Johannes Paul II. – „mein“ Papst

„Erinnerung an einen Lebenden“, so versteht Weihbischof Dr. Andreas Laun seinen Beitrag zum Tod des Papstes. Er nimmt Abschied von jenem Hirten, der seine priesterliche Berufung geformt hat. In den Lehrschreiben Papst Johannes Pauls II. zu den Fragen der Moraltheologie entdeckte er seine Lebensaufgabe: als Professor und Weihbischof ein unerschrockenes Zeugnis für die Lehre der Kirche abzulegen. Dabei kreierte er für Johannes Paul II., dessen Heiligsprechung auch er schon in naher Zukunft sieht, den Titel „Kirchenlehrer der Liebe“.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

„Fürchtet euch nicht!“

Papst Johannes Paul II. ist tot. Nein, er ist nur aus dieser Welt gegangen, uns allen voraus, aber er lebt, und wir suchen ihn vergebens unter den Toten. Unsere Gedanken sollten ihm eher dorthin folgen, wo er jetzt ist, als jene Wege nachzugehen, die er mit uns und wir mit ihm seinerzeit gegangen sind. Und doch, zur jüdisch-christlichen Tradition gehört nicht nur das Streben nach der „besseren Heimat“ (Hebr 11,16) und die jubelnde, „in unsagbarer, von himmlischer Herrlichkeit verklärte Freude“ im Gedanken an „das Heil“ (1 Petr 1,8f), sondern auch die Erinnerung an die Heilstaten Gottes in der Vergangenheit und die „Wolke“ von Zeugen (Hebr 12,1), die vor uns den Weg des Glaubens gegangen sind und uns jetzt begleiten.

Noch erinnere ich mich genau, wie aufgeregt mein Vater mir damals, 1978, zurief: „Andreas, der Papst ist tot!“ Er meinte Johannes Paul I. Irgendwer erzählte mir in den Tagen vor und während des Konklaves von einem Polen, den er für „papabile“ hielte, aber ich hörte gar nicht so recht hin: einer der vielen mir unbekannten Kardinäle; bis dann gerade für diesen „Unbekannten“ der weiße Rauch aufstieg und er uns allen, die seinen Namen noch nicht sprechen konnten, vom Balkon aus zurief: „Fürchtet euch nicht!“ Und wir dachten: „Das also ist er, der neue Papst, wir werden ja sehen…!“ Und dann sahen wir ihn, dann sah ich ihn und erlebte ihn, 27 Jahre lang, von der Nähe und von der Ferne, mit Hilfe des Fernsehens und noch viel wichtiger durch das gesprochene und geschriebene Wort.

Meine persönlichen Erinnerungen

Einige wenige Male durfte ich ihm persönlich nahe sein: Bei einer solchen Gelegenheit – da war der Papst noch „jung“ und ich erst recht – bot ich ihm an, für ihn einen Skiurlaub in den österreichischen Bergen zu organisieren, aber leider lächelte er nur und es kam nicht dazu. Vielleicht dachte er darüber ähnlich wie Jesus beim Vorschlag seines Petrus, auf dem Berg Tabor für ihn und die Apostel drei Hütten zu bauen: Lieb, aber realitätsfremd! Schade, ich wäre ihm gerne vorausgefahren oder, vielleicht passender, hinter ihm... Später, bei einem Mittagessen der österreich. Bischöfe mit dem Papst, erzählte ich ihm den tiefgründigen Witz von dem Rabbiner, der eine Telefonverbindung mit Gott hat, aber im Unterschied zu den übrigen Menschen mit Gott „Ortsgespräche“ führt – auch eine Vorbereitung auf Christus, der all den Seinen die Ortsgespräche mit Gott freigeschaltet hat! Als Weihbischof natürlich am Ende der Tafel sitzend, konnte ich leider sein Lachen nicht genau sehen.

Zu meinen „ganz persönlichen“ Erinnerungen gehört auch noch diese Geschichte: Ich nützte eine Audienz, um dem Papst vorzuschlagen: „Heiliger Vater, könnten Sie nicht noch eine zweite Enzyklika zum Thema Leben schreiben, dieses Mal über die Liebe zu allem Lebendigen, zu den Pflanzen und vor allem den Tieren?“ Dabei dachte ich – ich gebe es zu – vor allem an meinen Hund. Der Papst schaute mich gütig, ein klein wenig schmunzelnd, an: „Gewinnen Sie doch Anhänger für diese Idee im Vatikan!“, sagte er, nur leider weiß ich bis heute nicht, wie ich das anstellen könnte. Eine persönliche Erinnerung an Johannes Paul II. betrifft eine seiner Predigten: Zusammen mit anderen durfte ich einmal in Castel Gandolfo mit dem Papst die heilige Messe feiern, und zwar am Fest des hl. Maximilian Kolbe. In seiner Predigt sagte der Papst sinngemäß: In dem Keller, in dem Maximilian Kolbe starb, wurde das System des Bösen besiegt!

Ermutigung zur Priesterkleidung

Übrigens hat Papst Johannes Paul II. auch „disziplinär“ in mein priesterliches Sein hinein gewirkt: In den 60er Jahren war es für junge Priester üblich, am Sinn des Kollars zu zweifeln. „Man“ hielt es für nötig, sich der Welt zu nähern, und wollte sich daher mit einem kleinen Zeichen begnügen. Aber irgendwann stand in der Zeitung: Der Papst „wünscht“ (wohl im Sinne von „verlangt“), dass die Priester wieder das römische Kollar tragen. Ich dachte an den hl. Franz von Sales und daran, wie er den Gehorsam verstanden hat; und daran, dass ich „Gehorsam“ gelobt hatte. So stellte ich mich um und heute habe ich mich nicht nur daran gewöhnt, sondern bin überzeugt: Der Papst hatte recht, das Kollar ist nicht nur praktischer als Krawatte, sondern dient der Verkündigung besser als irgend ein verschämt angestecktes Kreuz. Sogar im Flugzeug reden mich Leute an, weil sie mich deutlich als Priester erkennen und deswegen mit mir reden wollen.

Ich gebe es zu: Das sind nur kleine Anekdoten ohne weltkirchliche Bedeutung, ähnlich vielen tausend Geschichten, wie sie andere Menschen auch erzählen können. Seine wirkliche Bedeutung für mich gewann der Papst durch das, was auch ohne das „für mich“ einen Teil seiner überragenden Größe ausmacht: nicht nur, dass er bekanntermaßen den Kommunismus zum Einsturz brachte und damit auch mir ein größeres Europa schenkte, sondern vor allem durch sein Lehren.

„Kirchenlehrer der Liebe“

Gerade ein Moraltheologe, zu dessen Fachbereich die heißesten Themen der Zeit gehören, kann nicht an Johannes Paul II. vorübergehen, ohne ihm zu danken (oder, wenn er ein „Liberaler“ ist, sich zu ärgern):

„Humanae vitae“: Zugegeben, am Anfang hat es auch mich irritiert, dass Johannes Paul II., um gleich das heikelste Beispiel zu nennen, immer wieder auf dem Nein zur Verhütung, also auf der Lehre von „Humanae vitae“ bestand. Ich widersprach ihm zwar nicht, fand aber wie viele andere auch, er betone diese Lehre zu oft und zu sehr, es wäre klüger, es nicht zu tun. Heute weiß ich, ich brauchte ihm keine Nachhilfe in seelsorglicher Klugheit zu erteilen, heute gebe ich ihm recht und stelle zu meinem Erstaunen fest: Sogar im „Spiegel“ meint ein Autor, angesichts des Geburtenrückgangs in Europa wäre das, was der Papst sagte, prophetisch gewesen, und wir müssten froh sein, wenn viele auf ihn gehört hätten. Inzwischen weiß ich zudem von einem polnischen Freund des Papstes: Johannes Paul II. hat seine Wahl auf den Stuhl Petri als den besonderen Auftrag Gottes gedeutet, für die viel geschmähte Lehre von „Humanae vitae“ einzutreten (nicht isoliert natürlich, sondern in Verbindung mit der Ehelehre als ganzer). In mir hat Johannes Paul II. den Mut geweckt, mich auf die Frage wirklich einzulassen.

„Familiaris consortio“: Nicht erst im 20. Jahrhundert hat die Kirche begonnen, über die Ehe zu reden. Aber nie zuvor hat sie es so tiefgründig und eingehend getan wie Johannes Paul II. es tat, kein Papst vor ihm sprach so feinfühlig und hellsichtig darüber wie er. Johannes Paul II. hat nicht nur die „Liebe lieben gelernt“, wie er über seine eigene Entwicklung schreibt, man könnte ihm zu Recht den Titel eines „Kirchenlehrers der Liebe“ verleihen, und zwar der bräutlichen, ehelichen, sexuellen Liebe. Seine Enzyklika „Familiaris consortio“ ist wirklich die „Magna charta“ dieser Liebe. Sie wird die Zeiten überdauern, er hat seinen Auftrag erfüllt.

„Evangelium vitae“: Bei aller Vorsicht, die bei der Deutung von „Zufällen“ geboten ist, stelle ich doch fest: „Evangelium vitae“ hat der Papst am 25. März 1995, dem Fest der Verkündigung des Herrn, veröffentlicht, und es war der Tag meiner Bischofsweihe. Ich sehe darin einen besonderen Auftrag Gottes für mich: Am 1.1.1975, also rund 20 Jahre vorher, ist in Österreich die so genannte „Fristenlösung“ in Kraft getreten – natürlich ohne jemals wirklich Recht werden zu können, wie man schon bei Thomas von Aquin nachlesen kann. Ich weiß noch, wie mich dieses Ereignis erschüttert hat. Als ich am 1.1.1975 aufwachte, war mein erster Gedanke: Heute hat Österreich aufgehört, im Vollsinn des Wortes ein „Rechtsstaat“ zu sein, wie der Jurist W. Waldstein kurz vorher zwingend bewiesen hatte. Mir scheint, „Evangelium vitae“ ist die Antwort Gottes auf die so furchterregende praktische und, was noch schlimmer ist, ideologische Missachtung des 5. Gebotes heute. Ich glaube, „Evangelium vitae“ ist „meine Enzyklika“ im Sinn eines besonderen Auftrags von Gott, nach der mich mein Richter einmal fragen wird.

„Veritatis splendor“: Ein Moraltheologe kann nicht unerwähnt lassen, dass es eine Enzyklika gibt, die auf die schlechte Entwicklung der deutschen Moraltheologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts antwortet. Dankbar stelle ich fest: Mich hat dieses Dokument bestätigt. Dieses kostbare Dokument ist wie ein Leuchtturm für die „moraltheologischen Kapitäne“, der sie, vorbei an Klippen und Eisbergen der aktuellen Infragestellungen, die „Fahrrinne“ in die Zukunft finden lässt.

