Priestersein im Geist Johannes Pauls II.

Anlässlich einer Priesterweihe in Heiligenkreuz hat Weihbischof Dr. Andreas Laun vor kurzem eine grundsätzliche Betrachtung über den priesterlichen Dienst angestellt. Ausgehend von Worten Papst Johannes Pauls II. gibt er wertvolle Anregungen und Ratschläge. Seine Gedanken können nicht nur Priester, sondern auch Gläubige aufbauen. Sie sind zugleich ein Zeugnis für die geglückte Verwirklichung einer geistlichen Berufung.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

1. Freude – Ratschläge zum Zölibat

Eines der letzten Worte Papst Johannes Pauls II. lautet: „Ich bin froh, seid ihr es auch!“ Das sagte er, als er, menschlich gesehen, schon kaum mehr Grund zur Freude hatte. Es erinnert an das Herrenwort: „Freut euch und jubelt, denn euer Lohn wird groß sein...“ Der diesem Wort vorausgehende Satz spricht von Verfolgung, und man kann ruhig alle großen Leiden und kleinen Unannehmlichkeiten eines Priesterlebens hinzufügen und dann sagen: „Freut euch und jubelt, denn euer Lohn wird groß sein…“ „Ihr werdet das Hundertfache dafür erhalten.“ Und Paulus sagt: „Freude“ ist ein Zeichen des Heiligen Geistes.

Nicht nur die heutigen Menschen, ich glaube, die Menschen aller Zeiten denken bei einer katholischen Priesterweihe mit einer gewissen Bangigkeit und Bewunderung zugleich an den Zölibat: Wie kann man auf die Sexualität einmal für immer verzichten wollen – ganz zu schweigen vom Gelingen dieses Verzichtes? – Nur wenige Anmerkungen zum Zölibat:

Die Kirche weiß, dass der Verzicht auf die Ehe ein Opfer ist, und wenn einer sagte, ihm mache das nichts aus, müsste man seine Berufung anzweifeln. Denn auch die Gnade der Priesterweihe setzt die Natur voraus, und zwar die gesunde Natur, die sich nach Liebe und Ehe sehnt. – Drei Ratschläge:

• Fixieren wir den Blick nicht auf das, was wir opfern, sondern schauen wir auf den, für den wir das Opfer bringen! „Wie sehr müssen wir den lieben, um dessentwillen wir auf die Liebe verzichten“, heißt es bei Augustinus.

• Wenn man jemand liebt – und das gilt auch für die Gottesliebe – hält man ihm nicht ständig vor, welche Opfer man für ihn bringt. Vielmehr nennt die wahre Liebe alles, was sie für den Geliebten tut, ein „Nichts“ – wie es in der Oper „Fidelio“ Leonore nennt, nachdem sie ihren Mann befreit hat.

• Und schließlich: Hüten wir uns vor Wehleidigkeit und bewahren wir uns einen nüchternen Blick auf das Leben! Viele Eheleute haben nicht selten größere Leiden als wir Zölibatäre ... und nicht wenige beneiden uns.

2. Wahrheitsliebe – prophetisches Amt der Kirche

Ein anderes Wort des verstorbenen Papstes lautet: „Es ist wichtig, dass ihr alle“ – hier meint er nicht nur die Priester, aber sicher sind sie mitgemeint – „leidenschaftlich nach der Wahrheit sucht und zu ihren unerschrockenen Zeugen werdet. Ihr dürft euch nie mit Lüge, Falschheit oder Kompromissen abfinden! Setzt euch heftig gegen Leute zur Wehr, die eure Intelligenz einfangen wollen und euer Herz mit Aussagen und Vorschlägen umgarnen wollen, die euch hörig machen gegenüber Konsumdenken, zügellosem Sex und Gewalt. Sie drängen euch in die Leere der Einsamkeit und führen euch in das Labyrinth einer Kultur des Todes.“

Die Kirche „besitzt“ die Wahrheit, aber von der Wahrheit in der Kirche bis hinein in die Herzen der einzelnen Katholiken und auch der einzelnen Priester und Bischöfe ist manchmal ein nicht leicht zu findender Weg. Das heißt: Auch in der Kirche gibt es die notwendige „Suche“, die Unfehlbarkeit der Lehre besteht wohl vor allem darin, dass Katholiken wissen, wo sie zu suchen haben.

Tatsächlich gibt es in der Kirche zu allen Zeiten auch „blinde Flecken“: Wahrheiten, die man vergisst, die man verdrängt, deren man sich angesichts des Zeitgeistes schämt … und die doch heilend wären! Es sind nicht selten „unsere Balken“, die wir entfernen müssen bevor wir der „Welt“ anbieten dürfen, ihre „Splitter“ zu entfernen. Auch für unsere Blindheiten wird sich – vielleicht – ein Papst irgendwann entschuldigen müssen.

Mir schwebt in diesem Zusammenhang eine Szene aus dem Leben der hl. Bernadette von Lourdes vor Augen: Maria fordert sie auf, sich zu waschen an der Quelle, und bezeichnet zugleich den Ort dieser „Quelle“. Ohne zu begreifen wühlt Bernadette im Schlamm, die Umstehenden glauben, sie sei verrückt geworden – aber dann stellt sich heraus: Da ist wirklich die Quelle, die heilende Quelle von Lourdes!

Lieben wir das „Credo“, lieben wir „Dominus Jesus“, hören wir auf die Kirche und üben wir so das prophetische Amt in der Kirche aus: sanft, gütig, gut zuhörend, weder Kampf noch „kleines Martyrium“ um ihrer selbst willen suchend, aber mutig und unerschrocken.

3. Die Caritas im Priesterleben

Und nochmals Papst Johannes Paul II.: „Es ist unsere Pflicht, mit unseren Zeitgenossen in der Geschichte Seite an Seite zu leben und ihre Ängste und Hoffnungen mit ihnen zu teilen. Ein Christ flüchtet sich nicht in eine andere Dimension, in der er die dramatischen Geschehnisse unserer Zeit nicht beachtet und Augen und Herz vor den Ängsten des Lebens verschließt. Er ist bereit, dem Bruder beizustehen, eine Träne zu trocknen und eine Bitte um Hilfe zu erfüllen. Danach werden wir gerichtet werden.“

Sich berühren lassen von den Leiden der Zeit. Vorläufig noch bestehen die Ängste und Nöte unserer europäischen Zeitgenossen hauptsächlich im Geistigen, weniger im materiellen Bereich. Für uns Priester des 21. Jahrhunderts in der Mitte Europas sind folgende Haltungen nötig:

• Wir sollten uns grundsätzlich von jeder Not „berühren“ lassen und uns als „barmherzig“ erweisen. Johannes Paul II. hat auf die Frage, was er der Welt am meisten wünsche, geantwortet: „Barmherzigkeit“, wohl auch unter dem Einfluss von Sr. Faustinas Barmherzigkeits-Botschaft.

• Zugleich sollten wir uns vor Augen halten: Nicht jede Not ist unsere persönliche Berufung. Zwar gibt es Situationen, wo jeder wie der „barmherzige Samariter“, unkonventionell, handeln sollte. Aber gleichzeitig gilt: Erinnert euch an Jesus selbst, der gelebt hat im Bewusstsein, zu den Kindern Israels gesandt zu sein und der z.B. keine Missionsreisen wie Paulus unternommen hat. Gott gibt verschiedene Charismen, die einen ziehen sich in die Anbetung zurück, die anderen sammeln die Sterbenden auf den Strassen von Kalkutta…

• Angesichts der „Zeichen der Zeit“ dürfte es keinen Bischof und keinen Priester mehr geben, der nicht in seinem Herzen „pro-life“ wäre, ein Kämpfer und Prophet für die Heiligkeit des menschlichen Lebens. Wir wundern uns heute, warum damals, in der dunklen Zeit des Nationalsozialismus, so viele Christen nicht wie ein Mann für die Rechte der Juden eingetreten sind – heute wird wieder das 5. Gebot in Frage gestellt, es liegt an uns, unerschrocken dafür einzutreten.

• Ähnlich verhält es sich bezüglich des 6. Gebotes, bezüglich der Liebe und der Ehe. Im Namen von abstrusen Ideen wird die Ehe geradezu lächerlich gemacht und zerstört. Wir Priester müssen es machen wie Papst Johannes Paul II., der einmal geschrieben hat: „Ich lernte die Liebe lieben“ – und dann zum Propheten und Lehrer dieser Liebe wurde wie kein Papst vor ihm.

Ich glaube: Hauptaufgabe der Kirche in Europa ist es, den geistigen Hunger der Menschen zu stillen – was nicht heißt, dass nicht auch der physische Hunger eine ihrer Aufgaben wäre. Ich rede bewusst von „Hauptaufgabe“ und „Aufgabe“.

4. Die Hingabe im Gehorsam und im Leiden

Jesus hat gesagt: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16,27).

Daran führt kein Weg vorbei. Ich liebe die Formulierung „Priesterleben – Opferleben“ nicht allzu sehr, so wahr die Aussage richtig verstanden auch sein mag. Denn wenn die Liebe die Berufung aller Menschen ist, dann ist die Liebe auch die Berufung des Priesters und Liebe ist ihrem Wesen nach „Hingabe“, „sein Leben verlieren“, um es dann gerade darin zu gewinnen. Ich möchte daher viel lieber und genauer sagen: Priesterleben ist ein Leben in der Liebe und für die Liebe. Das soll es sein, darin besteht unsere Sehnsucht: Liebende zu sein. Wenn man so will: Durch die Liebe wird es „Opferleben“. Im Übrigen ist das kein spezifisches Merkmal des priesterlichen Lebens, sondern diese Berufung ist die Berufung aller Menschen.

Johannes Paul II. hat uns in seinem Sterben vorgelebt, was Leiden konkret bedeuten kann. Die Bilder seines Sterbens sind unvergesslich. Ich hatte nie den Eindruck, dass er uns hätte zeigen wollen: „Seht wie ich leide“. Sondern: Sein Leiden war einfach vorhanden, seiner Sendung untergeordnet, irgendwie Folge seines Gehorsams gegenüber Gott.

