Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Papst Franziskus nimmt immer wieder Bezug auf seinen Vorgänger Paul VI., den er als prophetische Gestalt verehrt. Ihn hat er am 19. Oktober 2014 selig- und am 14. Oktober 2018 heiliggesprochen. Was schätzt Franziskus an ihm so sehr?

„Voller Staunen habe ich diese Briefe Pauls VI. gelesen. … Angesichts einer in schwindelerregender Veränderung begriffenen Gesellschaft hat sich Paul VI. seiner Verantwortung nicht entzogen.“ Mit diesen Worten kommentierte Papst Franziskus eine Sammlung von Dokumenten, die ihm im Zusammenhang mit dem Selig- und Heiligsprechungsverfahren vorgelegt worden war.

Paul VI. war der „Konzilspapst“ schlechthin. Als er 1963 zum Papst gewählt wurde, waren noch keine Beschlüsse gefasst. Unter seiner Verantwortung reiften die Dokumente heran, die er schließlich in Kraft setzte. Mit großer Weitsicht stellte er sich der Aufgabe, die Konzilsbeschlüsse in den verschiedensten Bereichen des kirchlichen Lebens umzusetzen. Kaum ein Papst hatte je zuvor in der Geschichte der Kirche eine so umfassende Reform durchgeführt wie er. Im Rückblick strahlt seine Größe immer deutlicher auf. Denn zu Lebzeiten war er verkannt, ja von den unterschiedlichsten Kreisen verhöhnt und verachtet, nicht zuletzt wegen „Humanae vitae“ und „Persona humana“, Dokumente, in denen es um die Sexual- und Ehemoral geht. In unerschütterlicher Treue zum „depositum fidei“, dem überlieferten Glaubensschatz der Kirche, wagte er sich auf die stürmische See der modernen Welt hinaus. Obwohl er zwischen den Mühlsteinen extremer Lager in der Kirche wie der Bewegung von Erzbischof Marcel Lefebvre oder den Vorstößen der holländischen Bischöfe fast aufgerieben wurde, hielt er an seinem missionarischen Konzept fest.

Und dieses Gespür für die Erfordernisse der modernen Gesellschaft, in der alles in Bewegung geraten war, man denke nur an die 68er Revolte, seine Bereitschaft, auf die Menschen zu hören und zu spüren, was sie bewegt, sein Bemühen, die Zeichen der Zeit zu erkennen und die Evangelisierung an den neuen Möglichkeiten auszurichten, eben das nimmt sich Papst Franziskus zum Vorbild. Wer sich das Erbe des Pontifikats Pauls VI. genauer ansieht, seine richtungsweisenden Enzykliken, die letztlich alle in einem Bezug zum Zweiten Vatikanischen Konzil stehen, seine apostolischen Schreiben, aber besonders auch seine Ansprachen bei den Generalaudienzen, der kann atemberaubende Entdeckungen machen.

2018 erschien ein Buch von Leonardo Sapienza, das der Patmos Verlag noch im selben Jahr auch auf Deutsch herausbrachte. Es trägt den Titel: „Papst Paul VI. – Segeln im Gegenwind. Dokumente eines bewegten Pontifikats“. Dieses aufschlussreiche Werk hat uns angeregt, als Titelbeitrag für diese Ausgabe zwei Ansprachen des hl. Papstes Paul VI. auszuwählen, nämlich aus den Jahren 1969 und 1974.

Sie sind eine wunderbare Antwort auf das Ringen um den „Synodalen Weg“, den die deutschen Bischöfe eingeschlagen haben. Einerseits ermutigen sie dazu, sich ehrlich über die Zukunft der Kirche Gedanken zu machen, andererseits aber zeigen sie klar die Gefahren und Grenzen von Reformen auf, damit sie am Ende nicht genau das Gegenteil bewirken und zerstörerische Kräfte heraufbeschwören. Es sind prophetische Worte von überraschender Aktualität, die wir uns zu Herzen nehmen sollten.

Liebe Leser, wir bitten Sie aufrichtig um eine großherzige Unterstützung, damit wir unser Apostolat fortsetzen können (IBAN: DE84 7106 1009 0000 0222 84; GENODEF1AOE). Schon jetzt danken wir Ihnen von Herzen und wünschen Ihnen zum Rosenkranz-Monat auf die Fürsprache Mariens Gottes reichsten Segen.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Prophetische Worte Pauls VI. für unsere Zeit

Was die Kirche braucht

Die Ansprachen, die Papst Paul VI. bei den wöchentlichen Generalaudienzen gehalten hat, sind einzigartige Zeugnisse seines Pontifikats. Denn er bot den Gläubigen nicht nur katechetische Ausführungen dar, sondern ließ sie an seinem persönlichen Ringen um den richtigen Weg der Kirche in die Zukunft teilhaben. Er gab Einblick in die aktuellen Vorgänge, in seine Leiden und Kämpfe, in seine Ideen und Pläne. Am 21. Januar 1976 beispielsweise kam er auf das „unverschämte und frevelhafte Eindringen einer lärmenden Menschengruppe in den Mailänder Dom“ zu sprechen und fuhr fort: „Warum diese unerhörte und erbärmliche Kundgebung? Angeblich, weil die Kirche gegen die Abtreibung ist, weil die Kirche ihre Haltung zur Sexualmoral neuerlich bekräftigt hat.“ In den beiden nachfolgenden Ansprachen, die er im Abstand von fünf Jahren gehalten hat, nämlich am 17. September 1969 und am 6. November 1974, begann er jeweils mit derselben Frage: Was braucht die Kirche? Seine Überlegungen und Appelle sind höchst aktuell.

Von Papst Paul VI.

Was braucht die Kirche heute? Das ist die Frage, die wir in der Ausübung unseres apostolischen Dienstes immer vor Augen haben, eine Frage, die angesichts der derzeitigen Situation der Kirche nicht mit einer einfachen und eindeutigen Antwort zufriedenstellend geklärt werden kann.

Sie braucht, so haben wir es in einer früheren Audienz gesagt, neues Selbstvertrauen; wir meinen damit das Vertrauen in die göttlichen Verheißungen und Charismen, die sie in sich trägt; in das Erbe der Wahrheit, das, durch die authentische Tradition übermittelt, der eigentliche Grund ihres Lebens und Wirkens ist; in ihr konstitutionelles und mystisches Gefüge, dem Christus wahre Authentizität und unvergängliche Ewigkeit verliehen hat; in ihre Fähigkeit, die zerbrochene Einheit der einen, weltumspannenden christlichen Familie wiederherzustellen; in die Gültigkeit und Gewandtheit ihres pastoralen Handelns, das den Faden des alten und neueren christlichen Brauchtums mit dem Gewebe ihrer kirchlichen Erneuerung zu verknüpfen vermag, die die Zeiten nahe- und in gewisser Hinsicht auch auferlegen; in ihre Sendung, für die Welt von heute und morgen offen und Zeichen und Werkzeug für die gesamte Menschheit zu sein.

Sie braucht die Umsetzung des Konzils; sie braucht die vollständige Wiederherstellung ihrer inneren Einheit, Eintracht, Disziplin und Freude; sie braucht eine organische Überarbeitung ihrer Liturgie, wie sie bereits im Gange ist; sie braucht einen neuen und überdachten Kodex ihrer Gesetzgebung, wie er gerade, wenn auch mühsam, in Angriff genommen wird; sie braucht ein erneuertes Bekenntnis zu ihrer im Evangelium wurzelnden Berufung der Liebe und Heiligkeit; sie braucht eine neue pastorale und missionarische und ökumenische Wirksamkeit; sie braucht – und gebe Gott, dass wir gehört werden! – einen neuen, belebenden Schwall an Heiligem Geist!

Doch die Schwierigkeiten sind zahlreich, das sehen alle. Das Konzil hat der Kirche vielfältige und lebhafte Impulse versetzt, die aber nicht alle in die richtige Richtung wiesen, das heißt auf den Aufbau der Kirche Gottes ausgerichtet waren; sodass nun nicht wenige Anzeichen eher darauf hindeuten, dass für die Kirche selbst schweres Unheil zu erwarten ist. Einige davon – wie etwa eine gewisse Sinnbeugung der rechtgläubigen Lehre in einigen Schulen und bei einigen Gelehrten – haben wir selber aufgezeigt.

Und jeder sieht, wie sehr es die religiöse Wahrheit und die Heilswirksamkeit unserer Religion gefährdet, nur den menschlichen und sozialen Aspekt zu berücksichtigen und darüber den primären, heiligen und göttlichen Aspekt des Glaubens und des Gebets zu vernachlässigen.

So kann man nicht ohne Besorgnis beobachten, mit welcher Leichtigkeit gegen jene Tugend des kirchlichen Gehorsams verstoßen wird, ein Prinzip, dem in dem von Christus vorgesehenen Plan für die Stabilität und die Entwicklung seines mystischen und sichtbaren Leibs – eben der Kirche – wesentliche Bedeutung zukommt.

Vielleicht ist man auch in dem an sich lobenswerten Bemühen, den Priester in das soziale Gefüge zu integrieren, mit der vollständigen Säkularisierung seiner Kleidung, seiner Denk- und Lebensweise zu weit gegangen, durch die man ihn auf den Weg der zeitlichen Rivalitäten, der nicht der seine ist, zurückgetrieben und somit in seiner Berufung und Funktion als Diener des Evangeliums und der Gnade geschwächt hat; sein Zölibat ist allzu frei zur Diskussion gestellt worden; und allzu sehr wird an der Kraft der christlichen Askese und an der Unumkehrbarkeit der vor Gott und der Kirche eingegangenen heiligen Verpflichtungen gerüttelt; und vielleicht hat man auch allzu sehr auf übertriebene Formen der Öffentlichkeit – Umfragen, irreguläre Experimente, Druck der öffentlichen Meinung – zurückgegriffen, als dass der richtige Weg der Erneuerung mit Verantwortungsbewusstsein und mit dem Licht der katholischen Weisheit hätte gefunden werden können.

Es wird Zeit brauchen, um das herauszufiltern, was auch an diesen unruhigen oder abirrenden Ausdrucksformen des katholischen Lebens an Gutem sein kann, und sie in die Harmonie mit hineinzunehmen, die diesem (dem katholischen Leben; Anm. d. Übers.) eigentümlich ist.

Manche haben sogar davon gesprochen, dass es auseinanderfalle; wir sind nicht dieser Meinung und bekräftigen noch einmal unser Vertrauen in den Beistand Christi und in die Hilfe der Guten.

Doch was geschieht unterdessen? Ebendies: Wir wollen die Hilfe der guten Söhne und Töchter der Kirche in Anspruch nehmen. Ihrer Hirten insbesondere; wir täten ihnen Unrecht, wenn wir auch nur den Hauch eines Zweifels an ihnen hegten.

So machen wir die Erfahrung, dass unzählige unserer Priester ihrer Berufung und ihrem Dienst in der Kirche Gottes treu sind.

Gleiches sagen wir von den Ordensmännern und Ordensfrauen, die unverbrüchlich an ihren Statuten und am Geist der Heiligen festhalten, die Ursprung und Vorbild ihrer jeweiligen Institute sind.

Ebenso erhoffen wir einiges vom katholischen Laienstand, der in dieser jüngsten Vergangenheit der Kirche der großzügige und einfallsreiche Sauerteig ihres Wiederauflebens nach den entsetzlichen Irrfahrten der modernen Geschichte gewesen ist; von den Jugendlichen insbesondere, an die wir stets mit grenzenloser geistlicher Sympathie denken.

Großes Vertrauen setzen wir ferner in die verständnisvollen und schweigsamen Seelen, die mit ihren Bischöfen und mit uns beten und hoffen und leiden und die in sich selbst die neue Kirche, die lebendige Kirche, die heilige Kirche wiedergebären.

Uns tröstet das Wissen, dass diese Seelen in keiner bürokratischen Statistik erfasst, aber überaus zahlreich und über die ganze Welt verbreitet sind; und sie sind in einem Zustand der Erwartung: jener Erwartung, die die Kirche voranschreiten lässt auf ihrer eschatologischen Pilgerfahrt und ihrem mühsamen Aufstieg zur Heiligkeit ihrer Mitglieder, die der ihres göttlichen Ursprungs gleicht.

Aber wir wollen diese Gelegenheit, die uns mit Gruppen von besonderer apostolischer Tatkraft zusammenbringt, nicht versäumen und ihnen und allen, die einer ähnlichen Inspiration folgen, sagen, dass wir in solche Gruppen große Hoffnungen setzen.

In ihnen sehen wir das Wort des Herrn gespiegelt: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde…!“ (Lk 12,32). Nicht auf die Menge kommt es an, sondern auf die Inbrunst, die Hingabe, den Geist.

Gleichwohl können die sogenannten spontanen Gruppen auch fragwürdig sein, wenn sie unter sich bleiben, eigenmächtig handeln und womöglich sogar die Gemeinschaft und die verantwortliche Autorität in Abrede stellen, wo es doch providentiell sein könnte, wenn sich Menschen zusammenfinden, die eine strenge und geordnete Vorbereitung auf das innere Leben und das äußere Apostolat akzeptieren, sich der missionarischen Aktivität in unserer Welt oder in jener fernen Welt der Missionen im engeren Wortsinn widmen und mit apostolischem Mut und prophetischer Weisheit Zeit, Mühe und Herz darauf verwenden, in den tausend Formen, die ihnen das moderne Leben in seiner Wandelbarkeit vorlegt, Christus zu verkündigen.

Vorrang haben in dieser escalation des Apostolats natürlich das Wort, der heilige Dienst, die Schrift, die Nächstenliebe. Doch vergessen wir nicht: Es muss ein in gewisser Weise kollektives und organisiertes Apostolat sein, das von der Kontemplation und der Treue zur Kirche gespeist und mit freudiger Aufopferung und einem gewissen Wagemut gelebt wird.

Sagen wir es ruhig: Die Kirche braucht heute diese freiwilligen und disziplinierten Kräfte. Sie braucht starke Seelen, die das Kerygma des Heils ausstrahlen.

Die Kirche braucht Liebe

Noch einmal wollen wir uns die Frage stellen: Was braucht die Kirche heute? Unsere Antwort lautet diesmal: Die Kirche braucht Liebe!

Das betrifft verschiedene Kreise, zunächst jene, die aus einem Vorurteil heraus gleichsam instinktiv die Kirche ablehnen. Ihre Zahl ist bereits Legion. Von ihnen gehen Ablehnung, Verneinung, Atheismus und Antiklerikalismus aus oder, wie man heute gerne sagt, der Säkularismus – gewiss keine Liebe, sondern Abneigung und sogar Hass, als stellte die Kirche eine Seuche, eine Gefahr für die Menschheit dar.

Das Pathologische solchen Verhaltens reicht vom typischen Voltairianer Homais (bei Flaubert) bis hin zu dem anonymen Fanatiker, von dem Jesus selbst spricht: Er ist überzeugt, Gott eine Ehre zu erweisen, wenn er die Jünger Christi dem Tod überantwortet (Joh 16,2).

Diese Feindschaft gegen die Jünger Christi, also gegen die Kirche, hat eine lange Geschichte, die der weltlichen Geschichte parallel läuft. Es ist die Geschichte aller Verfolgungen. Es ist auch das vom Sohn Gottes vorbestimmte Schicksal. Er ist zum Mitbürger der Menschheit geworden. Diese aber wandte sich gegen ihn und machte ihn zur Zielscheibe ihres Widerspruchs: „signum cui contradicetur“ – „Er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird“ (Lk 2,34). Ein Schicksal, das sich vom Haupt auf die Glieder, also auf alle Gläubigen ausdehnt, welche den mystischen Leib Christi bilden (vgl. Kol 1,24).

Müssen wir also alle Hoffnung aufgeben, dass von diesem Heer von Kirchengegnern jemals ein Zeichen der Reue, der Gerechtigkeit, der Liebe kommt?

Wird dem Bedürfnis – wir möchten lieber sagen dem Recht – der Kirche, anerkannt zu werden als das, was sie ist und was sie zur Ehre Gottes und dem Wohl der Menschen tut, niemals Genüge geleistet werden?

Nein, wir brauchen nicht verzweifeln. Denken wir an den hl. Paulus, der gleichsam einen Modellfall unter vielen anderen darstellt. Seine Bekehrung lehrt uns, wie mächtig und beglückend das Wirken der Gnade sein kann, sodass er schließlich von sich selbst schreiben konnte: „Ich bin der Geringste von den Aposteln; ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe“ (1 Kor 15,9; 1 Tim 1,15; Gal 1,13; Apg 26,9-20).