• War „Veritatis splendor“ nur für Fachleute, „Ecclesia de Eucharistia“, die letzte Enzyklika des Papstes, geht alle an. Es ist besser, sie im Wortlaut zu verkosten, als über sie zu reden. So heißt es etwa in Nr. 18: Eucharistie ist „Vorwegnahme des Paradieses“. Und: „Wer sich von Christus in der Eucharistie nährt, muss nicht das Jenseits erwarten, um das ewige Leben zu erlangen: er besitzt es schon auf Erden...“ Oder auch: Eucharistie ist „Aufbrechen des Himmels, der sich über der Erde öffnet. Sie ist ein Strahl der Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem.“ Ein Ungläubiger glaubt das nicht, aber auch er müsste sagen: „Wenn das doch nur wahr wäre, wäre das schön!“

Entdeckung unserer „älteren Brüder“

Soviel zur eigentlichen Moraltheologie. Geholfen hat mir Johannes Paul II. noch in einem anderen Bereich: bei der Entdeckung der Juden als unseren „älteren Brüdern“. Nicht, dass meine theologische und geistliche – ja, diese Theologie hat für mich eine große spirituelle Bedeutung – Entdeckung des Judentums nur sein Verdienst gewesen wäre. Andere Menschen, meine Eltern durch ihre selbstverständlich-katholische Haltung und intellektuell vor allem D. v. Hildebrand, hatten ihr schon lange den Weg bereitet. Aber Johannes Paul II. hat mich geradezu gedrängt, meinen persönlichen Weg „nach Jerusalem“ weiterzugehen und wirklich verstehen zu lernen, dass das „Heil von den Juden“ (Joh 4,22) kommt. Darum bin ich sehr empfindlich gegenüber jedem Versuch, die Juden in eine Reihe mit den „anderen Religionen“ zu stellen: Die Juden – das sind wir selbst, unsere Großfamilie, Muslime und Mitglieder anderer Religionen hingegen sind wirklich zwar auch unsere Brüder, aber „nur“ als Menschen und Gottsucher, nicht als das vor uns auserwählte Volk. Sie sind wirklich „andere Religion“, die Juden sind im Grunde „die unsere“.

Dialog, der Wahrheit und Liebe vereint

Übrigens „andere Religionen“: Johannes Paul II. hat in seinem Lehren und Handeln gegenüber den „anderen Religionen“ die beiden typischen Fehlhaltungen zurückgewiesen: die lieblose Verwerfung der anderen, an denen man kein gutes Haar mehr zu finden bereit ist, und die schein-tolerante, in Wirklichkeit weltfremde Gleichmacherei aller Religionen, in deren Folge die so Denkenden gar nicht anders können als zu behaupten, auch Christus sei nur ein „Heilbringer unter anderen“. Die eine oder andere Geste des Papstes mag missverständlich gewesen sein, wer genau hinschaute, konnte an der Haltung des Papstes keinen Zweifel haben: Es war die differenzierte, allein katholische Haltung, die die Wahrheit und die Liebe zu den anderen zu vereinen weiß. Aufgabe der Zukunft wird es sein, eben diese wahrhaft katholische Einstellung zu erklären und im Dialog der Religionen zu praktizieren.

„Santo subito“

Glücklich bin ich auch über die vielen Christen, die Papst Johannes Paul II. zur Ehre der Altäre erhoben hat. Natürlich kenne ich längst nicht alle, aber einige von ihnen verehre ich seither ganz besonders. Ich denke dabei an die Italienerin Gianna Molla, an den Tiroler Pfarrer Neururer, dessen einfaches, aber schönes Gesicht und dessen so sprechende Augen ich während der Seligsprechung immer wieder anschauen musste, an den ungarischen Arzt Batthány, an Josémaria Escriva de Balanguer, natürlich an Edith Stein und nicht zuletzt an den Friedens-Kaiser und Friedens-König Karl v. Österreich-Ungarn, übrigens auch ein leuchtendes Vorbild für eheliche Liebe. Was für eine Freude, sie alle als Fürsprecher zu haben! Mit einer überwältigenden Zahl von Katholiken bin ich überzeugt, bald werden wir Johannes Paul II. selbst, von der Kirche bestätigt, als Heiligen verehren dürfen – „Santo subito“ riefen bei seiner Bestattung die Transparente am Petersplatz und sie dürften, wenn nicht alles täuscht, bald erhört werden.

Strömende Quelle des Friedens

Viele Menschen fragten mich: „Du warst doch in Rom bei der Messe am Petersplatz – wie war es, erzähle!“ Dabei haben die meisten am Fernsehen mehr gesehen als ich in der Schar der Bischöfe. Ich kann nichts „Neues“ erzählen, ich kann nur meine Gedanken niederschreiben:

Der stärkste Eindruck war für mich der tiefe Frieden, der auf dem überfüllten Platz von St. Peter lag, und die Schönheit der Liturgie, die ich wie die strömende Quelle dieses Friedens erlebte. Das war keine Trauerfeier, das war die Verabschiedung eines Menschen, der wegfliegt: Man sieht ihn noch, er geht durch die Kontrollen und ist unseren Blicken entzogen – für kurze Zeit. Denn der Abschied gilt nur für eine gewisse Zeit, wir sehen uns ja wieder, weil wir ihm sozusagen „mit der nächsten Maschine“ ohnehin nachkommen. Heilige Messe feiern heißt, „zum Himmel gehen“ und „Hochzeit feiern“, wie S. Hahn ganz im Sinn von Johannes Paul II. erklärt. Dann erst recht ist der Moment, in dem am Ende der heiligen Messe der Sarg in den Dom hinein getragen wurde, eine „sakramentale“ Veranschaulichung, Zeichen und Wirklichkeit dessen, was geschehen ist: Johannes Paul II. ist nicht gestorben, er ist in seine „himmlische Wohnung“ (Joh 14,2) gegangen.

Moralische Autorität, die die Welt überzeugt

Und alle sind gekommen, Gläubige, Halbgläubige, Kleingläubige, Ungläubige, Andersgläubige. Man könnte meinen, die ganze Welt sei katholisch geworden, geeint in der Verehrung des Stellvertreters Christi. Wehmütig denke ich mir: Noch ein Schritt – ist es denn nicht nur ein „kleiner Schritt“ noch: von der Ehrfurcht vor dem verstorbenen Stellvertreter Christi hin zum Glauben an den auferstandenen Herrn selbst? Dann wäre diese zerrissene Welt endlich, wie sie sein sollte, nämlich vereint im katholischen Glauben, vereint wie eine religiöse „EU“ mit der Vielfalt ihrer Völker.

Natürlich – wie könnte es anders sein! – auch die Kritiker meldeten sich wieder zu Wort, merkwürdigerweise auch konservative Katholiken, die meinten, wegen seiner Mitverantwortung für manche Reformen müsse der Papst im Fegefeuer sein. Andere hielten triumphierend den Bericht von einer Marien-Vision in Medjugorje entgegen, im Laufe derer der Seher den Papst neben der Muttergottes gesehen habe. Medial viel wirksamer waren die anderen, die liberalen Kritiker, die alten „68er-Katholiken“, Küng, Drewermann, Ranke-Heinemann (und wie sie nur alle geheißen haben) und jene, die zuletzt von Reformstau sprachen und Kirchenvolksbegehren meinten. Sie alle meldeten sich wieder zu Wort mit ihren Ladenhütern, die sie immer noch für „heiße Eisen“ halten. Sogar der „Spiegel“ hat dafür kein Verständnis mehr: „Die linke Kirchenkritik ist beleidigt darüber, dass sie in den vergangenen 26 Jahren durch die überwältigende Popularität des Papstes immens an Einfluss verloren hat.“

Vater von Millionen

Tatsächlich, man muss nur auf die Schar der vor allem jugendlichen Pilger schauen, um zu wissen, wer die wirkliche Basis ist: Es sind nicht die von Ideologen behauptete und vergeblich herbeigeredeten Massen, sondern diejenigen, die jetzt am Petersplatz versammelt sind und viele andere Millionen vertreten: Für diese Menschen war der Heilige Vater wirklich ein „Vater“ und sie nannten ihn „Heiliger Vater“ nicht wegen der Konvention, sondern weil sie in seiner Nähe die Nähe Gottes spürten. Wie tief er auf die Seelen wirkte, zeigen unzählige Geschichten von „großen“ und „kleinen“ Leuten:

Bereits unmittelbar nach dem Tod des Papstes rief mich eine Frau aus Wien an: „Ich war schon den ganzen Tag traurig, ich habe es gespürt, und jetzt ist er wirklich tot – ich fühle mich verwaist.“ – Von einer alten Ungarin, auf den Tag genau gleich alt wie der Verstorbene, hörte ich: „Der Papst ist tot! Jetzt bin ich allein, was soll nun aus mir werden?“ – Eine Norddeutsche lernte ich bei der Rückfahrt im Zug kennen: Sie scheute nicht die lange Reise, um sich dann eine ganze Nacht hindurch (13 Stunden!) anzustellen: nur, um einen letzten Blick auf Johannes Paul II. werfen zu können. – Ich kenne Männer, die am Sonntag kaum in die Kirche gehen, aber jetzt, beim Tod des Papstes, weinten.