So gesehen dürfen wir uns eingestehen: Ja, bevor wir als Priester auftreten und wirken, müssen wir „unser“, das heißt unser spezifisches Kreuz auf uns nehmen – dann dem Herrn nachfolgen. Nicht als Zuschauer, die anderen erklären, wie sie ihr Kreuz tragen sollen, sondern als Betroffene, als Selbst-Kreuz-Tragende, als Menschen, die das Kreuz nicht nur als zu bekämpfendes Übel schleppen und abzuschütteln suchen, sondern bewusst auch annehmen. Und auch hier nochmals: Kreuz tragen ja, aber nicht wehleidig, nicht mit der Behauptung, wir seien so besonders arm.

Dabei macht jeder auch die Erfahrung von Gottes Führung wie Petrus, den „ein anderer gürtet“ und führt, wohin er nicht will. Das Kreuz des Gehorsams wird konkret zum Beispiel gegenüber dem Bischof oder dem Abt, aber dieser klösterliche Gehorsam ist nur ein Teil des alles übergreifenden Gehorsams gegenüber der Vorsehung Gottes. Wir sollten lernen, gelassen zu reagieren, wenn unsere persönlichen Träume nicht in Erfüllung gehen, und uns ganz den Führungen Gottes anzuvertrauen. Denn die Führung Gottes ist die einzig wichtige „Karriere“ im Leben eines Priesters.

5. Die Eucharistie – Gott handelt

Priester handeln auch sozial, aber sie sind keine Sozialarbeiter, sie lehren, aber sie sind ihrem eigentlichen Sein nach keine Lehrer oder Professoren. Ihr „Kerngeschäft“ ist etwas Einzigartiges: Sie handeln stellvertretend für Gott selbst in der Welt. Soweit ich sehen kann, unterscheidet sich das Christentum von allen Religionen in einer einzigartigen Art und Weise: Nicht die Menschen sind es, die durch ihr Beten und Opfern im Mittelpunkt des religiösen Handelns stehen, Gott ist nicht nur Ziel dieser Religion, sondern Er ist es, der an den Menschen handelt. Und dabei bedient Er sich der Menschen, eben Seiner Priester. Das, was diese tun, tut in Wirklichkeit Er. Die alte Verheißung „Jahwe – ich bin da, bin bei euch“ – wird so in einer unerhörten Weise wahr, in einer Weise, die jede Phantasie und jeden Wunschtraum bei weitem übersteigt.

Die Eucharistie, „Mitte und Höhepunkt des Lebens der Kirche“, ist auch „Mitte und Höhepunkt“ unseres priesterlichen Amtes, die „raison d`être“ warum es uns gibt. Warum ist das so? Darauf möchte ich mit Benedikt XVI. antworten: In der Eucharistie geschehen jene „Wandlungen“, die die Welt braucht: Hass wird in Liebe verwandelt, Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi, wir Menschen werden „in Christus verwandelt“.

Papst Johannes Paul II. hatte die Gewohnheit, bei seinen Schreiben immer bei Maria zu enden. Da ich heute ständig von ihm aus gedacht habe, möchte ich ihn auch darin nachahmen: Maria ist die Mutter von uns Priestern, in ihrer Schule lernen wir ein Leben lang, was Priester sein heißt. Sie, unsere Mutter, die Mutter aller und besonders die Mutter der Apostel, der Bischöfe und Priester, hört nicht auf, uns mit ihren gütigen Augen anzuschauen und uns mit ihrer mütterlichen, sanften Stimme zu raten: „Tut, was Er euch sagt!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2005
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Breviergebet – warum und wie?

Anlässlich seines 70. Geburtstags hat Prof. em. Dr. Lothar Roos[1] unter dem Titel „Was uns trägt"[2] wahrhaft aufbauende Beiträge zur priesterlichen Spiritualität herausgegeben. Gerade die darin enthaltene Betrachtung über das Breviergebet ist in ihrer Ausgewogenheit für jeden Geistlichen äußerst hilfreich. Roos geht dabei auf ein Dokument der Gottesdienstkongregation ein, das vor einigen Jahren als „Antwortschreiben auf die Frage bezüglich der obligatorischen Verrichtung des Stundengebetes“ veröffentlicht worden ist. Er greift die Anregungen dieses Schreibens auf und verbindet sie mit eigenen Erfahrungen als Priester und engagierter Theologe auf dem Gebiet der kirchlichen Soziallehre.

Von Lothar Roos

Bei der Weihe der Diakone lautet eine der Fragen, die der Bischof an die Weihekandidaten richtet: „Seid ihr bereit, aus dem Geist der Innerlichkeit zu leben, Männer des Gebetes zu werden und in diesem Geiste das Stundengebet als euren Dienst zusammen mit dem Volk Gottes und für dieses Volk, ja für die ganze Welt treu zu verrichten?“ Es wird wohl keinen Diakon oder Priester geben, der bei seiner Weihe diese Frage nicht positiv beantwortet hätte. Aber wie steht es mit der entsprechenden Praxis? Ein Laie, der mit einem Priester einige Urlaubstage verbracht hatte, fragte mich neulich: Ist eigentlich das Breviergebet für die Priester heute nicht mehr verpflichtend? Eine andere Frage ist, ob der heutige Alltag des pastoralen Dienstes nicht so voller Termine steckt, dass man Verständnis dafür haben kann, wenn manche unter diesen Umständen nicht mehr „dazu kommen“, das Brevier zu beten oder es vollständig zu beten. Offensichtlich waren es solche oder ähnliche Anfragen, welche die päpstliche „Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung“ zu einem „Antwortschreiben auf die Frage bezüglich der obligatorischen Verrichtung des Stundengebetes“ veranlassten.[3] Das Antwortschreiben begnügt sich nicht damit, die „vollständige und tägliche Feier des Stundengebetes“ als „substantiellen Bestandteil“ des „kirchlichen Dienstes“ für Priester und Diakone zu bezeichnen; es macht auch den Versuch, auf die damit verbundenen praktischen Schwierigkeiten einzugehen. Wir wollen im Folgenden die Anregungen des Antwortschreibens aufgreifen und sie mit eigenen Erfahrungen über das Breviergebet verbinden.

l. „Herr, lehre uns beten“ (Lk 11,1)

Bevor man etwas zum Breviergebet sagt, sollte man über das Gebet als Ausdruck christlichen Glaubens allgemein nachdenken.[4] Christliches Beten geschieht immer im Namen Jesu (Joh 14,13). Besonders aufschlussreich für das Gebet Jesu ist jene Stelle, in der das Markusevangelium von „vielen“ Heilungen berichtet mit der Folge:

„Die ganze Stadt war an der Türe versammelt“. Aber dann heißt es weiter: „In der Frühe, als es noch Nacht war, erhob er sich, ging weg und begab sich an einen einsamen Ort. Dort betete er.“ Seinen Jüngern schien dies offensichtlich nicht in ihr „pastorales Konzept“ zu passen: „Simon und seine Gefährten eilten ihm nach, fanden ihn und sprachen zu ihm: Alle suchen dich. Da sprach er zu ihnen: Lasst uns anderswo hingehen, in die umliegenden Ortschaften, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich ausgegangen“ (Mk 1,33-38). Um seinem Auftrag gerecht zu werden, das „Evangelium Gottes“ (Mk 1,14) zu verkünden, muss Jesus in für die Jünger auffälliger Weise den Ort und Raum des Gebetes suchen.

2. Stellvertretendes Gebet

Was aber ist innerhalb des christlichen Gebetes der besondere Ort des Breviergebetes im Leben der Diakone und Priester? „Wer im Stundengebet die Psalmen betet, tut das nicht so sehr im eigenen Namen, sondern im Namen des ganzen Leibes Christi, ja in der Person Christi selbst."[5] Der Gedanke, dass die von Gott zum Heilsdienst für alle „Herausgerufenen“, also das Volk Gottes, einen stellvertretenden Dienst für alle innehaben, findet sich schon im Alten Testament."[6] Das Antwortschreiben erwähnt die Fürbitte des Mose (Ex 17,8-16), es hätte auch auf Abraham und dessen Fürbittgebet für Sodom hinweisen können. Das Gebet jedes Christen hat solche stellvertretende Qualität. Das Breviergebet soll bewusst auch im Namen jener anderen Getauften verrichtet werden, die gar nicht mehr beten oder nur selten.

Die Kirche verpflichtet ihre Priester und Diakone, das Stundengebet „für die geistlichen und zeitlichen Bedürfnisse der Kirche und der ganzen Menschheit“ zu verrichten. Wir dürfen und sollen also Gott um alles und für alle bitten. Wenn ich irgendwo unter einer großen Zahl von Menschen bin, in einer Großstadt, auf einem Flughafen, bei einer Bahnfahrt, bei einer großen öffentlichen Veranstaltung, dann kommt mir manchmal die Frage: Wer betet eigentlich von diesen vielen Menschen? Nur Gott weiß es. Aber es ist sicher gut, wenn ich „anstelle“ derer bete, die nicht mehr beten wollen oder können. Der Gedanke an diese Menschen, von denen viele  – ähnlich wie bei Jona in Ninive – „nicht zwischen rechts und links unterscheiden können“ (Jon 4,11), hilft mir manchmal beim Breviergebet. Wer das Brevier betet, beteiligt sich damit am stellvertretenden Eintreten Jesu und der mit ihm untrennbar verbundenen Kirche für die Rettung aller Menschen, für ihr zeitliches Wohl und für ihr ewiges Heil.

3. Gebet und Breviergebet

Mancher wird sagen: Entscheidend ist, dass ich bete, und nicht, ob ich das Brevier bete. Das ist sicher nicht falsch. Wenn das Wort gilt: „Betet ohne Unterlass“ (l Thess 5,17), dann gilt auch: Betet dann und dort, wo ihr es könnt: mitten im Gewimmel der Stadt, auf dem Weg zu einem Kranken, vor einem schwierigen Gespräch. Insoweit nennt das „Antwortschreiben“ eine ganze Reihe von „schweren Gründen“, durch welche „die strenge Verpflichtung auf die Verrichtung des ganzen Stundengebetes“ eingeschränkt werden kann, etwa „eine Krankheit, ein pastoraler Dienst, die Ausübung der karitativen Dienste oder Ermüdung“. Die Kongregation spricht aber auch davon, dass „die teilweise oder ganze Unterlassung des Stundengebetes wegen Faulheit oder aus Gründen einer unnötigen Entspannung … nicht nur unerlaubt, sondern sogar eine Bosheit“ darstellt. Es ist auch von der „Umwandlung“ des Breviergebetes die Rede; dabei wird „das Rosenkranzgebet, der Kreuzweg, Bibel-Lesungen bzw. eine andere geistliche Lesung oder eine gewisse vernünftig ausgedehnte Zeit des geistlichen Gebetes“ genannt. Es müssen allerdings schwerwiegendere Gründe vorliegen, die von der „Verrichtung der Laudes und der Vesper entschuldigen“. Alles in allem möchte die Kongregation bei allem Verständnis für viele Entschuldigungsgründe dazu mahnen, sich nicht allzu leicht vom Brevier zu dispensieren.

