Jahrhunderten der Geschichte der Kirche eine untrennbare Symbiose und es ist offensichtlich, wie stark sich Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. von den Kirchenvätern hat inspirieren lassen. Von daher verwundert es nicht, dass Papst Franziskus hinzufügt, dass das theologische Werk Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. einen Platz unter den großen Theologen auf dem Stuhl Petri zukommt, wie Leo dem Großen, einem heiligen Papst und Kirchenlehrer.[3]

Nach dem Gesagten wird deutlich, dass die Theologie von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. eine wichtige Schlüsselfunktion zukommt, um zu verstehen, wer der Priester ist; sie erschließt gleichsam den Zugang zum Verständnis. Daher sollen einige wenige Aspekte herausgegriffen werden, die sich untrennbar mit dem Priester verbinden und zum Verständnis dessen, was der Priester ist, unerlässlich sind.

1. Der Priester, ein Christophorus

Als Joseph Ratzinger durch Gebet und Handauflegung vom greisen Kardinal Michael von Faulhaber das Sakrament der Priesterweihe empfing, lag Deutschland zwar noch in großen Teilen in Schutt und Asche, aber es fand eine Rückbesinnung auf den Glauben statt, durch den Hoffnung und Zuversicht verbreitet wurden und der vielerorts zur Kraftquelle für den Neubeginn wurde. Dies spiegelte sich auch in der Anzahl derjenigen wider, die sich bereit erklärt haben, zur Berufung mit großzügiger Bereitschaft „Ja“ zu sagen. Joseph Ratzinger beschreibt dies wie folgt: „Wir waren über vierzig Kandidaten, die auf den Aufruf hin ,Adsum‘ sagten: Ich bin da – an einem strahlenden Sommertag, der als Höhepunkt des Lebens unvergesslich bleibt. Man soll nicht abergläubisch sein. Aber als in dem Augenblick, in dem der greise Erzbischof mir die Hände auflegte, ein Vöglein – vielleicht eine Lerche – vom Hochaltar in den Dom aufstieg und ein kleines Jubellied trillerte, war es mir doch wie ein Zuspruch von oben: Es ist gut so, du bist auf dem rechten Weg."[4]

Die geschilderten Details unterstreichen die Tiefsinnigkeit, mit der sich Joseph Ratzinger diesem großen Moment näherte. Er war sich bewusst, vor Gott zu stehen und von Ihm in Dienst genommen zu werden, um schließlich Christus zu den Menschen zu bringen. In den weiteren Schilderungen aus den Tagen nach seiner Priesterweihe, wird dies besonders deutlich: „Wir waren eingeladen, den Primizsegen in die Häuser zu tragen, und wurden überall, auch von ganz unbekannten Menschen, mit einer Herzlichkeit empfangen, die ich mir bisher nicht hatte vorstellen können. So habe ich ganz unmittelbar erfahren, wie sehr Menschen auf den Priester warten, wie sehr sie auf den Segen warten, der aus der Kraft des Sakraments kommt. Da ging es nicht um meine Person oder die meines Bruders: Was hätten wir junge Leute aus unserem Eigenen heraus schon den vielen bedeuten können, denen wir nun begegneten? Sie sahen in uns Menschen, die vom Auftrag Christi berührt waren und seine Nähe zu den Menschen tragen durften; so entstand, gerade weil es nicht um uns selber ging, auch ganz schnell eine freundliche menschliche Beziehung."[5]

Der Priester trägt Christus zu den Menschen, er handelt in persona Christi, in ihm und durch ihn wirkt Christus. Darunter ist die „Macht der Gnade“ zu verstehen, die sich durch die Sakramente und Sakramentalien durch das Wirken der Priester auf die Menschen ergießt. Der Priester ein Christophorus, ein Christusträger. Ob er durch seine persönliche Lebensführung dem auch gerecht wird, ist eine andere Frage, aber dennoch – so hat es Benedikt XVI. in der Abschlussmesse des Priesterjahres am 11. Juni 2010 ausgedrückt – ist es nicht menschliches Verdienst, sondern entspricht der „Kühnheit Gottes, der sich Menschen anvertraut, Menschen zutraut, für ihn zu handeln und da zu sein, obwohl er unsere Schwächen kennt“.[6] Gott kommt zu den Menschen durch und im Priester.

2. Der Priester, Mittler zwischen Gott und Mensch

Heute ist vielen Gläubigen, manchmal auch Priestern, nicht klar, wofür sie eigentlich einstehen. Einige sehen im Priester eine Art Sozialarbeiter, der durch geschickte pastorale Methoden die Menschen in seinen Bann zu ziehen versteht. Auch das Bild des Manager-Priesters hat sich inzwischen verfestigt, geschuldet der aktuellen Situation, wonach immer mehr Verantwortung auf den Schultern von immer wenigeren lastet und die Pfarrer oft nur mehr sporadisch ihre vielen Pfarreien besuchen können. Viele dieser Vorstellungen, die aufzuzählen müßig wäre, offenbaren eine gewisse Hilflosigkeit im Hinblick auf das, was den Priester kennzeichnet.

In der Tat kommen auf den Priester viele Herausforderungen zu, aber dennoch sollte das Wesentliche nicht aus dem Blick geraten: der Priester ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Alle anderen Aspekte können auch von Bedeutung sein, aber diese Mittlerschaft, ohne die der Priester aufhören würde, Priester zu sein, ist zentral. In besonderer Weise spiegelt sich dies in der Feier der hl. Messe wider, in der der Priester den Gläubigen nicht als eine Art Show-Master gegenübersteht, sondern sich zusammen mit den Gläubigen und für sie Gott zuwendet. Für Joseph Ratzinger geht es daher um die Hinwendung zu Gott (Conversi ad Dominum), um den gemeinsamen Blick auf den Herrn, der allein den Dienst zum Gottes-Dienst macht. So gehört es zu den absurden Erscheinungen der letzten Jahrzehnte, den Blick auf den Herrn zu verstellen, um den Blick auf den Priester zu ermöglichen, ihm gleichsam ins Gesicht zu schauen. Mit Recht fragt Kardinal Ratzinger, ob der Priester denn wichtiger sei als der Herr? Ist der Herr nicht der Bezugspunkt, dann droht alles andere banal zu werden.[7] Wenn der Priester selber im Mittelpunkt steht, dann wird Gott klein und auf die menschliche „Größe“ zurechtgestutzt.

Als Kardinal Ratzinger in diesem Kontext die Frage der Zelebrationsrichtung aufgeworfen hat, stach er gleichsam in ein Wespennest der Polemik, denn die „Zuwendung“ zu den Menschen wurde als Errungenschaft des Zweiten Vatikanischen Konzils verstanden, selbst wenn das Konzil dies an keiner Stelle erwähnt hatte. Sollte sich jedoch mit der „Zuwendung“ zu den Menschen eine Abwendung von Gott verbinden, dann wäre sie eine Farce, die in die Banalität, den Selbstbetrug oder die Immanenz führen müsste. Eine neue, schlimmere Klerikalisierung als je zuvor wäre die Konsequenz.

Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. erinnerte immer wieder an den Primat Gottes, schließlich hängt alles von Ihm ab. Bereits in den ersten Worten, die er nach seiner Wahl zum Nachfolger Petri an die Menschen richtete, kam dies indirekt zum Ausdruck. So sagte er am 19. April 2005, dass die Herren Kardinäle ihn, „einen einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn“ gewählt hätten. Er selber versuchte hinter der Größe des Amtes zurückzutreten, um den Blick auf den Herrn frei zu machen, um seine Wahrheit und Liebe zu bezeugen. Der Priester/Bischof ist nicht aus sich heraus Mittler, sondern nur in der Kraft Gottes. Mit Nachdruck hat Papst Benedikt zum Abschluss des Priesterjahres auf diese Dimension hingewiesen, denn der Priester „spricht in Christi Namen das Wort der Vergebung für unsere Sünden und ändert so von Gott her den Zustand unseres Lebens. Er spricht über die Gaben von Brot und Wein die Dankesworte Christi, die Wandlungsworte sind – ihn selbst, den Auferstandenen, sein Fleisch und sein Blut gegenwärtig werden lassen und so die Elemente der Welt verändern: die Welt auf Gott hin aufreißen und mit ihm zusammenfügen."[8]

So öffnet sich durch den Priester gleichsam der Himmel und die verwandelnde Gnade Gottes wird zugänglich. Benedikt XVI. interpretiert in diesem Sinn die Worte der Heiligen Schrift, „Wer Durst hat, komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Aus seinem Innern werden Ströme lebendigen Wassers fließen“ (Joh 7,37f.), denn: „Im Glauben trinken wir gleichsam aus dem lebendigen Wasser von Gottes Wort. Der Glaubende wird so selbst zu einer Quelle, schenkt dem dürstenden Land der Geschichte lebendiges Wasser. Wir sehen es an den Heiligen. Wir sehen es an Maria, die als die große Glaubende und Liebende alle Jahrhunderte hindurch zur Quelle von Glaube, Liebe und Leben geworden ist. Jeder Christ und jeder Priester sollten von Christus her Quelle werden, die anderen Leben mitteilt. Wir sollten einer dürstenden Welt Wasser des Lebens schenken."[9] Die Aufgabe des Priesters besteht darin, den Menschen die Quelle des Lebens zugänglich zu machen, aber auch sich selbst davon zu nähren. 

3. Der Priester, ein Mann des Gebetes

Das Gesagte führt hin zu einem letzten Aspekt, der in diesem Kontext Erwähnung finden soll, auch wenn damit keineswegs ein vollständiges Bild vom Wesen des Priesters erstellt wurde. Kein Priester wird auf Dauer seiner verantwortungsvollen Aufgabe gerecht werden, wenn er nicht der erste ist, der sich von der Quelle des Lebens nährt. Vielleicht besteht die größte Versuchung der Postmoderne darin, selbstgenügsam sein zu wollen, ganz autonom, gestützt nur auf die eigene Kraft, die eigenen Errungenschaften und Qualitäten. Damit würde alles in die Ebene des Menschlichen verlagert und der Priester würde sich zwangsweise übernehmen. Wenn aber der Tabernakel das Zentrum ist, wenn die Beziehung zum Herrn den Mittelpunkt des Lebens bildet, dann ist das Haus auf Fels gebaut (vgl. Mt 7,25).

Daher hat Papst Benedikt versucht, den Priestern das Beispiel vom heiligen Pfarrer von Ars näher zu bringen, der unaufhörlich in vertrautem Dialog mit dem Herrn stand: „Seine Pfarreimitglieder belehrte der heilige Pfarrer vor allem mit dem Zeugnis seines Lebens. Durch sein Vorbild lernten die Gläubigen zu beten und für einen Besuch beim eucharistischen Jesus gern vor dem Tabernakel zu verharren. ‚Es ist nicht nötig, viel zu sprechen, um gut zu beten‘, erklärte ihnen der Pfarrer. ‚Man weiß, dass Jesus dort ist, im heiligen Tabernakel: Öffnen wir ihm unser Herz, freuen wir uns über seine heilige Gegenwart. Das ist das beste Gebet.‘ … Diese Erziehung der Gläubigen zur eucharistischen Gegenwart und zum Kommunionempfang wurde besonders wirkkräftig, wenn die Gläubigen ihn das heilige Messopfer zelebrieren sahen. Wer ihm beiwohnte, sagte, dass es nicht möglich war, eine Gestalt zu finden, welche die Anbetung besser ausgedrückt hätte … Er betrachtete die Hostie liebevoll‘. ‚Alle guten Werke zusammen wiegen das Messopfer nicht auf, denn sie sind Werke von Menschen, während die heilige Messe Werk Gottes ist‘."[10]

Das Gebet ist das Mittel, um aus der Quelle zu schöpfen. Die Jünger waren einmütig im Gebet versammelt, als ihnen der Heilige Geist gesandt wurde (vgl. Apg 1,14). Wenn die Kirche im Gebet versammelt ist, dann ist Gott nahe, dann kann Gott wirken, denn die Kirche lebt vom Gebet.[11] Daher schreibt Joseph Ratzinger: „Der Priester muss ein Mensch sein, der Jesus von innen her kennt, ihm begegnet ist und ihn zu lieben gelernt hat. Deswegen muss der Priester vor allem ein Mann des Gebetes, ein wirklich ,geistlicher‘ Mensch sein. Ohne eine starke spirituelle Substanz kann er auf Dauer in seinem Dienst nicht bestehen."[12] Das Gebet ist die Brücke zu Gott, denn der Priester wird nur dann zum Christophorus, wenn er sich von Christus getragen weiß. Er wird nur dann zum Mittler zwischen Gott und den Menschen, wenn er aus der sprudelnden Quelle schöpft, „deren Wasser ewiges Leben schenkt“ (Joh 4,14).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Benedikt XVI./Joseph Ratzinger: Die Liebe Gottes lehren und lernen. Priestersein heute, Freiburg i. Br. 2016.
[2] Ebd. 11.
[3] Vgl. ebd.
[4] Joseph Ratzinger: Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977), München 1998, 71.
[5] Ebd., 72.
[6] Benedikt XVI.: Predigt zum Abschluss des Priesterjahres, vom: 11.6.2010, in: w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/homilies/2010/documents/hf_ben-xvi_hom_20100611_concl-anno-sac.html [12.7.2016].
[7] Vgl. Joseph Ratzinger: Theologie der Liturgie. Die sakramentale Begründung christlicher Existenz, in: JRGS (11) Freiburg i. Br. 2008, 84.
[8] Benedikt XVI.: Predigt zum Abschluss des Priesterjahres, a.a.O.
[9] Ebd.
[10] Benedikt XVI.: Schreiben zu Beginn des Priesterjahres, vom 16.6.2009, in: w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/letters/2009/documents/hf_ben-xvi_let_20090616_anno-sacerdotale.html [12.6.2016].
[11] Vgl. Joseph Ratzinger: Künder des Wortes und Diener eurer Freude. Theologie und Spiritualität des Weihesakramentes, in: JRGS (12) Freiburg i. Br. 2010, 269.
[12] Ebd., 48.