Eindrucksvollste Beerdigung in der Geschichte

Prominente wie G. Bush oder B. Clinton hörten zwar in wichtigen Fragen wie Krieg gegen den Irak und Abtreibungs-Politik leider nicht auf den Papst, aber jetzt waren sie da, und G. Bush bekannte gegenüber der italienischen Zeitung „La Repubblica“: „Mein Glaube und meine Überzeugung sind durch die Zeremonie noch stärker geworden“ (hoffentlich werden sie noch stärker und er wird katholisch, kann man nur hinzufügen). Wie Bush dachten wohl viele: „Ich glaube, wir sind Zeugen der eindrucksvollsten Beerdigung in der Geschichte der Menschheit geworden.“

Dieses Urteil gilt wohl auch für die Predigt Joseph Kardinal Ratzingers. Am Ende seiner Worte lenkte der Kardinal die inneren Augen der Menge in geradezu kindlicher Anschaulichkeit nach oben und machte sie damit jenen Aposteln ähnlich, die bei der Himmelfahrt Jesu ihrem Meister „unverwandt zum Himmel“ (Apg 1,10-11) nachschauten. Er sagte: „Wir können sicher sein, dass unser geliebter Papst jetzt am Fenster im Hause des Vaters steht, uns sieht und uns segnet.“ Dann redete er den Papst direkt an: „Ja, segnen Sie uns, Heiliger Vater! Deine liebe Seele vertrauen wir der Mutter Gottes an, Deiner Mutter, die Dich Tag für Tag geleitet hat und Dich jetzt zur ewigen Herrlichkeit ihres Sohnes führen wird, zu Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2005
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Lobpreis auf die Göttliche Barmherzigkeit

Beim Gedenkgottesdienst für Johannes Paul II. im Wiener Stephansdom bezeichnete Christoph Kardinal Schönborn das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit als „Kernbotschaft dieses Pontifikats“. Wie kaum jemand anderer war Papst Johannes Paul II. mit den Erscheinungen des „Barmherzigen Jesus“ an die polnische Ordensschwester Faustina Kowalska verbunden. Dass er am Vorabend des „Sonntags der Barmherzigkeit“ gestorben ist, dürfen wir als Zeichen des Himmels betrachten. Gott selbst hat den Einsatz Papst Johannes Pauls II. für die Botschaft der göttlichen Barmherzigkeit vor den Augen der ganzen Welt eindrucksvoll bestätigt.

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

„Deutlicher kann  Gott nicht sprechen“

Der Sterbetag Papst Johannes Pauls II. begann mit einer Überraschung. Am Morgen des 2. April kurz vor 7.00 Uhr meldete der italienische Rundfunk, Papst Johannes Paul II. habe mit großer Kraft und Unterstützung seines Privatsekretärs Monsignore Stanislaw Dziwisz folgende Botschaft auf einen Zettel geschrieben: „Ich bin fröhlich, seid es auch ihr. Beten wir gemeinsam mit Fröhlichkeit zur Jungfrau Maria.“ Außerdem teilte Vatikansprecher Joaquín Navarro-Valls an diesem Samstag der Presse mit, Johannes Paul II. habe – wenn auch unter großen Mühen und in mehreren Anläufen – am Freitagabend gesagt: „Ich habe euch gesucht, ihr seid zu mir gekommen, und dafür danke ich euch.“ Es sei sicher, dass der Papst mit diesen Worten die Tausenden Jugendlichen gemeint habe, die auf den Petersplatz gekommen waren. Ebenso sicher zeigten sich diese am Samstag, nachdem sie die Worte des Papstes vernommen hatten. Sie kamen mit selbst gemalten Transparenten, auf denen zu lesen war: „Du hast uns gesucht – wir sind hier“, oder: „Wir sind unter deinem Kreuz – wir werden dich nie verlassen“. Bereits um 7 Uhr wurde am Sterbebett die Heilige Messe vom Samstag gefeiert. Tagsüber empfing der Papst noch Kardinäle und engste Mitarbeiter. Joseph Kardinal Ratzinger berichtete nach der Begegnung, der Papst wisse, dass er stirbt. „Johannes Paul II. hat bei meinem Besuch am Sterbebett von mir Abschied genommen.“ Bei vollem Bewusstsein habe er sich bei ihm für die Mitarbeit in den vergangenen Jahren bedankt. Gegen Abend strömten Zehntausende zum Petersplatz, um erneut den Rosenkranz zu beten. Um 21 Uhr feierten seine engsten Vertrauten mit ihm die Heilige Messe vom Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit. Nach dem Empfang der Heiligen Kommunion und einer weiteren Krankensalbung wandte der geschwächte und abgemagerte Papst sein Gesicht zum Fenster und versuchte noch einmal, seine rechte Hand zum Segen zu erheben. So schildert der polnische Priester Jarek Cielecki, der am Sterbebett stand, die letzten Minuten des Papstes. „Als das Gebet der Gläubigen zu Ende war, sprach der Papst mit letzter Lebenskraft das Wort ,Amen‘. Einen Augenblick später starb er.“ Es war 21.37 Uhr, als der Tod eintrat. Dieses Sterben am Vorabend des „Sonntags der Barmherzigkeit“ bezeichnete der Wiener Erzbischof, Christoph Kardinal Schönborn, als ein „Zeichen Gottes“ und betonte: „Deutlicher kann Gott zu uns nicht sprechen“.

Jesus erfüllt sein Versprechen

Als Papst Johannes Paul II. vor fast 27 Jahren seinen Dienst als Nachfolger Petri antrat, sagte er, sein Pontifikat möge ein großer Lobpreis auf die Barmherzigkeit Gottes werden. Eine seiner ersten Unternehmungen war eine Wallfahrt zum Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit im Norden Roms. All dies geschah nicht ohne Grund. Als Erzbischof von Krakau hatte Karol Wojtyla die Aufgabe, die Erscheinungen des „Barmherzigen Jesus“ an Schwester Faustina Kowalska (1905-1938) zu prüfen, die im Gebiet seiner Diözese stattgefunden hatten. Dabei galt es, einen Konflikt aufzuarbeiten, der zwischen den polnischen Bischöfen und der Glaubenskongregation entstanden war. Zunächst ging es um das Bild, das Jesus in der Vision am 22. Februar 1931, dem Fest Kathedra Petri, gewünscht hatte. Schwester Faustina sah Jesus in einem weißen Gewand. Die eine Hand war zum Segen erhoben, die andere lag auf seiner Brust. Aus einer Öffnung im Gewand an der Stelle seines Herzens traten ein blasser und ein roter Strahl hervor. Jesus selbst erklärte, dass die beiden Strahlen das Wasser des Geistes und das Blut des Lebens symbolisieren, in denen sich die barmherzige Liebe Gottes kundtue. Er gab Schwester Faustine die Anweisung, ihn auf dieselbe Weise zu malen, wie sie ihn nun sehe. Unter das Bild sollten die Worte gesetzt werden: „Jesus, ich vertraue auf Dich!“ Er verband seine Bitte mit der Verheißung: „Das Bild wird zuerst in eurer Kapelle verehrt und dann in der ganzen Welt.“ Zugleich versprach er, jeden, der dieses Bild verehre, wie seine eigene Ehre zu verteidigen. Dies gelte auch für ganze Städte, in denen das Bild zur öffentlichen Verehrung ausgestellt werde. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die polnischen Bischöfe versammelt und festgestellt, dass nur zwei Städte vor den Zerstörungen des Krieges verschont geblieben waren, nämlich Krakau und Wilna. Die Bischöfe verstanden es als Wink des Himmels, dass es sich ausgerechnet um die beiden Städte handelte, in denen der Wunsch des „Barmherzigen Jesus“ erfüllt und sein Bild öffentlich verehrt worden war. Ergriffen davon, wie deutlich Gott auf den Zeilen der Geschichte geschrieben hatte, ordneten sie an, das Bild in allen Kirchen und Kapellen Polens anzubringen.

„Ankunft des Herrn in der Gnade“

  Gegen Ende der Fünfziger Jahre jedoch intervenierte die Glaubenskongregation. Es waren Zweifel an der Echtheit der Botschaften des Barmherzigen Jesus aufgekommen. So verlangte Rom von den polnischen Bischöfen, diesen Schritt wieder rückgängig zu machen. Mit Klugheit und zugleich Hartnäckigkeit hätten sie dafür zu sorgen, dass alle Bilder wieder entfernt werden. Daraufhin machte sich die Erzdiözese Krakau daran, die Bedenken gegen die Erscheinungen an Schwester Faustina auszuräumen. Alles wurde von neuem geprüft und theologisch ausgewertet. Die Diskussion hatte sich vor allem an einer Aussage entzündet, die missverstanden wurde. Jesus hatte in den Erscheinungen davon gesprochen, dass er vor seiner Ankunft zum Gericht als „Barmherziger Jesus“ in die Welt kommen werde, um sie aus ihrer abgrundtiefen Verlorenheit zu retten. Die Kirche hatte dagegen eingewandt, dass es nach offizieller Lehre keine solche Ankunft des Herrn in der Welt vor seiner endgültigen Wiederkunft in Herrlichkeit am Jüngsten Tag geben werde. Schließlich konnte der Nachweis erbracht werden, dass die Botschaften des Barmherzigen Jesus keine „sichtbare“ Ankunft des Herrn meinen, sondern eine Ankunft „in der Gnade“.[1] Das bedeutet, dass Gott der Menschheit durch ein gnadenhaftes Eingreifen in die Weltgeschichte zu Hilfe kommen wird. Dieses Gnadenwirken Gottes wird Ausdruck seiner barmherzigen Liebe sein und in einem Augenblick geschehen, da es aus menschlicher Sicht keinen Ausweg mehr gibt. Diese Deutung wurde von der Kirche angenommen. Im April 1978, also fast 20 Jahre nach dem Verbot, wurden die Erscheinungen des Barmherzigen Jesus durch die Glaubenskongregation als echt anerkannt und seine Verehrung allen Gläubigen empfohlen. Im Oktober desselben Jahres wurde der Mann, in dessen Händen die gesamte Untersuchung der Erscheinungen lag, nämlich der Erzbischof von Krakau, zum Papst gewählt. Er selbst verstand diese Wahl als Ruf des Herrn, die Botschaft der Barmherzigen Liebe Gottes in die Welt zu bringen.