Und noch ein weiteres Zeugnis hat er von sich selbst gegeben: „Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; so lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,19-20). Und Paulus ist es auch, der sich in einer unvergleichlichen Selbstbiographie verteidigt (vgl. 2 Kor 11,22-12,10).

Nun wollen wir uns einer anderen Gruppe von Gesprächspartnern zuwenden, nämlich jenen Christen, Katholiken und sogar Mitbrüdern, die offenbar vergessen haben, dass die pilgernde und leidende Kirche besonders heute ihre kindlich treue Liebe braucht. Und so vernachlässigen sie die Pflicht, die ihnen durch Erziehung, Freundschaft und Berufung auferlegt ist, der Kirche in überzeugenderer Weise, als sie es im Augenblick tun, ihre Liebe zu beweisen, ei-ne überströmende Liebe, derer sie doch fähig wären.

Gemeint sind jene Mitbrüder, die ihren Platz im Haus des Herrn verlassen haben. Brüder und Söhne, die das positive Zeugnis, welches das Volk Gottes von ihnen erwartete, verfälscht haben in die arrogante Haltung von Richtern und Kritikern der immer heiligen Kirche Gottes. Weil sie sich bisweilen das Recht zu einer freizügigen Prüfung ihrer Lehre und ihres Lebens herausnehmen, ordnen sie sich ohne Widerspruch in die Reihen der Widersacher der Kirche ein, von der sie sich in Bitterkeit und keineswegs aus Liebe stillschweigend getrennt haben. Vielleicht behaupten sie, in der kirchlichen Gemeinschaft bleiben zu wollen, aber nicht um deren Freuden und Leiden zu teilen, sondern um sie zu „reformieren“ oder vielmehr, um die Ordnung der Kirche auf ihre eigene Weise zu zerstören.

Ja, wir möchten diese Brüder und Söhne wieder bei uns haben und uns nahe wissen, um zusammen mit ihnen die Kirche zu lieben, unsere Kirche, die uns allein zur Fülle Christi führt.

Wenn die katholische Einheit innerhalb der Kirche geschwächt oder gar zerbrochen ist, wie wollen wir dann die ökumenische Einheit der Kirche wiederherstellen?

Wenn uns die Solidarität und Mitarbeit solcher Brüder und Söhne fehlt, die mit der Kultur und den Problemen der heutigen Welt vertraut sind, wie sollen wir dann den Menschen unserer Zeit eine überzeugende Botschaft des Friedens und der Erlösung mitteilen können?

Wir müssen also notwendig alle unsere Liebe zur Kirche steigern, damit sie würdiger wird, von denen geliebt zu werden, die sie noch nicht kennen, oder von denen, die zwar ihre menschlichen Fehler kennen, aber nichts von der Kraft des Vertrauens in das Evangelium wissen; von denen, die Leiden und Not der Kirche sehen, aber nicht das in ihrem irdischen Antlitz verborgene göttliche Geheimnis erahnen, das die Schönheit Christi selber widerspiegelnd Liebe weckt: „Er hat die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben“ (Eph 5,25-26).

Eine Kirche aber, die auf solche Weise geliebt wird, verdient auch einen Namen, der dieser Liebe entspricht, den Namen: Braut Christi (vgl. 2 Kor 11,1-3; Eph 5,21-22; Offb 19; 21). Müssen wir nicht die Kirche lieben, weil sie von Christus geliebt worden ist?

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Ich habe den Glauben bewahrt

Am 6. August 1978 ist Papst Paul VI. an den Folgen eines schweren Herzinfarktes gestorben. Noch am 29. Juni hatte er zum 15. Jahrestag seiner Papstkrönung eine Predigt gehalten, in der er auf sein gesamtes Pontifikat zurückblickte. Ein Auszug aus seiner Homilie.

Von Papst Paul VI.

„Fidem servavi“! („Den Glauben habe ich bewahrt!“), können wir heute sagen aufgrund unserer demütigen und zugleich festen Überzeugung, niemals die heilige Wahrheit (A. Manzoni) verraten zu haben.

Um diese Überzeugung zu stützen und unserer Seele Trost zu spenden, da wir uns beständig auf die Begegnung mit dem gerechten Richter vorbereiten (2 Tim 4,-8), erinnern wir uns an einige wesentliche Dokumente dieses Pontifikates, die gleichsam einzelne Etappen auf dem Weg unseres leidvollen Dienstes an der Liebe, am Glauben und an der Kirchenordnung darstellen: in der Reihe der Enzykliken und der päpstlichen Schreiben ist als erstes Ecclesiam suam (1964) zu nennen, das zu Beginn des Pontifikates die Grundlinien für das Handeln der Kirche im eigenen Bereich und für ihren Dialog mit den getrennten Brüdern, mit den Nichtchristen und den Nichtglaubenden aufzeichnet; dann Mysterium fidei (1965) über die Lehre der heiligen Eucharistie; Sacerdotalis caelibatus (1967) über die volle Selbsthingabe, die das Charisma und den Auftrag des Priesters auszeichnet; Evangelica testificatio (1971) über das Zeugnis, das das Ordensleben in vollkommener Nachfolge Christi heute vor der Welt ablegen muss; Paterna cum benevolentia (1974) zu Beginn des Heiligen Jahres über die Versöhnung innerhalb der Kirche; Gaudete in Domino (1975) über die reiche Quelle und weltverändernde Kraft christlicher Freude; und schließlich Evangelii nuntiandi (1975), das einen Überblick über die herrliche und vielfältige Missionstätigkeit der Kirche von heute darbieten wollte.

Vor allem aber möchten wir unser Glaubensbekenntnis in Erinnerung rufen, das wir vor genau zehn Jahren, am 30. Juni 1968, im Namen und zur Verpflichtung der ganzen Kirche als Credo des Volkes Gottes feierlich verkündet haben: zur Bekräftigung und Bestärkung der Hauptpunkte des Glaubens der Kirche, wie er von den wichtigsten Ökumenischen Konzilien verkündet worden ist, zu einem Zeitpunkt, an dem leichtfertiges Experimentieren am Glauben die Sicherheit so vieler Priester und Gläubigen zu erschüttern schien und eine erneute Hinwendung zu den Quellen erforderte. Gott sei Dank sind viele Gefahren schwächer geworden; … aber wir berufen uns noch mit gleichem Nachdruck auf dieses Glaubensbekenntnis, das wir als einen wichtigen Akt unseres Päpstlichen Lehramts betrachten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Zum prophetischen Aufruf des hl. Papstes Paul VI.

Die notwendige Erneuerung

Die katholische Kirche in Deutschland steht an einem Wendepunkt. So tönt es von allen Seiten. Auf einem sog. „Synodalen Weg“ wollen Bischöfe und Laien gemeinsam in eine neue Zukunft aufbrechen. Aus Rom haben sie inzwischen deutliche Signale zur richtigen Weichenstellung erhalten. Pfarrer Erich Maria Fink versucht den jüngsten Brief der Bischofskongregation auszuwerten und vergleicht die Situation mit den stürmischen Ereignissen während des Pontifikats Pauls VI., der uns mit seinen prophetischen Mahnworten gerade heute Orientierung geben könne.

Von Erich Maria Fink

Die Vorzeichen haben sich inzwischen geändert. Doch in vielem gleicht die Situation heute den bewegten Zeiten der nachkonziliaren Erneuerung. Alle spürten, dass sich die Kirche bewegen muss, um in einer sich rasant entwickelnden Welt ihrem Missionsauftrag nachkommen zu können. Und es begann ein hektisches Suchen nach möglichen und angemessenen Wegen. Radikale Veränderungen wurden sowohl von der Öffentlichkeit als auch vom Klerus gefordert. Doch auf viele konnte die Kirche letztlich nicht eingehen. Denn sie musste ihrem von Jesus Christus erhaltenen Auftrag treu bleiben. Der Fels in der Brandung einer stürmischen See war Papst Paul VI., der in unvorstellbarer Einsamkeit standhielt und bereit war, die notwendigen Entscheidungen zwischen anstehenden Reformen und Bewahren von unabdingbaren Inhalten der Offenbarung zu treffen. Mit heiligmäßigem Märtyrergeist hielt er das Steuer der Kirche fest in der Hand und führte so das Schifflein Petri weitsichtig durch die Klippen der aufgewühlten 60er und 70er Jahre hindurch.

Was braucht die Kirche?

Immer wieder machte sich Papst Paul VI. Gedanken über das eigentliche Wesen und die ursprüngliche Sendung der Kirche. Daraus versuchte er Antworten auf die Frage zu finden: Was braucht die Kirche in der heutigen Zeit?

Paul VI. kam zu dem Ergebnis, dass die Kirche den Herausforderungen der modernen Welt nur gerecht werden kann, wenn sie alle Kräfte drauf verwendet, das Evangelium auf neue und dem heutigen Denken und Empfinden angemessene Weise zu verkünden. Er sah voraus, dass der Fortschritt auf allen Gebieten das Potential in sich birgt, den christlichen Glauben im Tiefsten zu erschüttern und die kirchlichen Institutionen zu schwächen, ja hinwegzufegen.

Doch blickte er optimistisch in die Zukunft. Er war überzeugt, dass die weltlichen Veränderungen eine große Chance für ein neues Zeitalter der Evangelisierung bieten. Als Voraussetzung betrachtete er die Formung von Aposteln, die sich dem Werk der Glaubensweitergabe widmen. Und von Anfang an hatte er eine dynamische Zusammenarbeit von Priestern und Laien im Blick. Der missionarische Aufbruch würde seiner Überzeugung nach in dem Maß fruchtbar werden, als sich alle Beteiligten um Treue zum Evangelium, um Einheit mit der Kirche und um Einheit untereinander bemühten.

Treue zum Evangelium

Vergleicht man die Themen und Ziele, die seit der Ausrufung des „Synodalen Weges“ im Raum stehen, so erkennt man eine komplette Neuauflage der Forderungen, wie sie schon vor 50 Jahren erhoben worden sind. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als dass nun die Schwächung der Kirche durch den Missbrauchsskandal dazu benützt wird, um die Schaffung einer „anderen Kirche“, wie es bisher nicht gelungen war, mit brachialer Gewalt durchzusetzen.

Als junger Student habe ich die Spannungen zwischen unserem Bischof Dr. Josef Stimpfle und seinem ehemaligen Sekretär, dem späteren Augsburger Studentenseelsorger Dr. Hermann Wolgschaft (geb. 1944), mitbekommen. In diesen Tagen brachte Wolgschaft ein neues Buch heraus. Es trägt den Titel: „Keine Ausflüchte mehr! Gedanken zur notwendigen Kirchenreform“. Darin beschreibt er unverblümt, von welchem Unbehagen er an der Seite von Bischof Stimpfle erfüllt war und wie er sich schon damals dafür entschieden hatte, eine „andere Kirche“ anzustreben.

Das Buch enthält eine Fülle von guten und aus meiner Sicht vollkommen richtigen Ansätzen. Umso schmerzlicher empfinde ich die Unnachgiebigkeit, mit der Wolgschaft all die Dinge einfordert, welche durch die Heilige Schrift nicht abgedeckt sind, wie z.B. die Anerkennung und Segnung von Homosexuellen-Paaren oder die Priesterweihe von Frauen. Für mich ist es bedauerlich, wenn Menschen mit einem solchen geistigen und geistlichen Potential ihr Bemühen durch undifferenziertes Vorgehen entwerten und einer Spaltung Vorschub leisten.

Paul VI. spricht von „jenen Mitbrüdern“, „die das positive Zeugnis, welches das Volk Gottes von ihnen erwartete, verfälscht haben in die arrogante Haltung von Richtern und Kritikern der immer heiligen Kirche Gottes. Weil sie sich bisweilen das Recht zu einer freizügigen Prüfung ihrer Lehre und ihres Lebens herausnehmen, ordnen sie sich ohne Widerspruch in die Reihen der Widersacher der Kirche ein. … Vielleicht behaupten sie, in der kirchlichen Gemeinschaft bleiben zu wollen, aber nicht um deren Freuden und Leiden zu teilen, sondern um sie zu ‚reformieren‘ oder vielmehr, um die Ordnung der Kirche auf ihre eigene Weise zu zerstören.“

Es wird sich zeigen, wie ernst es dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, ist, wenn er ständig beschwört, dass sich der „Synodale Weg“ ganz am Evangelium orientieren werde. Für eine neue Lehre der Sexualmoral, wie sie im Zug des „Synodalen Weges“ beschlossen werden soll, müsste sich jedenfalls auch eine Grundlage im Evangelium finden lassen. Dasselbe gilt für eine neue Sicht auf das Priestertum und die hierarchische Verfassung der Kirche bis hin zum Dienst des Petrusnachfolgers. Denn das Neue Testament bietet ein unzweideutiges Fundament für die Sendung der Apostel und für das Verständnis des apostolischen Amtes, wie es in den Bischöfen und Priestern weiterlebt.

Die Aussage von Kardinal Marx, vielleicht würden wir doch „in eine neue Epoche des Christentums eintreten“, klingt erfrischend und kann im Grunde genommen nur bejaht werden. Doch seine Begründung, es gehe darum, „neu voranzugehen und die alte Austauschreligion zu beenden, die in unseren Köpfen und Herzen stark geblieben ist: Da ist jemand, dem muss ich etwas geben“, lässt den Verdacht einer reformatorischen Verflachung aufkommen. Johannes Paul II. betonte demgegenüber den „geheimnisvollen Austausch“ zwischen Gott und Mensch und brachte damit eine Dynamik der Hingabe in Gang, die durch und durch den Geist des Evangeliums atmet.

Missionarischer Appell von Papst Franziskus

Alles was ich vom „Synodalen Weg“ bisher mitbekomme, scheint von einem Geist bestimmt zu sein, der nicht aufbaut und stärkt, sondern abbaut und Kompromisse mit der modernen Welt eingeht. Wenn ich dagegen die Ansprachen und Dokumente von Papst Franziskus auf mich wirken lasse, spüre ich immer die Kraft und den ursprünglichen Geist des Evangeliums.

Franziskus ruft uns dazu auf, sich ohne Vorbedingungen auf Christus und die Ideale des Evangeliums einzulassen, sein Leben ganz in die Hände des Erlösers zu übergeben, sich von ihm vollkommen in den Dienst nehmen zu lassen, jede Form des Egoismus zu überwinden und in der Haltung der Fußwaschung auf die Menschen zuzugehen.

Nach Franziskus braucht die Kirche Menschen, die im Herzen für Christus brennen, die nach Heiligkeit streben und für den Aufbau des Reiches Gottes alles zu geben bereit sind. Je mehr wir in uns das Herz des Erlösers schlagen lassen, umso mehr werden wir seine Liebe, seinen Frieden und seine Freude in die Welt bringen können. Der Heilige Geist wird über alle hierarchischen Unterschiede hinweg sein Werk beginnen und die Kirche mit seinem Licht erfüllen.

Ein solcher missionarischer Aufbruch verlangt nach der Überzeugung von Papst Franziskus, aber auch nach den prophetischen Appellen des hl. Papstes Paul VI., dass alle Menschen, die im Geist Christi mitwirken möchten, einbezogen werden. Auf jeden kommt es an, auf die Jugendlichen und die Alten, auf Männer und Frauen, auf die Gebildeten und die Einfachen, auf die Reichen und die Armen. Jedes Potential muss gefördert werden. Und alle müssen sich voll Vertrauen aufeinander zubewegen und sich um die Einheit im Geist bemühen. Nur wenn alle an einem Strang ziehen, kann sich die Kirche dem heutigen Säkularismus gegenüber behaupten und überzeugend ausstrahlen. Evangelisierung verlangt eine Emanzipation, nicht von Gott und seinem rettenden Evangelium, sondern von der Diktatur des heutigen Laizismus, eine Befreiung aus den Fängen der Kultur des Konsums, des Genusses und des Wegwerfens. Das erfordert Haltungen und Tugenden wie Opferbereitschaft, Demut, Gehorsam, Disziplin und Achtung der göttlichen Würde eines jeden Menschen. All dies ist kein Gegensatz zu einem Aufbruch im Geist des Evangeliums, sondern die Grundvoraussetzung, auch für des Gelingen eines „Synodalen Weges“.

Entscheidende Weichenstellung durch die Satzung

Die Diskussion um die Statuten des „Synodalen Weges“, der im kommenden Advent offiziell seine Arbeit aufnehmen soll, ist keine Nebensache. Damit werden entscheidende Weichen gestellt.