Das „Sola scriptura“-Prinzip des Protestantismus (Luther verstehen – Teil 3)

Allein die Schrift?

In seiner Artikelreihe zum bevorstehenden Reformationsgedenken beleuchtet Andreas Theurer in einem dritten Beitrag das sogenannte „Sola scriptura“-Prinzip Martin Luthers, dem sich alle Reformatoren bzw. protestantischen Glaubensrichtungen angeschlossen haben. Es bedeutet kurz zusammengefasst: Die alleinige Grundlage für die christliche Lehre ist die Heilige Schrift. Theurer legt sehr anschaulich dar, dass jeder Versuch, einen Gegensatz zwischen Bibel und kirchlicher Lehre zu konstruieren, vollkommen unlogisch ist und den geschichtlichen Fakten widerspricht. Denn das Neue Testament ist eine Frucht der Kirche und nicht umgekehrt. Erst wenn dieses nach Theurer eindeutig falsche Prinzip des Protestantismus überwunden wird, „steht der Weg zur Einheit offen“.

Von Andreas Theurer

Das Haupthindernis für eine Verständigung zwischen dem Protestantismus und den traditionellen Kirchen ist das „Sola scriptura“, zu Deutsch „Allein die Schrift“. Es ist das Grundprinzip des Protestantismus und ich denke, man kann es ohne weiteres als das protestantische Dogma schlechthin bezeichnen.

„Wo steht das in der Bibel?“

Solange man das nicht verstanden hat, führt jedes ökumenische Gespräch zwangsläufig zu Missverständnissen. Protestantisches Denken kommt nämlich bei theologischen Diskussionen über kurz oder lang immer zu der Frage: „Wo steht das in der Bibel?“ Und wenn der katholische Gesprächspartner keine entsprechende Stelle anzugeben weiß, ist für den Protestanten klar, dass der Katholik Unrecht hat. Auf diese Weise fallen für den Protestanten mangels Schriftbeleg insbesondere die Marien- und Heiligenverehrung, das Papstamt, die Apostolische Sukzession, das Fegefeuer, sowie fünf der sieben Sakramente weg. Ist eine solche theologische Reduktion nun eine notwendige und heilsame Rückbesinnung auf das allein Wichtige am Glauben, oder ein entsetzlicher Kahlschlag, der zur Verarmung des Glaubens und der Frömmigkeit führt?

Gegensatz zur apostolischen Tradition

Das ist übrigens nicht nur eine Frage, die Katholiken und Protestanten trennt. Sie trennt den Protestantismus von allen Kirchen, die unmittelbar aus der Urkirche hervorgegangen sind, also auch von den von Rom getrennten Ostkirchen und den Altorientalen („Orthodoxe“, „Miaphysiten“ bzw. „Monophysiten“, „Nestorianer“). Das „Sola scriptura“ ist auch nicht das Auslegungsprinzip der Apostel, wie es sich viele Protestanten vorstellen, sondern eine spätmittelalterliche Idee, die – im protestantischen Extrem – die Wurzeln zur apostolischen Tradition geradezu abschneidet.

Unverfälschtes Gotteswort?

Das protestantische Selbstverständnis ist stark geprägt von dem Bewusstsein, durch Luther die Bibel und damit den einzig verlässlichen Zugang zu den Wahrheiten des Glaubens zurückgewonnen zu haben. „Evangelisch“ nannte man sich, weil man meinte, im Unterschied zu den „Altgläubigen“ (Katholiken) das Evangelium zu kennen und danach zu leben. In der reformatorischen Parole „Das Wort sie sollen lassen stahn“ (vertont im Lutherlied „Ein feste Burg ist unser Gott“) verdichtet sich beispielhaft die Vorstellung, die Katholiken würden die Bibel verfälschen und allerlei zusätzliche Lehren dazudichten, während die Reformatoren das „unverfälschte“, „reine“ und „klare“ Gotteswort auf den Leuchter stellten und von allen menschlichen Zutaten reinigten. Diesem Ziel diente demzufolge auch Luthers Übersetzung der Heiligen Schrift, die im Protestantismus zum allgemein zugänglichen Volksbuch wurde, während im finsteren Mittelalter die Kirche die (lateinische) Bibel angeblich eifersüchtig gehütet und dem Volk so das Evangelium vorenthalten habe. Aber hat nicht die Kirche tatsächlich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts das private Bibellesen verboten?

Das alles bestimmende Prinzip Luthers

In Vorläufern fassbar wird die Idee des „Sola-Scriptura“ erstmals bei der mittelalterlichen häretischen Bewegung, die auf Petrus Valdes zurückgeht und sich als „Waldenser“ einen Platz in der Kirchengeschichte erkämpft hat. Der Grundgedanke war schon damals die Reinigung des Glaubens von einer Vielzahl von kirchlichen Bräuchen und theologischen Lehren, die nicht unmittelbar aus der Bibel abgeleitet werden können. Zum alles bestimmenden Prinzip, zur Schablone, ja zum Prokrustesbett[1] der Theologie wurde das „Sola-Scriptura“ freilich erst durch Luther, dem sich die übrigen Reformatoren in dieser Frage uneingeschränkt anschlossen.

Die Heilige Schrift ist Frucht der Kirche

Die kirchliche Theologie – im Osten wie im Westen – wurde sich durch die Auseinandersetzung mit dem Protestantismus wieder neu bewusst, dass die Heilige Schrift eine Frucht der Kirche ist, und nicht umgekehrt die Kirche eine „creatura verbi“ (Schöpfung durch das Wort). Zuerst war die Kirche. Sie feierte schon seit Jahrzehnten ihre Gottesdienste, praktizierte Sakramente und sakramentenähnliche Riten und verkündigte das Evangelium von Jesus Christus, lange bevor Paulus seine Briefe und die Evangelisten ihre Evangelien geschrieben hatten. Wonach richteten sie sich in dieser doch so prägenden Zeit? Natürlich nach der Lehre der Apostel, die mit Jesus gegangen waren und ihn und seine Lehren noch persönlich kennengelernt hatten!

Protestantische Sicht der „Amtskirche“

Nach fast allgemein verbreiteter protestantischer Vorstellung hätten nun nach dem Tod der Augenzeugen die frisch entstandenen neutestamentlichen Schriften an ihre Stelle treten und die Richtschnur für das Gemeindeleben sein sollen. Stattdessen rissen aber in dieser Sicht die Bischöfe und mit ihnen die „Amtskirche“ die Macht in der jungen Kirche an sich und in den folgenden fast anderthalbtausend Jahren geriet das einfache und klare Wort Gottes durch ihre Schuld immer mehr in Vergessenheit, ehe die Reformatoren es wieder entdeckten.

