Sterben in Würde – aber wie?

Der Wunsch nach einem „Sterben in Würde“ ist weit verbreitet. Doch wie kann er verwirklicht werden? Durch „passive“, „aktive“, „indirekte“ Sterbehilfe oder durch Selbsttötung? Nicht alles, was als „Hilfe“ ausgegeben wird, ist ethisch akzeptabel und wirklich hilfreich. Hinter dem Begriff der „Sterbehilfe“ verbergen sich ganz unterschiedliche Dinge, die auseinandergehalten werden müssen. Der folgende Beitrag gibt Orientierung in einer unübersichtlichen Diskussion.

Von Rainer Beckmann

Das Thema „Sterbehilfe“ hat sehr an Aktualität gewonnen. Die Zahl älterer Menschen in unserer Gesellschaft wächst kontinuierlich an, die Geburtenzahlen gehen zurück. Die technischen Möglichkeiten der Lebenserhaltung und Lebensverlängerung haben zugenommen, aber die Finanzierung des Gesundheitssystems wird immer schwieriger. In diesem Umfeld wird der Ruf nach Zulassung „aktiver Sterbehilfe“ lauter. Einzelne Politiker und einschlägige Organisationen haben sich bereits für eine Zulassung der „Tötung auf Verlangen“ ausgesprochen. Der Schweizer Verein „Dignitas“ will auch in Deutschland Beihilfe zur Selbsttötung leisten. Unabhängig davon beabsichtigt der Gesetzgeber, in dieser Wahlperiode Regelungen für so genannte „Patientenverfügungen“ zu erlassen, in denen Patienten verbindlich im Voraus auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten können.

All diese Entwicklungen haben mit Tod und Sterben zu tun. Sie weisen jedoch erhebliche Unterschiede auf und müssen differenziert betrachtet werden.

„Aktive“ und „passive“ Sterbehilfe

In der gesellschaftlichen Diskussion wird in erster Linie zwischen „aktiver“ und „passiver Sterbehilfe“ unterschieden. Mit Blick auf das Strafrecht erscheint diese Abgrenzung nicht nur als unglücklich, sondern sogar als irreführend. Straftatbestände können grundsätzlich sowohl durch Tun („aktiv“) als auch durch Unterlassen („passiv“) erfüllt werden (vgl. §13 Abs.1 StGB). Die Strafbarkeit eines Verhaltens hängt also nicht allein davon ab, ob sich jemand „aktiv“ oder „passiv“ verhält. Entscheidend ist, welche konkreten Unterlassungs- bzw. Handlungspflichten gegenüber einem anderen bestehen. Genauso verwirrend ist es, wenn eine Schmerzbehandlung, die als Nebenwirkung zu einer Lebensverkürzung führen kann, ebenfalls als „aktive“ aber „indirekte“ Sterbehilfe bezeichnet wird. Eine Schmerzbehandlung, die nur ein Risiko der Lebensverkürzung mit sich bringt, kann nicht mit der gezielten Tötung durch eine Giftspritze – dem Paradebeispiel für „aktive Sterbehilfe“ – begrifflich gleichgesetzt werden.

Sagen, was gemeint ist

Da im Begriff der „Sterbehilfe“ viele Dinge zusammentreffen, die nicht zusammengehören, sollte man stattdessen lieber sagen, was wirklich gemeint ist. Dies gilt umso mehr, als es in Deutschland keine Rechtsvorschrift gibt, in der von „aktiver“, „passiver“ oder „indirekter Sterbehilfe“ die Rede ist. In der medizinisch-ethischen Diskussion werden diese Begriffe zunehmend gemieden. Sie werden z. B. weder von der Bundesärztekammer noch der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften in ihren aktuellen Richtlinien zum Umgang mit sterbenden Patienten verwendet.

Patiententötung auf Verlangen

Als „aktive Sterbehilfe“ wird üblicherweise die gezielte Tötung eines schwerkranken oder sterbenden Menschen auf dessen Verlangen hin bezeichnet. Will man dieses Verhalten auf den Punkt bringen, bietet sich die Bezeichnung „Patiententötung auf Verlangen“ an. Das ist der „Tötung auf Verlangen“ (§216 StGB) sehr ähnlich. Zu beachten ist jedoch, dass „aktive Sterbehilfe“ nur Menschen betrifft, die Patienten – im Wortsinn also „Leidende“ – sind. Dies setzt §216 StGB nicht voraus. Das Opfer einer Tat gem. §216 StGB kann kerngesund sein. Deshalb sollte beides nicht gleichgesetzt werden. Beim §216 StGB geht es um Tötung auf Verlangen allgemein, bei „aktiver Sterbehilfe“ um die Tötung von Patienten, die sterben wollen.