Am 26. Juli 2019 hatten der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki und der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer ihren Mitbrüdern einen alternativen Entwurf zur Satzung des „Synodalen Weges“ vorgelegt. Doch wurde dieser bei einer Abstimmung des Ständigen Rats der Deutschen Bischofskonferenz am 19. August 2019 mit 21 zu 3 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) von den anderen Bischöfen abgelehnt. Die beiden Verfasser entschieden sich, ihren Vorschlag am 15. September 2019 auch der Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Denn in der Zwischenzeit hatte sich Marc Kardinal Quellet, der Präfekt der Kongregation für die Bischöfe, an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewandt. Seinem Brief vom 4. September 2019 fügte er ein ausführliches Schreiben von Erzbischof Filippo Iannone OCarm, dem Präsidenten des Päpstlichen Rats für die Gesetzestexte, bei.

Bischof Voderholzer betont nun, dass der Entwurf, den er zusammen mit Kardinal Woelki eingebracht habe, „dem Reformverständnis der Kirche entspricht, dieser sich nach den Maßgaben von Papst Franziskus richtet und in ihm auch alle Punkte berücksichtigt wurden, auf die Kardinal Marc Quellet in seinem Schreiben an Kardinal Reinhard Marx kritisch hinweist und vor allem: er stellt genau die Herausforderungen in den Mittelpunkt aller Beratungen, vor denen die Kirche hier und jetzt wirklich steht.“

Wer all diese Texte studiert, versteht sofort die Anliegen, die hinter der Auseinandersetzung um die Satzung des „Synodalen Weges“ stehen.

Festlegung der inhaltlichen Ausrichtung

Zunächst geht es um die inhaltliche Weichenstellung. Die beiden Bischöfe und Rom setzen alles daran, dass der eigentliche Auftrag, den Papst Franziskus in seinem Brief vom 29. Juni 2019 „an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ zum Ausdruck gebracht hat, nicht aus dem Blickfeld gerät, nämlich die Missionierung. So stellen sie ihren Statuten-Entwurf gleich zu Beginn unter die Überschrift: „Synodaler Weg hin zum ‚Primat der Evangelisierung‘“, und zwar als Antwort nicht nur auf die Missbrauchskrise, sondern im Sinn des Papstes auch ganz allgemein auf die Glaubenskrise.

In ihrem Entwurf nennen sie als Aufgabe für den Erfahrungsaustausch und die Beratung im Rahmen des „Synodalen Weges“ wörtlich:

„1. die Förderung der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche sowie die Suche nach Lösungen, um weitere Verbrechen zu verhindern. Die bisherigen Maßnahmen werden einer kritischen Beratung unterzogen.

2. eine tiefgreifende Befassung mit der Glaubenskrise, wie sie Papst Franziskus angeregt hat. Dazu gehören die Analyse der Gründe für die Glaubenskrise und die Überprüfung der bisherigen Evangelisierungskonzepte. Im Rahmen des ‚Primats der Evangelisierung‘ sollen Neuansätze zur Glaubensvermittlung und -weitergabe erarbeitet werden, die einerseits im Glauben der Weltkirche verwurzelt sind und andererseits die besonderen Gegebenheiten in unserem Land berücksichtigen.“

Dazu schlagen sie folgende sieben Synodalforen vor, in denen Vorlagen für die Synodalvollversammlung erarbeitet werden sollten: I. Sexueller Missbrauch; II. Die Sendung der Laien im Dienst der Evangelisierung; III. Jugendpastoral/Jugendkatechese in den Pfarreien, Verbänden und Gemeinschaften; IV. Ehe-und Familienpastoral in den Pfarreien, Verbänden und Gemeinschaften; V. Berufungspastoral; VI. Theologie und Religionsunterricht im Dienst der Evangelisierung; VII. Spiritualität und Evangelisierung.

Demgegenüber werden in der Erklärung der Bischofskonferenz folgende vier Themenkreise angegeben: „Macht, Partizipation und Gewaltenteilung“, „Sexualmoral“, „Priesterliche Lebensform“ und „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“.

Sicherlich hat auch diese Themenangabe ihre Berechtigung und es ließe sich gewiss ein Kompromiss finden, der die beiden Grundanliegen miteinander verbindet. Woelki und Voderholzer sowie die Vertreter der Römischen Kurie möchten jedoch verhindern, dass sich der „Synodale Weg“ mit Themen befasst, die entweder nicht in die Kompetenz der Ortskirchen fallen, oder überhaupt nicht zur Disposition stehen, da sie zum verbindlichen Glaubensgut der Kirche gehören.

Was für ein sinnloser Kräfteverschleiß wäre es, was für ein kontraproduktives Unterfangen, würde man eine Ortskirche über Jahre hinweg mit aussichtslosen Themen in Beschlag nehmen, um am Ende festzustellen, dass die getroffenen Übereinkünfte von der Kirche gar nicht angenommen werden können! Es wäre eine bewusste Irreführung, eine unverantwortliche Ablenkung vom Glaubensleben, eine leichtfertige Inkaufnahme von Enttäuschungen, die zu einem weiteren Verlust an Glaubensfreude und Liebe zur Kirche unter vielen Gläubigen führen würden.

Spaltung überwinden und verhindern

Zum anderen aber geht es um die Art der Beschlussfassung und die Verbindlichkeit der Beschlüsse. Im Schreiben aus Rom heißt es deutlich: „Die Erarbeitung ist eine synodale Aufgabe, die Entscheidung ist eine Aufgabe des Amtes.“ Könnten denn die Bischöfe zulassen, dass sie aufgrund der Besetzung der Versammlung überstimmt und dann verpflichtet würden, die Beschlüsse umzusetzen?

Alles sieht im Augenblick danach aus, dass von der Mehrheit der Teilnehmer Dinge vertreten und eingefordert werden, die von der katholischen Kirche nicht akzeptiert werden können. Ich frage mich: Lassen sich die Bischöfe schon im Voraus den Weg ins Schisma aufzwingen? So stellt auch das Schreiben aus Rom die Frage, was denn bedeute, dass am Ende die Beschlüsse, „deren Themen einer gesamtkirchlichen Regelung vorbehalten sind“, auch an den Apostolischen Stuhl „übermittelt“ würden. Wörtlich heißt es: „Wie bereits ausgeführt, überschreiten diese Themen die Zuständigkeit einer Teilkirche. Andererseits kann man sich fragen, was bedeutet denn ‚übermittelt‘? Handelt es sich bloß darum, die Beschlüsse bekanntzumachen, oder möchte man damit eine recognitio erreichen, wie von den Dekreten eines Partikularkonzils vorgesehen?“ Das heißt: Will man sich also dem Urteil Roms unterstellen oder glaubt man, auf eine Anerkennung der Beschlüsse durch den Apostolischen Stuhl gar nicht angewiesen zu sein?

Die Kirche hat die heilige Pflicht, schon im Vorfeld alles zu tun, um eine neue Kirchenspaltung zu verhindern. Bischöfe müssen die Kraft besitzen, unerfüllbare Erwartungen zu benennen und den Betroffenen sachlich darzulegen, inwiefern es dabei um die Treue zur göttlichen Offenbarung geht.

Der heilige Paul VI. betonte während des Konzils, wir seien nie von der „Pflicht des Suchens und Fortschreitens auf den Wegen Christi entbunden“. Doch immer sei zu bedenken: „Nur wer die Kirche liebt, kann sie aufbauen.“ So kann auch der „Synodale Weg“ ein Aufbruch werden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Feier der Seligsprechung von Pallottinerpater Richard Henkes

Märtyrer der Nächstenliebe aus Liebe zu Christus

Die Seligsprechung des Pallottinerpaters Richard Henkes am 15. September 2019 durch Kurt Kardinal Koch im Hohen Dom zu Limburg ist ein großes Geschenk für die Kirche in Deutschland. Ähnlich wie bei P. Maximilian Kolbe gab es Diskussionen um die Anerkennung seines Todes als Martyrium. Kolbe war von Papst Paul VI. 1971 seliggesprochen und bereits als „Märtyrer der Liebe“ bezeichnet worden. Doch hatte er offiziell nur den Titel „Bekenner“ erhalten. Papst Johannes Paul II. verlieh ihm schließlich gegen die Bedenken der zuständigen Kongregation den Titel „Märtyrer“. Bei der Heiligsprechung am 10. Oktober 1982 widmete er seine ganze Predigt der Rechtfertigung dieses Titels und erklärte am Ende: „Und deshalb habe ich kraft meiner apostolischen Autorität verfügt, dass Maximilian Maria Kolbe, der im Gefolge der Seligsprechung als Bekenner verehrt wurde, von nun an ‚auch als Märtyrer‘ verehrt werde!“ Eine solche Entscheidung traf Papst Franziskus auch für P. Henkes SAC. Kardinal Koch entfaltete in seiner bewegenden Predigt die Bedeutung des Märtyrer-Titels für den neuen Seligen.

Von Kurt Kardinal Koch

Die Seligen und Heiligen sind die Antworten Gottes auf die Fragen von uns Menschen. Und sie sind die besten Exegeten des Evangeliums. Denn sie haben das Wort Gottes nicht nur gelesen und interpretiert; sie haben es vor allem mit ihrem eigenen Leben bezeugt. Dies gilt in besonderer Weise vom seligen Pallottinerpater Richard Henkes, der sich während der Typhus-Epidemie, die im Konzentrationslager Dachau im Übergang zwischen den Jahren 1944 und 1945 ausgebrochen war, in den Quarantäneblock 17 freiwillig einschließen ließ, um die von dieser schweren Krankheit betroffenen Häftlinge zu pflegen, der sich dabei infiziert hat und am 22. Februar 1945 in Dachau gestorben ist. Die Lebenshingabe von Pater Henkes bis zum Tod für andere Menschen hat Papst Franziskus als Martyrium anerkannt; und der Heilige Vater hat entschieden, dass Pater Henkes seliggesprochen wird. Pater Henkes steht vor uns als Märtyrer der Nächstenliebe, der sein Leben als Opfer für Christus hingegeben und damit Anteil am Kreuz Jesu Christi erhalten hat.

Das Kreuz Jesu als Liebesbeweis Gottes

Es ist von daher ein ebenso schönes wie sinnvolles Zusammentreffen, dass die Seligsprechung von Pater Henkes am Fest der Kreuzerhöhung, das in der Diözese Limburg als besonderes Bistumsfest begangen wird, gefeiert werden kann. Denn Pater Henkes ist ein besonders glaubwürdiger Exeget der Verkündigungstexte des heutigen Festes, das uns das Kreuz Jesu als Zeichen der grenzenlosen Liebe Gottes zu uns Menschen nahe bringt. Der Evangelist Johannes verdichtet das Geheimnis des Kreuzes Jesu Christi in dem wunderbaren Spitzensatz: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16). Das Kreuz ist die Erscheinung der größten Liebe Gottes zu uns Menschen. Und es ist das deutlichste Zeichen dafür, dass Jesus sich nicht bloß mit verbalen Liebeserklärungen an uns Menschen begnügt, dass er vielmehr einen sehr hohen Preis für seine Liebe bezahlt hat, indem er am Kreuz in Liebe sein Herzblut für uns Menschen investiert und uns das kostbarste Geschenk, das ewige Leben, gegeben hat.

Das Kreuz Jesu ist keineswegs, wie heute selbst nicht wenige Christen meinen, ein Gegensatz zur Liebe Gottes und kein Widerspruch zur Würde des Gottessohnes, sondern die glaubwürdige Darstellung seiner Liebe zu uns Menschen und zu seiner ganzen Schöpfung. Der Evangelist Johannes nimmt die in der alttestamentlichen Lesung berichtete Geschichte vom Aufhängen der Schlange aus Kupfer an einer Fahnenstange durch Mose als Vorausbild dafür, dass auch die Erniedrigung Jesu in seinem Leiden und Sterben bereits Erhöhung ist: „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,14-15). Das Kreuz Jesu schenkt uns die wunderschöne Botschaft: Wer bis in den Tod hinein von Jesus Christus geliebt ist, der darf sich wirklich geliebt wissen und über dieses Geschenk der Erlösung froh werden. Denn in der Liebe Jesu am Kreuz sind wir erlöst von unseren Sünden; und seine Liebe ist der Wärmestrom der Erlösung, nämlich des Geschenks des ewigen Lebens.

Das heutige Kreuzfest lädt uns ein, im Geheimnis der Kreuzesliebe Jesu noch tiefer zu bohren. Aus eigener Erfahrung wissen wir alle, dass es Liebe nicht ohne Opfer und nicht ohne Leiden geben kann. Dies gilt zumal im Licht des christlichen Glaubens, in dem das Opfer seinem tiefsten Wesen nach nicht mit dem Bösen und der Sünde verbunden ist, sondern mit der Liebe. Denn Liebe gibt es nicht ohne Opfer; Liebe als Hingabe des eigenen Lebens für Andere ist Opfer. Dieses Liebesopfer hat Jesus am Kreuz für uns Menschen dargebracht, indem er die an ihm geübte Gewalt in Liebe für uns Menschen umgewandelt hat. Die Passion Jesu ist das Ur-Martyrium und zugleich das Urbild des Martyriums der ihm Nachfolgenden, die Anteilhabe am Kreuzesgeheimnis Jesu erhalten haben.

Martyrium als höchster Akt der Liebe

Dieser Zusammenhang ist im Martyrium von Pater Henkes sichtbar geworden. Wie Jesus Leiden und Kreuz nicht gesucht, sondern sich am Willen Gottes für das Leben der Menschen orientiert hat und wegen seiner Liebe zu uns Menschen getötet worden ist, so hat auch Pater Henkes das Martyrium keineswegs gesucht, sondern er hat es als Konsequenz seiner Treue zu seinem katholischen Glauben frei und freiwillig auf sich genommen. Darin besteht die Authentizität seines Glaubenszeugnisses. Denn die christliche Tradition hat die Sehnsucht eines potenziellen Märtyrers nach seinem Getötetwerden geradezu als Infragestellung des Martyriums betrachtet. Das christliche Martyrium ist keineswegs von Todessehnsucht und Lebensverachtung geprägt; sein entscheidendes Merkmal ist vielmehr die Liebe. Das christliche Martyrium ist nur echt, wenn es als höchster Akt der Liebe zu Gott und zu den Brüdern und Schwestern verwirklicht wird, wie das Zweite Vatikanische Konzil hervorgehoben hat: „Das Martyrium, das den Jünger dem Meister in der freien Annahme des Todes für das Heil der Welt ähnlich macht und im Vergießen des Blutes gleichgestaltet, wertet die Kirche als hervorragendes Geschenk und als höchsten Erweis der Liebe."[1]

Wie Jesus hat auch Pater Henkes in seinem Glauben darum gewusst, dass es Liebe nicht ohne Opfer geben kann. Von dieser Überzeugung ist seine Spiritualität als Priester geprägt gewesen. Bereits vor seiner Priesterweihe hat er die Worte niedergeschrieben: „Ich will in der Hauptsache Opferpriester werden, Kreuzträger für andere.“ Diese Überzeugung, die er kurz vor seiner Weihe zum Ausdruck gebracht hat, ist im Konzentrationslager Dachau harte Realität geworden. Denn auch an diesem menschenverachtenden Ort hat er seine Glaubensüberzeugung bewährt und seinen christlichen und priesterlichen Dienst an den an Typhus erkrankten Menschen ausgeübt. Sein Leben in Dachau, zunächst auf der Plantage, dann im Postdienst, anschließend beim Desinfektionskommando und schließlich beim Krankendienst im Block 17 ist ein glaubwürdiges Zeugnis seiner Lebenshingabe bis zum Tod, indem er vor allem ein Beispiel der Liebe bis zur Ganzhingabe seiner selbst für die Kranken ohne Hoffnung auf Überleben gegeben hat.

Das Martyrium von Pater Henkes ist freilich nicht zu verstehen ohne seine tiefe Verwurzelung im katholischen Glauben. Im beschwerlichen Leben im Konzentrationslager Dachau hat er sich stets bestärken lassen im persönlichen Gebet und vor allem in der regelmäßigen Teilnahme an der Heiligen Messe. In der Eucharistie, in der wir die sakramentale Vergegenwärtigung des Liebesopfers Jesu am Kreuz feiern und Gott bitten, dass auch wir „eine Opfergabe in Christus“ werden, ist ihm die Glaubensverpflichtung bewusst geworden, selbst eucharistische Hingabe für andere zu werden und sich als lebendige Hostie für die Menschen hinzugeben, die seine Liebe nötig haben.