Kirchliches Amt und Sakramente gehen voraus

Selbstverständlich wussten die Apostel und Gemeindeleiter der ersten Generationen aber auch ohne die neutestamentlichen Schriften, wie man tauft (das steht nämlich nicht in der Bibel!), wie man Eucharistie feiert (lediglich auf ein paar Spezialfragen ging Paulus gegenüber den Korinthern wegen deren Missbräuchen ein!), oder wie man das kirchliche Amt weitergibt (1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6 und Tit 1,5 erklären es nicht, sondern setzen es offenbar als bekannt voraus!) usw.

Nirgendwo mussten das Bischofsamt oder die Sakramente gegen Widerstand durchgesetzt werden, wie es doch zu erwarten gewesen wäre, wenn sie „unbiblische“ Neuerungen gewesen wären.

Vollmacht der Schriftauslegung

Dieselbe Kirche, in deren Mitte die Heilige Schrift entstand und die den Kanon festlegte, hat nach altkirchlicher Überzeugung selbstverständlich sowohl die Vollmacht als auch die Pflicht, die Bibel im Sinne der Apostel auszulegen. Wohin es dagegen führt, wenn die Auslegung privatisiert und von der Tradition der Kirche getrennt wird, zeigt sich ja eben in der unübersehbaren Vielfalt von protestantischen Gemeinschaften, die sich zwar alle auf die Heilige Schrift (in ihrer jeweiligen Auslegung) berufen, aber dennoch in zentralen Fragen so uneins sind, dass sie daraus eine Rechtfertigung für die weitere Zerteilung des Leibes Christi ableiten zu können meinen.

Eingriffe Luthers in die Heilige Schrift

Am Rande sei noch auf die Tatsache hingewiesen, dass Katholiken und Protestanten durchaus noch nicht einmal dieselbe Textgrundlage meinen, wenn sie von der Heiligen Schrift sprechen. Während die Kirche sich seit der Zeit der Apostel an die griechische Übersetzung des Alten Testaments (die „Septuaginta“) hielt, übersetzte Luther aus der hebräischen Fassung, wie sie das Judentum seit der Trennung von den Urchristen und in Abgrenzung zu ihnen favorisierte. Das bedeutet, dass vom Alten Testament in der lutherischen Fassung einige Bücher (u.a. Weish, 1-2 Makk, Tob, Judith, Sir) nur als „apokryph“ (verborgen) bezeichnet und natürlich auch nicht als Grundlage für einen „Schriftbeweis“ anerkannt werden.

Sogar das Neue Testament musste sich von Luther Eingriffe gefallen lassen, auch wenn sie nicht so schwerwiegend sind, sondern nur die Reihenfolge der Bücher betreffen. Den Jakobusbrief bezeichnete er als „stroherne Epistel“ und setzte ihn mit dem Hebräerbrief an den Schluss der Briefe, weil ihr Inhalt so wenig „Christum treibet“.

Idee von der „Mitte der Schrift“

Daran wird schon das nächste Problem deutlich, das sich der Protestantismus mit seinem „Sola-Scriptura-Prinzip“ eingehandelt hat: Wenn sich biblische Textstellen (scheinbar) widersprechen, welcher soll man folgen? Schon Luther behalf sich in dieser Frage mit der Idee von der „Mitte der Schrift“, als die er die Rechtfertigungslehre verstand und an der er all das ausrichtete, was nicht so recht dazu passen wollte. Bis heute ist es ein typisches Phänomen, dass jeder protestantische Theologe sich letztlich selbst darüber klar werden muss, welchem „Kanon im Kanon“ er im Zweifelsfall folgen und welche Bibelstellen er als Werkzeug benutzen will, um damit die anderen zurechtzubiegen.

Auslegungstradition der Kirche

Natürlich steht auch die katholische Theologie immer wieder vor der Herausforderung, Bibeltexte in ihrem Verhältnis zueinander zu gewichten und die einen im Licht der anderen auszulegen. Welch unschätzbaren Vorteil es dabei bietet, sich in die Auslegungstradition der Kirche stellen zu können und nicht nur der subjektiven eigenen Einschätzung folgen zu müssen, war wohl noch nie so deutlich wie heute und wir tun sicher gut daran, uns an die Mahnung des Apostels Petrus zu halten (2 Petr 1,20f.): „Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.“

Übereinstimmung mit der Lehre der Apostel

So kann aus katholischer (und altkirchlicher) Sicht kaum oft genug betont werden: das „Sola-Scriptura-Prinzip“ ist schon im Ansatz falsch und führt deshalb notwendig in die Irre. Entscheidend für die Beurteilung einer kirchlichen Lehre oder einer Frömmigkeitsübung ist nicht, ob sie eine Begründung in der Heiligen Schrift hat, sondern ob sie mit der Lehre der Apostel übereinstimmt oder ihr doch wenigstens nicht widerspricht. Die Kirche muss nicht biblisch sein, sondern apostolisch! Auch die neuen Dogmen (Unbefleckte Empfängnis und leibliche Aufnahme Marias in den Himmel, Unfehlbarkeit des Papstes) dürfen daher nicht bloß deshalb für falsch erklärt werden, weil sie nicht in der Bibel stehen. Für ernsthaft gläubige Protestanten stellt normalerweise das „Allein die Schrift“ das Haupthindernis für die Ökumene dar, weswegen sie all das, was für den Katholizismus zwar wichtig, aber nicht unmittelbar aus der Bibel ableitbar ist, ablehnen müssen. Diese Denkschablone abzulegen, wäre daher nach meiner Überzeugung der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Überwindung der Trennung – für den einzelnen Christen ebenso wie für die ganze Kirche.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] In der griechischen Sage zwängte der böse Riese Prokrustes seine Gäste in zu kurze Betten und hackte dann ab, was oben und unten überstand.

Inhalte einer neuen Evangelisierung (Teil 2)

Das Reich Gottes ist Euch nahe!

P. Mag. Johannes Paul Chavanne OCist (geb. 1983) ruft dazu auf, der ganzen pastoralen Arbeit in unseren Pfarreien wieder viel mehr den Charakter der Evangelisierung zu geben. Erforderlich sind nach ihm nicht in erster Linie neue Strukturen, sondern Eifer, Mut und das zielstrebige Verlangen, Menschenfischer zu sein. Es geht also darum, jede Möglichkeit zu nutzen, um mit Begeisterung unseren Mitmenschen den christlichen Glauben zu bezeugen. Und dabei kommt es vor allem auf die Inhalte an. Konkret und praktisch gibt Pater Chavanne die zentralen Inhalte einer neuen Evangelisierung an, wie wir sie in unserer Zeit brauchen.

Von P. Joh. Paul Chavanne OCist 

Menschfischer kann man nicht nur theoretisch sein. So möchte ich einige praktische Anregungen geben. Zunächst nenne ich einige Themen, die ich für wichtige Inhalte einer „neuen“ Verkündigung in unserer Zeit halte.

1. Gott

Jesus fordert die Apostel auf zu verkünden: „Das Reich Gottes ist euch nahe!“ (Lk 10,9). Der erste Inhalt unserer Verkündigung muss der erste und alles andere grundlegende Satz des Credos sein: Ich glaube an Gott. Es ist etwas durchaus Notwendiges, immer wieder neu dies zu bekennen: Ich glaube an Gott.