Apostel der Barmherzigkeit

Im Verlauf seines Pontifikats erfüllte Papst Johannes Paul II. auf ganz unterschiedliche Weise die Berufung zum Apostel der Göttlichen Barmherzigkeit. Den großen Auftakt bildete die Enzyklika „Dives in misericordia Deus“ – „Reich ist Gott an Barmherzigkeit“ vom 30. November 1980. Zahlreiche Gedanken aus dem Tagebuch von Schwester Faustina fanden Eingang in dieses Päpstliche Lehrschreiben, beispielsweise auch die Aussage, dass „unter den Attributen und Vollkommenheiten Gottes“ aus menschlicher Sicht die Barmherzigkeit „das Wichtigste“ ist (Nr. 13). Daneben legte Johannes Paul II. auch durch seine Gesten Zeugnis für die Göttliche Barmherzigkeit ab. In das Gedächtnis der Kirche und der Welt prägte sich besonders ein, wie er seinem Attentäter verziehen und ihn im Gefängnis besucht hatte. Ähnliches gilt für die Nähe, die er all jenen zuteil werden ließ, die der göttlichen Barmherzigkeit besonders bedürfen, wie z.B. den Aidskranken oder den allein gelassenen alten Menschen. „Seine Barmherzigkeit drückte sich auch in Zärtlichkeiten aus, im Zuhören und im interessierten Blick vor allem für jene, die leiden müssen“, wie es Bischof Renato Boccardo, der Generalsekretär des Vatikanstaates, formulierte. Ein weiteres Beispiel für Barmherzigkeit war die große Bitte um Vergebung im Heiligen Jahr 2000. Daneben aber ging es Johannes Paul II. ganz konkret darum, die Anliegen des Barmherzigen Jesus für die Weltkirche umzusetzen. Ein erster Schritt war die Seligsprechung von Schwester Faustina im Jahr 1993. Der Papst wählte als Datum ganz bewusst den Sonntag nach Ostern, für den Jesus die Einführung des Festes der Göttlichen Barmherzigkeit gewünscht hatte. Dagegen aber gab es auch im Vatikan noch erhebliche Widerstände. Zu tief ist die Tradition des „Weißen Sonntags“ verwurzelt, die man nicht antasten wollte. Der Papst musste den Tag der Heiligsprechung im Jubeljahr 2000 abwarten. Wieder legte er die Proklamation auf den Weißen Sonntag, nämlich den 20. April. Im Staatssekretariat war bis zum Festgottesdienst nicht bekannt, dass der Papst tatsächlich diesen Tag zum Fest der Göttlichen Barmherzigkeit erklären würde, wie es Jesus in seinen Erscheinungen 14 Mal angesprochen hatte. Doch Johannes Paul II. war sich seiner Sendung so gewiss, dass er diese Passage noch kurz vor dem Gottesdienst in seinen Predigttext einfügte.

Weihe der Welt an die Göttliche Barmherzigkeit

Diesem Triumph des „Barmherzigen Jesus“ fügte der Papst noch einen Höhepunkt hinzu. Am 17. August 2002 weihte er selbst das Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit in Krakau-Lagiewniki ein. Im Rahmen dieser Feier vollzog er eine feierliche Weihe der Welt an die „Barmherzigkeit Gottes“. Es war etwas Neues im Leben der Kirche, denn die Weihe richtete sich nicht an Jesus Christus oder sein göttliches Herz, sondern an den Vater selbst. Damit zeigte er auch deutlich auf, dass der Barmherzigkeitssonntag das Fest des Himmlischen Vaters ist. Gleichzeitig bekannte Johannes Paul II. bei diesem Anlass vor der ganzen Welt, dass er seine berühmte „Vision der Hoffnung“ vor allem aus den Botschaften Jesu an die hl. Schwester Faustina geschöpft hatte. Ohne diese Erwartung eines neuen Frühlings für die ganze Menschheit, eines neuen Missionszeitalters für die Kirche, einer Friedenszeit für alle Völker, hätte Johannes Paul II. viele Akzente seines Pontifikats nicht gesetzt. Nur aus dieser Hoffnung heraus entwickelten sich die Weltjugendtage. Nur aus dieser Gewissheit heraus konnte Johannes Paul II. die Nationen der Welt unermüdlich zur Versöhnung und zum solidarischen Miteinander aufrufen. Und allen, die an seiner Vision der Hoffnung in jüngster Zeit zu zweifeln begannen, erklärte er im Dokument zum Jahr der Eucharistie, auf dem Weg zum Großen Jubiläum des Jahres 2000 habe er tatsächlich gespürt, „dass diese historische Gelegenheit sich am Horizont wie eine große Gnade abzeichnete.“ Doch habe er sich „gewiss nicht eingebildet“, dass sich auf einen Schlag alles verändern werde. „Nach dem Beginn des Millenniums zeigte sich leider via facti“, so fährt er fort, „eine Art rauher Kontinuität der vorausgehenden Ereignisse und oftmals der schlimmsten unter ihnen. Langsam hat so ein Szenarium sichtbare Formen angenommen, das  – neben tröstlichen Perspektiven – düstere Schatten der Gewalt und des Blutes erkennen lässt, die nicht aufhören, uns traurig zu stimmen. Als ich die Kirche einlud, das Jubiläum der zwei Jahrtausende seit der Menschwerdung Gottes zu feiern, war ich fest überzeugt – und ich bin es jetzt mehr denn zuvor! –, auf lange Sicht für die Menschheit zu arbeiten.“ Nun hat Gott durch ein heiliges Sterben am Vorabend des „Festes der Göttlichen Barmherzigkeit“ die Sendung des Papstes bestätigt, um auch uns Kraft zu geben, diese Arbeit für die Menschheit, wie sie Johannes Paul II. begonnen hat, „auf lange Sicht“, d.h. mit langem Atem weiterzuführen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2005
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[1] Vgl. Schreiben zum 700. Jahrestag des Wallfahrtsortes von Loretto, 15.08.1993, Nr. 1.

Posthume Papstbotschaft zum Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit am 3. April 2005

Liebe Schwestern und Brüder!

1. Auch heute erklingt das frohe österliche Halleluja. Das heutige Evangelium nach Johannes hebt hervor, wie der Auferstandene in der Nacht zu diesem Tag den Aposteln erschienen ist und „ihnen seine Hände und seine Seite“ gezeigt hat (Joh 20,20), das heißt, die Zeichen seiner schmerzhaften Passion, die sogar noch nach der Auferstehung unauslöschlich in seinen Leib eingebrannt sind. Diese ehrwürdigen Wundmale, die er acht Tage später dem ungläubigen Thomas zeigen sollte, damit dieser sie berühre, offenbaren die Barmherzigkeit Gottes, der „die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Joh 3,16). Dieses Geheimnis der Liebe bildet das Kernstück der heutigen Liturgie vom Weißen Sonntag, Sonntag „in Albis“, der dem Gedächtnis der göttlichen Barmherzigkeit gewidmet ist.

2. Der Menschheit, die mitunter wie verloren zu sein scheint, beherrscht von der Macht des Bösen, des Egoismus und der Angst, dieser Menschheit bietet der auferstandene Herr seine Liebe zum Geschenk an – eine Liebe, die vergibt und versöhnt und den Geist mit frischer Hoffnung erfüllt; eine Liebe, die das Herz verwandelt und Frieden gibt. Wie sehr bedarf die Welt des Verständnisses und der Annahme der göttlichen Barmherzigkeit! Herr, mit deinem Tod und deiner Auferstehung offenbarst du die Liebe des Vaters: Wir glauben an dich und wollen dir heute vertrauensvoll immer wieder sagen: Jesus, ich vertrau auf dich, hab Erbarmen mit uns und der ganzen Welt.

3. Das liturgische Hochfest der Verkündigung, das wir morgen feiern werden, lässt uns mit den Augen Mariens das ungeheure Geheimnis dieser barmherzigen Liebe betrachten, die dem Herzen Christi entströmt. Mit ihrer Hilfe können wir den authentischen Sinn der österlichen Freude begreifen, die ihren Grund in dieser Gewissheit hat: Derjenige, den die Jungfrau in ihrem Schoß getragen hat, der für uns gelitten und gestorben ist, er ist wahrhaft auferstanden. Halleluja!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2005
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Die gebeugte Gestalt in Weiß

„Er war ein Konservativer und dennoch ein Revolutionär – der Karol Wojtyla, der das Gesicht der Welt veränderte.“ Dieses Wort stellte DDr. Günther Nenning in der bekannten Kronenzeitung seinem Beitrag zum Tod des Papstes voran. Inzwischen haben wir die Kommentare Nennings zu Vorgängen in der Kirche schätzen gelernt. Gerade weil er aus einer gewissen Distanz heraus im Lauf seines Lebens eine neue Haltung zu Fragen des Glaubens gefunden hat, wirkt sein Wort glaubwürdig. Er schaut unvoreingenommen auf den Papst und stellt voller Bewunderung fest: „Der Heilige Vater übte eine unglaubliche Ausstrahlung auf Kinder und Jugendliche aus. Sie liebten ihn.“

Von Günther Nenning

Ein tapferes Herz hat aufgehört zu schlagen. Er hätte es doch schön bequem haben können. Oberhaupt der katholischen Christen – Schätzungen schwanken, aber es dürften nicht viel weniger als beinahe eine Milliarde Menschen auf dem Globus sein. Das wäre doch ein Job gewesen, der auch einen aktiven Typ im Trab gehalten hätte. Aber ihm reichte es nicht.

Als Jüngling schrieb er gar nicht frömmelnde Theaterstücke: Er war ein Dichter. Nichts reichte ihm als die große Utopie: ein Papst zu sein, nicht bloß für die Katholiken, sondern einer, dessen Feld die ganze Welt ist. Seine belächelte ewige Herumreiserei – an die hundert Mal ging er auf Fahrt –, seine aktive Sehnsucht nach Zusammenwirken mit allen christlichen Konfessionen, mit allen Religionen, inklusive Juden und Muslime… nichts, gar nichts ließ er aus an möglichen Chancen, Christus ins globale Spiel zu bringen. Er war ein Apostel von neuer Qualität.

„Ich laufe,  aber nicht ins Ungewisse“

Als junger Mann und noch als Papst fuhr er gern Ski. Noch mit siebzig, körperlich gezeichnet, versuchte er es in den Dolomiten, nostalgisch und optimistisch. Er war ein Sportler. Ein Sportler wie der heilige Paulus, dessen Namen er trug: „Ich laufe, aber nicht ins Ungewisse. Ich kämpfe, aber nicht wie einer, der in die Luft schlägt“ (Paulus an die Korinther). „Nicht, dass ich's ergriffen habe. Aber ich vergesse, was hinten ist, und strecke mich nach dem, was vorne ist, und jage nach dem vorgestreckten Ziel, nach dem Siegespreis der himmlischen Berufung in Christus Jesus“ (Paulus an die Philipper).

Sich vorwärts strecken, jagen nach dem Ziel, Siegespreis: Dieser Papst war der Sportler des neuen Jahrtausends. Hermann Maier wird gefeiert. Aber was ist der Hermann gegen den Johannes Paul. Das tapfere Sportherz dieses Papstes war ein weiches Herz. 14 Enzykliken verfasste er, darunter so viele über soziale Fragen wie kein anderer Papst. In der Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ („Sorge über das soziale Problem“) zitiert er den Propheten Ezechiel: „Ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres, euer steinernes Herz wegnehmen und euch ein Herz von Fleisch geben.“

Arme immer ärmer, Reiche immer reicher

Ein Herz von Fleisch: Gibt es denn auch einen Sozialismus? Dieser Papst, behaupte ich, war der letzte Sozialist. Der erste Sozialist eines kommenden Zeitalters des christlichen Sozialismus. Er wagt die Offensive gegen das steinerne Herz des Brutal- und Globalkapitalismus. Von diesem Papst stammt die bündige Anklage: „Die Reichen werden immer reicher, und die Armen immer ärmer.“ Welcher Sozi getraut sich das sagen?