4. Immer das Gleiche

Es gibt wohl kaum Diakone und Priester, die das Breviergebet grundsätzlich ablehnen, aber es gibt nicht wenige, die damit bestimmte theologische oder praktische Schwierigkeiten haben. Kann man wirklich „gut“ beten, wenn man in regelmäßigen Zyklen immer die gleichen Gebetsformeln benutzt? Hier liegt sicher ein Problem. Vermutlich geht es jedem Brevierbeter so ähnlich wie mir, dass er nämlich im Laufe vieler Jahre plötzlich Stellen entdeckt, über die er bisher hinweggelesen hat und die ihm plötzlich in ihrer ganzen Tiefe oder Bedeutung für seine gegenwärtige Situation aufgehen. Ich habe mir angewöhnt, solche Psalmverse in meinem Brevier zu markieren, und habe festgestellt, dass die zyklische Wiederkehr dieser Hervorhebungen für mich hilfreich ist. Gottes Wort ist unerschöpflich. Wichtig dürfte aber auch sein, dass man vor dem Beginn des Breviergebets äußerlich und innerlich „aufräumt“. Dafür sind nach wie vor die Gedanken Guardinis in seiner „Vorschule des Betens“ hilfreich: Bevor ich bete, rufe ich mir in Erinnerung, dass Gott „nicht fern einem jeden von uns ist“ , wie Paulus auf dem Areopag sagt. Ich suche Gottes Antlitz und glaube, dass Er mich beim Namen kennt. Ich bete durch Christus, unseren eigentlichen „Vorbeter“ und „im Heiligen Geist“, der in unsere Herzen „ausgegossen“ ist, zum Vater. Jeder Tag hat seine eigene Plage, aber auch Freude. Es gibt immer neuen Anlass zu bitten, zu danken, Gott zu loben, vor ihm zu klagen. Das Gespräch zwischen Gott und mir ist also nie „das Gleiche“. Es bedient sich zwar der gleichen Worte, aber diese sind als „Wort Gottes“ unerschöpflich. Sie bewirken immer wieder neu und anders, was sie besagen. Das Wort Gottes kehrt nie „leer“ zurück (vgl. Jes 55,11).

5. Allein oder in Gemeinschaft?

Das Breviergebet kommt aus der gottesdienstlichen Praxis der Mönche, es gehört in den Raum des gemeinsam gesungenen oder gesprochenen Gotteslobes. Insofern ist das „allein“ und „still“ vom Priester bzw. Diakon gebetete Brevier fragwürdig. So sagt denn auch die Kongregation für den Gottesdienst: „Die wichtigste Form des Stundengebets ist das gemeinschaftliche Gebet, sei es in einer Gemeinschaft von Klerikern, sei es in einer Gemeinschaft von Ordensleuten; es wäre auch sehr wünschenswert, wenn an diesem Gebet gläubige Laien teilnehmen würden.“ Deswegen verliere aber das „privat“ verrichtete Breviergebet „in keiner Weise von seinem Wert“. Denn es ist eben kein privater Akt. Schön ist es, wenn Priester, die einander besuchen, mit diesem Besuch das gemeinsame Gebet einer Hore des Breviers verbinden. Ich habe dies immer wieder auch mit Laien so gehandhabt, etwa indem ich einen abendlichen Besucher eingeladen habe, am Ende unseres Gesprächs mit mir die Komplet zu beten. Einmal sagte mir ein solcher Mit-Beter: Das war jetzt der schönste Teil unserer Begegnung.

6. Zur Theologie der Psalmen[7]

Beim Breviergebet kann es immer wieder einmal zu Problemen mit bestimmten Psalmen und ihrer Theologie kommen. Es gibt Psalmen, über die ich mich theologisch „ärgere“, etwa diejenigen, die einen Tun-Ergehen-Determinismus verkündigen. Aber ich finde genauso viele Psalmen, welche genau die Unstimmigkeit dieser Theologie durchschauen und, ähnlich wie das Buch Hiob, sich schweren Herzens zur Undurchschaubarkeit der Gedanken Gottes durchringen. Bevor ich mich über manche Psalmendichter erhebe, fällt mir ein, dass es auch heute „schlechte“ und „bessere“ Theologie gibt. Das gilt natürlich auch für die nichtbiblischen Brevier-Lesungen, über deren Auswahl man mit guten Gründen geteilter Meinung sein kann. Dennoch finde ich hier immer wieder „Perlen“, die mir bisher noch gar nicht aufgefallen waren. Im Laufe der Frömmigkeitsgeschichte Israels lässt sich ein Prozess der reinigenden Vertiefung des Gottesglaubens ausmachen, der sich auch in der theologischen Qualität der Psalmen niederschlägt. Dabei können zeitlich ältere Psalmen durchaus eine „bessere“ Theologie enthalten als jüngere.

Ich finde es sehr hilfreich, dass im heutigen Brevier die Psalmen nicht nur Überschriften tragen, sondern in der Zeile darunter oft Hinweise auf die neutestamentliche „Erfüllung“ oder allegorische Interpretationen aus der Zeit der Kirchenväter aufgenommen wurden. Es mag Vertreter der historisch-kritischen Methode geben, die sich darüber ärgern. Theologisch aber gibt es dafür keinen Grund. Selbstverständlich ist es unerlässlich, sich über den ursprünglichen „Sitz im Leben“ jedes Psalmes zu vergewissern. Dies verbietet aber nicht, die Psalmen von ihrer „Erfüllung“, also unter dem „Lumen Christi“ zu beten. Dies um so mehr, als ja das Neue Testament sich ausdrücklich dieser Interpretation der Psalmen bedient.

7. Hilfen zur Gebetspraxis

Ob das Breviergebet gelingt oder „danebengeht“, hängt auch von einer ganzen Reihe von Äußerlichkeiten ab. Gerade deswegen beten ja die Mönche das Brevier nicht in ihrer Zelle, sondern gemeinsam im gottesdienstlichen Raum. Das private Breviergebet des Weltpriesters hat es insofern schwerer. Aber man kann auch in seinem Zimmer so etwas wie eine quasi-gottesdienstliche Atmosphäre schaffen. Nicht unwichtig ist die äußere Gebetshaltung, etwa dass man aufrecht sitzt. Für mich begann eine neue Lebensphase des Breviergebets damit, dass ich anfing, die Psalmen, Hymnen und Responsorien laut zu beten. Ich entdeckte, dass ich so dem Beten viel näher kam, als wenn ich die Texte nur „mental“ gelesen habe. Dabei ist es hilfreich, die im Chorgebet des Breviers üblichen Pausen auch beim „Ein-Mann-Gebet“ zu praktizieren. Diese Pausen ergeben sich ganz natürlich durch die Notwendigkeit des Atemholens. Man kommt so in einen gleichmäßigen meditativen Rhythmus. Die zwei Takte Pause an der Stelle des Asteriskus bewirken oft, dass der gerade gesprochene Halbvers einen Augenblick „nachklingt“. Zudem wird das Gebet auf diese Weise ruhig und beruhigend, anders als wenn man die Psalmen einfach „herunterliest“. Weiter erweist sich mir als hilfreich, die im Brevier innerhalb der Psalmen jeweils durch Leerzeilen angedeutete Gliederung zu beachten. So nimmt man besser die Gedankenfolge in ihrer Unterschiedlichkeit wahr und vermag, die Theologie des ganzen Psalms leichter zu durchschauen. Als Beispiel sei auf das Canticum der Laudes vom Sonntag der dritten Woche im Jahreskreis verwiesen: Das Thema des „Lobgesangs der Drei Jünglinge“ (Dan 3,57-88) lautet „Preist den Herrn, all ihr Werke des Herrn“. Nacheinander werden dann die unterschiedlichen „Werke des Herrn“ zum Gotteslob aufgerufen, entsprechend dem damaligen Weltbild: alles, was „über dem Himmel“ ist; das, was sich „unter dem Himmel“ in der Atmosphäre abspielt; dann alles, was sich auf der Erde selbst zeigt und bewegt; schließlich die Glieder des Gottesvolkes und am Ende Hananja, Asarja und Mischael als Zeugen des Glaubens Israels im Angesicht des Todes.

Entscheidend ist, dass uns das Breviergebet immer wieder neu vor das Angesicht Gottes bringt, und zwar in der Communio aller Glieder des Gottesvolkes und derer, die darin einen besonderen Dienst des Gebets übernommen haben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2005
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[1] Prof. Dr. Lothar Roos dozierte vor allem in Mainz, Bonn und Kattowitz (Polen) katholische Soziallehre. Als „Geistlicher Berater“ des Bundes Katholischer Unternehmer e.V. wirkte er entscheidend an einem „Manager-Gebetbuch“ (vgl. Michael Bommers/Mechthild Löhr/Lothar Roos: Manager-Gebetbuch. Besinnung für Führungskräfte, Kevelaer 2004.
[2] Lothar Roos: Was uns trägt – Beiträge zur Spiritualität christlichen Lebens und pastoralen Handelns, Altius Verlag 2005, 54 S., ISBN: 3-932483-15-4.
[3] Vgl. Amtsblatt des Erzbistums Köln 141 (2001) 29f. vom 1. Februar 2001.
[4] Vgl. auch den Beitrag „Über das Gebet“, 19-20.
[5] Institutio generalis de Liturgia Horarum, Nr. 108.
[6] Vgl. Alfons Deissler: Hingegeben für die Vielen, in: Lebendige Seelsorge 30 (1979) 339-345.
[7] Vgl. auch den Beitrag „Hinführung zu den Psalmen“, S. 21-22.