Martyrium als Konsequenz gelebten Glaubens

Sein Zeugnis des Glaubens und seiner Lebenshingabe bis zum Tod wird erst voll verständlich auf dem Hintergrund seines ganzen Lebens. Pater Henkes hat mit seinen Augen des Glaubens sehr früh und klar wahrgenommen, dass die nationalsozialistische Ideologie mit dem christlichen Menschenbild schlicht nicht zu vereinbaren ist, weil sie keine menschlichen und christlichen Werte vertritt, sondern neuheidnische Ideen propagiert. Pater Henkes hat sensibel verspürt, was der Propagandaminister Goebbels in seinem Tagebuch hemmungslos notiert hat: „Der Führer ist tief religiös, aber ganz antichristlich. Er sehe im Christentum ein Verfallssymptom, eine Abzweigung der jüdischen Rasse, eine Absurdität, der er allmählich auf allen Gebieten das Wasser abgraben werde. Er hasst das Christentum, das den freien, hellen, antiken Tempel in einen düsteren Dom, mit einem schmerzverzerrten Gekreuzigten Christus verwandelt habe.“ Angesichts dieser neuheidnischen Ideologie hat Pater Henkes geahnt, dass überall dort, wo Gott klein gemacht und aus der Öffentlichkeit verdrängt wird, auch der Mensch klein gemacht wird, wie wir dies im vergangenen Jahrhundert in den antichristlichen Diktaturen des Nationalsozialismus und des sowjetischen Kommunismus zur Genüge erfahren mussten. In seinem christlichen Glauben ist Pater Henkes überzeugt gewesen, dass nur dort, wo Gott durch uns Menschen groß gemacht wird, wie Maria dies im „Magnifikat“ exemplarisch vorgelebt hat, dass nur dort der Mensch gerade nicht klein gemacht wird, sondern an der Größe der Liebe Gottes Anteil erhält.

Bei seinen verschiedenen Aufgaben als Lehrer und Seelsorger, als Exerzitienbegleiter und Wallfahrtsprediger in Vallendar-Schönstatt und in Oberschlesien ist Pater Henkes immer wieder in Konflikt mit den Repräsentanten des Nazi-Regimes geraten und wurde zweimal von der Gestapo verhört. Als er sich in Branitz in einer Predigt gegen das eugenische Programm der Nazis und konkret gegen den Abtransport von kranken Menschen aus den dortigen Heilanstalten gewandt hatte, wurde er von der Gestapo verhaftet, während sieben Wochen in Ratibor in Isolationshaft gehalten und zum Abtransport nach Dachau verurteilt. Im dortigen Konzentrationslager hat er die neuheidnische Ideologie der Nazis am eigenen Leib erfahren. Da seine Gefangennahme und seine Verurteilung zum Lager in Dachau von seinem Glaubenszeugnis und seinem priesterlichen Handeln motiviert gewesen ist, steht der Sachverhalt seines Martyriums aus Hass auf den Glauben („in odium fidei“) fest.

Seligsprechung als Christusverehrung

Die Fama seines Martyriums hat bereits beim Tod von Pater Henkes begonnen. Auf dem Weg der Bestechung des Krematoriumswärters durch priesterliche Mitbrüder konnte erreicht werden, dass der Leichnam von Pater Henkes einzeln verbrannt und seine Asche so geborgen werden konnte. Später wurde sie nach Limburg gebracht, wo sie im Friedhof der Pallottiner aufbewahrt ist. Wenn heute seine Reliquien im Gottesdienst erhoben worden sind, drücken wir damit unseren Glauben aus, dass Gott in seiner Liebe so treu zu uns Menschen steht, dass er sich zu unserem ganzen Menschsein und damit auch zu unserer Leiblichkeit bekennt.

Die heutige Feier der Seligsprechung ist gewiss ein Tag der Freude zunächst für die Gemeinschaft der Pallottiner und das Bistum Limburg, besonders für die Heimatpfarrei Ruppach im Westerwald, und für die Katholiken in Tschechien, wo Pater Henkes auch gewirkt hat. Es ist ein Tag der Freude für die ganze Kirche in Deutschland, indem die heutige Feier uns nahe legen will, dass die eigentlichen Reformer der Kirche die Seligen und Heiligen sind. Denn wir können in struktureller Hinsicht nur das Äußerste tun, wenn wir auch bereit sind, im Glauben das Innerste zu tun, wie Papst Franziskus in seinem Brief „An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ in Erinnerung gerufen hat. Und es ist ein Tag der Freude für die weltweite Kirche. Denn in Pater Richard Henkes steht ein authentischer Zeuge des Glaubens vor uns, der in seinem Gottvertrauen und in seiner Opferbereitschaft das christliche Menschenbild gegen die menschenverachtende Ideologie der Nazis verteidigt und sich für die Würde des Menschen mit jenem großen Mut eingesetzt hat, der ihm das Leben gekostet hat.

Pater Henkes ist ein Märtyrer der Nächstenliebe in tiefer Verbundenheit mit Christus. In seinem Geist begehen wir das heutige Fest nur, wenn wir seine Seligsprechung als Verehrung Jesu Christi begehen. Denn der christliche Märtyrer stirbt nicht einfach für eine Idee, und sei es auch die höchste Idee der Menschenwürde. Er wird vielmehr „mit Christus gekreuzigt“ und stirbt „mit jemandem, der schon vorweg für ihn gestorben ist“.[2] In dieser Verbindung zwischen dem Kreuzestod Jesu und dem Glaubenszeugnis des Martyriums leuchtet der tiefe Sinn auf, dass wir die Seligsprechung von Pater Richard Henkes am Kreuzfest feiern dürfen, über dem der Eröffnungsvers steht: „Wir rühmen uns des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus. In ihm ist uns Heil geworden und Auferstehung und Leben. Durch ihn sind wir erlöst und befreit.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Lumen gentium, Nr. 42.
[2] H. U. von Balthasar: Martyrium und Mission, in: Ders.: Neue Klarstellungen (Einsiedeln 1979) 158-173, zit. 162.

Delegation des Fernsehsenders bei Papst Franziskus

K-TV feiert 20-Jahr-Jubiläum

Der katholische Fernsehsender K-TV (Kephas-Fernsehen), der von dem Schweizer Pfarrer Hans Buschor (1933-2017) gegründet wurde, ging am 11. September 1999 erstmals auf Sendung. Zu seinem 20-jährigen Jubiläum organisierte der Sender eine Wallfahrt nach Rom. Geistlicher Assistent der Medieninitiative ist Pfr. Dr. Thomas Maria Rimmel, der zusammen mit Pfr. Paul Schuler und Pfr. Werner Maria Hess für die inhaltliche Ausrichtung verantwortlich ist.

Von Thomas Maria Rimmel

Unsere Wallfahrt nach Rom aus Anlass des 20-jährigen Bestehens unseres katholischen Fernsehsenders K-TV mit rund 60 Teilnehmern war vor allem ein Akt der Dankbarkeit gegenüber Gott, von dessen vorsehender Hand wir uns geführt wissen, aber auch gegenüber unserer himmlischen Mutter Maria, der Königin der Apostel, der wir unsere Medieninitiative anvertraut haben. Dies durfte ich besonders beim Gottesdienst in der Basilika Santa Maria Maggiore zum Ausdruck bringen.

Unsere Fahrt zu den Apostelgräbern war auch ein Zeugnis zum Programm, dem wir uns als Kephas-Fernsehen verpflichtet fühlen. Unser Gründer, Pfarrer Hans Buschor, machte es sich zur Aufgabe, an der Neuevangelisierung in steter Treue zum Petrus-Nachfolger mitzuwirken.

So war ein absoluter Höhepunkt genau am Jahrestag, an dem K-TV vor 20 Jahren zum ersten Mal auf Sendung ging, die Begegnung mit Papst Franziskus im Anschluss an die Generalaudienz auf dem Petersplatz. Zusammen mit mir durften weitere Verantwortliche unseres Senders teilnehmen, so Pfarrer Paul Schuler, Geschäftsführer Dr. Johannes Hattler und Dr. Claudia Kaminski, die in Rom als Journalistin für Radio Vatikan und für K-TV tätig ist.

Auf Anregung unseres Geschäftsführers stellt ich Papst Franziskus die Frage, wie unser Sender in der heutigen Zeit noch missionarischer wirken könnte. Ganz interessiert und engagiert antwortete der Papst: „Heute braucht man Zeugnisse. Man muss über die Alten sprechen, über die Jungen. Damit die Menschen sehen, dass Jesus im Volk Gottes lebendig ist.“ Er betonte, dass „die Menschen sich oft nur noch zehn Minuten konzentrieren“, und fuhr fort: „Macht lebendige Programme mit ansprechenden Glaubenszeugnissen.“

Auf die Erläuterung, K-TV werde von Laien geführt, sagte er zu unserem Geschäftsführer: „Die Laien sind die Kraft der Kirche.“ Abschließend segnete er alle Zuseher und Mitarbeiter von K-TV.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Generalvikar des Papstes: „Ich bringe euch den Segen des Heiligen Vaters!“

30. Jugendfestival in Medjugorje

Jeden Sommer findet in Medjugorje ein internationales Jugendfestival, das sog. „Mladifest“, statt, an dem Tausende von jungen Menschen teilnehmen. Das 30. Internationale Gebetstreffen der Jugend in Medjugorje endete am 6. August 2019 um fünf Uhr früh mit einer Heiligen Messe auf dem Kreuzberg. An die 50.000 Jugendliche und 800 Priester aus 80 Ländern hatten fünf Tage lang mit Gesang, Tanz und Rosenkranz, mit Eucharistiefeier und Anbetung das Bild von Medjugorje geprägt. Über Radio, Fernsehen und Internet erreichte das diesjährige Mladifest weltweit ein Millionenpublikum – insgesamt wurden allein auf dem Online-Livestream bis zum Ende des Jugendfestivals 11.482.500 zuordenbare IP-Adressen verzeichnet. Dr. Christian Stelzer bietet einen eindrucksvollen Rückblick, indem er Teilnehmer, vor allem auch Bischöfe, zu Wort kommen lässt.

Von Christian Stelzer

Das diesjährige Internationale Gebetstreffen der Jugend in Medjugorje, das sog. „Mladifest“, wurde zu einem der außergewöhnlichsten in seiner 30-jährigen Geschichte. Die Entscheidung des Papstes vom 12. Mai 2019 hat eine unglaubliche Wirkung entfaltet. Denn seit dem Jahr 1991 war es verboten, offiziell Wallfahrten nach Medjugorje zu organisieren. Dieses Verbot hat Papst Franziskus aufgehoben. Dadurch ist es nun auch Bischöfen möglich, offiziell an diesem Gnadenort aufzutreten. So überbrachte Angelo Kardinal de Donatis, der Generalvikar des Papstes für die Diözese Rom, zu Beginn des Eröffnungsgottesdienstes am 1. August 2019 den Jugendlichen in Medjugorje „herzliche Grüße und den Segen des Heiligen Vaters“. 

Neben Kardinal de Donatis feierten auch Erzbischof Henryk Hoser, der von Papst Franziskus im Mai 2018 ernannte Apostolische Visitator für Medjugorje, Bischof Vlado Košic von Sisak, Kurienerzbischof Jose Rodriguez Carballo sowie die Bischöfe Dominique Rey aus Toulon (Frankreich), Tadeusz Wojda aus Białystok (Polen) und Marian Florczyk aus Kielce (Polen) den Gottesdienst mit und hielten Katechesen. Auch Bischöfe aus Korea und Honduras waren gekommen. Am 2. August leitete der Apostolische Nuntius für Bosnien und Herzegwoina, Erzbischof Luigi Pezzuto, die Heilige Messe. Es war bereits zum zweiten Mal, dass er an einem Jugendfestival teilnahm.

Erzbischof Fisichella: Von Medjugorje breitet sich eine Atmosphäre des Gebets aus!

Erzbischof Rino Fisichella, der Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Neuevangelisierung, war Hauptzelebrant am 5. August, dem letzten Abend des „Mladifestes“. In einem Interview mit Simona Amabene sagte er tags darauf über seine Eindrücke von Medjugorje: „Was einen Pilger wie mich, der zum ersten Mal nach Medjugorje kommt, besonders beeindruckt, ist das Klima des Gebets, das Medjugorje von anderen Orten unterscheidet. An Erscheinungsstätten und in Gotteshäusern, vor Ikonen der Muttergottes oder Heiliger erwartet man sich natürlich das Gebet. Aber hier in Medjugorje breitet sich dieses Klima nach außen, in die Welt hinein aus. Es ist beeindruckend, dass hier die Pilger überall mit dem Rosenkranz in den Händen betend gehen: auf der Straße, beim Besteigen der Berge, einfach überall. Ich glaube, das ist ein Beweis für die Einzigartigkeit von Medjugorje, die man neu wertschätzt.

Des Weiteren konnte ich mich von der Anwesenheit so vieler Jugendlicher selbst überzeugen. Es ist zwar das 30. Jugendfestival, aber ich habe mich gefühlt, als ob ich einen Weltjugendtag im Kleinen erleben würde. Ich denke, dass dieser Moment sehr wichtig ist, weil er Medjugorje definiert und weil das für uns alle von großer Bedeutung ist. Nicht nur die überwältigende Anzahl an Jugendlichen ist beeindruckend, sondern auch die erstaunliche Glaubensbildung, die sie an diesem Ort erfahren dürfen. Das Gebetsklima wird durch die Katechesen und den Dialog mit so vielen Jugendlichen aus allen Teilen der Welt erweitert. Diese Bildung ist heute für die Neuevangelisierung besonders wichtig“, so Erzbischof Fisichella.

Erzbischof Hoser: Das Jugendfest hat eine globale Dimension bekommen!

Auf die veränderte Situation wies Erzbischof Henryk Hoser, der nun für Medjugorje verantwortliche Visitator, hin. Im Gespräch mit Radio Mir Medjugorje sagte er nach dem „Mladifest“: „Ich möchte noch eines hervorheben, nämlich die Anwesenheit der Hirten der Kirche unter den Gläubigen, die hier waren. Während des Jugendfestes waren 14 Hirten anwesend, Verantwortliche der Kirche wie Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe, darunter drei Vertreter des Heiligen Stuhls. Zusammenfassend kann ich nur sagen, dass wir alle sehr glücklich sind; denn das Jugendfest hat eine globale Dimension bekommen.“

 Über die Reaktionen und Rückmeldungen der Gäste aus dem Vatikan sagte Erzbischof Hoser: „Die Bischöfe, Erzbischöfe und Kardinäle aus Rom und anderen Orten waren zunächst überrascht. Sie entdeckten eine unbekannte Realität, die ihnen bislang verborgen war. Sie waren sehr bewegt von der Atmosphäre des Jugendfestivals, von der Begeisterung und Freude der Jugendlichen. Sie waren fasziniert von deren Fähigkeit, hier in völliger Stille zu bleiben – es waren junge Leute, die sonst ständig in Lärm leben. Und was diese Kardinäle und Bischöfe überraschte, war, wie die Jugendlichen auf die Katechesen reagierten.“ Erzbischof Hoser stellte fest, sie seien aufmerksame, ruhige Zuhörer gewesen, die am Ende der Vorträge mit tosendem Applaus reagiert und damit zu verstehen gegeben hätten, dass sie den Ausführungen gefolgt waren und aufmerksam aufgenommen hatten, was gesagt worden war.

Drei Besonderheiten von Medjugorje

Die kirchlichen Würdenträger hätten drei Besonderheiten von Medjugorje wahrgenommen. „Das erste sind die Beichten“, so Erzbischof Hoser. „Es gab 700 Priester, die Beichte hörten. Tagsüber nahmen sie stundenlang den jungen Menschen die Beichte ab. Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt ist die Eucharistische Anbetung – die Anbetung des Allerheiligsten Sakraments und die Verehrung des Kreuzes – alles liturgische Praktiken, die gemeinsam mit der Beichte in der restlichen Welt fast verschwunden sind. Und der dritte Aspekt, den sie bemerkt haben, ist das Rosenkranzgebet. Dies ist der Ort, an dem der Rosenkranz täglich gebetet wird. In vielen Ländern wird der Rosenkranz nur noch als Gebet der älteren Frauen betrachtet. Und hier erleben wir junge Menschen mit Rosenkränzen in den Händen.“

Erzbischof Pezzuto: Junge Menschen werden vorbereitet, Zeugnis zu geben!