Dazu möchte ich eine kleine Geschichte erzählen, die das deutlich macht. Vor einiger Zeit war ich eingeladen, vor den Firmlingen des Dekanats Heiligenkreuz eine Katechese über die Beichte zu halten. Ich hielt meinen Vortrag, danach gingen alle zur Beichte. So weit so gut. In einer zweiten Einheit habe ich die jungen Leute eingeladen, Fragen zu stellen. Gegen Ende zeigte einer der Burschen auf und fragte – ich verwende genau seine Formulierung: „Glauben Sie, dass Gott ein echter Mensch ist, der da oben wirklich sitzt? Ich meine, glauben Sie das echt?“

Vielleicht kann man diese Frage auch als Erfolg verbuchen. Nach der Beichtkatechese, nach der Beichte, nach verschiedenen anderen Themen des Glaubens fragte dieser Mensch einfach nach Gott. Aber es zeigt: wir müssen ganz, ganz grundsätzlich in unserer Verkündigung ansetzen. Zu sagen, dass Gott existiert, dass Gott wirklich ist, dass er keine Theorie ist, sondern Person, die uns kennt und will und liebt, dass er gegenwärtig ist und wir daher auch mit ihm rechnen können, dass er handelt in unserem Leben und in der Welt. Das sind keine Selbstverständlichkeiten.

Es ist verhängnisvoll, wenn es uns nicht mehr gelingt, die Kirche in der Öffentlichkeit mit Gott in Verbindung zu bringen. Ist die Assoziation, die Menschen heute haben, wenn sie von „Kirche“ hören, dass das was mit Gott zu tun hat? Wenn vor der medialen Öffentlichkeit darüber diskutiert wird, ob zivil geschiedene und wiederverheiratete Menschen zur Kommunion zugelassen sind, dann geschieht das vor einer Öffentlichkeit, in der die meisten Menschen nicht nur nicht wissen, was Eucharistie oder was Kommunion ist und was es heißt, dass die Ehe ein Sakrament ist, sondern in der die – zumindest sehr viele – Menschen auch keine tiefgehende, persönliche Beziehung zu Gott leben. Ich denke, wir sollten uns viel mehr darum bemühen, die wesentlichen Inhalte unseres Glaubens wieder in den Mittelpunkt der Verkündigung zu rücken und verständlich zu kommunizieren!

2. Jesus Christus

Ein weiterer Inhalt der Verkündigung muss Jesus Christus sein. Der Gott, den wir verkünden, ist nicht anonym, sondern sehr konkret. In Jesus Christus ist er uns mit einem menschlichen Angesicht nahegekommen. Ich denke, dass es wichtig ist, die Faszination und die Begeisterung für Jesus in der Verkündigung weiter zu geben. In meinen Predigten versuche ich immer wieder, über die Menschlichkeit Jesu seine Göttlichkeit deutlich zu machen. Wir sollten selber über Jesus staunen. Aus den Evangelien erfahren wir so viel über ihn und in all dem will er uns Gott offenbaren, ihn uns nahebringen, ja uns letztlich mit ihm versöhnen. In allem, was wir über Jesus wissen, lernen wir zu erkennen: so ist Gott. Das sollten wir tun: Jesus den Menschen nahe bringen. Und die Menschen zu Jesus bringen. Sie hineinführen in das Staunen über ihn, das einen dann nie wieder loslässt. Vielleicht ist Evangelisierung ja gar nichts anderes als dies: Menschen zu Jesus bringen und sie damit zu dem bringen, der der Berührungspunkt ist zwischen dieser Welt und Gott. Anders gesagt: Jesus lieben lehren, in dem die „Fülle der Gottheit“ wohnt (vgl. Kol 1,19).

3. Ewiges Leben

Ich denke, dass viele Menschen heute deutlich die Endlichkeit dieser Welt spüren. Das letzte Buch von Günter Grass trägt den Titel „Vonne Endlichkait".[1] In kurzen Texten denkt er darin über die Begrenztheit des irdischen Lebens nach. Es wächst das Bewusstsein, dass das Leben aus mehr bestehen muss als nur aus materieller Absicherung, Bequemlichkeit und guter Unterhaltung. In unseren unsicheren und instabilen Zeiten wird vielleicht wieder deutlicher, wie wenig billige Ablenkung die Seele satt machen kann. Der Boom an Interesse an Spirituellem und auch Esoterischem zeigt das. Da ist es unsere Pflicht, den Menschen den Horizont des Ewigen wieder aufzuzeigen und ihnen diese Botschaft zu bringen: das Leben in Fülle erwartet uns nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch in einem Horizont, der das Diesseits überschreitet und ewig ist.

4. Barmherzigkeit

Gerade in diesem außerordentlichen Heiligen Jahr, das als „Jubiläum der Barmherzigkeit“ gefeiert wird, ist dieses Thema eines, das uns sehr begleitet. Es begleitet uns ja schon seit Papst Johannes Paul II. und auch schon davor. Gott ist barmherzig. Jesus ist Gottes Barmherzigkeit in Person. Die Kirche offenbart der Welt das barmherzige Antlitz des Vaters. Die Kirche ist das Sichtbarwerden Gottes, dessen Barmherzigkeit grenzenlos ist. Gott wartet auf jeden Menschen, um ihn mit seiner Liebe aufzunehmen, ihn zu heilen, ihn aufzurichten und neu zu machen. Deshalb bin ich mir auch sicher, dass wir große Promotion für die Beichte machen sollen. Dieses Sakrament ist wirklich ein lebensnotwendiges Organ für das Leben der Kirche. Ihre Wiederentdeckung und Verbreitung und Vertiefung wird ein Aufblühen der Kirche bringen.

5. Bekehrung

Die Verkündigung Jesu beginnt mit diesen Worten: „Kehrt um! Und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Jesus nennt die Christen das „Salz der Erde“ und warnt davor, dass dieses Salz seinen Geschmack verliert und dann zu nichts mehr taugt (vgl. Mt 5,13). Es wäre wirklich schlimm, wenn die Kirche den Mut verlieren würde, auch im Widerspruch zur Welt zu stehen. Es wäre schlimm, wenn wir nicht mehr sagen würden, dass Christus von uns verlangt umzukehren. Es wäre eine Selbstaufgabe, wenn wir uns mehr an dem Meinungsbild der Mehrheit als am Evangelium orientieren würden. Ja, wir müssen mit Milde, mit Barmherzigkeit, mit Geduld, mit echter Liebe zu den Menschen unserer Zeit sprechen, ohne zu verurteilen und auch ohne immer den Streit zu suchen. Aber wir dürfen dabei doch nicht den Anspruch des Evangeliums weginterpretieren. Ich denke, wenn wir auch manchmal mehr Mut hätten, mit Freimut und auch mit Klugheit zu widersprechen, würden wir auch vielleicht wieder mehr „Katzen hinter dem Ofen hervorholen“ – um es mit einem Sprichwort zu sagen. Die Bestätigung von dem, was man ohnehin überall vorfindet, macht uns nur langweilig und letztlich belanglos!

„Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist“ (Röm 12,2).

Ja, auch das gehört zur Verkündigung, im Leben mehr als in Worten: Jesus will ein neues Leben von uns, einen neuen Lebensstil, der sich nicht an unseren eigenen Maßstäben orientiert, sondern dessen Denken, Reden und Tun sich immer neu unter den Maßstab des Evangeliums stellt.

Ich denke, dass es wichtig ist, bei diesem Hinweis auf die „Bekehrung“ aber immer mit zu vermitteln, dass das Leben in den Spuren Jesu nicht eine zusätzliche Belastung und Verkomplizierung des Lebens ist, sondern dass es der inneren Sehnsucht des Menschen voll entspricht und ein Weg der Befreiung und der Freude ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Günter Grass: Vonne Endlichkait, Göttingen 2015.

Aktueller Beitrag zum Hochfest Mariä Himmelfahrt

Im Hochzeitsgewand der Unsterblichkeit

„Eine ‚starke‘ Mariologie, die sich gerade auf die einzigartigen Besonderheiten Mariens konzentriert; eine gesunde marianische Frömmigkeit, in der man stolz und dankbar ist, Maria als herausragende Frau ‚voll der Gnade‘, als liebevolle Mutter und mächtige Beschützerin zu kennen; eine mutige Mariologie, die nicht aus falschen Rücksichten weniger sagt, als sie könnte und sollte – das tut unserer Kirche vielerorts not.“ So schreibt Dr. Florian Kolfhaus, ein Mitarbeiter des Päpstlichen Staatssekretariats, in seinem neuen Buch über den Heimgang Mariens.[1] Er scheut sich nicht, in seine theologischen Überlegungen die vielfältigen Erfahrungen der Mystik einzubeziehen, und kommt zu dem Ergebnis, die „Entschlafung“ Mariens habe sich ohne wirklichen Tod als eine ekstatische Vereinigung mit dem dreifaltigen Gott ereignet. Die nachfolgenden Auszüge lassen erkennen, dass es sich bei dieser Frage nicht um eine Nebensächlichkeit handelt, sondern um die zentrale Botschaft der christlichen Hoffnung.

Von Florian Kolfhaus

Stark wie der Tod ist die Liebe“ (Hld 7,6), bekennt die Braut im Hohelied der Liebe. „Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen; auch Ströme schwemmen sie nicht weg“ (Hld 7,7).

Von der Schlange unberührbar

Im letzten Buch der Bibel greift der Apostel Johannes, so scheint es, dieses Bild auf, wenn er die Braut des Lammes sieht: „Eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. … Aber der Frau wurden die beiden Flügel des großen Adlers gegeben, damit sie in die Wüste an ihren Ort fliegen konnte. … Die Schlange spie einen Strom von Wasser aus ihrem Rachen hinter der Frau her, damit sie von den Fluten fortgerissen werde. Aber die Erde kam der Frau zu Hilfe; sie öffnete sich und verschlang den Strom, den der Drache aus seinem Rachen gespien hatte“ (Offb 12,1.13.15f.). Die Schlange kann die Geliebte Gottes nicht besiegen. Die Liebe ist stärker als der Tod. Die Kirche hat in der mit der Sonne bekleideten Frau nicht nur ein Bild ihrer selbst, sondern auch Mariens gesehen. Und so wenig die Pforten der Unterwelt die eine überwältigen können, so wenig vermögen Sünde und Tod die andere zu berühren (vgl. Mt 16,18). Im Blick auf Maria erkennt die Kirche umso besser, wer sie ist. Und auch wir, jeder einzelne Gläubige, sieht in der Mutter Jesu, wie Gott den Menschen eigentlich gedacht hatte: ohne Sünde und ohne Tod, fest verankert in seiner Freundschaft und Liebe.

Voll der Gnade – voller Leben

De Maria numquam satis – „Über Maria nie genug!“ Dieser mariologische Grundsatz, der wohl auf den hl. Bernhard von Clairvaux zurückgeht, bedeutet, dass über die Frau, die die Muttergottes wurde, nie genug nachgedacht und gesagt werden kann. Das Geheimnis Mariens ist in der Tat so unerschöpflich, dass nicht nur die theologische Reflexion, sondern auch die fromme Betrachtung an kein Ende kommen kann. Maria ist ein Geschöpf, das seinen Ursprung und sein Sein ganz Gott verdankt, und doch ist sie die einzige Kreatur, die den Ewigen „mein Kind“ nennen kann. Sie ist keine Göttin, wohl aber „voll der Gnade“ (Lk 1,28) – vom ersten Moment ihres irdischen Lebens, in dem sie empfangen wurde, ohne die Schuld Adams zu erben, bis hin zu ihrem letzten, in dem sie in die Mitte der allerheiligsten Dreifaltigkeit erhoben wurde. „Voll der Gnade“, das bedeutet „voll der Liebe“, „voller Leben“, „voller Freude“.

Frage nach dem Tod Marias

Wenn über Maria nie genug nachgedacht werden kann, so muss gerade auch jener Augenblick näher betrachtet werden, der ihren Abschied von dieser Welt bedeutete. Weder dem Theologen, der besser zu verstehen sucht, noch dem Beter, der durch das tiefere Erkennen mehr zu lieben erhofft, kann die Frage unwichtig erscheinen, ob Maria gestorben ist oder nicht. Traf Maria das Schicksal aller Kinder Evas, deren Sünde den Tod in die Welt gebracht hat? Musste die Mutter Jesu sterben oder wollte sie es, um so auch in diesem Schmerz dem Sohne ähnlich zu sein? Oder war es gar keine qualvolle Trennung der Seele vom Leib, sondern ein friedliches Entschlafen? Ist Maria bestattet worden und auferstanden – vielleicht am dritten Tag wie Christus? – oder ist sie nur einen Moment lang „tot“ gewesen, um dann sofort in der Einheit von Leib und Seele verklärt und entrückt zu werden? Oder gab es vielleicht gar keinen Tod und daher auch keine Grablegung und Auferstehung, sondern einen Heimgang, wie Gott ihn für alle gewollt hatte, wenn nur Adam und Eva nicht gesündigt hätten?

Erfüllung der großen Verheißung

Das Lehramt der Kirche hat die Frage, ob Maria gestorben ist oder nicht, bislang offengelassen. Jeder Katholik darf sich daher eine eigene Meinung dazu bilden. Darüber nachzudenken – ohne zu einem definitiven und verbindlichen Urteil zu kommen, das weder dem Theologen noch dem Mystiker zusteht – lohnt sich, um das Geheimnis Mariens und die darin verborgenen Wahrheiten unseres Glaubens tiefer zu verstehen. Der Blick auf die Mutter Jesu, die mit Leib und Seele zur Vollendung gelangt ist, die wir alle erhoffen, lenkt sowohl den Wissenschaftler als auch den Beter zur Betrachtung der Herrlichkeit, die darin besteht, Gott zu schauen, wie er ist. In Maria sehen wir gleichsam die Erfüllung der großen Verheißung, zu der jeder Mensch mithilfe der Gnade gelangen soll. Und so stellt sich die Frage nach dem Plan Gottes mit seinen Geschöpfen, die er nicht ins Dasein gerufen hat, um sie dem Nichts entgegengehen zu lassen, sondern einem Leben in Fülle (vgl. Joh 10,10). Gott wollte weder Sünde noch Tod, sondern Liebe und Leben.