Charles de Foucauld und das verborgene Leben Jesu

Johannes Paul II. wollte Charles de Foucauld am Pfingstsonntag dieses Jahres selig sprechen. Doch Papst Benedikt XVI. sagte die Feier ab, nicht weil er von der Heiligkeit dieses außergewöhnlichen Menschen nicht überzeugt wäre, sondern weil er die Leitung der Seligsprechungsfeiern künftig dem Präfekten der Selig- und Heiligsprechungskongregation, Kardinal José Saraiva Martins, überlässt. Als Papst behält er sich nur die Heiligsprechungszeremonien vor, wie es bis zum Pontifikat Pauls VI. üblich war. Kaplan Dr. Christof May gibt uns einen umfassenden Einblick in das spannende Leben von Charles de Foucauld. Sein Resultat: Christliche Hoffnung versandet nicht in der Wüste! Es ist eine tröstliche Geschichte für uns alle. Was zu Lebzeiten des Missionars wie eine einzige Kette von Enttäuschungen aussah, gelangt immer mehr zur Blüte. Hinter allem verbarg sich ein geheimnisvoller Plan Gottes.

Von Christof May

Wir schreiben den 1. Dezember 1916 – Bruder Karl befindet sich mitten im Entwurf seines Französisch-Tamaschek-Wörterbuches. Zugleich ist er auf der Suche nach Menschen, die seine Ordensidee mittragen wollen, und er will gemäß seinem Ideal des verborgenen Lebens von Nazareth leben. An diesem Tag wird seine Einsiedelei in der Sahara, Tamanrasset,  von rebellischen Senussi heimgesucht. Als es an seiner Tür klopft, öffnet er, da er die Post erwartet. Die Senussi fesseln ihn und überlassen seine Aufsicht einem 15-jährigen Jungen, während sie selbst die Einsiedelei plündern. Als zwei arabische Reiter auf Kamelen erscheinen, um die Post abzuholen, eskaliert die Situation; die Senussi beginnen, auf sie zu schießen. In diesem Moment verliert der Junge die Fassung und erschießt Bruder Karl mit einem Kopfschuss.

Noch am selben Tag hatte Bruder Karl an seine Cousine geschrieben: „Man hat das Bewusstsein, dass man nicht genug liebt; wie wahr ist das doch, man wird nie genug lieben, aber Gott, der weiß, aus welchem Ton er uns gebildet hat, und der uns viel mehr liebt als eine Mutter ihr Kind lieben kann, Er, der nicht stirbt, hat uns gesagt, dass Er den, der zu Ihm kommt, nicht zurückweisen wird."[1]

Religiös-sittlicher Abstieg des jungen Charles

58 Jahre zuvor wird er, Charles de Foucauld, am 15. September 1858 in Straßburg geboren. Schon im Alter von fünf Jahren verliert er seine Eltern; er kommt in die Obhut seines Großvaters. Trotz der von Kindesbeinen an ergangenen religiösen Erziehung bricht Charles im Alter von 16 Jahren mit der Kirche. Für zwölf Jahre wird er eine Haltung des religiösen Indifferentismus und der Bequemlichkeit vertreten. Als 1878 sein Großvater stirbt, lässt Charles alle bürgerlichen Konventionen hinter sich, um sich gänzlich dem dekadenten Leben zu ergeben, dem er in der französischen Militärakademie frönt. Am Höhepunkt seiner entarteten Lebensweise angekommen, wird Charles aus der in Algerien ansässigen Armee entlassen. Als er allerdings davon hört, dass sein Regiment in der Nordsahara in Kämpfe verwickelt ist, sucht er um eine erneute Aufnahme in die Armee an, was ihm auch gewährt wird. Endlich findet der sittliche Abstieg des Charles de Foucauld ein Ende.

Beeindruckt von der Frömmigkeit des Islam

Im Alter von nur 25 Jahren unternimmt er 1883/84 als erster Europäer eine Forschungsreise durch Marokko. Da jedoch Marokko damals für Europäer verschlossen ist, nimmt Foucauld das Risiko auf sich, in der Verkleidung eines armenischen Rabbi zu reisen. Zu diesem Zweck lernt er Arabisch und liest den Koran. In seiner Verkleidung zieht er durch die Städte Marokkos und vermerkt alle wichtigen Einzelheiten auf einem kleinen Papierblock, den er unter seinem Talar versteckt hält.

Auch wenn er sich seit seiner Jugend als ungläubig versteht, so wird Charles nun durch das Glaubenszeugnis der Moslems in den Grundfesten seines Agnostizismus erschüttert. Immer öfter stellt er sich nun die Frage nach der Existenz Gottes. Nicht das Christentum, sondern die Begegnung mit der Frömmigkeit des Islam lässt ihn über seinen Glauben nachdenken. Schließlich betet er: „Mein Gott, wenn Du existierst, lass mich Dich erkennen!"[2] Die Konversion zum Christentum kristallisiert sich in der immer konkreter werdenden Suche nach dem eigenen Glauben.

Fasziniert vom verborgenen Leben Jesu

Im Alter von 28 Jahren findet Charles de Foucauld zurück zur Kirche. Durch diese Konversion ändert sich jedoch nicht der ehrgeizige und impulsive Charakter Foucaulds. Der Eifer und die Strenge des Konvertiten lässt ihn Pläne entwerfen, die er persönlich niemals einholen wird. Der ehemalige Lebemann will am liebsten direkt das Ordensgewand in Empfang nehmen, um ein kontemplatives Leben zu führen.

Im November 1888 beginnt Foucauld eine Pilgerfahrt ins Heilige Land, die er im darauffolgenden Januar beendet. Sein Aufenthalt in Nazareth beeindruckt ihn nachhaltig. Es ist vor allem das verborgene Leben Jesu, das eine tiefe Faszination auf ihn ausübt. Wie Jesus, der Zimmermann, möchte er im Verborgenen leben, seine gesamte Existenz auf Gott hin ausrichten. Schließlich entscheidet er sich, bei den Trappisten einzutreten. Charles will dem armen Jesus in größtmöglicher Armut nachfolgen. Nach einiger Zeit muss er jedoch feststellen, dass die Armut, wie sie im Kloster gelebt wird, nicht seinem Armutsideal entspricht. Trotz des Klosterwechsels nach Akbès in Syrien, findet er nicht das Armutsideal, die Bescheidenheit und die Demut, die ihm für seinen Nachfolgeweg vor Augen stehen. Nach und nach löst er sich innerlich vom Trappistenorden, und es reift in ihm die Idee, einen strengeren Orden zu gründen.

Nazareth ist überall

Immer mehr fühlt er sich nach Nazareth berufen, jenem Ort, wo er im Verborgenen dem verborgenen Jesus nachfolgen will. Ab März 1897 ist er bei den Klarissen in Nazareth als Hausdiener tätig. Im Tun von einfachen handwerklichen Tätigkeiten, im bescheidenen Leben in einer Bretterbehausung neben dem Kloster, in der spärlichen Nahrungsaufnahme und in der stundenlangen täglichen Anbetung des Allerheiligsten meint er, endlich seine Berufung gefunden zu haben – aber es soll anders kommen…

Nachdem er im März eine Predigt über den Wert einer einzigen Messe gehört hat, fällt seine Entscheidung, Priester zu werden: das kontemplativ-beschauliche Leben in Nazareth und Jerusalem wird abgelöst von den Vorbereitungen auf das priesterliche Amt, die Priesterweihe selbst und das sich anschließende Apostolat. In dieser weiteren Etappe auf seinem Berufungsweg kommt er zu der Erkenntnis, dass die Lebensweise von Nazareth überall realisierbar ist.

Priester und „Bruder aller“

Bruder Karl will auch als Priester weiterhin im Verborgenen leben und das Evangelium durch sein Leben bezeugen. Zu seinem Nazareth-Ideal gesellt sich die Idee, der Bruder aller – frère universel – zu sein, unabhängig von Rasse und Religionszugehörigkeit.

Am 9. Juni 1901 wird er zum Priester geweiht und nennt sich ab diesem Tag Bruder Karl von Jesus. Nach seiner Weihe errichtet er in Beni-Abbès eine Einsiedelei, die er für eine Gemeinschaft von Brüdern konzipiert. Aber zeitlebens wird Bruder Karl keinen einzigen Menschen finden, der in die „Bruderschaft vom heiligsten Herzen Jesu“ eintritt.

Schleichend ändert sich das Ideal von Nazareth: das Leben in der Verborgenheit nimmt eine apostolische Wendung. Karl, der Bruder aller, der sich mit den Ärmsten solidarisch fühlt, lebt nun ganz für die anderen. Und so erhält er ständig Besuche von Einheimischen ebenso wie von französischen Soldaten. Bei bis zu 100 Besuchern am Tag gleicht die Einsiedelei mehr einem „Bienenstock“ als einem Ort der Kontemplation und der Verborgenheit.

Bei seiner Ankunft in Beni-Abbès wollte er eine Bruderschaft gründen. Nun muss er feststellen, dass es ihm kaum gelingt, Menschen zum Christentum zu bekehren. Er selbst berichtet nur von der Taufe eines Jungen, den er aus der Sklaverei freigekauft hat.

Missionarischer Sprachforscher für die Tuareg

1910 errichtet er eine weitere Eremitage im Hoggar-Gebirge, die an einem Kreuzungspunkt verschiedener Karawanenwege liegt. Tausende von Kilometern legt Bruder Karl zwischen den verschiedenen Einsiedeleien zu Fuß oder auf dem Kamel zurück. Sein Leben bleibt in ständiger Bewegung. Inmitten der Tuareg erfährt seine Berufung eine weitere Färbung: er möchte weiterhin kontemplativ leben. Jedoch kann er kaum noch in der Verborgenheit bleiben, da er immer mehr zu einem missionarischen Mönch wird.

Bruder Karl hat festgestellt, dass für die Evangelisierung der Tuareg eine ausreichende Kenntnis der Sprache und auch, wenn möglich, eine Übersetzung des Evangeliums ins Tuareg nötig seien. Daher beschäftigt er sich mehr und mehr mit der Grammatik und dem Vokabular. Bis zur Erschöpfung arbeitet er über sieben Jahre an einem 2000 Seiten umfassenden Wörterbuch Französisch-Tuareg, das erst nach seinem Tod veröffentlicht wird. Der kontemplative Mönch macht Platz für den missionarischen Sprachforscher.

Einsamer Rufer gegen Ungerechtigkeit

Jener ehemalige Soldat, auf dessen Nachtisch früher Leberpastete bereit stand, ist mittlerweile durch sein asketisches Leben ständig geschwächt. Die letzten Vorräte, die er besitzt, schenkt er den einheimischen Kindern.