Medjugorje ist ein Ort, an dem Menschen Gottes Barmherzigkeit bezeugen. „Ein Aspekt, der heute in der Kirche Bedeutung haben muss, ist der des Zeugnisses“, so der Apostolische Nuntius für Bosnien und Herzegowina, Erzbischof Luigi Pezzuto, im Gespräch mit Radio Mir Medjugorje. „Ich betrachte das Jugendfest als Vorbereitung auf das Zeugnis, aber auch selbst als praktisches Zeugnis.“

Jugendliche aus verschiedenen Kontinenten sprachen beim „Mladifest“ über ihre Glaubenserfahrungen. So berichtete Luk Sherman, wie er mit seinen Freunden seit zehn Jahren Jugendgebetstreffen in Hongkong organisiert. Seine Gebetsgemeinschaft heißt „Touch“ („Berühren“) und will mit diesem Namen daran erinnern, was seit 38 Jahren in Medjugorje geschieht: dass hier der Himmel die Erde berührt.

Die 28-jährige Anna Paola Keller Sarmiento lebt in Miami, Florida. Sie sprach beim Jugendfest davon, wie sie, nachdem sie vor vier Jahren aus Argentinien in die USA gezogen war, die vielen Jugendlichen mit Problemen, Depressionen und Abhängigkeiten sah. Da erinnerte sie sich an die Eucharistische Anbetung, die sie bei den Besuchen mit ihren Eltern in Medjugorje erlebt hatte und begann in einer Pfarrei in Miami mit sechs Freunden, Gebetstreffen abzuhalten, während der sie eine Stunde lang nonstop sangen. In der Zwischenzeit ist daraus die Gebetsgemeinschaft „Agnes“ entstanden sowie ein Chor, von dem auch die Hymne des diesjährigen Jugendfestivals stammte.

Beeindruckend war auch das Zeugnis von Branislav Babjak, einem 39-jährigen Slowaken, der vor drei Jahren in Košice zum Priester geweiht wurde. Seine Berufung zum Priestertum erkannte er, als er ein zweites Mal am Jugendfestival in Medjugorje teilnahm.

Und Sr. Brigitta, eine junge Klarissin, erzählte, wie sie in Medjugorje zur Entscheidung der Ganznachfolge gefunden hatte. Sie gab ihr Zeugnis für die Jugendlichen beim Mladifest per Videoschaltung aus der Klausur ihres Kloster Brestowsko in Bosnien. Dabei ermutigte sie die Jugendlichen, den Weg, auf den Gott uns ruft, ohne Angst zu gehen. Denn Jesus ist bei uns!

„Die Bischöfe sollen Wallfahrten nach Medjugorje organisieren!“

Das 30. Internationale Gebetstreffen der Jugend in Medjugorje hat nach Ansicht von Erzbischof Pezzuto einen deutlichen Auftrag für die Zukunft vorgegeben: „Wir überlegen bereits, wie wir die Bischöfe der Universalkirche einbeziehen können, so dass sie nicht nur hierherkommen, sondern sich auch wie ihre Laien und Priester engagieren, um für die Jugend in ihren Diözesen die Teilnahme am Jugendfest in Medjugorje zu organisieren und auch andere Pilgerfahrten nach Medjugorje“, so Erzbischof Pezzuto.

Bei seiner Entscheidung, offizielle Wallfahrten nach Medjugorje zu erlauben – was viele Gläubige als großes Geschenk betrachten –, ist Papst Franziskus offensichtlich der Empfehlung des sog. „Ruini-Berichts“ gefolgt, in dem zur Aufhebung des Verbots von Wallfahrten nach Medjugorje geraten wird. Bereits in seinem Schreiben „Evangelii gaudium“ aus dem Jahr 2013 hatte Papst Franziskus die Bedeutung der Volksfrömmigkeit hervorgehoben. All dies scheint mit ein Grund zu sein, warum er sich durch seinen Apostolischen Visitator persönlich der pastoralen Situation am Wallfahrtsort annimmt.

In seiner Grußbotschaft an die Teilnehmer des Mladifestes schrieb Kardinal Christoph Schönborn: „Schritt für Schritt hat unser Heiliger Vater in den vergangenen Jahren Zeichen gesetzt, dass Medjugorje ein gesegneter Ort ist, an dem die Muttergottes, die Gospa, den Menschen so nahe ist und so viel Hilfe schenkt. Wir können ihm alle nur von Herzen danken für seine kluge und liebevolle Hirtensorge.“ Das Tor zur Quelle, an der Millionen von Menschen Stärkung im Glauben, Heilung, Umkehr und ihre Berufung gefunden haben, steht jetzt weit offen für alle, die dürsten nach einem Neubeginn, nach einem Leben in Fülle, nach Gottes Nähe.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Serbisches Heiligtum unter dem Zeichen „Maria – Mutter Europas“

Auf den Spuren der Donauschwaben

Pater Notker Hiegl OSB, der Gründer der Gebetsgemeinschaft „Maria – Mutter Europas“, wählte als weiteren Stern für seine europaweite Partnerschaft ein Heiligtum in seiner angestammten Heimat. Im Rahmen einer Donauwallfahrt in der Woche nach Pfingsten dieses Jahres wurde das serbische Doroslo feierlich in die Partnerschaft aufgenommen. Damit ist für ihn in seiner „Initiative zur Erhaltung des Christentums in Europa ein weiterer Meilenstein geschafft“.

Von Notker Hiegl OSB

Eröffnungsgottesdienst in Donaueschingen

Am Pfingstmontag, den 10. Juni 2019, machte sich eine 33-köpfige Pilgergruppe aus verschiedensten Orten der Erzdiözese Freiburg auf den Weg zu einer Friedenswallfahrt nach Serbien in die ehemalige Heimat der Donauschwaben. Im Reisebus mit dabei war Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, der zusammen mit einem Filipowoer Diakon und einem Milititscher Pater in der barocken St. Johann-Kirche bei der Donauquelle am Zusammenfluss von Brigach und Breg im Schlosspark von Donaueschingen die Eröffnungsmesse feierte.

Nach der Wolga ist die Donau der längste Fluss Europas, in Deutschland von West nach Ost verlaufend. Von Donaueschingen (694 m.ü.M.) bis zum Schwarzen Meer ist sie 2840 km lang. Die Donau entlang führte auch unser Weg.

In Ulm besuchten wir die Gedenkstätte der Donauschwaben. Denn von hier aus waren unsere donauschwäbischen Vorfahren in der Zeit von Maria Theresia und Josef II. in den Südosten Europas ausgesiedelt. Mit den Ulmer Schachteln waren sie den Fluss hinab bis nach Apatin in der Puszta gefahren, wo sie in die damals fast menschenleere ungarische Tiefebene verteilt wurden und einen deutschsprachigen Riegel gegen das Türkenreich bildeten. Hier sind Prinz Eugen, der edle Ritter, sowie die Schlacht bei Peterwardein und Belgrad zu erwähnen.

Wallfahrtsstätte Mariahilf bei Passau

Seit dem frühen Mittelalter war die Bischofsstadt Passau einer der geistlichen Mittelpunkte Bayerns und Österreichs. Eine herausragende Rolle spielte dabei von Anfang an die Wallfahrtsstätte Mariahilf. Im daneben liegenden Kloster übernachteten wir zum ersten Mal. Dieser 1627 gegründete Wallfahrtsort gehört zu den bedeutsamsten in Europa, obwohl er durch die Wirren der Säkularisation in Vergessenheit geraten war. Über 500 Kirchen und Kapellen in der ganzen Welt, die sich diese Stätte zum Vorbild genommen haben und ebenso den Namen „Mariahilf“ tragen, weisen darauf noch heute hin. Das Bild „Maria, Hilfe der Christen“ ist denn auch das verbreitetste Marienbild im Donauraum, auch in der Batschka und im Banat bis nach Belgrad, und auch in Doroslo, wohin es unsere Vorfahren vor gut 200 Jahren brachten und wohin wir unterwegs waren.

Die Reise führte uns zunächst weiter in die Wachau, die als der schönste Flussabschnitt in Österreich gilt. Hier erlebten wir das berühmte Benediktinerkloster Melk mit der grandiosen Stiftsbibliothek sowie die Basilika in Mariazell, wo wir die hl. Messe feierten. Weiter ging es über Bratislava mit den Schlacht-Denkmälern gegen die Türken und den Krönungsdenkmälern der ungarischen Könige im Martinsdom. Am nächsten Tag fuhren wir nach Esztergom, dem ehemaligen Gran, nicht weit entfernt von Budapest. Hier war an Weihnachten des Jahres 1000 der junge König, der Gründer des ungarischen Staates, gekrönt worden, mit einer Krone, die eigens Papst Silvester II. gesandt hatte: es war König Stephan, der Heilige, der die Organisation der ungarischen Kirche zustande brachte. Diese Stadt war vom 10.-12. Jh. Residenzstadt der ersten ungarischen Könige. Von dort aus fuhren wir Richtung Rumänien bis Caransebes und am nächsten Morgen nach Orsova, einer Kleinstadt in der Nähe des Eisernen Tores. Hier frisst sich die Donau mit ihren unglaublich großen Wassermassen 130 km lang durch das banatisch-serbische Gebirge, besonders zwischen Orsova und Tur-nu-Severin; vor dem Gebirgstor ist die Donau 2 km breit, dann verengt sie sich auf nur noch 165 m, ist dafür aber 35 m tief. Wenige Kilometer weiter folgt ein gewaltiges Stauwerk, das die Donau zu einem See werden lässt, der ungefähr 4 bis 5 km breit ist. Der Pfarrer von Orsova organisierte für uns ein Essen in einem Restaurant direkt am „Donau-See“ mit Rundblick über das ganze Gewässer.

Madonna mit dem Jesuskind

Unten im Bus schlummerte die ganze Zeit über unser Gastgeschenk, eine „Madonna mit Kind“ in einer großen Holzkiste. Das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst in Wiesbaden hatte mir auf meine Bitte hin bestätigt, dass die Ausfuhr der angezeigten Marienfigur zwecks einer Schenkung nach Serbien nicht unter die Genehmigungspflicht fällt. Die Marienfigur, Höhe 125 cm, Breite 60 cm, stammt aus dem 18. Jahrhundert, ist aus Holz geschnitzt und farbig gefasst. Mögliche Attribute, Krone auf dem Haupt und Zepter in der freien Hand, sind verloren. Elegant, doch ohne alle weltliche Raffinesse tritt dem Betrachter beschwingten Fußen in Sandalen eine edle, nach dem weißen Hermelin königliche Dame entgegen, der man ansieht, dass sie mehr verkörpert als oberflächlichen Glanz. Ihr Antlitz unter reichem, von einem Band gebändigten, am Hinterkopf gebundenen Haar macht einen gesammelten Eindruck, die Augen niedergeschlagen auf den Beter gerichtet, die Lippen leicht zu einem Lächeln wie zu einem guten Wort geöffnet, das der Hilfe suchende, bittende Mensch braucht. Der Knabe, hübsch pausbäckig, mit steiler Stirn ganz in origineller Fassung wendet sich mit ausgebreiteten Ärmchen den Besuchern zu.

An der rumänisch-serbischen Grenze wurde die Holzkiste mit ihren 40 Verschraubungen geöffnet. Als die Madonna da friedlich mit dem Jesuskind in der Kiste lag, machten die Grenzer ein Kreuzzeichen und winkten uns durch.

100 Meter weiter, die serbische Grenze. Die hatten von der rumänischen Grenzpolizei schon Nachricht bekommen, es wurden nur die Pässe kopiert und wir durften ohne sonstige Kontrolle einfahren. Natürlich fuhren wir gleich Richtung Milititsch/Doroslo. Milititsch ist mein Geburtsort, die Kirche in total ruinösem Zustand, wohl das größte Taubenhaus Europas. Mein Geburtshaus um die Ecke ist abgerissen.

Höhepunkt im Heiligtum „Maria – Mutter Europas“

Wir fuhren beim Dorosloer Heiligtum „Maria Brünnele“ vor. Die mitfahrenden Pilgermänner machten es sich zur Ehre, die schwere Kiste vom Bus bis zur Kirche zu schleppen. Dort wurde sie ausgepackt. In der Kirche „Maria hilf“ (Passauer-Bild) hielt Erzbischof Dr. Robert Zollitsch mit dem dortigen Rektor Arpad Verebellyi das Hochamt samt einer Weihe der Statue.

Dann wurde die Muttergottesfigur von den Pilgern in das neuerbaute Heiligtum übertragen. Bei der Prozession trug ich vorneweg ein großes Kreuz, danach kamen die Statue, der Bischof und die anwesende Geistlichkeit, dann die Pilger. Und ein Staunen über die Schönheit und Größe des neuerbauten Heiligtums „Maria Mutter Europas“ erfasste die Pilger. Ein würdiger Platz in der Apside ist nun der „Thron Mariens“. Überglücklich, überglücklich!

An diesem Tag folgte ein weiterer Höhepunkt, nämlich in Filipowo, dem Heimatort unseres Erzbischofs. Dort waren am Ende des Krieges deutsche Jugendliche und ältere Männer zusammengetrieben worden. Manche zogen noch stärkere Schuhe an, weil sie dachten, sie müssten für die Serben arbeiten. Als die 213 Jung- und Altmänner nach der Dorfgrenze ankamen, mussten sie auf dem „Heufeld“ eine Grabstätte ausheben und dann wurde die Hälfte der Männer erschossen. Der Rest musste die Leichen mit Erde zudecken. Dann das eigene Grab schaufeln. Wenige Jugendliche mussten auch diese Leichen zudecken und sich selbst in ein drittes Grab legen und wurden so erschossen. Vor wenigen Jahren wurde erlaubt, hier ein Kreuz aufzustellen und die Namen der Hingerichteten in den Sockel der Grabesanlage einzuschreiben. Der 16-jährige Bruder des Erzbischofs war unter den Ermordeten. Wir legten jeder eine Rose nieder.

Ausklang

In Sombor in der Nähe des Karmeliterklosters, in dem der Freund meines Vaters Prior war, hatten wir übernachtet. Unsere Fahrt führte uns nach Pannonhalma in Ungarn, ebenfalls eine Gebetsstätte „Maria Mater Europae“. Erzabt Cirill T. Hortobayi, der auch Bischof der Diözese Pannonhalma ist, empfing uns äußerst freundlich. Pannonhalma hat die älteste Schule Ungarns. Die Tradition des Schuldienstes reicht bis zum Jahr 996 zurück. Schon der hl. Stefan hatte seinen Sohn Prinz Emmerich zur Erziehung hierher gebracht. Auch heute ist das Benediktiner-Gymnasium Pannonhalma eine der führenden Schulen Ungarns. Wir besuchten die Porta Speciosa, den Kreuzgang, die Basilika mit dem Grab Ottos von Habsburg unten in der Altarkrypta und die Frauenkapelle gut 200 m vom Klosterkomplex entfernt mit der Grablege der Mönche.

Die weitere Fahrt führte uns über „Maria Taferl“ in Österreich nach dem niederbayerischen Weltenburg, einem letzten Juwel unserer einwöchigen Wallfahrt. Die Woche hatte mich sehr ermüdet, war aber auch ein Höhepunkt in meinem 78-jährigen Leben. Dank an den Herrgott, Dank an unsere liebe Muttergottes Maria, Dank an unseren Erzbischof Zollitsch, Dank an alle liebenswerten Teilnehmer – in Jesus und Maria und Josef!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Mit Hiob über Striets Gottesbegriff nachdenken

Wie groß darf Gott sein?

Der Freiburger Fundamentaltheologe Professor Dr. Magnus Striet (geb. 1964) veröffentlichte 2018 das Buch „Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der ‚Schleifung der Bastionen‘“. Damit reagierte er auf die 2017 erschienene „Streitschrift“ des emeritierten Bonner Dogmatikprofessors Dr. Karl-Heinz Menke (geb. 1950) mit dem Titel „Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr?“ Menke wendet sich gegen die Forderung, Freiheit und Autonomie des Menschen müsse als oberstes Gesetz geachtet werden. Demgegenüber zeigt er auf, dass sich Wahrheit und Freiheit nicht widersprechen. Man muss die beiden Werke nicht gelesen haben, um aus dem tiefgründigen Kommentar von P. Engelbert Recktenwald FSSP Gewinn zu ziehen und wertvolle Anregungen zu erhalten.