Bislang hat der Gesetzgeber jedes Tötungsverlangen als unbeachtlich angesehen. Auch wer getötet werden will, darf nicht getötet werden. Die Forderung nach einer Aufweichung des Verbots der Tötung auf Verlangen wirft nun die Frage auf, ob künftig gerade ein auf Leiderfahrung beruhendes Todesverlangen zur Tötung berechtigen sollte. Der inzwischen entlassene frühere Justizsenator von Hamburg, Roger Kusch, meinte sogar, dass die Zulassung der vom Patienten selbst gewünschten Tötung „ein Gebot christlicher Nächstenliebe“ sei. Die Unvereinbarkeit dieser Sichtweise mit dem christlichen Glauben liegt aber auf der Hand. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ lässt sich nicht in die Aussage „Du sollst töten, wenn du darum gebeten wirst“ umdeuten. Und auch das Gebot der Nächstenliebe verpflichtet nicht, in bestimmten Fällen zu töten. Wer so etwas behauptet, hat wesentliche christliche Grundüberzeugungen nicht verstanden: Gott ist nicht nur der Schöpfer, sondern auch der Herr des Lebens. Er hat jedem Menschen das Leben als Zeit der Bewährung zur Erlangung des ewigen Heils anvertraut. Das Ende dieser Zeitspanne zu bestimmen, steht dem Menschen nicht zu.

Parallele zur Selbsttötung

Aus rechtlicher Perspektive nutzen die Befürworter einer Freigabe der Patiententötung den Umstand, dass die Selbsttötung als solche nicht strafbar ist. Die Tötung eines sterbenskranken alten Menschen auf dessen eigenen Wunsch hin wird als eine Art „verlängerte Selbsttötung“ verstanden und die Gleichbehandlung dieses Falles mit der eigentlichen Selbsttötung verlangt.

Hiergegen ist jedoch einzuwenden, dass es trotz der bestehenden Straflosigkeit kein „Recht“ auf Selbsttötung gibt – und damit erst recht kein „Recht auf Getötetwerden“ durch einen anderen. Jedem Suizid liegt eine fundamentale Selbstentwertung zugrunde, die nicht mit dem z. B. in Art. 1 Grundgesetz (Menschenwürde) zum Ausdruck kommenden fundamentalen Eigenwert der menschlichen Person, der Menschenwürde, in Einklang zu bringen ist. Wer sich selbst tötet, bewertet die eigene Existenz als gänzlich wertlos und überflüssig.

Darüber hinaus ist jede Selbsttötung gleichzeitig auch ein Akt der Selbstinstrumentalisierung. Die eigene Existenz wird nicht mehr als fundamentaler Wert anerkannt, der die Voraussetzung aller sekundären menschlichen Lebensvollzüge und Wertsetzungen ist. Das eigene Leben wird nur noch als Mittel zum Zweck betrachtet. Das Streben nach Glück, persönlichem Erfolg, nach gesellschaftlichem Ansehen oder – vor allem am Lebensende – nach „Leidfreiheit“, spielt für den Selbstmörder die alles entscheidende Rolle. Das eigene Leben wird nur solange als „lebenswert“ betrachtet, wie es zur Verwirklichung dieser Ziele geeignet erscheint. Ist nach Ansicht des Betroffenen ein leidfreier Zustand nicht mehr erreichbar, setzt er sein Leben als letztes Mittel ein, um den übergeordneten Zustand der Leidfreiheit zu erreichen. Dieses instrumentelle Verhältnis zum eigenen Leben ist wiederum mit der Menschenwürde unvereinbar, weil es die menschliche Existenz nicht als Zweck an sich, sondern nur noch als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke betrachtet.

Ein „Recht“ auf Selbsttötung kann es auch deshalb nicht geben, weil jedes Recht die Existenz eines Rechtssubjekts voraussetzt. Wer sich selbst tötet, stellt sich außerhalb des Rechts. Er kann deshalb die Rechtsordnung für sein Vorhaben nicht in Anspruch nehmen.

Aus christlicher Perspektive sind Selbsttötung und Tötung auf Verlangen abzulehnen, weil es vor Gott kein sinn- oder wertloses Leben gibt. Solche Qualifizierungen stehen niemandem zu – auch nicht dem Betroffenen selbst.