Charles de Foucauld bewegt sich von der Binnenseite an die Peripherie der Kirche, indem er immer wieder den Kontakt mit den Einheimischen der Wüste sucht. Als ehemaliger Soldat pflegt er beste Kontakte mit den französischen Militärs, auf deren Unterstützung er bei seinen Wanderungen oftmals angewiesen ist. Zugleich wird er zum einsamen Rufer in der Wüste, der sich gegen die Ungerechtigkeit der Franzosen gegenüber ihrer Kolonie richtet. Vor der religiösen Zugehörigkeit steht für ihn der Mensch im Mittelpunkt. Später wird man diese Lebensweise als eine Art der „Prä-Evangelisierung“ bezeichnen. Vor der Predigt des Wortes Gottes und der Katechese steht das Lebenszeugnis von Bruder Karl. Durch seine auf Gott hin ausgerichtete Lebensweise möchte er die Menschen von der Botschaft Jesu Christi begeistern. Es geht ihm darum, dass von Seiten des Missionars die Bereitschaft vorhanden ist, das Evangelium durch das eigene Leben zu verkünden. Dazu sind gute Sprachkenntnisse und freundschaftliches Leben mit der Bevölkerung unerlässlich.

Große Pläne in der Wüste versandet?

Am 2. August 1915 schreibt Bruder Karl: „Morgen werden es 10 Jahre, dass ich in Tamanrasset die Messe lese, und nicht ein einziger hat sich bekehrt!"[3] Bis an sein Lebensende arbeitet er an dem Plan, die Tuareg durch sein Lebenszeugnis zu missionieren. Zugleich hofft er unverbrüchlich, Schwestern und Brüder – gegebenenfalls auch Laien, die durch ihr beispielhaftes Leben Zeugen für Christus werden – für seine Gründungen zu gewinnen.

Bruder Karl kann seine Pläne bezüglich des Ordens nicht verwirklichen. Niemand tritt seiner Fraternität bei. Und es scheint, dass er keinen einzigen Menschen in Beni-Abbès und im Hoggar bekehrt hat.

Sind seine Pläne und Hoffnungen in der Hitze der Wüste versandet? All seine Entwürfe zur Missionierung und zur Ordensgründung hat er nicht mehr verwirklichen können. Dennoch kommen auch sie an ein Ziel. Seine Idee, Laien für den missionarischen Einsatz zu gewinnen, wird von seinem geistigen Schüler Louis Massignon weitergetragen, indem er die Lebensordnung veröffentlicht. Die erste Gemeinschaft der „Kleinen Brüder Jesu“ wird 1933 am Rande der Sahara gegründet, 1939 folgt die Gründung der „Kleinen Schwestern Jesu“. Beide Gemeinschaften folgen dem geistlichen Ideal ihres Gründers: Inmitten Ungläubiger versuchen sie, das verborgene Leben Jesu durch ihre Existenzweise zu verwirklichen. Es geht darum, unter den Armen präsent zu sein und mit ihnen ihr Lebensschicksal zu teilen. Die „Wüste“ kann sich auch in den Armenvierteln der Großstädte befinden. Meist leben die Gemeinschaften in kleinen überschaubaren Gruppen von drei bis fünf Mitgliedern. Anbetungsfrömmigkeit, Kontemplation und Armut bilden den Kern ihrer Spiritualität. Und damit begeben sie sich auf den Nachfolgeweg ihres Gründers.

Blüte der „Kleinen Schwestern und Brüder Jesu“

Der „frère universel“ hat seit seiner Konversion im Oktober 1886 immer sein Ziel, nämlich die Nachfolge Jesu, die sich später im Verborgenen unter Ungläubigen in Nordafrika konkretisiert, vor Augen. Er geht seinen Weg in Treue zu dem, der ihn berufen hat. Krankheiten, Enttäuschungen und Verluste nimmt er an, da sie ihn dem Kreuz Jesu näher bringen. In einer seiner Aufzeichnungen schreibt er:

„Mein innerliches Leben ist einfach. Ich sehe meinen Weg klar gezeichnet. Meine ganze Arbeit besteht darin, meine unzähligen Fehler zu bekämpfen und morgen dasselbe zu tun wie gestern, aber besser. Es ist der Friede, vermischt mit einer gewissen Trauer des Stolzes, der Eigenliebe und der Feigheit darüber, dass ich am Abend des Lebens erkennen muss, wie armselig ich bin und wie wenig Frucht ich gebracht habe."[4]

Versandete Hoffnung in der Wüste? – Nein, die Kleinen Schwestern und Brüder von Charles de Foucauld bringen Leben und Blüte in die oftmals vorherrschende geistliche Wüste unsrer Zeit.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Brief vom 01.12.1916 an Mme. de Bondy, Charles de Foucauld: Der Einsiedler in der Sahara: Aus Aufzeichnungen und Briefen von Charles de Foucauld. München-Paderborn-Wien 1964, 126.
[2] Ebd., 5.
[3] Brief vom 02.08.1915, Charles de Foucauld: Der Einsiedler in der Sahara, 117.
[4] Charles de Foucauld: Der letzte Platz. Einsiedeln 1957, 46.

Evangelische Kirche kündigt „Einheitsübersetzung“

Prof. Dr. Heinz Schütte ist eine der herausragendsten Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Ökumene im deutschen Sprachraum. Er hat sich unzählige Verdienste für den Dialog mit der Evangelischen Kirche erworben. Von der offiziellen Aufkündigung der gemeinsamen Überarbeitung der historischen „Einheitsübersetzung“ durch die Evangelische Kirche ist Schütte „schockiert“. Am 8. September 2005 hatte der Ratsvorsitzende der EKD erklärt, eine gemeinsame Bibelübersetzung gebe es künftig nicht mehr. Sowohl gegen diesen Schritt als auch gegen die vorgebrachte Begründung „protestiert“ Schütte und tritt nachdrücklich „für eine auch künftig gemeinsame Übersetzung der gemeinsamen Heiligen Schrift“ ein. Doch betrachtet er den derzeitigen Bruch auch als Chance: Die evangelische Seite müsse das Prinzip „Sola scriptura“ – „allein die Schrift“ grundsätzlich überdenken. Denn der ökumenische Dialog bleibe solange blockiert, als die protestantische Seite nicht ehrlich eingestehe, dass es ohne eine Entscheidung der Kirche – also ohne Tradition – den neutestamentlichen Kanon gar nicht gäbe.

Von Heinz Schütte

Die Evangelische Kirche hat die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche an einer behutsamen Bibelübersetzung gekündigt, weil gewisse vatikanische Instruktionen nicht mit dem reformatorischen „Sola scriptura“ vereinbar seien. Der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen hat sich über Jahre mit Fragen um dieses Prinzip befasst und im abschließenden Bericht Verstehensmöglichkeiten diskutiert. Deren Rezeption steht jedoch noch aus – wie auch die erwähnte Kündigung zeigt. In welchem Sinn ist das „Sola scriptura“ von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gemeint? Im Folgenden soll eine Problemanzeige geschehen.

1. „Allein. Recht und Gefahr einer polemischen Formel“ (Bischof W. Stählin)

„Sola fide – numquam sola!“ „Allein durch Glauben – ist niemals allein!“ Mit diesem Wort wollte der evangelische Theologe Paul Althaus einem Fehlverständnis des reformatorischen „sola fide“ begegnen – als ob das Pauluswort (Gal 5,6) nicht mehr gelte: „In Christus Jesus kommt es darauf an, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist.“ Die Rechtfertigung geschieht allein durch Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, allein aus Gnade, ohne unsere Werke und so „allein im Glauben“, der in Gottes Gnade Entscheidung des Menschen ist. Nach Martin Luther ist der Glaube ein Feuer, das brennt und wärmt und leuchtet – er ist nur dann echt, wenn er sich in guten Taten auswirkt. In solchem Verständnis hat die katholische Kirche dieses dreifache „Allein“ 1999 in der „Gemeinsamen Feststellung“ zur „Gemeinsamen Rechtfertigungserklärung“ bejaht. Angesichts erfolgter Missverständnisse hat der evangelische Bischof Wilhelm Stählin auf das Recht, aber auch auf die Gefahr der polemischen Formel „Allein“ hingewiesen.

2. „Sola scriptura“ in der Reformation

Wie Wilhelm Stählin anmerkt, wurde die Formel „Sola scriptura“ (allein die Heilige Schrift) „nicht von der Reformation geschaffen“. Luther hörte sie von seinem occamistischen Lehrer, Gabriel Biel, der sie polemisch gegen eine „alleinige Autorität des päpstlichen Lehramtes“ gebrauchte. Solche absolute Autorität des Lehramts wird katholischerseits nicht vertreten. Das II. Vatikanische Konzil betont vielmehr: Das kirchliche „Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist“ (Dei Verbum 10). Nach Joseph Ratzinger (nun Papst Benedikt XVI.) ist die Heilige Schrift „grundlegendes Maß des Glaubens, die zentrale Autorität, durch die Christus selbst seine Autorität über die Kirche und in der Kirche ausübt“. Sie ist „in dem Geist auszulegen, in dem sie geschrieben wurde“ (Dei Verbum 12), bildet keinen absoluten Gegensatz zum kirchlichen Lehramt.

„Credo ecclesiam et concilium numquam errare in his, quae sunt fidei; in caeteris non est necesse non errare“ – „Ich bin überzeugt, dass Kirche und Konzil in Glaubenssachen niemals irren; in anderen Angelegenheiten bedarf es keiner Irrtumsfreiheit“: Dieses Lutherwort hat der evangelische Lutherforscher Bernhard Lohse in den 90er Jahren entdeckt. Luther hat es in seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen“ – ausgehend vom Apostelkonzil – an den ersten vier Konzilien verifiziert. So rückt das „Sola scriptura“ in eine richtige Perspektive. – Warum geht man evangelischerseits schweigend über diese wichtige Luther-Aussage hinweg?