Von Engelbert Recktenwald

Magnus Striet hat einen speziellen Freiheitsbegriff entwickelt, den er als Messlatte an jedes Handeln anlegt – auch an das Handeln Gottes. Nur ein Gott, der diesem Maßstab genügt, kann akzeptiert werden. Denn Freiheit ist, wie Striet in seinem Buch „Ernstfall Freiheit“ schreibt, das schlechthin Höchste: nicht nur für den Menschen, sondern auch für Gott. Sie kennt keine andere Grenze als die Freiheit des Anderen, und innerhalb dieser Grenze bestimmt sie selber, was sie darf und soll. Deshalb muss auch Gott „freiheitsfürchtig“ sein.

Der biblische Gott, der Abraham mit dem Isaak-Opfer auf die Probe stellte, fällt deshalb bei Striet durch. Ein solcher Gott sei ethisch nicht verträglich. Mit solcher Kritik hatten schon die Aufklärer den jüdisch-christlichen Offenbarungsanspruch in Frage gestellt. Mit ihnen verabschiedet sich der katholische Theologe Striet vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Aber er meint trotzdem, die Bibel für sein Konzept vereinnahmen zu können, denn in ihr gebe es eine geschichtliche Entwicklung hin zu einem freiheitstheoretisch eingehegten Gottesbegriff, wie er ihn entwirft. Eine Zwischenstation dieser Entwicklung sieht er in der Geschichte von Hiob. Denn diese lehre: „Nur dann ist Jahwe akzeptabel, wenn er auf der Seite des Menschen steht. Was nicht einsichtig zu machen ist, wird auch nicht akzeptiert.“ Deshalb würden Hiobs Freunde in die Schranken gewiesen, als sie behaupten, „irgendetwas habe sich Hiob schon zu Schulden kommen lassen. Nein, der biblische Hiob besteht auf seiner Unschuld und wird hierin von Gott selbst gerechtfertigt.“

Hier stellt Striet die Verhältnisse auf den Kopf. Es ist genau umgekehrt: Es sind Hiobs Freunde, die nach Striets Manier Gott ethisch verträglich und sein leidbringendes Handeln einsichtig machen wollen. Das tun sie, indem sie es als Strafe für eine Schuld interpretieren. Dieses Kalkül wird von Gott verworfen. Gegenüber Hiob besteht Gott auf seiner Souveränität. „Wo warst du, da ich die Erde gründete? Sage an, bist du so klug!“ (38,4). In immer neuen Wendungen stellt er heraus, dass es für Hiob unmöglich ist, den Gottesstandpunkt einzunehmen, um Gott beurteilen zu können. Gott verweigert nicht nur jede Rechtfertigung seines Handelns, sondern macht deutlich, dass er eine solche Rechtfertigung grundsätzlich nicht nötig hat. Der Mensch ist weder fähig noch befugt, über Gottes Handeln zu richten. „Wer ist der, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Verstand?“ (38,2). Gott ist größer als unsere begrenzte Erkenntnis. Das ist das direkte Gegenteil von Striets Konzept, das nur einen Gott gelten lässt, der in sein Anforderungsschema passt. Striet verkehrt das biblische Denken ins Gegenteil: In der Bibel ist es in beiden Fällen (bei Abraham und bei Hiob) der Mensch, der die Prüfung bestehen muss. Bei Striet ist es Gott, der den moralischen Test bestehen muss, und zwar anhand von Kriterien, die laut Striet menschengesetzt und Errungenschaften der Moderne sind.

Hiob wird von Gott vor seinen Freunden gerechtfertigt, das sieht Striet richtig. Aber warum? Weil er die Wahrheit gesprochen hat, als er auf seiner Unschuld bestand. Thomas von Aquin kommentiert das mit den Worten: „Wer die Wahrheit sagt, kann nicht besiegt werden, mit wem immer er auch streitet.“ Das ist eine Ohrfeige für Striets Umgang mit dem Wahrheitsbegriff, den er fast durchgängig negativ konnotiert. Karl-Heinz Menke gab seinem Buch, auf das Striets „Ernstfall“ die Antwort darstellt, den Titel „Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr?“ Striet schafft es an keiner Stelle seiner Schrift, für das Wort Jesu von der freimachenden Wahrheit (Joh 8,32) eine positive Würdigung zu finden. Stattdessen stellt er es im Blick auf Menke unter Ideologieverdacht: „Die Rede von der Wahrheit, die frei macht, ist jedenfalls schlicht irreführend, weil sie eine Objektivität beziehungsweise ein Wissen um Gott und dessen Willen behauptet, die es so nicht gibt.“ Striet korrigiert den johanneischen Jesus.

Spaemann bemerkt, dass Hiob von der Antwort Gottes nicht abgestoßen wird. Hiob vertraut auf Gott, ohne ihm Bedingungen zu stellen, und sieht sein Vertrauen durch die Offenbarung von Gottes allmächtiger Souveränität bestätigt: „Ich weiß nun, dass du alles kannst und kein Gedanke dir unmöglich ist“ (42,2).

Interessanterweise gibt es auch einen modernen Fall solcher Erfahrung. Esther Maria Magnis schildert in ihrem autobiographischen Buch „Gott braucht dich nicht“, wie sie, nachdem sie Gott wiedergefunden hatte, ihre eigene Wut auf Gott in Hiob wiedererkennt und wie dann die Antwort Gottes auf sie wirkt: „Ich konnte es nicht fassen, als ich las, was da stand. Weil es genau das war, was ich kennengelernt hatte. Gott gibt diesem Menschen auf seine Frage hin keine Erklärung, er donnert ihn mit seiner Wirklichkeit an und fragt ihn über Seiten hinweg: ,Wo warst du, als ich die Erde gründete, sage an, bist du so klug? …‘ Ich heulte, als ich das las. Ich konnte das gar nicht fassen. Das war der Gott, zu dem ich betete.“ Magnis hatte Gott gefunden, als ihr nach vielem Nachdenken und existentieller Suche die Evidenz aufging, dass Gott die Wahrheit ist, jene Wahrheit, die wir auch in jedem moralischen Urteil voraussetzen. „Wir würden uns nicht trauen zu sagen, dass etwas ungerecht ist, glaubten wir nicht an Wahrheit. … Wahrheit ist Gott. Das ist klarer als dieses Holz an meinem Gesicht.“

Das Wahre an Striets Ansatz ist, dass es keinen Widerspruch zwischen Gottes Handeln und der ethischen Wahrheit geben kann, die wir erkennen. Gott steht nicht jenseits von Gut und Böse. Aber wir sehen nur einen winzigen Ausschnitt von Gottes Handeln. Wir aufgeklärten Menschen können das Drama der menschlichen Geschichte vor der Aufführung des letzten Aktes ebenso wenig beurteilen wie Abraham oder Hiob ihre Prüfung vor derem Ende. Dass wir nicht den Gottesstandpunkt einnehmen können, gibt Striet selber zu – wenn auch nur in jenen Fällen, die ihm gelegen kommen, um sie gegen Menke zu wenden.

Gegenüber des Aquinaten Würdigung der Wahrheit als Siegesgarant könnte Striet einwenden, dass es bei Hiob um die banale Satzwahrheit in Bezug auf einen empirischen, autobiographischen Sachverhalt diesseits aller philosophischen Spekulation gehe: sagen, was ist. Dieser Einwand übersieht die Normativität des Wahrheitsbegriffs, die sich auf allen Ebenen vom einfachen Beobachtungssatz bis zur Identifizierung der Wahrheit mit Gott durchhält. Anselm von Canterbury hat dies in „De veritate“ durchdekliniert und die Kontinuität des Normativitätsmoments in den Begriff der rectitudo (Rechtheit) gefasst, die auf höchster Ebene die Gerechtigkeit konstituiert als die rectitudo voluntatis propter se servata (die Rechtheit des Willens, die um ihrer selbst will bewahrt wird). Siebenhundert Jahre später wird Kant vom „Wert“ des „guten Willens“ sagen, dass er „über alles geht“ (GMS). Dieser durch den Willen zu realisierende höchste Wert ist der Rechtsgrund für die Freiheit. Und die „evidente Erfahrung unbedingten Sollens“, wie Striet Kants Einsicht treffend beschreibt, ist der Rechtsgrund für unser Urteil, dass es Freiheit gibt. Deshalb gilt das Gegenteil von Striets Axiom: Nicht die Freiheit ist das Höchste, sondern das Gute, christlich ausgedrückt: die Liebe. Die Freiheit ist um des Guten willen da. Die Freiheit hat ein Wozu. Allein die Liebe (als höchste Realisierung des Sittengesetzes) ist Selbstzweck.

Für Anselm ist Gott dasjenige, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Will man ihm nicht logische Inkonsistenz unterstellen, muss man die in „De Veritate“ explizierte und als höchste moralische Instanz etablierte Gerechtigkeit mit Gott identifizieren. Anselms Evidenz Gottes als der höchsten sittlichen Instanz, über die hinaus Größeres (und Besseres!) nicht gedacht werden kann, Kants Evidenz der unbedingten Sollenserfahrung, Magnis’ Evidenz Gottes als der Wahrheit – es sind Variationen derselben Erkenntnis eines Unbedingten, dessen Erfahrung uns den Weg zu Gott ebnet, ohne unsere Freiheit zu vergewaltigen.

Striet fällt hinter dieses Erkenntnisniveau wieder zurück, wenn er aufgrund der Geschichtlichkeit unseres Denkens den normativen Kern vernünftiger Selbstbestimmung der Kontingenz unterwirft.

Natürlich ist mein eigenes Denken kontingent und bedingt. Aber das Unbedingte von dieser Bedingtheit betroffen zu denken, bedeutet aufzuhören, das Unbedingte zu denken. Was für einen lächerlichen Gottesbegriff uns Striet infolgedessen zumutet, wird jedem Nachdenklichen an seiner Behauptung deutlich, dass Gott „nur Akzeptanz finden“ dürfe, „wenn er den moralisch-ethischen Maßstäben des Menschen entspricht“, die ihrerseits wiederum kontingentes Produkt historischer Selbstnormierung seien. Kurz: Der Mensch wird zum Gesetzgeber Gottes.

Der normativen Ohnmacht Gottes entspricht seine metaphysische: Für Striet ist Gott nicht der Schöpfer unseres freien Ichs, weil Freiheit selbstursprünglich sei. Gott habe die Welt erschaffen und dann gehofft, dass sich „Freiheit regt“. Damit wird der Gedanke hinfällig, dass jeder Einzelne von uns ein verwirklichter, individueller Liebesgedanke Gottes ist, und dass Liebe bedeutet, einen Menschen so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat (Dostojewski).

Gott kennt nach Striet weder mich noch meine freien Entscheidungen im Voraus. Das Beten des Psalms 139 wird unmöglich. Aus dem Schöpfer, dem ich vertraut bin und der mir vertraut werden soll, so dass ich vertrauend beten kann „Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, ehe noch einer von ihnen erschien“ (Ps 139,16), wird ein Fremder, dessen Aufgabe es ist, meine Freiheit zu schützen, der mir aber ansonsten möglichst wenig dreinreden soll. Liebe zu Gott als Bindung, als Hingabe und damit als Übergabe der Freiheit in die Hand des Geliebten, wird unmöglich. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Striet den Gott der „westlichen Theologietraditionen“, gegen den er seinen „freiheitsfürchtigen“ Gott abgrenzt, in den dunkelsten Farben malt: „Lieber gottlos unglücklich sein, als sich noch in den Fängen eines Gottes zu befinden, der keine Luft zum Atmen und für das Diesseits lässt.“ Der Psalmist dagegen empfindet die Nähe Gottes als beglückend: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“ (139,5).

Gott ist größer, als Striet es sich ausdenkt. Diese Größe nicht als Bedrohung meiner Freiheit, sondern als ihren Ursprung und Ziel, als ihre Heimat und den Ort ihres Zu-sich-Kommens zu erfassen, ist der Lackmustest für die Tauglichkeit jedes Versuchs, Gott zu denken. Vielleicht wäre Striet geholfen, wenn er einmal mit tiefster Glaubenszustimmung Psalm 139 beten könnte. Die von ihm so verkannten Theologen von Augustinus bis Ratzinger konnten es.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Neues vom Turiner Grabtuch wirft ein Licht auf den mystischen Leib Christi

Die gegenwärtige Passion der Kirche

Als Physiker hat Professor Dr. Wolfgang Koch eine Publikation der Oxforder Universität vom 22. März 2019 mit besonderem Interesse aufgenommen. In ihr wird dokumentiert, dass die naturwissenschaftliche Untersuchung, die 1989 am Turiner Grabtuch durgeführt worden ist, schwere handwerkliche Fehler aufweist. Damals war behauptet worden, nach der C14-Methode könne das Tuch zweifelsfrei ins Mittelalter datiert werden. Nun verlangen namhafte Wissenschaftler neue Analysen und Studien. Dorothea und Wolfgang Koch nehmen diese Neuheit zum Anlass, nach dem mystischen, eucharistischen und zeitlichen Leib des Herrn zu fragen. Die gegenwärtige Passion der Kirche, des geheimnisvollen Leibes Christi, sehen sie im Licht des Leidens, durch das bis heute Erlösung geschieht.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Für die Theologin Johanna Rahner ist die katholische Kirche längst gespalten, berichtet katholisch.de[1] "Wir stehen nicht vor einer Spaltung, wir haben sie bereits – nur traut sich keiner offen darüber zu reden“, analysiert die römisch-katholische Professorin für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Universität Tübingen. Ihre Argumentation scheint stimmig zu sein. Allerdings lässt sie keinen Zweifel daran, auf welcher Seite der Spaltung[2] sie sich selbst, ja die deutsche Kirche, sieht: Die Kirche müsse von ihrer Ideologie Abschied nehmen, eine übergeschichtliche Größe zu sein. Alles, was in ihr existiere, sei geworden und könne damit auch anders werden. Geschichte und Tradition enthielten ein großes Innovationspotenzial, das gehoben und aktualisiert werden müsse.

Wenn behauptet wird, „alles“ in der Kirche könne „auch anders werden“, ihre Identität durch die Zeit sei nur „Ideologie“, von der sie „Abschied nehmen“ müsse, muss man sich emanzipieren. Wer seine Kirche liebt, orientiert sich vielleicht an den Leuten von Beröa. Denn von ihnen heißt es, „sie forschten täglich in den Schriften, ob es sich tatsächlich so verhalte“.[3] Umso mehr tut dies Not, da wenig von jenen zu hören ist, deren Amt als Hirten und Bischöfe es ist, „d’aufzuschauen“,[4] nämlich auf das, was vor sich geht im kirchlichen Schafsstall.

Der geheimnisvolle Leib Jesu

Worin besteht das überzeitliche Wesen der Kirche? Eine klare Antwort gibt die „Magna Charta der modernen Ekklesiologie“,[5] wie Bischof Rudolf Graber die Enzyklika Mystici corporis (1943) nannte. Um das Wesen der wahren Kirche Christi zu erklären, sei nichts vornehmer und vorzüglicher, nichts göttlicher „als jener Ausdruck, womit sie als ‚der Mystische Leib Jesu Christi‘ bezeichnet wird“, lehrt Pius XII. Dieser Name erblühe gleichsam aus allem, was die Heilige Schrift und die heiligen Väter darüber vorbringen. Auch Humani generis (1950), das letzte seiner vier großen Lehrschreiben, verkündet, dass „kein Unterschied zwischen dem mystischen Leib Christi und der katholischen Kirche“ bestehe.

Wenn die Kirche also geheimnisvoll Jesu Leib ist, soll uns nicht beunruhigen, wenn auch dieser Leib erleidet, wodurch er uns, die Glieder seines Leibes, erlöst. Aus dieser Sicht betrachtet der Physiker und Mathematiker Blaise Pascal die schlafenden Jünger und Jesu Leiden aller Zeiten: „Bis ans Ende der Welt wird die Agonie Jesu dauern: nicht schlafen darf man bis dahin“.[6] Der vielleicht meistgelesene philosophisch-religiöse Text der europäischen Geistesgeschichte ermutigt aber auch und weist Wege: „Tröste dich, du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest. … Lasse dich von meinen Vorschriften leiten, siehe, wie ich die Jungfrau und Heiligen geführt, die mich in ihnen handeln ließen. … Ich bin dir gegenwärtig durch mein Wort in der Schrift, durch meinen Geist in der Kirche und die Erleuchtungen, durch meine Macht in den Priestern, durch mein Gebet in den Gläubigen.“

Zeitlos ist Pascals Einsicht, auf welche Weise wir am Leiden seines geheimnisvollen Leibes teilhaben: „Nur seine Wundmale, so scheint mir, ließ Jesus Christus nach seiner Auferstehung berühren: Noli me tangere. Nur seinem Leiden müssen wir uns vereinen. Als Sterblicher gab er sich zur Speise im Abendmahl, als auferstanden den Jüngern in Emmaus, als aufgefahren zum Himmel der ganzen Kirche.“ Pascal meint das Heilige Messopfer,[7] durch das wir seinen eucharistischen Leib empfangen.