Viel wurde geschwätzt, dass dieser Papst ein Konservativer sei. Das Gegenteil ist wahr. Dieser Papst war ein Revolutionär. Wer Liebhaber der Weltgeschichte ist, weiß: Immer sind die großen Konservativen die großen Revolutionäre. Revolution ist ein astronomischer Begriff: die Umwälzung der Gestirne nach vorwärts, nämlich zurück zum ursprünglichen Ausgangspunkt.

Dieser Papst wollte die Umwälzung der Kirche zu ihren Ursprüngen. Er war kein „Modernisierer“: kein Anpasser an den Zeitgeist, sondern ein Getriebener vom Wehen und Blasen des Heiligen Geistes. Er pilgerte auf dem Weg in die Zukunft.

Ein eiserner Anti-Kommunist

Er war ein eiserner Antikommunist. Mit der „Theologie der Befreiung“ ging er hart um, deren Umgang mit Maschinengewehr und Marx – sei‘s auch begreiflich durch die Zustände in Lateinamerika – duldete er nicht. Und bekam Recht.

Mit dem Marxismus ist es aus und vorbei. Alle Ideologie starb, der Gottesglaube wächst. Wer's nicht merkt, ist selber schuld, er wird's schon noch merken.

Getreu seinem Namen Johannes glaubte dieser Papst an die Macht des Wortes. „Im Anfang war das Wort. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch dieses Wort gemacht, und ohne das Wort ist nichts gemacht…“

Einen unzeitgemäßeren Glauben kann es gar nicht geben. Absurd, was da im Prolog des Johannes-Evangeliums steht. Wir leben im Zeitalter der Macht und Supermacht, des Angriffs- und Präventivkriegs. Aber dieser Papst hat an die Stärke der Schwäche geglaubt, an das inspirierende Wort, und an die letztliche Ohnmacht der Machthaber.

Am Anfang war das Wort: 1989 kam der Niedersturz des Sowjetreiches, und dieser Papst konnte durch sein Wort, mit Leidenschaft gerichtet an das Volk und an die Machthaber in seiner Heimat Polen, tatsächlich Entscheidendes wirken. Das war die Sternstunde des Johannes Paul.

Ach, jetzt sieht es gar nicht danach aus, als könnte das johanneische Wort siegreich sein über die Kriegsherren. Aber das ist das Große an diesem Papst: Er scherte sich nie um das Vorläufige, sondern um das, was in letzter Instanz zählt.

Im Leiden die Tiefe des Glaubens

In der schrecklichen Krümmung seines Leibes, im Scheitern seiner schönen Zurufe aus dem Reich des Wortes – im Leiden, und nicht im Sieg des Tages, lag die Tiefe seines Glaubens.

Der 264. Papst: Die Kirche ist die älteste Firma der Weltgeschichte, ganz buchstäblich: „Firma“ heißt „die Feste“. Er hat Geschichte gemacht, aber das ist noch nicht viel; er hat Trost verströmt und Optimismus. Lange hat sie uns begleitet; die gebeugte Figur in Weiß, hängend am Kreuz seiner Hinfälligkeit. Das ist die Weise, auf die er uns Kraft gegeben hat.

Danke.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Der „Anwalt des Lebens“ und sein Vermächtnis

Eines der wichtigsten Vermächtnisse Papst Johannes Pauls II. ist sein unermüdlicher Kampf für die Schwachen und Unterdrückten. Dafür hat er aus allen Teilen der Welt höchste Anerkennung erfahren. Doch die Wehrlosesten unserer Gesellschaft sind die ungeborenen Kinder. Weltweit stellen die Abtreibungs- und Euthanasiegesetze den größten Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte dar. Papst Johannes Paul II. hat uns mit seiner Enzyklika „Evangelium vitae“, die kürzlich ihren 10. Jahrestag feierte, ein historisches Vermächtnis seines Einsatzes für die Heiligkeit des Lebens hinterlassen, eine „Magna Charta des Lebensrechts“.

Von Claus Jäger

Karfreitag – zeichenhafter Jahrestag

Am 25. März 2005 waren es zehn Jahre, dass Papst Johannes Paul II. die Enzyklika „Evangelium vitae“ zum Schutz des menschlichen Lebens veröffentlicht hatte. Es war die Zeit, als in Bonn nach jahrelangem politischen Ringen mit den neuen Abtreibungsgesetzen die „Fristentötung“ eingeführt wurde. Kernpunkt war die Bestimmung, dass bis zum Ende der zwölften Schwangerschaftswoche das Töten des Kindes im Mutterleib zwar noch rechtswidrig, aber nicht mehr strafbar ist, sofern die Schwangere dem Arzt die Bescheinigung über eine erfolgte Beratung bei einer zugelassenen Beratungsstelle vorlegt.

Am 25. März feiert die Kirche das Fest „Verkündigung des Herrn“. Mit der Empfängnis im Mutterschoß Mariens ist der Sohn Gottes in die Weltgeschichte eingetreten. Es ist vielleicht ein besonderer Fingerzeig, dass dieses Fest heuer auf den Karfreitag gefallen ist und diesem liturgisch weichen musste. Gottes Liebe zu uns – so bekennen wir am Karfreitag – geht so weit, dass er seinen Sohn ans Kreuz ausgeliefert hat, damit wir „das Leben haben und es in Fülle haben“. Die Hunderttausende ungeborener unschuldiger Kinder, die in Deutschland und in ganz Europa jährlich sterben müssen, ehe sie das Licht der Welt erblicken, zeigen einerseits die schauerliche Antwort des egoistischen Menschen auf den Liebeserweis Gottes, andererseits setzt in ihnen der Erlöser selbst sein unschuldiges Leiden durch die Menschheitsgeschichte hindurch fort.

Das Fest der Verkündigung des Herrn und der Karfreitag verknüpfen den Beginn und das Ende des irdischen Lebens Christi, das ein einziges großes Ja zum Willen Gottes und damit zum Leben bildet.

Magna Charta des Lebensschutzes

Die Enzyklika „Evangelium vitae“, in der Bedrohung und Schutz des menschlichen Lebens umfassend behandelt werden, ist zur „Magna Charta des Lebensschutzes“ in der katholischen Kirche geworden. Kein anderes kirchliches Dokument beleuchtet so klar die Probleme am Beginn und am Ende des menschlichen Lebens, kein anderes hat philosophische und theologische Aspekte des Lebensschutzes so anschaulich herausgearbeitet.

Jedem wachen Menschen ist klar, dass die massenhafte Abtreibung verheerende Folgen hat. Hunderttausenden von Kindern kostet sie das Leben und bedroht die Fundamente unseres Sozialstaates, dem der unentbehrliche Nachwuchs fehlt. Diesen Zusammenhang erkennen immer mehr Menschen. Aber für einen Kurswechsel könnte es bald zu spät sein, wenn sich die Verantwortlichen im Staat und auch in der Kirche nicht ernsthaft mit den Forderungen der Enzyklika auseinandersetzen. Entweder wir wählen „Evangelium vitae“ zum Leitwort unseres sozialen Handelns, oder es wird zur Grab-Inschrift unserer Gesellschaft.

Demokratie verwandelt sich in tyrannischen Staat

Johannes Paul II. äußert sich eindeutig: „Das ,Recht‘ hört auf Recht zu sein, weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird. Auf diese Weise beschreitet die Demokratie ungeachtet ihrer Regeln den Weg eines substantiellen Totalitarismus. Der Staat ... verwandelt sich in einen tyrannischen Staat, der sich anmaßt, im Namen einer allgemeinen Nützlichkeit – die in Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse einiger weniger ist – über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom ungeborenen Kind bis zum alten Menschen verfügen zu können“ („Evangelium vitae“, Nr. 20).

Und er fügt hinzu: „Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen sich also nicht nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern auch gegen das Gemeinwohl und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit“ (Nr. 72). „Abtreibung und Euthanasie sind also Verbrechen, die für rechtmäßig zu erklären sich kein menschliches Gesetz anmaßen kann. Gesetze dieser Art rufen nicht nur keine Verpflichtung für das Gewissen hervor, sondern erheben vielmehr die schwere und klare Verpflichtung, sich ihnen mit Hilfe des Einspruchs aus Gewissensgründen zu widersetzen“ (Nr. 73).

Mit dieser Feststellung ist der Gesetzeskomplex des Schwangeren- und Familienhilfe-Änderungsgesetzes (SFHÄndG) ganz unmittelbar gemeint. Er hat deshalb für Christen keine Gültigkeit. Ein Rest von schlechtem Gewissen des Gesetzgebers ist noch daran zu erkennen, dass er niemanden zwingt, sich an einem Abbruch zu beteiligen (§12 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes – SchKG). Der deutsche Gesetzgeber hat gegen das Menschenrecht auf Leben und damit gegen die Menschenrechte überhaupt entschieden. Deutschland hat damit partiell aufgehört, ein Rechtsstaat zu sein. Das Fristentötungs-Modell muss auf den Prüfstand des Gesetzgebers.

Kampf um das Leben

Die Enzyklika weist darauf hin, dass um das Lebensrecht der Ungeborenen ebenso wie um das der Hochbetagten und Schwerstbehinderten eine Grundsatz-Auseinandersetzung globalen Ausmaßes geführt wird, deren Heftigkeit alles bisher Dagewesene übersteigt. Der Papst beschreibt sie als den Kampf der „Kultur des Todes“ gegen die „Kultur des Lebens“.

„Dieser Horizont von Licht und Schatten muss uns allen voll bewusst machen, dass wir einer ungeheuren und dramatischen Auseinandersetzung zwischen Bösem und Gutem, Tod und Leben, der ‚Kultur des Todes‘ und der ‚Kultur des Lebens‘ gegenüberstehen. Wir stehen diesem Konflikt nicht nur ,gegenüber‘, sondern befinden uns notgedrungen ,mitten drin‘“ (Nr. 28).