3. „Sola scriptura“ und kirchliche Traditio (Überliefern/Überlieferung)

Wilhelm Stählin hat bereits in seinem genannten Beitrag erklärt, es könne „nicht bei der einfachen Antithese Schrift gegen Tradition bleiben. Denn die Bibel ist das Buch der Christenheit; sie wird als die Urkunde der Offenbarung gelesen und ausgelegt im Raum der Kirche. Nur im Zusammenhang einer lebendigen Geschichte, in der Weitergabe (traditio) von Geschlecht zu Geschlecht wird die Bibel als Norm der Kirche wirksam... Es gibt keine Möglichkeit, aus der lebendigen traditio der Kirche heraus in ein unmittelbares Verhältnis zur Heiligen Schrift zu springen.“

Dann erwähnt Stählin Fehlversuche, von denen auch der Protestantismus nicht unbeeinflusst geblieben sei: „Der Humanismus unternahm es, auf dem Weg einer historisch-philologischen Beschäftigung mit den heiligen Texten ein eigenes und selbständiges Verhältnis auch zu deren Inhalt zu gewinnen, und meinte, auf diesem Weg zu den ,Quellen‘ zurückzugehen. Luther hat diesem Versuch sehr bewusst einen echten ,Umgang‘ mit den Propheten und Aposteln gegenübergestellt; aber er hat diesen Gegensatz gegen den Humanismus nicht immer und überall in all seinen Konsequenzen gewahrt, und genau dieses säkular-historische Verhältnis zur Heiligen Schrift hat dann tatsächlich im Protestantismus gesiegt.“

Die bloße Parole „Sola scriptura“, die gegenwärtig bei der Kündigung der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche an einer behutsamen Revision der „Einheitsübersetzung“ geltend gemacht wird, ist fragwürdig und unzureichend. Wenn wir „die Bibel nicht ,im Raum der Kirche‘, im Zusammenhang mit dem gottesdienstlichen Leben lesen“, wird „die Heilige Schrift, um mit Nietzsche zu sprechen, ‚den Philologen als den berufsmäßigen Zerstörern der heiligen Schriften‘ ausgeliefert“, schreibt Wilhelm Stählin: „Die Meinung, man könne abseits und außerhalb der kirchlichen Tradition ein unmittelbares Verhältnis zur Heiligen Schrift gewinnen … ist eine humanistische Illusion.“

Bereits dieser Hinweis, dass die Beachtung der „kirchlichen Tradition“ unerlässlich ist, gibt dem Wunsch der vatikanischen Instruktion „Liturgiam authenticam“ Recht, die ältesten Übersetzungen und die Kirchenväter nicht unbeachtet zu lassen – was die EKD leider verargt und für ihre Kündigung der Zusammenarbeit ins Feld führt.

4. Montreal (1963): Die Tradition geht der Schrift voraus

Die Vierte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal sah und bestätigte die Tatsache, „dass die Tradition der Schrift vorausgeht“. Sie formulierte: „Die mündliche und schriftliche Tradition der Propheten führte unter der Leitung des Heiligen Geistes zur Bildung der Schrift und zur Kanonisierung des Alten und Neuen Testaments als der Bibel der Kirche.“

Lange Zeit hat es Kirche gegeben, die kein „Sola scriptura“ des Neuen Testaments vertreten konnte; denn – wie es auch im Evangelischen Erwachsenenkatechismus heißt – hat „als erster … Athanasius (etwa 295-373), der führende Bischof von Alexandria, die 27 Bücher, die wir … heute im Neuen Testament haben, und nur diese 27, als kanonisch bezeichnet. Dann haben im Abendland einige nordafrikanische Synoden um das Jahr 400 die Zahl und Reihenfolge der aufgenommenen Bücher genau festgelegt. So war ungefähr um 400 der Kanon des Neuen Testaments abgeschlossen.“ Das Konzil zu Trient hat den neutestamentlichen Kanon erneut bestätigt.

Der evangelische Neutestamentler Willi Marxsen nennt den Kanon des Neuen Testaments „ein Werk der Kirche. Die Kirche selbst hat festgesetzt, was bei ihr Gültigkeit haben sollte.“ Das ist korrekt, klarer als die zuweilen vertretene Ansicht mancher protestantischer Theologen, der Kanon des Neuen Testaments habe sich der Kirche gleichsam „auferlegt“. Jesus Christus hat kein schriftliches Neues Testament hinterlassen, sondern Apostel berufen und mit Vollmacht gesandt, das Evangelium zu verkünden, zu taufen, zu binden und zu lösen, Sünden zu vergeben; er hat den Petrus zum Oberhirten der Kirche gemacht, ihm die Schlüssel des Himmelreichs anvertraut. Die Mandate des Auferstandenen gelten für alle Zeiten. Der reformierte Prior Roger Schutz schrieb schon vor 30 Jahren: Wie jede Gemeinde eines Hirten bedarf, so auch die Gesamtkirche. Auch die Schlüssel wurden dem Petrus nicht ins Grab gelegt…

5. Welches „Sola scriptura“?

Nach dem evangelischen Theologen Hermann Strathmann hat Martin Luther insofern eine Änderung des neutestamentlichen Kanons vorgenommen, als er in seiner Übersetzung vier von dessen 27 Büchern (den Jakobusbrief, den Hebräerbrief, den Judasbrief und die Apokalypse) nicht mit Ziffern versah; „er zählte nur bis 23“. Bekannt ist Luthers Wort: „Wer den Jekel (Jakobus) mit Paulus vereinbaren kann, dem will ich meinen Doktorhut aufsetzen.“

Der evangelische Neutestamentler Ernst Käsemann spricht in seinem Beitrag „Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?“ von „frühkatholischen Schriften“ im Kanon, die auch der katholischen Kirche Raum und Basis geben. Evangelischerseits stütze man sich hingegen auf die eigentlich evangelischen Schriften im Kanon.

Solche unterschiedlichen Auffassungen machen die Berufung auf ein „Sola scriptura“ gegen Instruktionen der katholischen Kirche fragwürdig: Denn „ein Kanon, bei dem alle Grenzen fließend geworden wären, wäre kein Kanon mehr.“ Wer hingegen (im Unterschied zu manchen Protestanten) die Lehreinheit des Kanons bejaht, für den ergibt sich – nach Wilhelm Stählin – die Frage, ob er „mit dem theoretisch festgehaltenen Schriftprinzip auch dann Ernst zu machen bereit ist, wenn von der Heiligen Schrift her die eigenen konfessionellen Lehrüberlieferungen ergänzt oder berichtigt werden müssen.“ Das führt zu der Forderung: „Tota scriptura“ (die ganze Schrift).

6. „Tota scriptura“ – „die ganze Schrift“

Dass die Heilige Schrift „Kanon“, Maßstab (nach katholischer Lehre „ultimum fundamentum fidei“, also erstlich und letztlich Fundament des Glaubens) ist, wird auch unbeachtet gelassen, wenn „die eigenen konfessionellen Lehrüberlieferungen ergänzt oder berichtigt werden müssen.“ So fehlt leider in dem – von der Lutherischen Bischofskonferenz 2004 edierten – Papier „Allgemeines Priestertum, Ordination und Beauftragung nach evangelischem Verständnis“, was die Heilige Schrift zur „Mitteilung der Amtsgnade“ in der Ordination sagt, wie der evangelische Exeget Joachim Jeremias und ähnlich Altbischof Ulrich Wickens in seiner „Theologie des Neuen Testaments“ (2005) betonen. In den Pastoralbriefen (l Tim 4,14 und 2 Tim 1,6) ist klar von der Gnadengabe Gottes die Rede, die unter Gebet und Handauflegung den Ordinierten verliehen wird. Die Lutherischen Bekenntnisschriften sind sogar bereit, die Ordination als Sakrament anzuerkennen. Dass im Lutherisch-Katholischen Dialog auf Weltebene über ein sakramentales Verständnis der Ordination Übereinstimmung erreicht wurde, soll nicht unerwähnt bleiben. Das Geltendmachen des „Sola scriptura“ – nun zur Kündigung der Mitarbeit mit der katholischen Kirche an einer behutsamen Überarbeitung der Einheitsübersetzung – ist wie ein „zahnloser Tiger“, bleibt uneffektiv, solange eindeutige Aussagen der Heiligen Schrift nicht beachtet bzw. übergangen werden.

7. Schluss

In diesem Beitrag kann es – wie eingangs gesagt – nur um eine Problemanzeige gehen. Aber das Verständnis des „Sola scriptura“ erweist sich immer mehr als ökumenisches Kernproblem im Dialog zwischen der katholischen Kirche und den aus der Reformation erwachsenen kirchlichen Gemeinschaften. Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft ist nur zu erhoffen, wenn über das Verständnis der Heiligen Schrift als Buch der Kirche Übereinstimmung erfolgt.

Der evangelische Neutestamentler Ulrich Luz hat 1997 einen „Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip“ geäußert; er schreibt: „Der auf die Schrift gegründete Protestantismus ist in zahllose Konfessionskirchen, Freikirchen, Bewegungen, Richtungen zerfallen. Wir haben durch unsere Bibelauslegungen zum Schiffbruch des protestantischen Prinzips ,Sola Scriptura‘ beigetragen. Das protestantische Schriftprinzip trug mit seiner Loslösung von der Autorität des Lehramts den Keim seiner Auflösung bereits in sich.“ Der von Ulrich Luz genannte Zerfall macht betroffen und traurig; er widerspricht der von Jesus Christus erbeteten Einheit. Dieser Hilferuf um Klarheit darf nicht ungehört verhallen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Vernichtung der Armenier – eine Christenverfolgung?

Am 7. Oktober 2001 hat Papst Johannes Paul II. den armenisch-katholischen Erzbischof Ignace Maloyan selig gesprochen. Er war ein Opfer des Genozids am armenischen Volk durch das jakobinische, jungtürkische „Komitee für Einheit und Fortschritt“ im Schatten des Ersten Weltkriegs. Diesem Massaker fielen 1915 zwei Millionen Christen zum Opfer. Kann die Vernichtung der Armenier als Christenverfolgung betrachtet werden? Johannes Paul II. hat Erzbischof Maloyan zum Märtyrer erklärt und damit ein Zeichen gesetzt. Denn die Christen der östlichen Türkei waren vor die Entscheidung gestellt: „Wählt den Islam oder den Tod!“ Bis auf wenige Ausnahmen zogen es die Armenier und mit ihnen die Aramäer der west- und ostsyrischen Kirchen vor, für Christus zu sterben. Ein Augenzeuge war der Dominikanerpater Hyazinth Simon, der sich damals in Mardin, der Bischofsstadt des sel. Maloyan, aufhielt. Sein Zeugnis aus dem Jahr 1916, dem ein gewisses Pathos eigen ist, leistete einen wesentlichen Beitrag zur Seligsprechung. Nachfolgend ein bearbeiteter Auszug aus dem umfangreichen Bericht.