Passion des mystischen Leibes

Auf seiner Reise nach Fatima 2010 spricht Benedikt XVI. von der Erscheinung dort als „übernatürlichem Impuls“, der „tatsächlich von der Jungfrau Maria, vom Übernatürlichen herkommt“. Darin sei „die Notwendigkeit eines Leidens der Kirche“ angekündigt: „Die größte Verfolgung der Kirche kommt nicht von den äußeren Feinden, sondern erwächst aus der Sünde in der Kirche. … Und darum ist es für die Kirche zutiefst notwendig, dass sie neu lernt, Buße zu tun, die Reinigung anzunehmen.“[8]

Als papa emeritus versucht er im Frühjahr 2019 den Missbrauchsskandal als Passion des mystischen Leibes zu verstehen. Dem Schöpfergott stehe der Teufel gegenüber, der die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung schlechtrede. „Es geht heute in der Anklage gegen Gott vor allen Dingen darum, seine Kirche als Ganze schlechtzumachen und uns so von ihr abzubringen. Die Idee einer von uns selbst besser gemachten Kirche ist in Wirklichkeit ein Vorschlag des Teufels, mit dem er uns vom lebendigen Gott abbringen will durch eine lügnerische Logik, auf die wir zu leicht hereinfallen.“

Aber die Kirche bestehe auch heute nicht nur aus bösen Fischen und aus Unkraut. „Die Kirche Gottes gibt es auch heute, und sie ist gerade auch heute das Werkzeug, durch das Gott uns rettet. Es ist sehr wichtig, den Lügen und Halbwahrheiten des Teufels die ganze Wahrheit entgegenzustellen: Ja, es gibt Sünde in der Kirche und Böses. Aber es gibt auch heute die heilige Kirche, die unzerstörbar ist.“ Gott habe auch heute seine Zeugen, martyres. „Die Kirche von heute ist mehr denn je eine Kirche der Märtyrer und so Zeuge des lebendigen Gottes."[9]

Zeugnis des zeitlichen Leibes?

„Die neutestamentliche Botschaft ist nicht nur Idee“, schreibt Benedikt als Papst. „Für sie ist gerade das Geschehensein in der realen Geschichte in dieser Welt wesentlich: Der biblische Glaube erzählt nicht nur Geschichten als Symbole für übergeschichtliche Wahrheiten, sondern er gründet auf Geschichte, die sich auf dem Boden dieser Erde zugetragen hat.“[10]

In diesem Sinne stärkt das blutbefleckte Turiner Grabtuch, das den zeitlichen Leib Jesu barg, den Glauben vieler Christen, der Glieder seines mystischen Leibes, die seinen eucharistischen Leib empfangen. 1981 gelangt das Shroud of Turin Research Project zu dem Ergebnis: „Wir können vorerst feststellen, dass das Grabtuchbild die wirklichen menschlichen Formen eines gepeinigten, gekreuzigten Menschen darstellt. Es ist nicht das Produkt eines Künstlers. … Keine bekannten chemischen oder physikalischen Methoden … können die Gesamtheit des Bildes erklären.“[11]

Seit 1989 scheint jedoch die Frage, ob das Grabtuch Jesu zeitlichen Leib bezeuge, sein Leiden und seine Auferstehung, negativ beantwortet zu sein: Drei Laboratorien, koordiniert vom Britischen Museum, datieren entnommene Tuchproben mit „abschließender Evidenz“ als mittelalterlich. Das Grabtuch sei eine Fälschung, reagiert die Öffentlichkeit auf den Nature-Artikel,[12] der die Phänomene des Tuches als solches nicht erklärt und die Rohdaten nicht veröffentlicht. Derartige Analysen bestimmen das Alter nicht mehr dem Stoffwechsel unterliegender organischer Substanzen durch den Gehalt an radioaktivem Kohlenstoff C14. Entscheidend ist die Qualität der Proben.

Neues Licht auf das Grabtuch!

In unserer Zeit einer Passion des mystischen Leibes Jesu, seiner Kirche, aber auch seines eucharistischen Leibes durch „unordentliche“ oder sogar „außerordentlich unordentliche“ Zelebration, die den Glauben der Gläubigen nicht nur hart prüft, sondern oft zum Verschwinden bringt, rückt das Grabtuch als Zeugnis seines zeitlichen Leibes unerwartet in den Lichtkegel der Naturwissenschaft.

Obwohl die Resultate von 1989 von Anfang an hinterfragt wurden, gelingt es erst 2017 vier Forschern, Zugang zu den Rohdaten durch einen freedom of information request zu erzwingen. Ein Informationsfreiheitsgesetz, wie es seit 2006 in Deutschland jeder Person voraussetzungslosen Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen gewährt, besteht in Großbritannien seit 2000. Von der deutschen Öffentlichkeit kaum beachtet, werden die Ergebnisse im März 2019 publiziert[13] und seitdem in der Fachwelt diskutiert. Eine statistische Analyse der Rohdaten belegt zweifelsfrei die fehlende Homogenität der Daten. Offenbar sind sie für das Grabtuch als Ganzes nicht repräsentativ. Die Publikation strongly suggests empfiehlt – nachdrücklich – eine Neudatierung. Die kanadische Publizistin Jane Stannus fasst die Diskussion zusammen.[14]

Zur wissenschaftlichen Debatte

Gemäß Walter Kutschera, ehemals Leiter des Instituts für Isotopenforschung und Kernphysik an der Universität Wien, ist es heute einfacher, authentische Kohlenstoffproben aus einer Vielzahl unterschiedlicher Materialien zu gewinnen. Es könnten Messungen mit wenigen Mikrogramm durchgeführt werden, sodass Proben von verteilten Stellen des Grabtuchs entnommen werden könnten, um ein Durchschnittsalter zu bestimmen.

Für ein Objekt wie das Grabtuch sei die Dekontamination der Proben entscheidend, erläutert Liam Kieser, Direktor des Labors für Massenspektrometrie an der University of Ottawa. Das Tuch sei nicht nur von vielen Menschen im Laufe der Zeit mit bloßen Fingern berührt worden, sondern habe auch mehrere Brände überstanden. Während Rauchschäden vergleichsweise einfach zu kompensieren seien, würden die durch Brände entstandenen organischen Dämpfe dauerhafter in das Gewebe eingebettet.

Auch Timothy Jull, einer der Autoren des Nature-Artikels, befürwortet neue Messungen, wie auch der „Grabtuchskeptiker“ Marco Bella, La Sapienza, Rom, da heute die Auflösung der Messverfahren weitaus besser sei. Eigenartig ist seine Äußerung: „Es wird definitiv wieder mittelalterlich sein, aber wenn die Leute das noch bestätigen wollen, habe ich nichts dagegen.“ Eigentlich kennt kein Forscher „definitv“ das Ergebnis seiner Forschung…

Für Philip Ball, einem der Nature-Redakteure des Jahres 1989, verrät jede Verweigerung neuer Untersuchungen Furcht vor deren Ergebnissen. Es sei „höchste Zeit für eine neue Runde von Studien mit State-of-the-art-Methoden“. Angesichts der Geheimhaltung, die bisher die Rohdaten der C14-Datierung umgeben habe, sei es kein Wunder, wenn die Glaubwürdigkeit in Frage gestellt würde.[15]

Ermutigung durch Wissenschaft?

Die Entscheidung für Probenentnahmen zur erneuten Datierung liegt beim Papst. Franziskus habe den Wunsch geäußert, sich mit der modernen Wissenschaft auseinanderzusetzen, schreibt Ball und fragt: „Warum nicht hier anfangen?“ – Naja – überzeugend war die conclusive evidence bisher nicht…

Wenn sich der Glaube auf Geschichte gründet, „die sich auf dem Boden dieser Erde zugetragen hat“, vermag ein naturwissenschaftliches Zeugnis für das Leiden und die Auferstehung des zeitlichen Leibes Jesu gerade heute auch den Glauben an seinen mystischen und eucharistischen Leib zu stärken. Als gläubige Naturwissenschaftler ermutigen wir daher zu einer Neudatierung, wenn nur die wissenschaftliche Seriosität, offenbar anders als vor 30 Jahren, gewährleistet ist.

In seinem prophetischen Buch über „Die Abschaffung des Menschen“ (1943) schreibt C. S. Lewis: „I even suggest that from science herself the cure might come“ – „Ich könnte mir sogar denken, dass von den Naturwissenschaften selbst Heilung kommen könnte.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Theologin Rahner: Katholische Kirche ist längst gespalten, 24.07.2019, www.katholisch.de
[2] schisma (griechisch): Spaltung.
[3] Apg 17,11.
[4] epi-skopein (griechisch): d’raufschauen.
[5] R. Graber (1966): Papst Paul VI. und die innerkirchliche Krisis, Una Voce Helvetica, 13.
[6] Pensées, VII.553, 554.
[7] Der Herr habe es eingesetzt, „um seiner geliebten Braut, der Kirche, ein sichtbares Opfer zu hinterlassen, durch das jenes blutige Opfer, das einmal am Kreuz dargebracht werden sollte, vergegenwärtigt werden … und dessen heilbringende Kraft für die Vergebung der Sünden, die von uns täglich begangen werden, zugewandt werden sollte“, Konzil von Trient, 17.09.1562, in: Denzinger, Nr. 1740.
[8] Interview am 11.05.2010.
[9] „Ja, es gibt Sünde in der Kirche“, Kißlegg 2019.
[10] Jesus von Nazareth, Zweiter Teil, Freiburg i.Br. 2010, 122.
[11] www.shroud.com/78conclu.htm
[12] P. E. Damon et al: Radiocarbon dating of the Shroud of Turin, in: Nature, DOI: 10.1038/ 337611a0, 16.02.1989.
[13] T. Casabianca et al: Radiocarbon Dating of the Turin Shroud: New Evidence from Raw Data, in: Archaeometry, DOI: 10.1111/arcm.12467, 22.03.2019.
[14] J. Stannus (2019): Is it time for new tests on the Turin Shroud?, in: Catholic Herald, 02.05.2019.
[15] Ph. Ball: Twists and Turins. New evidence has re-opened the debate on radiocarbon dating of the Turin Shroud, in: Chemistry World, 09.04.2019. 

Weg der Begegnung der Seele mit Gott nach dem hl. Franz von Sales

Welche Rolle spielt der Wille?

Anna Roth, Theologin und Autorin, gibt einen kurzen Überblick, wie der hl. Franz von Sales das Zusammenspiel der verschiedenen Seelenkräfte sieht. Es geht dabei nicht um philosophische Spitzfindigkeiten, sondern um die Grundlage des Christseins. Als einer der größten Seelenführer in der neueren Kirchengeschichte ist Franz von Sales der Frage nachgegangen: Was ist das Wesen des Willens? Wie entscheidend ist die Erkenntnis und Annahme der Wahrheit? Wie findet die Seele zur Liebesvereinigung mit Gott? Auf der Grundlage dieser Zusammenhänge hat er seine Mitmenschen zur Heiligkeit geführt.

Von Anna Roth

Franz v. Sales (21.08.1567-28.12.1622) entstammte dem Adelsgeschlecht Savoyen und war der Erstgeborene von 12 Kindern. Als Fürstbischof von Genf mit Sitz in Annecy gründete er den Orden der Salesianer. Er gilt als Mystiker, war der Seelenführer von Johanna Franziska von Chantal und wurde zum Kirchenlehrer ernannt.

Erkenntnis und Wille

Bei Franz von Sales geht es primär um die Stellung des Willens im Organismus der Seele. Seine theologisch-psychologischen Ausführungen basieren auf zwei Säulen: Thomas von Aquin einerseits und Aristoteles und Augustinus andererseits.[1] Für ihn steht fest: Als vernünftige Geschöpfe haben wir einen Willen und werden angeregt nach einem Gut zu streben. Das Begehren des Willens bewegt sich auf einer höheren Ebene, und zwar auf der Ebene der Vernunft und der Erkenntnis. Erst die Vernunft und die Erkenntnis, die Franz von Sales in die höchste Seelenstufe verortet, lassen den Willen zum Willen werden.[2] Allerdings gehört das sinnliche Begehrungsvermögen bei ihm zur unteren Seelenstufe. Franz von Sales gliedert also generell die Geistseele in verschiedene Stufen.

So gilt: Dem Wollen geht notwendig das Denken und Erkennen voraus. Am Anfang steht bei uns immer erst das Denken. Und dieses Denken führt uns in einem weiteren Schritt zu einer gewissen Erkenntnis. Und aus dieser Erkenntnis heraus formt sich entweder das Wollen oder das Nichtwollen. Es kann auch sein, dass wir etwas nicht erkennen, dass wir den Durchblick noch nicht haben. Folglich entfällt das Wollen auf ein bestimmtes Ziel hin. Denn erst die Erkenntnis aktiviert den Willen zum Wollen. Die Erkenntnis ist die Vorstufe zum Wollen und somit zum Handeln, zur Praxis bzw. zum Umsetzen des Willens.

Der Wille und das Begehren

Nach diesem Ansatz kann sich das Begehren nur verwirklichen, wenn der Wille zustimmt. Das leuchtet ein. Wenn wir zum Beispiel das Begehren in uns wahrnehmen, eine schöne Reise zu unternehmen, dann können wir diesen Wunsch nur umsetzen, wenn unser Wille zustimmt. Oder wenn es um das Begehren einer unmoralischen Handlung geht, kann sie nur ausgeführt werden, wenn der Wille zustimmt.

Und jetzt kann es gefährlich werden, denn indem der Wille dem Begehrungstrieb nachgibt, gibt er gleichzeitig auch seine Herrschaft über den sinnlichen Begehrungstrieb auf. Das führt dazu, dass unser Handeln dann nicht mehr nach Vernunftgründen oder nach sittlichen Lebensentwürfen erfolgt. Wenn wir also die vernünftige Handlungsebene verlassen, das heißt wenn wir zulassen, dass unser Wille nicht mehr von der Vernunft bestimmt wird, begeben wir uns auf eine andere, nämlich auf eine niedrigere Ebene.

Und damit verlassen wir die Ebene des eigentlichen Menschseins und begeben uns auf eine Stufe, wo das primitiv animalische Prinzip der reinen Befriedigung der Sinne nach Lust- und Unlustgefühl die Herrschaft über unseren Willen bzw. über unser Wollen angetreten hat. Weil wir das wertorientierte Handeln aufgegeben haben, fallen wir in die Sünde. Gleichzeitig wird unser Strebevermögen auch in Mitleidenschaft gezogen.

Wir wissen, dass unsere menschliche Natur aufgrund der Erbsünde bzw. der Ursünde nicht mehr im unversehrten Zustand und somit den Versuchungen ausgesetzt ist. Wir stehen während unseres Erdenlebens ständig in einem Kampf und müssen uns entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen. Wollen wir unseren Willen der Vernunft oder der Unvernunft unterwerfen?

Jeder Mensch hat die Möglichkeit, sich durch eifrigen Sakramentenempfang wie Beichte und Eucharistie mit Hilfe der Gnade Gottes wieder geistig emporzuschwingen.

Das Verhältnis des Willens zur Liebe

Bei Franz von Sales sind Wille und Liebe eng miteinander verflochten. Nach ihm ist jedes Wollen schon Liebe. Der Wille kann gar nicht anders tätig sein. Deshalb ist die Liebe der einzige Beweggrund des Willens. Der Wille bildet sozusagen den Rahmen, innerhalb dessen die Liebe sich entfalten kann.[3] Bei Franz von Sales beherrscht die Liebe den Willen so stark, dass sie ihn zu dem macht, was sie selbst ist, zur Liebe. Das bedeutet, dass die Liebe den Willen in Liebe verwandelt. Aber trotzdem herrscht der Wille im letzten immer noch über die Liebe, weil der Wille nur dann liebt, wenn er lieben will.