In dieser Auseinandersetzung ist jeder aufgerufen, Stellung zu beziehen. Besonders die Kirche muss auf diesem Schlachtfeld eine führende Rolle spielen – als Vorkämpferin des Lebensrechts und der Menschenwürde ebenso wie als Hüterin der 10 Gebote Gottes. Welchen Mut dieses eindeutige Zeugnis erfordert, zeigte der in den Jahren 1999 und 2000 ausgefochtene Streit um die Ausstellung von Beratungsscheinen gemäß §7 SchKG durch katholische Beratungsstellen, der nur durch das unmittelbare Eingreifen des Papstes entschieden werden konnte. Die Auseinandersetzung hat das Augenmerk im deutschen Katholizismus wieder neu auf den Lebensschutz gerichtet, selbst wenn die Organisation „Donum vitae“ die Entscheidung von Papst und Bischöfen gegen den Beratungsschein unterläuft und unwirksam zu machen versucht. Ohne Zweifel leidet darunter die Glaubwürdigkeit der Kirche in der Lebensrechts-Frage. Tatsächlich gehen viele Schwangere deshalb zu Beratungsstellen von „Donum-vitae“, weil sie den angeblich „katholischen Schein“ als eine Art Voraus-Absolution durch die Kirche verstehen. Dennoch bleibt die Abtreibung in den Augen der Kirche ein „verabscheuungswürdiges Verbrechen“, wie es das II. Vatikanische Konzil formuliert hat. Auch Katholiken fühlen sich unbehaglich, wenn sie diese klare Sprache hören. Nennt doch die Enzyklika die Abtreibung schlicht und einfach „Mord“. Johannes Paul II. will den Menschen helfen, dass sie sich nicht von der „Kultur des Todes“ einspannen lassen, sondern die Zeichen der Zeit erkennen und sich eindeutig auf die Seite der Verteidiger des Lebens stellen.

„Aufstehen für das Leben“

Der Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Dr. Gebhard Fürst, hat vorbildhaft vier sog. „Pastorale Prioritäten“ formuliert. Eine trägt den Titel „Aufstehen für das Leben“. Per Dekret erklärte er diese Prioritäten zur verbindlichen Handlungsanleitung für alle kirchlichen Stellen der Diözese. Darin wird die Forderung nach Ehrfurcht und Respekt vor dem von Gott geschenkten Leben durch die Aufgabe ergänzt, Ehe und Familie zu stärken und „Solidarität im globalen Horizont“ zu üben. Dies ist für den Lebensschutz von größter Bedeutung. Noch nie hat es eine vergleichbare Entsolidarisierung der Gesellschaft gegenüber ihren schwächsten und wehrlosesten Mitgliedern gegeben wie in unserer Zeit.

Die Enzyklika unterstreicht, dass jeder Einzelne zum Einsatz für das Leben gesandt ist. Gleichzeitig aber legt sie großes Gewicht auf die Arbeit von Gruppen, Bewegungen und sonstigen Initiativen für das Leben. In fast unübersichtlicher Fülle gibt es heute solche Lebensrechtsbewegungen in ganz Europa und besonders in Deutschland, dem klassischen Land der Vereine und Verbände. Die Stimmenvielfalt, die manche beklagen, hat doch wesentlich zur Bewusstseinsbildung beigetragen.

Papst Johannes Paul II. träumte von einer groß angelegten „Strategie zugunsten des Lebens“, die zu einer weltweiten „kulturellen Wende“ führen wird. Diese Strategie muss beim einzelnen Christen – in seiner Familie und Gemeinde – beginnen und schließlich die ganze Gesellschaft erfassen. Ihre wichtigste Waffe soll das gemeinschaftliche Gebet sein, mit dem Gott inständig um seine Hilfe angerufen wird. Es „soll die ganze Welt durchdringen“, wie der Papst formuliert, und auch mit Fasten verbunden sein, da nach den Worten Jesu manche Dämonen nur mit Fasten und Gebet ausgetrieben werden können (Mk 9,29). Damit würden die „Mauern aus Lüge und Betrug zum Einsturz“ gebracht, die von der „Kultur des Todes“ errichtet worden sind und auch viele Christen täuschen. Die Enzyklika mit ihrer kämpferischen Sprache kennt natürlich auch Worte des Verständnisses und der Nachsicht. Beides zu vereinen ist die Aufgabe der neuen Offensive, zu der Papst Johannes Paul II. alle Menschen guten Willens aufgerufen hat, um die Menschheit vor ihrem Untergang zu bewahren und in eine friedliche Zukunft zu führen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Wir haben Ihn geliebt!“

Wie junge Menschen Papst Johannes Paul II. erlebt haben, zeigt das Zeugnis von Nina Heereman. Sie hebt deutlich hervor, dass sie den Papst nicht trotz, sondern wegen seiner moralischen Ansprüche geschätzt hat. Aus ihren Worten spricht eine unendliche Dankbarkeit für die klare Führung und Orientierung, die Papst Johannes Paul II. den jungen Menschen geschenkt hat. Wie ein Leuchtturm hat er ihr den Weg gewiesen und ihre Lebensberufung geformt.

Von Nina Heereman

In diesen Tagen blickt die Welt auf das Leben Papst Johannes Pauls II. zurück. Viel wird von seiner erstaunlichen Ausstrahlung auf die Jugendlichen gesprochen. Immer wieder heißt es, er habe die Jugend trotz seiner hohen Forderungen in Sachen christlicher Moral begeistert. Sie hätten ihn geliebt als ihren Vater oder Großvater, selbst wenn sie seinen großen Idealen in Bezug auf die Liebe nicht zugestimmt hätten. Ich halte diese Einschätzung für verfehlt.

„Gebt euch nicht mit Mittelmäßigkeit zufrieden!“

Der Eindruck, den ich seit dem Jahr 1997, in dem auch mich die Welle der Weltjugendtage ergriffen hat, gewinnen konnte, war genau das Gegenteil. Sie, das heißt wir, haben ihn geliebt, weil er uns mit der ganzen Wahrheit über menschenwürdige Liebe konfrontiert und nicht geduldet hat, dass wir hinter dem zurückbleiben, wozu Gott uns fähig gemacht hat. Er war wie ein Vater, der nicht zuschauen konnte, dass seine Kinder in der Sünde umkommen. Oder, um es in einem Bild auszudrücken: wie ein Fußballtrainer, der in seinem Schützling das Zeug zu einem Karl Heinz Rummenigge wittert und deshalb nicht zulassen kann, dass dieser sich damit zufrieden gibt, nur auf dem Rasen hinterm Haus zu kicken. Immer wieder hat er uns gesagt: „Gebt euch nicht mit Mittelmäßigkeit zufrieden!“ – und schon gar nicht in Sachen Liebe. Er wollte uns begreifbar machen, dass die Liebe das höchste zu erstrebende Gut ist und das Geschenk der Sexualität ein wesentlicher Teil davon. Fähig, uns in göttliche Dimensionen der Liebe und Freiheit einzuführen, oder aber zu versklaven, wenn wir sie so gebrauchen, wie es uns die großen Ideologen des letzten Jahrhunderts empfehlen.

„Gleicht euch nicht dieser Welt an!“

1972 in einer katholischen Familie geboren, gehöre ich wahrscheinlich genau zu der Generation, die die Traditionen der Kirche nicht mehr kennen gelernt hat. Die hl. Messe und die Leute, die ich dort traf, fand ich als Kind und Jugendliche äußerst langweilig. Dennoch hörte ich nie auf, in die Sonntagsmesse zu gehen, da ich dank des aufrichtig gelebten Glaubens meiner Eltern darauf vertraute, dass dieser sonntägliche Besuch das Mindeste sei, was ich meinem Schöpfer schuldete. Mein Bruder und ich hatten die Devise: Joints rauchen, cool sein, in allem modern und dennoch in die Kirche gehen, das wird die Kirche von ihrem verstaubten Image befreien und den anderen jungen Leuten helfen, zu merken, dass Katholiken eben doch nicht von gestern sind. Wenig ahnte ich von dem Wort Gottes: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist“ (Röm 12,2). Der Wille Gottes indes, war die Frage, die mich umtrieb. Schon als Kind hatte ich die Sehnsucht, mein Leben hinzugeben im Dienst an den Menschen, sei es als Mutter von Waisenkindern, als Ärztin in der Mission oder als Rechtsanwalt. An Ideen mangelte es nicht, es fehlte allein die Sicherheit, dass es das war, was Gott für mich wollte.

Die junge Kirche auf den Weltjugendtagen

Mit 19 begann ich ein Jurastudium in Heidelberg, Dresden und München und das ganz normale Leben aller Jugendlichen: Nächte in Bars, Diskotheken und auf Partys, den Vormittag im Bett, Frühstück ab 12 Uhr, rumhängen auf dem Rasen vor der Mensa und viele, möglichst weite Reisen, um der Enge des eigenen Herzens zu entfliehen. Hinter all dem stand die Suche nach der großen Liebe. Ich hatte viele Flirts, doch je mehr Menschen ich kennenlernte, desto mehr stellte ich mir die Frage, ob es das überhaupt gebe: die große Liebe, den Mann meines Lebens. Meine Freunde sagten mir, ich sei zu anspruchsvoll und das Leben bestehe nun mal aus Kompromissen. So hatte ich bereits viele meiner großen Ideale „begraben“, als ich wie durch ein Wunder zum Weltjugendtag nach Paris kam und dort eine ganz andere Kirche und in ihr die Liebe kennenlernte: Jugendliche die stundenlang vor dem Allerheiligsten saßen, sich in Ihm sonnten, wie ich es bis dato in der Sonne des Mittelmeeres getan hatte, von Jesus sprachen wie von ihrem besten Freund und mir ins Gesicht sagten, sie liebten den Papst. So etwas fand ich unerhört! Zu tief saß der Spruch, den ich seit meiner Kindheit immer und immer wieder gehört hatte: „Wir sind katholisch, auch wenn wir mit dem Papst nicht in allem übereinstimmen. In Sachen Verhütung übertreibt er ein bisschen, aber sonst ist er ein guter Mann.“ Dort in Paris begegnete ich Jesus Christus zum ersten Mal, nicht mehr als einem Gott, fern über den Wolken, sondern als dem, der in seiner Kirche heute lebendig ist. Und noch mehr: als den, auf den sich all mein Suchen nach Liebe, nach Erfüllung, nach Sinn bisher unbewusst ausgestreckt hatte.