Von Hyazinth Simon (†)

Die malerische Stadt Mardin

Mardin, die Stadt der Stille und der Früchte, befindet sich südöstlich von Diyarbakir, 18 Karawanenstunden von dort entfernt. Es ist Sitz des syrisch-katholischen sowie des syrisch-orthodoxen (jakobitischen) Patriarchats und Bischofssitz sowohl der chaldäisch- als auch der armenisch-katholischen Kirche. Eine hübsche Kleinstadt auf den Hängen eines 950 m hohen Berges mit 42.700 Einwohnern, davon 25.000 Mohammedanern und 17.700 Christen. Ihre Mauern werden vom düsteren Profil einer Festung überlagert und enden in ein paar immergrünen Hügeln. Aber in der Stadt begegnen einem nur malerische Bilder. Alles macht sie anziehend, ihre mehrstöckigen Häuser wie in einem Amphitheater, ihre engen, fast sauberen, immer sonnigen Straßen, ihre zwei Minaretts, die zwei antiken katholischen Kathedralen, eine armenische und eine chaldäische, wovon die eine 15 und die andere 12 Jahrhunderte tapfer und im Gebet durchgehalten haben und keinerlei Falten auf ihren Kuppeln zeigen. Nur die Stufen sind durch Generationen abgetreten. Beide unterstützen mit ihren alten Schultern zwei jüngere Schwestern, die katholisch-syrische Kirche der Mutter Gottes und die katholisch-armenische Kirche des hl. Josef.

Blitzeinschlag in einem Adlernest

Wir befinden uns im Monat Juni 1915. Düstere Gerüchte gingen in Mardin um. Man flüsterte sich das Wort Massaker zu; denn die Spionage verbot, es offen auszusprechen. Man nannte sehr leise eine ungeheure Anzahl von Toten. Aber man glaubte, Mardin sei hinter seinem Wall der Treue gegen jede Art der Verfolgung geschützt. Ganz plötzlich, am Morgen des 3. Juni, wurden in einem riesigen Netzwurf die angesehenen Persönlichkeiten der drei katholischen Nationen, Armenier, Syrer und Chaldäer, ergriffen und mit den Protestanten ins Gefängnis geworfen. Die fünf Scharfrichter des Geheimen Komitees machten sich mit einer unaussprechlichen Besessenheit an die Arbeit, sie rivalisierten alle im Eifer. Unter ihnen erhob sich ein Mann, der alle Macht hatte. Seine rechte Hand vergoss das Blut, seine linke Hand sollte den Schmuck der Opfer an sich reißen. Sein Name ist Memdouh Bey. Er war der Hauptkommissar der Polizei, der die Barbarei unter einer schwarzen Weste und mit weißen Handschuhen personifizierte. Zuerst nahm er die Menschen fest und dann folterte er sie.

Der erste Festgenommene war Ignace Maloyan, der armenisch-katholische Erzbischof von Mardin. Er war erst 46 Jahre alt, ein kultivierter Geist, ein Literat, der die Schönheit der französischen, englischen, italienischen, arabischen, türkischen und armenischen Sprachen in Wort und Schrift ausgeschöpft hatte, ein Apostel von reinem und enthusiastischem Herzen, ein Prediger von mächtiger Sprache. Als Hirte war er der Erste, der die Ehre des Kerkers erfuhr. Hunderte Gefährten folgten ihm, alle aus verschiedenen Stufen der Gesellschaft gegriffen, ohne Rücksicht auf das Alter, den Ritus oder die Stellung.

Türkisches Gefängnis in katholische Kathedrale verwandelt

Vor der endgültigen Haft wurde ein Scheinverhör durchgeführt, anschließend schlossen sich die Gefängnistüren hinter den Opfern von morgen. Sie machten sich keine Illusionen über das, was ihnen bevorstand. Unter dem Deckmantel der Spaßhaftigkeit hatte man ihnen schon so oft angekündigt, man werde die armenische Rasse auslöschen wie eine Kerze. Ein fanatischer Mohammedaner sagte zu Erzbischof Maloyan, er würde zwei Teile aus seinem Körper machen. Ein anderer Ungläubiger rief, als er am Vorabend des Abtransports von Erzbischof Maloyan sah, wie er hinter seinem Gitter eine arme katholische Frau segnete, in einem ironischen Ton: „Eh, Bischof, beeile Dich heute zu segnen, morgen wird man Dir die Hände und den Kopf abschneiden!“ Und der Prälat, der keinem Sarkasmus die Antwort schuldig blieb: „Was ich tue, geht dich nichts an. Ich erfülle meine Pflicht bis zum Äußersten.“ Die 395 Gefangenen mussten sich somit auf das höchste Opfer vorbereiten. Sie waren zahlreich und außer einigen Protestanten (27) alle katholisch (233 Armenier – darunter der Bischof und sechs Priester, 114 Syrer – darunter ein Priester und ein Erzdiakon, 30 Chaldäer und ein Lateiner-Kapuziner).

Wir rechnen es zu einer der wärmsten Tröstungen unserer Verbannung, dass wir das unaussprechbare Schauspiel ansehen durften, wie die Gefangenen ihre Ketten küssten und ihren Kerker in eine Kathedrale verwandelten. Es war wirklich die katholische, die universale Kirche versammelt – auf dem nackten Boden eines Gefängnisses. Die orientalische und die okzidentale Kirche waren an die gleichen Eisen geschmiedet, verbunden in den gleichen Schmerzen, bevor sie im gleichen Opfer kommunizierten... Während der siebentägigen Gefangenschaft war ihnen die Religion ihre Hilfe. Die vier Ecken des Gefängnisses wurden zu vier Beichtstühlen. Die Priester mussten ihre Pönitenten anhören und lossprechen, wobei einer dem anderen die Stirne berührte. Das Gebet füllte den Tag und verkürzte die Nacht. Der Rosenkranz verließ nie die Finger der Gefangenen. Der Bischof konnte auf die öffentliche Predigt verzichten, sein tapferes und vornehmes Benehmen war schon ein Vortrag.

Testament des sel. Ignace Maloyan

Einen Monat vor seiner Festnahme hatte der Bischof dem syrisch-katholischen Vikar des Patriarchats, Djibrail Tappouni, sein Testament anvertraut. Darin ist zu lesen:

„Wir, Diener Jesu Christi, Ignace Maloyan, durch die Gnade Gottes und die Barmherzigkeit des Heiligen Apostolischen Stuhls, Erzbischof von Mardin, an seine vielgeliebten Kinder, Priester und Gläubigen meiner Diözese, Gruß, Segen und Adieu…

Die Umstände verpflichten mich, die Mittel bereitzustellen, welche eine gute Verwaltung der Diözese benötigt, und jedem möglichen Unglück vorzubeugen. Wir sind von einer steigenden Flut umgeben, und der Wind heult von allen Seiten und selbst unser unglückliches und hin und her geworfenes Leben ist bedroht: Wir ermahnen Euch, vor allem Euren Glauben zu stärken und Eure Hoffnung in das heilige Kreuz zu festigen, welches auf den Felsen Petri gepflanzt ist, dieser Fels, auf den Jesus Christus seine unerschütterliche und unsterbliche Kirche gebaut hat…

Woher kommt das heftige Verlangen, das uns drängt, damit unser Blut – von uns Sündern – würdig werde, mit dem Blut seiner Gerechten und seiner Helden vermengt zu werden? ... Ich habe mich mit all meinen Kräften, mit meiner ganzen schwachen Macht angestrengt, dem Haupt der Kirche, dem souveränen Pontifex von Rom vollkommen zu gehorchen, und mein Wunsch, mein einziger Wunsch wäre es zu sehen, wie meine lieben Geistlichen und meine liebe Herde meinem Beispiel folgen und den Anweisungen des Heiligen Stuhles immer fügsam bleiben.“

Hier ernennt er Ohannes Sarkian für die Dauer seiner Abwesenheit zu seinem Generalvikar und fügt hinzu: „Ich versichere hiermit, dass ich niemals ein Verräter an den Gesetzen – selbst an den kleinsten – des Osmanischen Reiches war, im Gegenteil, ich war dies betreffend immer ergeben und treu. Dies ist übrigens die Pflicht eines jeden katholischen Bischofs, und ich fordere Euch auf, ununterbrochen auf diesem Weg der Treue und Unterwerfung zu schreiten.“

Er schließt mit den Worten: „Und jetzt, meine vielgeliebten Söhne, vertraue ich Euch Gott an. Ich fordere Euch auf, Gott zu bitten, damit er mir die Kraft und den Mut gebe, diese vergängliche Welt mit seiner Gnade und in seiner Liebe zu durchschreiten und, wenn es sein soll, mein Blut für ihn zu vergießen...“ Unterschrieben: Mardin, 1. Mai 1915, + Ignace Maloyan, Armenisch-katholischer Erzbischof von Mardin.

Folter und Verdemütigung

Erinnert das Testament nicht an die Briefe der früheren Märtyrer-Bischöfe? Mit jemandem von solchem Schlag, der mehr als dreißig Tage zuvor seinen Tod voraussieht und ankündigt, konnten sich unsere Gefangenen, von den Sakramenten gestärkt und entflammt, ihrem Schicksal ergeben. Indem sie am Erzbischof ein Beispiel nahmen, vermochten sie den Martern ins Auge zu sehen. Sie wurden einem Verhör unterzogen, um die Existenz von Waffenlagern in Mardin zuzugeben. Man schlug ihnen auf die Fußsohlen, wobei die Füße mit Stricken in die Höhe gehalten wurden, solange bis die Opfer ohnmächtig wurden. Mit einem Eimer kaltem Wasser über den Kopf kamen sie wieder zu sich, und die Schlägerei ging weiter. Erst als das Blut anfing zu fließen, hörte man mit den Schlägen auf. Man brachte daraufhin das halbtote Opfer in den Kerker. Auf die Martern folgten die Verdemütigungen. Und keiner wurde verschont.

Soll ich den Fall des Kapuziner-Missionars, Pater Leonard Baabdathi, eines Libanesen, schildern, der einen ganzen Kelch von Abscheulichkeiten trinken musste? Und warum, weil er der Leiter der Bruderschaft des Kostbaren Blutes war. Das Wort „Kostbares Blut“ deutete Memdouh Bey auf das Blut der Mohammedaner. Folglich predigte und begehrte der betreffende Missionar, ihr Blut zu vergießen. Umso mehr, als man die Liste der betreffenden Bruderschaft gefunden hatte, die an der Türe der Kapuzinerkirche angeheftet war. Folglich war es eine mehr als abtrünnige und schädliche Organisation, die angeblich nur den Aufruhr im Osmanischen Reich suchte und sein Blut forderte. Und hier unser Pater Leonard: von Beleidigungen, Speichel und Schlägen überhäuft. Aber er bleibt standhaft. Memdouh Bey wird Pater Leonard massakrieren, aber Pater Leonard segnet Memdouh Bey.