Da müssen wir uns fragen: Wie frei ist denn der Wille noch? Nach Franz von Sales hat der Wille trotz allem Wahlfreiheit. Allerdings, wenn der Wille sich für eine Liebe entschieden hat, hat er seine Freiheit verloren. Dann herrscht die Liebe im Willen.[4]

Der Wille in den Stufen der Vernunft

Während Augustinus zwischen einem niederen und höheren Seelenteil bzw. Willen unterscheidet, sind es bei Franz von Sales vier Stufen.

Bei der ersten Stufe der Vernunft geht der Wille mit dem sinnlichen Begehren konform. Auf dieser ersten Stufe des Geistes überlegen und urteilen wir nach der Erfahrung der Sinne. Im praktischen Leben ist es so, dass die Wünsche nach Gesundheit, Kleidung, Nahrung etc. sehr stark ausgeprägt sind. Auch das sinnliche Begehren wirkt stark in den Bereich der untersten Stufe der Vernunft hinein und beeinflusst den Willen.

Bei der zweiten Stufe der Vernunft geht es um das Streben nach Herzensruhe, um sittliche Tugenden und menschliches allgemeines Wissen. Aber auch Profanwissen und beruflicher Erfolg sind hier angesiedelt. Trotz einer gewissen geistigen Erkenntnis ist diese Stufe noch an das Sinnliche gebunden, obwohl sich hier auch vernünftiges und verantwortungsbewusstes Wollen sowie echte menschliche Liebe finden.

Bei der dritten Stufe der Vernunft befinden wir uns schon im höheren Seelenteil. Konkret geht es um Vernunft und Glaube. Wir befinden uns also in der Einflusssphäre des Übernatürlichen. Hier wird das natürliche Licht der Vernunft überstrahlt vom Licht des Glaubens. Und es wird auf dieser Stufe versucht, sich den göttlichen Geheimnissen zu nähern.

Die vierte Stufe der Vernunft nennt Franz von Sales die Seelenspitze. Hier befindet sich der Gipfel und das Zentrum der Seele. Es ist der Ort des tiefsten Selbstbesitzes der Person.[5] Das bedeutet, jetzt bin ich wirklich die Person, die ich von Gott her sein soll. In moderner Sprache ausgedrückt könnte man sagen: Jetzt bin ich wirklich bei mir selbst angekommen.

Ort der Begegnung mit Gott

Nach Franz von Sales ist die Seelenspitze der bevorzugte Ort des Gnadenwirkens Gottes und der Begegnung mit ihm. Die Lehre von der Seelenspitze hat er der Mystik entnommen und sie zum besseren Verständnis mit neuen Elementen versehen. Wenn Franz von Sales von verschiedenen Abstufungen in der Seele spricht, so ist das bildlich zu verstehen, also nur zum besseren Verständnis. Diese Abstufungen heben die Unteilbarkeit der Geistseele nicht auf. Weil eben die Seele geistig ist, weil sie unteilbar ist, ist in ihr, so Franz von Sales, auch die Seelenspitze. Er ist der Meinung, dass Gott in der feinen Seelenspitze gegenwärtig ist. Und er macht eindeutig diese Aussage: „Die Seele ist geistig, unteilbar, unsterblich. Sie hat ihren Sitz im ganzen Körper ungeteilt in jedem seiner Teile."[6]

Franz von Sales analysiert die Seele nur zum besseren Verständnis. Wir alle wissen und erfahren ständig, dass in uns einander widerstrebende Willensregungen am Werk sind. Daraus folgt, dass wir unterschiedliche Seelenkräfte besitzen, die unserer einen unteilbaren, unsterblichen Geistseele eigen sind. Doch ist es immer die eine unteilbare Geistseele, die will – die liebt – die versteht. Die Geistseele ist: Verstand – Gedächtnis – Wille. Das bedeutet nach Franz von Sales: Verstand ist die Seele selbst, insofern sie denkt. Wille ist die Seele selbst, insofern wie will.[7]

Kommen wir noch einmal kurz zur vierten Stufe der Vernunft, der Seelenspitze. Hier betont er, dass diese höchste Spitze der Vernunft eben gerade nicht erreicht wird mit der Vernunft. Sondern sie wird nur erreicht durch das Schauen des Verstandes und durch ein einfaches Empfinden des Willens, indem sich der Geist bzw. die Geistseele ganz der Wahrheit und dem Willen Gottes unterwirft.  – Der Mensch, als Ebenbild Gottes, ist seinem innersten Wesen nach geistig. Und er besitzt in seinem innersten Kern die Fähigkeit, Geistiges direkt ohne Vermittlung der Sinne zu erkennen. Und so steht: Geist vor Geist.[8]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Vgl. Jahrbuch 1975 für salesianische Studien, Bd. 13, S. 73.
[2] Vgl. ebd. S. 76, 77.
[3] Vgl. ebd. 81, 83.
[4]  Vgl. ebd. 84.
[5] Vgl. ebd. 88-89.
[6] Vgl. ebd. 90.
[7] Vgl. ebd. 91.
[8] Vgl. ebd. 96-97.

Eröffnung des Seligsprechungsprozesses für Léonie Martin auf Diözesanebene

Vom Problemkind zur Hoffnungsträgerin

Léonie Martin (1863-1941) ist eine der älteren Schwestern der hl. Theresia von Lisieux. Léonie war in vielfacher Hinsicht ein Kind, das seinen Eltern Sorge bereitete. Sie war in ihrer Entwicklung verlangsamt, oftmals krank und eine schlechte Schülerin. Ihr Charakter war in ihrer frühen Jugend eigenwillig. Sie war bockig und unbeständig. Man musste sich ernstlich fragen, was aus Léonie werden sollte. Ihre Eltern und Schwestern haben damals viel für sie gebetet. Dreimal machte Léonie vergebliche Versuche des Ordenslebens. Endlich, nachdem ihre Schwester Theresia 1897 in den Himmel gegangen war, kam der große Umschwung – durch Gottes Gnade und durch konsequente Fortschritte Léonies auf dem „Kleinen Weg“. Aus dem Problemkind wurde eine echte Hoffnungsträgerin. Am 2. Juli 2015 konnte Bischof Jean-Claude Boulanger von Bayeux-Lisieux, der zuständige Oberhirte, offiziell den Seligsprechungsprozess für Léonie Martin, Schwester Franziska-Theresia, einleiten und ihr den Titel „Dienerin Gottes“ verleihen. Nachfolgend ein Auszug aus dem Buch.[1]

Von Klaus-Peter Vosen

Verbundenheit mit dem Stellvertreter Christi

Sehr lebendig war immer die Verbundenheit Léonies zum jeweiligen Stellvertreter Christi auf Erden. Der Heilige Vater in Rom war für sie eine Person, die sie verehrte, und sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn er lieblos kritisiert wurde oder wenn jemand meinte, dem Lehramt der Kirche nicht folgen zu sollen. Dann konnte das kleine, demütige „Veilchen“, als das Léonie sich sah, die kleine, scheinbar harmlose Blume in Gottes Garten, zu einer Löwin werden, die mächtiges Gebrüll erschallen lässt.

Kirchliche Anerkennung für ihre kleine Schwester

Alle Päpste des Jahrhunderts, in dem Léonie lebte, vom heiligen Pius X. an bis hin zu Pius XII., in dessen Pontifikat sie zum Herrn heimgehen durfte, (und übrigens auch die weiteren, die sie nicht mehr auf Erden erlebte, bis hin zu Papst Franziskus, dem heute die Leitung der Herde Christi anvertraut ist) waren und sind aufrichtige Verehrer der heiligen Theresia von Lisieux: Papst Pius X. nannte die normannische Karmelitin „die größte Heilige der Moderne“. Papst Benedikt XV. lobte ihre Lehre des „Kleinen Weges“; Papst Pius XI. bezeichnete sie als den „Stern“ seines Pontifikates und sprach sie zuerst selig, dann heilig, bevor er sie zur Patronin (neben dem heiligen Franz Xaver) der katholischen Weltmission erhob. Pius XII. besuchte im Auftrag des letzteren – noch als Kardinal Pacelli – Lisieux und weihte dabei 1937 die große Basilika zu Ehren der Heiligen (auf dem Hügel, auf dem Zélie Martin, wenn sie die Guérins von Alençon aus besuchte, einst spazieren gegangen war). Über die Anerkennung und Verehrung, die ihrer kleinen Schwester, ihrer liebenswürdigen Gefährtin auf dem „Kleinen Weg“, von Seiten der Kirche zuteil wurde, hat Léonie sich von Herzen gefreut. Die „Verherrlichung“ Theresias durch die Kirche zeigte ihr deutlich, wie Gott in den Wechselfällen der Geschichte stets seine eigene Heilsgeschichte schreibt.

Keine Teilnahme an der Seligsprechung in Rom

Doch auch in diesen besonderen Gnadenstunden blieb Léonie gern im Hintergrund. Gott hatte sie in Liebe angeschaut und tat das immer wieder! Was bedeutete da das Ansehen bei den Menschen? Und im Mittelpunkt zu stehen, wäre ohnehin nicht im Sinne von Schwester Franziska-Theresia gewesen. Man hatte den Karmelitinnen von Lisieux angeboten, bei der Seligsprechung ihrer Schwester in Rom dabei zu sein. Sie hatten das rundweg abgelehnt. Es passte nicht zum Verständnis ihres Ordenscharismas, wie es für sie charakteristisch war. Léonie war für sich selbst mit dieser Auffassung völlig einverstanden, obwohl ihre Ordensgemeinschaft nicht so streng war wie die des Karmel und deswegen eine Romreise für die Heimsuchungsschwester aus Caen wohl eher möglich gewesen wäre als für Theresias in Lisieux lebende Schwestern.

Empfang des päpstlichen Segens unter Tränen

Als 1937 Papst Pius XI. bei Kardinal Pacellis Besuch in Lisieux Wert darauf legt, dass die Radiobotschaft des Papstes auch von Marie, Pauline, Céline und Léonie gehört wird, lässt die Priorin des Heimsuchungsklosters in Caen alles Notwendige für eine Tonübertragung in dem Kloster veranlassen. Die Kommunität von Lisieux hört das Wort des Nachfolgers Petri auf die gleiche Weise. Als der alte und kranke Papst von Rom aus seinen Segen in die Normandie sendet, kniet auch Léonie in der Verborgenheit des Klosters vor dem Radioapparat und vergießt Tränen der Freude. Ihre Schwestern in der „Heimsuchung“ ehren Léonie an diesem Tag besonders. Sie darf die ganze Zeit, selbst im Refektorium, an der Seite ihrer Oberin sein! Leider vergisst der Bischof von Bayeux-Lisieux, der – nach der Verlesung des Papstbriefes durch Kardinal Pacelli – in Lisieux das Wort ergreift, als er die leiblichen Schwestern der Heiligen erwähnt, zwar nicht die drei Karmelitinnen, wohl aber Schwester Franziska-Theresia. Die Radiohörer sind darüber enttäuscht, ja schockiert. Léonie aber reagiert auf eine Weise, die man nicht anders als übernatürlich nennen kann: „Das ist ihm unfreiwillig unterlaufen“, sagt sie einfach in Bezug auf den Bischof.

Tägliche Übung des „Kleinen Weges“

Hier zeigt sich sehr deutlich eine staunenswerte innere Entwicklung Schwester Theresia-Franziskas, die im Laufe der Jahre, während die Welt äußerlich so sehr im Wandel war, in ihrer Seele stattgefunden hat. Man kann wohl sagen: Die „Visitandin“ ist ganz theresianisch geworden. Die tägliche Übung des „Kleinen Weges“ hat ihre Früchte gebracht, und Gottes Licht bricht sich leuchtend Bahn.

Sicher hat die Nichterwähnung durch ihren Bischof sie getroffen, aber sie hatte schon am 2. Februar 1923 an ihre Schwestern im Karmel schreiben können: „Ich erfahre … dieselben Schwierigkeiten: Sorgen, Widerwillen, Ärgerlichkeiten aller Art, aber ich spüre schon, dass all diese Dinge eine Reinigung sind, dass Gott glücklicherweise sein Werk tut, und ich sage ihm Dank für alles, das gibt mir Kraft und Schwung.“ Sie hat Jesus, weil sie ganz klein geworden ist, wirklich alles übergeben, so sagt sie. Dadurch erhofft sie sich eine gute Vorbereitung auf das ewige Leben, hofft sogar, wie Theresia, dass das Fegefeuer ihr erspart bleibt. Das Werk jedoch, das Gott in ihr im Hinblick auf die Ewigkeit tut, entfaltet schon in Léonies Leben hier und jetzt große Strahlkraft. „Vor Gott Angst zu haben, das wäre zu ungerecht“, schreibt sie an anderer Stelle. Sie will nur „das kleine Opfer seiner barmherzigen Liebe sein“, bringt sie in einem weiteren Brief an ihre Schwestern in Lisieux zum Ausdruck. Auf Erden wirft sie so leicht nichts mehr aus der Bahn. Es ist wie bei Theresia – der „Kleine Weg“ hat sie so erstarken lassen, dass sie, die sich als die Kleinste fühlt, über das Normalmaß auch einer guten Christin weit hinausgehoben ist.

Großartige Fähigkeit zum Verzeihenkönnen

So kann Léonie auch Louise Marais, dem ehemaligen Hausmädchen, das sie einst auf so schlimme Art und Weise tyrannisiert hatte, von Herzen vergeben, von deren Tod sie im Dezember 1923 erfährt. Louise hat sich im Lauf der Zeit geändert, und zwar sehr zum Positiven hin. Sie ist eine gute Mutter gewesen und geradezu heiligmäßig gestorben. Léonie bringt ihre Vergebung noch ganz kurz vor ihrem Tod, am 19. April 1941, in einem Brief an ihre Schwestern im Karmel von Lisieux zum Ausdruck: „Ich vergebe von ganzem Herzen … und weiß ihr großen Dank dafür, dass sie unsere geliebte Mutter [Zélie] in ihrer letzten Krankheit so gut gepflegt hat, mit Herzlichkeit und wahrer Hingabe.“ Hier leuchtet nicht nur eine großartige Fähigkeit zum Verzeihenkönnen auf, sondern sogar der feste Wille, das Positive an jenem Menschen in ein helles Licht zu stellen, der an einem selbst schuldig geworden ist. Sicher hat Schwester Franziska-Theresia eine solche Seelengröße nicht an jedem Tag bewähren können, denn das menschliche Herz kennt lebenslang das Hin und Her, das Auf und Ab. Dennoch ist nicht zu übersehen, welchen „Höhenflug“ Léonie vollbracht hat. Sie selbst freut sich an ihrer Entwicklung, ohne sich etwas darauf einzubilden. „Ich werde dank Theresia immer einfacher“, schreibt sie selbst. Sie will nur lieben und für die anderen da sein.

Bereitschaft zum Helfen und Dienen

Ihre Oberin ist ihr besonders dankbar. An Schwester Agnes von Jesus schreibt diese: „Schwester Franziska-Theresia umgibt mich in meinem Alter mit vielfältigen und herzlichen Aufmerksamkeiten, wenn sie kommt, um mich im Rollstuhl in perfekter Weise zum Chorgebet zu bringen. Ich bitte unseren Herrn, ihr das zu vergelten, und ich sehe mit großem Trost ihren Mut, trotz der Last ihres Alters, die sie zu spüren beginnt, und ihrer schwachen Gesundheit die Bestimmungen unserer heiligen Regel zu befolgen.“ Léonie ist wahrhaft ein guter, hilfreicher Engel in ihrem Kloster, stets hilfsbereit und im Stillen unzählige kleine Dienste erweisend. Zu ihren Schwestern sagt sie: „Erbittet von mir, was ihr wollt – ich werde immer für Euch da sein.“ Für sich selbst kann Léonie bekennen: „Ich liebe nur den Willen Gottes.“ Gerade das stärkt sie in ihrer großartigen Liebe zum Nächsten. Gott verbindet sie sich besonders intensiv immer wieder durch den Empfang und die Anbetung Jesu Christi im Sakrament der heiligen Eucharistie.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Klaus-Peter Vosen: Léonie Martin – Vom Problemkind zur Hoffnungsträgerin, geb., 128 S., 13,95 Euro (D), 14,40 Euro (A), ISBN: 978-3-9479311-1-8 – Bestell-Telefon: 07303-952331-0, Fax: 07303-952331-5, Mail: buch @media-maria.de – www.media-maria.de

Neuen Kommentar schreiben

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder! Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare gegebenenfalls nicht für die Veröffentlichung freizugeben oder in Abstimmung mit den jeweiligen Autoren zu kürzen.