Assumpta – der vollkommene Sieg

Beides – Liebe (ein anderes Wort für Gottes Gnade) und Leben – ist in Maria in vollkommener Weise zu finden. Christus ist gestorben, damit sie frei ist von Sünde und – das ist die positive Wendung derselben Aussage – „voll der Gnade“, voll des Lebens. Weil er gestorben ist, musste sie nicht sterben. Weil er für uns zur Sünde geworden ist (vgl. 2 Kor 5,21), kannte sie die Sünde nicht, aber litt und starb doch auf mystische Weise mit dem Sohn auf Golgotha. Hätte sie ein zweites Mal „sterben“ sollen? So führt der Blick zur Assumpta auch zur Schmerzensmutter und zur Frage der Erlösung, die der neue Adam mithilfe der neuen Eva am Holz des Kreuzes gewirkt hat. Die Aufnahme Mariens in den Himmel ohne Tod ist die Vollendung ihrer Empfängnis ohne Sünde und damit der vollkommene Sieg über den alten Feind, der im Paradies triumphiert hatte, auf Golgotha aber entmachtet worden ist. Mag er der Geliebten Gottes auch mächtige Fluten entgegenspeien, das Feuer der Liebe ist stärker als Sünde und Tod (vgl. Offb 12; Hld 7).

Die These von der Unsterblichkeit Mariens ist im Letzten ein Bekenntnis zur Liebe, die mächtiger ist als der Tod; sie ist ein Bekenntnis zum Leben, das Gott in Fülle schenkt. Wenigstens in einer menschlichen Person sollte sich diese Kraft in vollem Sinne zeigen und derjenigen, die Tochter, Mutter und Braut Gottes ist, Eintritt gewähren in die Herrlichkeit Gottes; er, der das Leben und die Liebe wahrhaft in sich selbst ist.

Vollendung des irdischen Lebenslaufs

Die sogenannten Mortalisten sind der Überzeugung – und diese war für lange Zeit in der Theologie dominierend –, dass Maria gestorben, auferstanden und dann in den Himmel aufgenommen worden sei. Manche von ihnen negieren die Grablegung, meinen aber, dass sich die Seele Mariens zumindest für eine mehr oder weniger kurze Zeit vom Leib getrennt habe. Die Immortalisten, deren Zahl in den letzten hundertfünfzig Jahren immer weiter gewachsen ist, sind der Ansicht, dass Maria den Tod aufgrund des Privilegs ihrer Bewahrung vor der Erbsünde nicht habe erleiden müssen und daher lebend von der Erde zum Himmel übergegangen sei, so wie es für alle Menschen der Fall gewesen wäre, wenn die Stammeltern nicht gesündigt hätten. Zur Stützung dieser These gibt es eine Reihe von Argumenten, die es wert sind, näher betrachtet zu werden. Die immer größer werdende Zustimmung unter den Theologen für die These der Immortalisten verdankt sich den beiden letzten Mariendogmen, also jenem der Unbefleckten Empfängnis im Jahr 1854 und dem der Aufnahme Mariens in den Himmel, bei dem Papst Pius XII. nicht vom Tod spricht, sondern den Begriff wählt: „Vollendung des irdischen Lebenslaufs“.

Hochzeitsgewand der Unsterblichkeit

Meiner Ansicht nach ist die Position der Immortalisten weit angemessener. Wir wissen aus dem Glauben, dass es in Maria kein debitum moriendi gab, d.h. die Notwendigkeit, wie alle „Sterblichen“ eines Tages den Tod zu erleiden. Die Gottesmutter ist im Hinblick auf die Verdienste Christi vor der Erbsünde bewahrt geblieben und musste somit die bittere Frucht der Sünde, also den Tod, nicht kosten. Warum sollte sie tatsächlich gestorben sein? Die Jungfrau Maria stellt vielmehr die vollkommene Menschheit dar, so wie sie vom Schöpfer ursprünglich gewollt war. In ihr hat Jesus seine Sendung als Erlöser, ja als Redemptor perfectissimus, vollendet. Die Aufnahme der unbefleckten Jungfrau ist nicht nur der triumphale Eintritt der Gottesmutter mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit, sondern auch der Augenblick, in dem die Kirche erkennt, dass ihr Unzerstörbarkeit und ewiges Leben verheißen ist. Es ist erlaubt zu glauben, dass Maria in diesem letzten Moment ihres Lebensweges nicht das „Kleid des irdischen Todes“ angelegt hatte, sondern das Hochzeitsgewand der Unsterblichkeit, um so Sinn- und Vorbild aller zu sein, die zum Mahl des Lammes geladen sind.[2]

Zeichen „des neuen Himmels und der neuen Erde“

Maria ist bei Gott. Ich glaube, dass ihr Weg dorthin nicht durch den Tod geführt hat, sondern dass ihr Leib und ihre Seele in ungetrennter personaler Einheit durch eine Ekstase, die sie zu Gott getragen hat, verwandelt wurden. In ihrer Bewahrung vor der Erbschuld im ersten Moment ihres irdischen Lebens und vor ihrer Folge, d.h. dem Tod im letzten Augenblick in dieser Welt, erfüllt sich die Verheißung der Vorzeit: Ipsa conteret caput tuum („Sie wird dir den Kopf zertreten.“) (vgl. Gen 3,15). Das ist das „Protoevangelium“, die erste Frohe Botschaft vom Erlöser und seiner Mutter. Christus hat in Maria, die unbefleckt und unsterblich geblieben ist, den totalen Sieg über den alten Feind errungen, der mit der Sünde den Menschen auch unter das Joch des leidvollen Sterbens gebracht hat. Die Mutter Jesu erstrahlt dagegen als das sichere Zeichen eines „neuen Himmels und einer neuen Erde“, in der der Tod nicht mehr sein wird; ein neues Land, in dem zu leben wir als Kinder Gottes und Mariens berufen sind.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Florian Kolfhaus: Stärker als der Tod – Warum Maria nicht gestorben ist. Geb., 160 S., 14,95 Euro (D), 15,40 Euro (A), Bestelladresse: Media Maria, Postfach 4040, D-89254 Illertissen, E-Mail: buch@media-maria.de, Tel. 07303-9523310, www.media-maria.de
[2] Vgl. Tibor Gallus: Starb Maria, die Makellose?, 66.