Die Todeskarawane

Es ist 1 Uhr morgens am 10. Juni 1915. Der Zug der Todeskandidaten schritt langsam und schweigend durch die Straßen Mardins. Aber die Priester und Gläubigen der Stadt – seit dem Vorabend unterrichtet – horchten stundenlang und spähten nach dem Abtransport. Die Priester, um loszusprechen, und die Laien, um sie ein letztes Mal zu grüßen. Sie marschierten einer an den anderen mit großen Stricken gefesselt. Mehrere trugen Ketten an den Armen, einige hatten den Hals in eiserne Ringe gezwängt. Alle wurden von 100 Soldaten der Miliz umgeben. Kein Wort war aus den Reihen der Gefangenen zu hören. Unter Todesstrafe war ihnen verboten worden, einen Ton von sich zu geben. Zu hören waren zwischen dem Klappern der Säbel nur der Schrei und das Adieu der Frauen und Kinder.

Eine Nacht ohnegleichen. Die Dunkelheit half, auf diese Szene eine noch tiefere Trauer zu werfen und gleichzeitig den Beobachtern zu verbergen, was diese Szene an Erbarmenswertem hatte. Jede Gruppe von 40 Gefangenen hatte einen Priester. Man konnte Pater Leonard sehen, wie er brutal geschlagen wurde, als er an seinem Kloster vorbeizog. Er hatte die Ehre, die Kolonne zu beginnen, begleitet von zwei Franziskanern des Dritten Ordens. Schließlich sah man Erzbischof Maloyan, das Haupt entblößt, barfüßig und den Hals in Eisen, der, umgeben von zwei Polizisten, die Prozession schloss. Trotz der Daumenschrauben, die seine Hände umschlossen, konnte er der Stadt einen letzten Segen geben.

Schönstes Wunder: Alle hielten stand!

Während sich das schrecklichste Drama in der Geschichte Mardins abspielte und die Zukunft des Christentums in diesem Land verschwand, erschien eine strahlende und sorglose Morgenröte und erleuchtete eine Karawane von Menschen, die sich schon weit entfernt von der Stadt befand und die man ins Grab führte. Da füllte sich schnell die syrisch-katholische Kathedrale von Mardin mit alarmierten Gläubigen; denn in den öffentlichen Katastrophen wird der Altar zu einem Treffpunkt und zu einer Tröstung. Sie sah unvergessliche Szenen: Frauen rutschten auf blutigen Knien die ganze Strecke vom Hof bis zur Kirche. Frauen „weinten“ ihre Gebete, und Kinder – seit einer Stunde Waisen – flehten nicht nach Rache, sondern nach einem Wunder. Und dieses Wunder erhielten sie. Das schönste Wunder war die wankellose Glaubensfestigkeit unserer Gefangenen.

Die Kolonne von Christen setzte ihren Weg fort, ohne Zweifel über ihr Schicksal. Sie erreichte Cheikhan, ein sechs Stunden von Mardin entferntes kurdisches Dorf. Hier hielt Memdouh Bey den Zug an und las einen angeblichen Firman folgenden Inhalts: „Die osmanische Regierung hatte Euch mit Gunst überhäuft, mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, bedeutenden Posten und Ehrentiteln und währenddessen habt ihr sie betrogen. … Auf Grund des Verrates an dem osmanischen Vaterland seid ihr alle zum Tod verurteilt. Derjenige, der zum Islam übertritt, wird gesund, sicher und geehrt nach Mardin zurückkehren. In einer Stunde werdet Ihr exekutiert werden. Bereitet Euch vor und macht Eure letzten Gebete…“ Und schließlich fügt er ironisch hinzu: „Das Reich hat Euch gestern viele Privilegien zugestanden, heut verleiht es Euch drei Kugeln…“

Geheimnisvolle Wolke über den Todgeweihten

Darauf  erhob sich Erzbischof Maloyan, geschwächt und herzkrank, gebeugt unter der doppelten Last der Müdigkeit und des Kummers, zu seiner vollen Größe und reagierte gegen die Beleidigung als Verräter, die man ihm und seinen Begleitern ins Gesicht geschleudert hatte. Seine Pflichten als Bischof und Bürger hatte er immer erfüllt. Mit seinem Fuß schob er die angebotene Apostasie zurück. Und als Bürger versicherte er seine Treue als Patriot. Er antwortete hiermit im Namen aller. Mit seiner Antwort unterschrieb er sein und seiner Treuen Todesurteil, aber er machte seinen Namen und seine Akten unsterblich, wie gleichermaßen die Taten und Namen seiner Brüder in Jesus Christus. Er sagte: „Wir sind in den Händen der Regierung und, was das Sterben betrifft, so sterben wir für Jesus Christus.“ „Für Jesus Christus“ riefen die inzwischen 404 Begleiter. Und er fügte hinzu: „Verräter am osmanischen Vaterland? Das waren wir nie und sind es nicht. Aber Verräter an der christlichen Religion zu werden, niemals…“ „Niemals“ wiederholten die Gefangenen. Und abschließend sagte der Bischof: „Wir sterben, aber wir sterben für Jesus Christus.“ „Für Jesus Christus“ wiederholten seine 404 Mitchristen.

Danach spielte sich eine unbeschreibbare Szene ab, entsprechend den antiken Szenen der Märtyrer in den Arenen Roms in Erwartung der Panther und Leoparden. Aber hier war das Amphitheater weiter, die Einsamkeit größer und die Tiere wilder. Der Bischof und die Priester schritten durch die Reihen und gaben die letzte Lossprechung und spendeten reichen Trost. Schließlich nahm der Bischof Brot, konsekrierte es und die Priester verteilten die heiligen Stücke an jeden Gläubigen. Einer der anwesenden Soldaten erzählte später, dass sich während der Konsekration und der Kommunion eine dichte Wolke über die Todgeweihten gelegt und sie vor den Augen der Mohammedaner vollkommen versteckt hätte. Gott hatte plötzlich einen Schleier gewebt, der die heiligen Dinge vor den Augen der Heiden verbarg. Und als diese letzte brüderliche Agape beendet war, in der das „Brot des Lebens“ gebrochen wurde, konnten die Kämpfer dem Tod entgegenschreiten – und kein einziges Versagen ist zu nennen.

Martyrium am Fest des Heiligsten Herzens Jesu

Dann begann Memdouh Bey die erste Teilung. Von den 405 Männern nahm er hundert und führte sie zu dem Ort, der sich die „Grotten von Cheikhan“ nennt. Es handelt sich um tiefe Höhlen, die weder ihre Opfer hergeben noch ihre letzten Anrufungen hören ließen. Die Henker waren kaum zurück, als Memdouh Bey weitere 100 Märtyrer auswählte, die man eine Stunde von da an den Ort führte, der „Kalan de Zerzewan“ heißt. Sie wurden alle in Vierer-Gruppen, sei es durch Steinigung, Dolchstöße oder Keulenschläge massakriert und in die Brunnen geworfen. Die alte Festung, die die Gebeine unserer Helden birgt, bewahrt auch die Geheimnisse ihrer letzten Augenblicke. So blieben noch 205 Christen übrig, unter welchen sich Erzbischof Maloyan befand. Man hielt es für unvorsichtig, sie an Ort und Stelle zu exekutieren. So führte man sie am nächsten Tag etwas weiter. Eine geschickte Art, um die Qual unserer ausgehungerten, entblößten, gefesselten Katholiken zu steigern, die man barfüßig über die Steine der Wege und die Dornen der Felder geführt hatte. Sie marschierten zwei Stunden lang und kamen in einem tiefen Tal an, das vier Stunden von Diyarbakir entfernt lag. Dort wurden sie alle am Freitag, den 11. Juni, dem Fest des Heiligsten Herzens, umgebracht.

Ihr Tod wurde selbst von den Kurden bewundert, die beutegierig herbeigeeilt waren. „Niemals“, sagte einer von ihnen, „haben wir eine solche religiöse Standhaftigkeit gesehen. Wenn sich die Christen aus analogen Motiven auf uns geworfen hätten, dann wären wir auf ihr Verlangen alle Christen geworden…“ Erzbischof Maloyan wurde in diesem Augenblick nicht umgebracht. Denn um seinem Kummer den Kummer hinzuzufügen, von seiner Herde getrennt zu sterben, hatte ihn die Polizei gezwungen, auf ein Pferd zu steigen und der Karawane vorauszureiten. Er war also alleine in Kara-Keupru angekommen, das drei Stunden von Diyarbakir entfernt ist. Dort sollte er sterben. Und als man ihm diese düstere Nachricht mitteilte, fragte er besorgt: „Aber wo sind meine Kinder?“ „Sie werden sterben“, gab man ihm zur Antwort. Ohne Verwirrung bereitete sich nun der Bischof darauf vor, zu sterben und vor Gott zu erscheinen. Aber er musste noch auf eine letzte Frage Memdouh Beys antworten: „Sag uns, ja oder nein, habt ihr Bomben?“ Und der Bischof antwortete: „Wenn wir Bomben gehabt hätten, dann hätten sie niemals meinen Kindern das zugefügt, was ihr mit ihnen vorhattet.“ „Gut!“ Und plötzlich wurde der Bischof von einer Kugel am Hals getroffen und fiel in sein Blut. Er war tot. Unser lieber und mutiger Bischof war seit 4 Jahren im Amt.

Ein typisches Beispiel: Die Polizei lief nach Diyarbakir, um von Ärzten unterschreiben zu lassen: „Der Tod Maloyans ereignete sich während der Reise durch eine Embolie des Herzens“. All das aber war erst der Beginn unsäglicher Leiden, Blutbad folgte auf Blutbad, Trauer auf Trauer. … Dies ist die Todesanzeige der orientalischen Kirche an ihre Schwester, die Kirche des Westens. … Der Holocaust unserer Christen erlaubt uns im Namen der Entschlafenen zu sagen: „Ihr alle, die ihr über uns weint, weint nicht mehr. Wir haben nur die vergänglichen, flüchtigen und unvollkommenen Dinge verlassen, um uns der glückseligen Schau der beständigen, ewigen und vollkommenen Wirklichkeiten zu erfreuen.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2005
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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