Töten ist keine Hilfe

Wie kann man aber so „hartherzig“ sein und einem sterbenskranken Menschen, der um den Tod bittet, die Hilfe verweigern – so fragen viele, die aus Mitleid nach einem Ausweg suchen. „Hilfe“ ist bei schwerkranken und sterbenden Menschen in vielfältiger Weise notwendig: z.B. Hilfe gegen Schmerzen, Hilfe gegen die Angst vor der „Apparatemedizin“, die Angst, anderen zur Last zu fallen oder zu vereinsamen. Die Abhilfe besteht jedoch nicht darin, den Patienten zu töten, sondern darin, seine Schmerzen zu bekämpfen, belastende Eingriffe zu vermeiden, Angehörige zu entlasten und persönliche Betreuung und Begleitung zu gewährleisten.

Wer von „Sterbehilfe“ spricht, meint meist etwas ganz anderes: keine Hilfe zum Leben, sondern Hilfe zum Sterben in Form der Beihilfe zur Selbsttötung oder der Tötung auf Verlangen. Töten ist jedoch keine Hilfe. Töten beseitigt keine Ängste und kein Leid. Töten beseitigt den Leidenden. Welchen Nutzen hat der Betroffene durch eine „Hilfe“, durch die er vom Leben zum Tod befördert wird? Der Begriff der „Hilfe“ wird gegenstandslos, wenn das Subjekt des Hilfsanspruchs nicht mehr existiert.

Behandlungsverzicht und Behandlungsabbruch

Wesentlich anders gelagert sind die Fälle der so genannten „passiven Sterbehilfe“. Hier geht es der Sache nach um die Nichtaufnahme oder Einstellung lebenserhaltender bzw. lebensverlängernder Maßnahmen auf Wunsch des Patienten. Nach herrschender Rechtsmeinung bleibt in diesen Fällen nicht nur „passives“, sondern auch „aktives“ Handeln straflos. Unabhängig davon, ob es sich um das Nicht-Einsetzen oder das Abstellen einer technischen Einrichtung zur Lebensverlängerung (z. B. einer Beatmungsmaschine) oder das Nicht-Anlegen einer Infusion, ihr „Auslaufenlassen“ oder das aktive Blockieren des Zuflusses handelt – entscheidend ist in all diesen Fällen, ob das Unterlassen oder die Beendigung der medizinischen Behandlung vom Patienten gewollt ist.

Eine Behandlung oder Weiterbehandlung von Patienten gegen ihren Willen ist rechtlich nicht zulässig, da jede in den Körper des Patienten eingreifende Behandlungsmaßnahme einer rechtfertigenden Einwilligung bedarf. Verweigert z.B. ein bewusstseinsklarer Patient in eindeutiger Weise die Fortführung der Behandlung, dann ist der Arzt verpflichtet, sie einzustellen (egal ob „aktiv“ oder „passiv“). Eine Weiterbehandlung wäre rechtswidrig, weil sie nicht mehr vom Willen des Patienten getragen ist.

Auch die katholische Kirche lehnt eine Lebensverlängerung um jeden Preis ab. Ein sinnloser, leidensverlängernde und den natürlichen Tod unnötig hinauszögernder Einsatz der Medizintechnik ist nicht geboten. Das Sterbenlassen ist durchaus eine christliche Option. „Die Moral verlangt keine Therapie um jeden Preis. Außerordentliche oder zum erhofften Ergebnis in keinem Verhältnis stehende aufwändige und gefährliche medizinische Verfahren einzustellen, kann berechtigt sein. Man will dadurch den Tod nicht herbeiführen, sondern nimmt nur hin, ihn nicht verhindern zu können. Die Entscheidungen sind vom Patienten selbst zu treffen, falls er dazu fähig und imstande ist ...“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Ziff. 2278).

Ein solcher Behandlungsverzicht darf aber nicht willkürlich sein. Wer eine Behandlung ablehnt, obwohl er geheilt werden könnte, verstößt gegen das grundsätzliche Lebenserhaltungsgebot. Problematisch sind auch weitgehende Patientenverfügungen, in denen für bestimmte Situationen im vornherein Behandlungsverzichtserklärungen abgegeben werden. Solche Verfügungen können der Sache nach einer „Selbsttötung durch Behandlungsverweigerung“ gleichkommen. Von daher ist darauf zu achten, dass die im Katechismus genannten Bedingungen für einen Therapieverzicht tatsächlich vorliegen. Wann dies der Fall ist, kann nicht allgemein und abstrakt festgelegt, sondern muss im Einzelfall sorgfältig abgewogen und entschieden werden.