Glaubensfest im Geist der Neuevangelisierung

Lichterprozession Ostenland

In der katholischen Kirchengemeinde St. Joseph, Ostenland, im Erzbistum Paderborn findet seit 2010 jedes Jahr am Sonntag nach dem Hochfest Mariä Himmelfahrt eine feierliche Marienweihe mit Lichterprozession statt. Das Glaubensfest, das weit über die Grenzen des Erzbistums hinaus bekannt geworden ist, führt jährlich bis zu 2000 Gläubige zusammen. Seinen Bericht über diese „geistliche Initiative“ versteht Pastor Daniel Jardzejewski als Impuls zur Neuevangelisierung.

Von Daniel Jardzejewski

Mystagogische Prozession

In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Kirchengemeinde Ostenland am Vormittag des Sonntags nach Maria Himmelfahrt jeweils vor dem Hochamt eine Sakramentsprozession um die Kirche herum durchgeführt. Doch waren immer weniger Menschen der Einladung zur Prozession gefolgt. Der Ursprung dieser Tradition reicht in weit vergangene Zeiten zurück. Ihre Form und liturgische Bedeutung wurden nicht mehr verstanden und konnten nicht mehr mit Leben erfüllt werden.

In einem gemeinsamen Gespräch mit dem Pfarrgemeinderat wurde beschlossen, die morgendliche Prozession fallen zu lassen und an deren Stelle am Abend eine mystagogische Prozession einzuführen. Dabei wurde die Idee einer Lichterprozession geboren und schließlich in der Pfarrei kommuniziert. Sie fand gutes Echo bei den Gemeindemitgliedern.

Unter dem Schutz Mariens

Vor der Lichterprozession findet eine Marienfeier mit Weihe an die Gottesmutter in der Kirche statt, die zu diesem Anlass feierlich geschmückt und so als Mittelpunkt des gemeindlichen Lebens in die Feier eingebunden wird.

Es entwickelte sich der Gedanke, das Dorf und die Kirchengemeinde unter den Schutz der Gottesmutter zu stellen, um ihr die Zukunft des Glaubens zu übergeben und um ihren Schutz und Segen für die Lebendigkeit des Glaubens zu bitten. Aus diesem Anlass erwarb die Kirchengemeinde durch eine Spende ein großes kostbares goldenes Votivherz aus dem Jahr 1853. Dieses Herz ruht seit dem 15. August 2010 in den Händen der Gottesmutterstatue in der Pfarrkirche zu Ostenland. Die Statue, eine lebensgroße Darstellung der Gottesmutter mit dem Jesuskind auf dem linken Arm, mit einem goldenen Strahlenkranz versehen, hält dem Beter ihre rechte geöffnete Hand entgegen. Die Statue stammt aus dem Jahr 1939 vom Bildhauer Hartmann aus Wiedenbrück. Die geöffnete Hand ist nun der Ort, an dem das goldene Votivherz steht. In diesem sind seit dem Jahr 2010 über 10.000 Namen von Menschen verzeichnet worden, die im Herzen der Gottesmutter ihren Namen wissen wollten – darunter Menschen aus Australien, Kanada, den USA, Frankreich, Italien und Polen. Auch ein Bischof aus Peru hat sich und seine Diözese ins Herz der Gottesmutter eingetragen. Das Bild der Gottesmutter mit dem goldenen Herzen hat sich rasch verbreitet. Die „Madonna mit dem goldenen Herzen“ ist binnen kürzester Zeit zu einer Identifikationsfigur für unzählig viele Menschen geworden, die auch an normalen Tagen des Jahres nach Ostenland kommen, um vor der Gottesmutter zu beten und eine Kerze zu entzünden.

Die Marienweihe wird geistlich durch eine Novene vorbereitet. An den neun Tagen vor der Erneuerung der Marienweihe versammeln sich die Menschen täglich in der Pfarrkirche zum gemeinsamen Gebet und stimmen sich so innerlich auf den Weiheakt ein.

Ablauf des Glaubensfestes

Der Glaubensabend am Sonntag nach Maria Himmelfahrt beginnt um 19 Uhr mit einer Andacht zur göttlichen Barmherzigkeit, während der die Möglichkeit zur Beichte und zum persönlichen Empfang eines Primizsegens gegeben ist. Beide Möglichkeiten sind seit der ersten Stunde Bestandteil dieses Glaubensfestes. 2010 verweilte bereits Stunden vor Beginn der Feier eine große Zahl von Menschen beim stillen Gebet in der Kirche. Deshalb entwickelte sich schon im zweiten Jahr der Wunsch, der Marienweihe eine eucharistische Stunde vorzuschalten. Diese zweite Andacht beginnt um 20 Uhr und schließt mit dem eucharistischen Segen. Danach werden die Andachtsgegenstände gesegnet.

Seit 2011 nimmt jedes Jahr ein Mitglied der Bistumsleitung der Erzdiözese Paderborn – meist ein Weihbischof –  an der Erneuerung der Marienweihe teil. Die liturgische Feier, die um 21 Uhr beginnt, wird vom Weihbischof geleitet. An ihr nehmen weit mehr als 2000 Menschen – darunter viele Priester, Diakone und Seminaristen – teil, dazu Standarten, Fahnen und Banner aller dörflichen Vereine sowie der Umgebung.

Im Anschluss an die feierliche Marienweihe, die musikalisch vom Kirchenchor und dem Musikverein Ostenland mitgestaltet wird, zieht eine beeindruckende Lichterprozession durch den Ort. Die Straßen werden von hunderten Kerzen, Fackeln und Lichterbögen erleuchtet. Während der Prozession wird der Rosenkranz gebetet und die Gesänge werden mitsamt dem Orgelspiel aus der Pfarrkirche in das gesamte Dorf übertragen. Die Prozession zieht zur gekrönten Madonna – einem Abbild der Madonna aus Lourdes – im Pfarrgarten, wo der Weihbischof den Segen erteilt. Von dort zieht die Prozession zurück zur Pfarrkirche, die bis in die späten Nachtstunden ein Ort des stillen Gebets unzähliger Menschen bleibt.

Nach der Prozession gibt es die Möglichkeit, seinen Namen in eine Liste einzutragen, damit dieser im Anschluss in das genannte Herz Mariens eingefügt werden kann.

Am Morgen danach wird um 9 Uhr eine Dankmesse gefeiert.

Engagement für das Reich Gottes

In den Wochen vor der Lichterprozession sind mehr als 300 Menschen damit beschäftigt, das Glaubensfest vorzubereiten. Da Ostenland an diesem Abend zu einem Ort der Neuevangelisierung wird, bereiten die Vereine und viele engagierte Laien das Ereignis mit viel Herzblut und Liebe vor. Lichterbögen werden gekränzt und über den Straßen aufgestellt, Lieder werden einstudiert und für diesen Abend sogar eigens komponiert, Parkplätze ausgewiesen und ein großes Zelt aufgestellt, das mehreren hundert Betern zusätzlich zur Pfarrkirche Platz bietet. Eine moderne Beschallungsanlage ermöglicht es, auf dem gesamten Prozessionsweg das Beten und Singen aus der Pfarrkirche zu übertragen. Die Malteser bieten die Möglichkeit, alte und gehbehinderte Menschen in Rollstühlen zu begleiten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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