„Mein Leben hat sich total gewandelt“

„Meister, wo wohnst Du?“ war das Motto des Weltjugendtags, „Kommt und seht“ die Antwort des Herrn. Ich fing an zu kommen, das heißt in den Sakramenten, der regelmäßigen Beichte, der zunehmend täglichen Eucharistiefeier, im Gebetskreis, aber vor allem im persönlichen Gebet vor dem Allerheiligsten. Ich vertraute mein Leben nach dem Vorbild des Papstes und in seinem Gefolge der Jugendlichen der Muttergottes an und bat sie, mir zu zeigen, was der Plan Gottes für mein Leben sei. Innerhalb von zwei Jahren hat sich mein Leben total gewandelt. Alles, was vorher mein Leben bestimmt hatte, verlor seinen Geschmack, sofern es nicht auf Jesus Christus ausgerichtet war, und ich begann unter all dem zu leiden, was mich von Ihm trennte. Ich fühlte mich gefangen von schlechten Angewohnheiten und kam doch aus eigener Kraft nicht heraus. Doch die drängendste Frage war: Herr, was willst Du, dass ich aus meinem Leben mache? Ich hatte die tiefe Überzeugung erlangt, dass das Leben in Fülle nur möglich ist, sofern ich den Willen Gottes für mein Leben entdecke. Dafür aber galt es seine Stimme zu hören – vor der ich mich immer noch taubstumm fühlte.

„Die Wahrheit wird Euch befreien“

Als der Papst 1998 das Jahr des Heiligen Geistes ausrief, beschloss ich, an charismatischen Exerzitien teilzunehmen, da ich mir dachte: Wenn ich in diesem Jahr nicht begreife, wer der Hl. Geist ist, dann wird er mir wohl immer, wie für so viele, ein geheimnisvolles „Gespenst“ bleiben. Ich hoffte, dort begnadeten Menschen zu begegnen, die mir mit Hilfe der Gaben des Geistes den Willen Gottes für mein Leben mitteilen würden, so nach der Art eines Orakels. Tatsächlich gab es diese Menschen dort. Jedoch taten sie mir, Gott sei Dank!, nicht den Gefallen, zur Stimme Gottes für mich zu werden. Die Exerzitien wurden von indischen Missionaren jeden Standes gepredigt. Von morgens bis abends verkündeten sie uns das Wort Gottes in seiner ganzen Kompromisslosigkeit. Ich begriff, dass Jesus am Kreuz gestorben war, um Sühne zu leisten für meine Sünden, dass die Sünde mich taub macht für die Stimme Gottes und mich trennt vom Heiligen Geist, der hingegen die Kraft eines Christen ist, ja die Dynamik, ohne die ein christliches Leben gar nicht möglich ist. Das Wort Gottes war wie ein Arzt, der zunächst eine Diagnose stellt, bevor er mit der Therapie beginnt. Ich war unendlich dankbar für jede Sünde, die beim Namen genannt wurde, damit ich erkennen könne, wovon ich mich abwenden sollte. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird Euch befreien“ (Joh 8,32). Mit einem Mal konnte ich die gesamte Lehre des Heiligen Vaters annehmen. Seine klaren Worte zunächst in Sachen Sexualität, dann aber auch in allen anderen Bereichen der Lehre der Kirche haben meinem Leben diese Orientierung gegeben und mir einen Neubeginn geschenkt, der wie ein Erwachen zu Freiheit, Friede und Freude war und ist. Er, der sein ganzes Leben in den Dienst an Gott und die Menschen gestellt hatte, hat mich begreifen lassen, dass Ziel und Glück meines Lebens in Jesus Christus liegen, der für uns das Leben ist. Ob als Mutter im Waisenheim, Arzt oder Rechtsanwalt, ist dabei zweitrangig geworden. Was mein Herz ergriffen hat, ist ein Wort, welches wie ein Schmerzensschrei aus dem Herzen des Vaters zu uns dringt: „Mein Volk kommt um, weil ihm die Erkenntnis fehlt“ (Hos 4,6). Besonders den Jugendlichen fehlt die Erkenntnis Christi und seiner Gebote als Wegweiser zu einem erfüllten und glücklichen Leben. Der hl. Paulus kommentiert das gleichsam, indem er sagt: „Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündet?“ (Röm 10,14). Johannes Paul II. hat Ihn verkündet und das Wort hat uns trotz aller Widerstände erreicht. Ich danke, danke, danke Gott für das Geschenk dieses großen Papstes, dem Apostel der Barmherzigkeit Gottes, und wünsche, dass wir, die wir in Frankreich schon lange die „Generation Johannes Paul II.“ heißen, seinem Erbe treu bleiben und sein Werk der Verkündigung fortsetzen, auf dass alle Menschen zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi gelangen (2 Kor 4,6) und in ihm das Leben in Fülle finden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Der Papst und die Einheit Europas

Während seines ganzen Pontifikats setzte sich Johannes Paul II. unermüdlich für ein vereintes Europa ein. Wenn es um dieses Thema ging, trat er mit einer Selbstsicherheit auf, die an die großen Propheten erinnert. Vor allem war er davon überzeugt, dass Europa nur dann seine wahre Sendung finden und in der Welt erfüllen kann, wenn es auch den slawischen Osten einbezieht. Was aber Ost und West, diese beiden „Lungenflügel Europas“, wie sich Johannes Paul II. immer wieder ausgedrückt hat, miteinander verbindet, ist nicht ein griechisch-römischer oder germanischer Reichsgedanke, auch nicht die Aufklärung oder die Französische Revolution, sondern die „christliche Seele“ der europäischen Kultur. So wirft Prof. Dr. Rudolf Grulich zum Europatag am 5. Mai seinen Blick auf die beiden Slawenapostel Cyrill und Method, die für die kulturelle Entwicklung der slawischen Völker die entscheidende Brücke zum Osten geschlagen haben.

Von Rudolf Grulich

Johannes Paul II. – stets ein echter Pan-Europäer

Politiker aller Parteien und Theologen aller Religionen und Konfessionen haben den verstorbenen Papst gewürdigt und seine Rolle bei der Überwindung des Kommunismus betont. Das geschah teilweise bereits im Vorjahr, als das Aachener Karlspreis-Komitee dem Papst für seine Verdienste um die Überwindung der Spaltung Europas einen außerordentlichen Karlspreis verlieh, der im März 2004 in Rom überreicht wurde. Damit war endlich die Bedeutung von Johannes Paul II. für die Einheit Europas gewürdigt worden. Als vor 25 Jahren, im Jahre 1980, der polnische Papst die beiden Slawenapostel Cyrill und Method zu Konpatronen Europas erklärte, hatte er bereits die Einheit Europas im Blickfeld und die Überwindung der Spaltung des Kontinentes. Er sah dies aber schon damals im Zusammenhang mit der Neu-Evangelisierung Europas. Dies hatte aber damals Mittel- und Westeuropa kaum zur Kenntnis genommen. Wenn schon 1980 die Tragweite des Beschlusses von Johannes Paul II. nicht erkannt wurde, die Slawenapostel zu Patronen Europas zu erklären, so hätte dies doch ein Jahrzehnt später geschehen müssen, vor allem durch die Folgen der politischen Wende des Jahres 1989, als die unnatürliche Teilung Deutschlands und Europas unerwartet beendet wurde.

Die bedeutende Rolle, die dabei der polnische Papst für diese entscheidende Wende spielte, kann nicht hoch genug angesetzt werden. Der Pole Johannes Paul II. hatte sich im Gegensatz zu den Politikern nie mit der Teilung Europas als Folge der Absprachen während der Konferenz von Jalta abgefunden. Er war stets ein echter Pan-Europäer und hatte schon 1979 bei seiner ersten Reise als Papst nach Polen in Gnesen am Grab des hl. Adalbert die Einheit des Kontinents betont. 1985 erinnerte Johannes Paul II. in seinem Rundschreiben „Slavorum Apostoli“ zum 1100. Todestag des hl. Method an das Werk der Evangelisierung der beiden Brüder aus Saloniki, von deren Charisma er hoffte, es werde „sich in unserer Epoche in neuer Fülle zeigen und neue Früchte tragen“.

Neues Missionsland vom Atlantik bis zum Ural

Cyrill und Method waren für den Papst zwei Verbindungsringe, eine geistige Brücke zwischen Ost und West, die einen entscheidenden Beitrag zur Bildung Europas leisteten, „und zwar nicht nur in der religiösen, christlichen Gemeinschaft, sondern auch für seine gesellschaftliche und kulturelle Einheit“. An anderer Stelle spricht Johannes Paul II. von den beiden christlichen Grundhaltungen in Ost und West als von den zwei Flügeln einer Lunge, durch die Europa atmet. Bei seinem ersten Besuch in einem ehemals kommunistischen Land nach der Wende hat er in der damaligen Tschechoslowakei im April 1990 im mährischen Wallfahrtsort Velehrad die ganze Bedeutung dieser Heiligen aufgezeigt. Als seine Antwort auf den Umbruch in Osteuropa hat der slawische Papst damals eine Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa angekündigt, die ab 28. November bis zum 13. Dezember 1991 nach Wegen der Neuevangelisierung Europas fragte, das sich nun den Bischöfen vom Atlantik bis zum Ural als neues Missionsland darstellte. Wie sich 1979 die 3. Vollversammlung des lateinamerikanischen Episkopates mit der Evangelisierung ihres Kontinentes in Gegenwart und Zukunft beschäftigte, so haben Ende 1991 die europäischen Bischöfe ihre Konzeptionen vorgelegt. Unter dem Titel „Damit wir Zeugen Christi sind, der uns befreit hat“, betonte die Sonderversammlung im Schlussdokument die gegenwärtige historische Stunde für den christlichen Glauben Europas und wies auf Wege der Neuevangelisierung hin.

Cyrill und Method – wer sind die Mitpatrone Europas?

Und dennoch: Cyrill und Method, die Konpatrone Europas, die vom Papst stets vor Augen gestellten Väter eines christlichen Pan-Europa, sind vielen Deutschen weiterhin unbekannte Heilige geblieben. Das ist bedauerlich, gerade in Deutschland, wohin nach dem 2. Weltkrieg durch die Vertreibung aus dem Osten Millionen von Menschen kamen, denen Cyrill und Method keine unbekannten oder vergessenen Heiligen waren. Sudetendeutsche aus Mähren kennen aus dem deutschen Gebetbuch ihrer Eltern und Großeltern aus der Erzdiözese Olmütz das „Meßlied zu Ehren der Landespatrone Cyrill und Method“. Sie pilgerten mit Tschechen und Polen nach Velehrad und auf den Berg Hostein.

Wer sind diese Heiligen? Cyrill, genannt der Philosoph, hieß ursprünglich Konstantin. Er ist um das Jahr 826 geboren und war Priester. Sein 10 Jahre älterer Bruder Method war zunächst kaiserlicher Beamter und wurde dann Mönch. Nachdem sie bereits im Auftrag des Kaisers bei den Chazaren wirkten, entsandte sie Kaiser Michael im Jahre 863 auf Bitten des mährischen Fürsten ins Großmährische Reich, wo sie ein slawisches Alphabet schufen und erfolgreich missionierten. Da es wegen der slawischen Sprache im Gottesdienst zu Konflikten mit fränkischen und bairischen Bischöfen und Priestern kam, begaben sich die beiden nach Rom, um sich ihre Missionsmethode in der Volkssprache vom Papst bestätigen zu lassen. In Rom wurde Konstantin Mönch und erhielt den Namen Cyrill. Hier starb er im Jahre 869. Method wurde zum Bischof geweiht und kehrte nach Mähren zurück. Er wurde von den bairischen Bischöfen verfolgt und sogar eingekerkert. Durch Intervention des Papstes befreit, wirkte er bis zu seinem Tode 885 in Mähren. Danach wurden seine Schüler vertrieben und gingen zu den Südslawen, um das Werk Methods weiterzuführen. Trotz der Vertreibung ihrer Schüler lebte das Werk der Slawenapostel in Mähren, aber auch in Böhmen weiter. Das Kloster Sazava des böhmischen Benediktiners Prokop feierte die römische Liturgie im 11. Jahrhundert noch in altslawischer Sprache. Kaiser Karl IV. gründete in Prag das Slawenkloster Emmaus in dieser Tradition. Vor allem in Mähren blieb die Erinnerung an das Werk von Cyrill und Method lebendig. Auf dem 12. deutschen Katholikentag 1860 in Prag konnte der Tscheche Vaclav Stule die Gründung der St.Cyrill und Method-Liga zur Förderung der Einheit der Christen bekanntgeben. Die Unionskongresse in Velehrad wurden Marksteine in der ökumenischen Bewegung.

Christentum hat die Seele Europas geformt

Also hoch geehrt und unvergessen im Osten! Aber fast 25 Jahre nach ihrer Proklamierung zu Konpatronen Europas bleiben sie im Westen unbekannt. Ein Grund dafür ist, dass wir uns im Rahmen der europäischen Einigung zu wenig Gedanken über die wahren geistigen Grundlagen Europas machen. Viele unserer Politiker sehen nur den Euro, die einheitliche Euro-Flasche, die europäischen Milchquoten, aber nicht das, was Europa wirklich zu Europa machte.

Auch für die Vorgänger des polnischen Papstes war das Christentum die wesentlichste Kraft, die Europa und seine Kultur entscheidend mitgestaltet, ja nach einem Wort von Papst Pius XII. „die Seele seiner Völker am tiefsten geformt“ hat. Zur Geschichte dieses Kontinents und seiner Entfaltung gehört das missionarische Wirken großer Heiliger wie Benedikt, Kolumban, Bonifatius, Ansgar, Adalbert und Gunther. Diese Missionare haben auf Dauer das Antlitz Europas entscheidender geprägt, als dies große Herrscher, Eroberer oder Heerführer taten. Meist werden dabei Cyrill und Method vergessen.

Akropolis, Kapitol und Golgotha

Der erste Bundespräsident des jungen Nachkriegsdeutschland, Theodor Heuss, sagte über Europa, es stehe gleich Säulen auf drei Hügeln: auf der Akropolis, dem Kapitol und Golgotha. Es habe also eine hellenistische, eine römische und eine auf Jesus Christus zurückzuführende christliche Grundlage, wobei letztere die beiden anderen integrierte. Leider ist es durch die Entfremdung zwischen Ost und West nach der großen Kirchenspaltung des Jahres 1054 zur „Fehlleistung einer ganzen Kulturepoche Europas“ gekommen, als „jenes zählebige, oft wiederholte Kulturbewusstsein und Geschichtsbild etlicher Generationen, ja sogar das Selbstverständnis der römischen Kirche prägende Diktum“ (Ernst Nittner) von den drei anderen Säulen entstand, von Antike, Christentum und Germanentum, die den Bau Europas tragen, bzw. von den drei Wurzeln, aus denen das Abendland gewachsen sei. Der Osten Europas kommt in beiden Bildern, dem der drei Hügel und dem der drei Säulen, zu kurz, sei es der slawische Osten, sei es die besondere Geistigkeit östlichen Christentums, das in Osteuropa mehr vom Slawentum geprägt ist als vom Griechentum.

Das ambivalente Erbe Karls des Großen

Als Papst Paul VI. 1964 den heiligen Benedikt zum „Patron Europas“ und zum „Vater des Abendlandes“ erhob, ging er davon aus, dass nach dem Ende des alten Weströmischen Reiches und nach dem Ende der Völkerwanderung die Geburt Europas anzusetzen ist. Karl der Große ist bereits von Zeitgenossen als „verehrungswürdige Zierde Europas“, als Pater Europae bezeichnet worden. Doch sein Reich, dieses junge Europa, war noch ein Kleineuropa, kleiner als die erste EWG, das Europa der sechs Gründungsmitglieder der heutigen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), da damals unter Karl dem Großen ganz Süditalien noch unter byzantinischer Herrschaft war, allerdings die Gebiete der heutigen Schweiz und die Grenzmarken in Österreich und Nordspanien dazugehörten. Dazu kam, dass in Konstantinopel der alte römische Reichsgedanke weiterlebte und dieses Faktum zum Dualismus Rom–Byzanz führte. Der polnische Historiker Oskar Halecki kommt sogar zum Schluss, dass die Errichtung des Reiches Karls des Großen kein Schritt zur Integration eines größeren christlichen Europas war, sondern zunächst den damals bereits vorhandenen Ost-West-Dualismus noch erneuerte und verstärkte. Dazu kam, dass die unbestreitbar großartige Leistung Karls des Großen ohne Kontinuität war, ja nach dem Tode des Kaisers Niedergang und Zerfall folgten, ehe Otto I. mit seiner Kaiserkrönung im Jahre 962 an Karl den Großen anknüpfte. Dabei konnte er allerdings das Reich Karls nicht erneuern, sondern nur im Ostfrankenreich, dem späteren Deutschland, das Erbe Karls machtpolitisch weiterführen.

Christlicher Glaube integriert den Osten

Doch gerade in diese Zeit des Zerfalls des Reiches Karls des Großen im 9. Jahrhundert fällt die Mission der Slawenapostel Cyrill und Method. Ihr Hauptwirkungsgebiet ist Mähren und Pannonien, die alten Hauptdurchzugsgebiete der Völkerwanderung. Mit seinem Wahlspruch „Ora et labora“ („Bete und arbeite“), mit der Gründung von Klöstern und der Pflicht zur Sesshaftigkeit der Mönche hatte St. Benedikt die Unruhe der Völkerwanderung gebändigt und überwunden. Seit dem Jahr 863 missionierten Cyrill und Method, die Mitpatrone Europas, in Gebieten, die nicht zum Römischen Reich und nicht zum Reich Karls des Großen gehört hatten. Die eigentliche Integration Europas ist nicht nur vom Reichsgedanken her erfolgt, nicht von der Zugehörigkeit zum Imperium (sei es byzantinisch, sei es fränkisch-römisch), sondern durch Mission und Christianisierung, durch welche die griechisch-römische Kultur zunächst in das Großmährische Reich, dann in andere slawische Staatswesen, aber auch bald in das nichtslawische Reich der Ungarn eindrang.

Mit dem Christentum wurde das Erbe der Antike von jungen Völkern übernommen, die sich außerhalb des Imperiums entwickelten, so wie ein Jahrhundert zuvor unter Bonifatius das gleiche in unserer Heimat geschah und später im Norden durch Missionare wie Ansgar erfolgte: Durch die Christianisierung, durch die Übernahme des kulturellen Reichtums der römischen und griechischen Antike entstand in einem langen Entwicklungszeitraum Europa. Seine Geschichte nach der Geburtsstunde ist gekennzeichnet von Machtansprüchen und Gewalt, von Kämpfen mit Siegen und Niederlagen, die bereits im Mittelalter und in der frühen Neuzeit – nicht erst 1870/71 oder in den beiden Weltkriegen dieses Jahrhunderts – Feindschaft zwischen den Völkern als den Trägern Europas schufen.

Wie die Trennung von Ost- und Westkirche im Jahre 1054 haben weitere Kirchenspaltungen wie die der Reformation zu erneuter Trennung geführt. Auch wenn sie nicht die europäischen Dimensionen hatten wie nach 1517 durch Luther, so haben auch andere religiöse Konflikte (denken wir an die Hussitenkriege) zu Feindschaft und Auseinanderleben geführt. Ein trauriger Höhepunkt dieses Gegeneinanders war sicher der Dreißigjährige Krieg, als Mitteleuropa Aufmarschplatz von Armeen aus weiten Teilen Europas, von Spanien bis Schweden, war.

Quelle des europäischen Humanismus

Dennoch blieb diesem Europa ein gemeinsamer Urgrund: das Christentum. Nicht zufällig haben große Geister vor 200 Jahren in einer der unseren vergleichbaren Zeit nach den Wirren und Fehlentwicklungen der Französischen Revolution ihre Blicke von Aufklärung, Rationalismus und Materialismus abgewandt und versucht, sich an Grundwerten des mittelalterlichen Europas zu orientieren. Der Dichter Novalis, der eigentlich Friedrich Karl von Hardenberg hieß und als Leiter der Bergwerke in Sachsen von Haus aus ein Naturwissenschaftler war, hat damals eine Schrift verfasst: „Die Christenheit oder Europa“. Er meinte damit keinen Gegensatz, sondern völlige Identität. Für Novalis ist Europa nach seiner Herkunft christlich; es wird christlich sein oder gar nicht mehr existieren. Das Christentum hat jenen gewaltigen Integrationsprozess vollbracht, der Europa seine christlich-humanistische Prägung gab. Der Integrationsprozess zeigt sich in Begriffen wie Menschenwürde, Unantastbarkeit der Person, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Gemeinschaft und personelle Verantwortung. Diese Werte haben Cyrill und Method von Byzanz aus den Slawen vermittelt.

Es sind dies Grundlagen, die Jahrzehnte hindurch durch die bolschewistische Herrschaft im Osten verschüttet waren, und die es neu zu beleben gilt. Es war in unserer Zeit ein slawischer Papst, der dieses neue Europa als Vision hatte. Spät, aber nicht zu spät, würdigten dies im Vorjahr auch westliche Politiker durch die Verleihung des Karlspreises. Das Anliegen des Papstes, den Gottesbezug in die Europäische Verfassung aufzunehmen und die christlichen Wurzeln Europas zu betonen, haben sie leider nicht berücksichtigt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2005
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