Effektive Schmerzbehandlung

Eine effektive Schmerzbehandlung („indirekte Sterbehilfe“) wird manchmal von dem Risiko überschattet, dass lebensverkürzende Nebenwirkungen auftreten können (vor allem eine Dämpfung der Atmung). Eine solche Behandlung bleibt jedoch medizinisch geboten und ist mit Einwilligung des Patienten gerechtfertigt, da sie allein auf die Schmerzbekämpfung gerichtet ist und nicht auf die Tötung des Patienten zielt. Bei ordnungsgemäßer Anwendung moderner Schmerzmittel kommt es auch regelmäßig nicht zu einer Lebensverkürzung.

Kann gleichwohl das Risiko der Lebensverkürzung in besonderen Fällen nicht gänzlich ausgeschlossen werden, ist diese nicht beabsichtigte und unerwünschte Nebenwirkung genauso zu bewerten wie andere unerwünschte Nebenwirkungen im Bereich der Arzneimittelanwendung und medizinischer Behandlungen. Über die Risiken der Behandlung ist der Patient aufzuklären. Nimmt der Patient die Risiken in Kauf, kann für den Fall, dass sich das Risiko verwirklicht, der Patient nicht als „Selbstmörder“ und der Arzt nicht als „Täter“ eines Tötungsdelikts betrachtet werden. Die Inkaufnahme unerwünschter Risiken einer effektiven Schmerzbehandlung ist durch deren gutes Ziel legitimiert. Die Verantwortung des Arztes liegt darin, den Patienten über die erkennbaren Risiken aufzuklären und diese durch Anwendung der ärztlichen Kunst zu minimieren. Die Kirche erlaubt dieses Vorgehen: „Schmerzlindernde Mittel zu verwenden, um das Leiden des Sterbenden zu erleichtern selbst auf die Gefahr hin, sein Leben abzukürzen, kann sittlich der Menschenwürde entsprechen, falls der Tod weder als Ziel noch als Mittel gewollt, sondern bloß als unvermeidbar vorausgesehen und in Kauf genommen wird“ (KKK, Ziff. 2279).

Körperliche Schmerzen können heutzutage sehr wirksam bekämpft werden. Die moderne Schmerztherapie ist in der Lage, in 90 bis 95 Prozent aller Fälle eine ausreichende Schmerzlinderung zu erzielen. In den restlichen Fällen kann, wenn es gewünscht wird, das Schmerzbewusstsein gezielt gedämpft oder ausgeschaltet werden, so dass auch bei schwersten Erkrankungen kein Mensch elend zugrunde gehen muss. Dass diese Möglichkeiten der Palliativmedizin noch nicht überall verfügbar sind oder ausgeschöpft werden, ist ein gesellschaftliches Problem, dem schnellstmöglich abgeholfen werden sollte. Dieses Defizit berechtigt aber nicht dazu, der Patiententötung das Wort zu reden. Es gibt zwar keine absolute Pflicht zur Lebenserhaltung bzw. Lebensverlängerung. Es ist aber unter allen Umständen verboten, absichtlich den Tod eines Menschen herbeizuführen. „Die direkte Euthanasie besteht darin, dass man aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer dem Leben behinderter, kranker oder sterbender Menschen ein Ende setzt. Sie ist sittlich unannehmbar“ (KKK, Ziff. 2277).

Lebensperspektiven in Alter und Krankheit

Der Wunsch, dem Leben ein Ende zu bereiten, kann verschiedene Ursachen haben. Ihnen kann und muss auf andere Weise begegnet werden, als durch das Angebot des Tötens.

Körperliche Schmerzen können heute wirksam gelindert werden. Einsamkeit und soziale Isolierung sind durch persönliche Betreuung und Pflege zu überwinden, so dass auch in Alter und Krankheit die Lebensperspektive nicht verlorengeht.

Es ist unser aller Aufgabe, nicht Hilfe zum Töten, sondern Hilfe zum Leben zu leisten. Die Mithilfe bei der Tötung oder Selbsttötung ist der falsche Weg. Eine humane Gesellschaft muss in der Lage sein, bessere Lösungen für individuelle oder soziale Konfliktsituationen zu finden. Die Palliativmedizin und die Hospizbewegung weisen in die richtige Richtung. Sie müssen ausgebaut und gefördert werden.

Gleichzeitig muss sich die Einsicht durchsetzen, dass nicht jeder Therapieversuch sinnvoll ist und dass ein Zulassen des Sterbens, kombiniert mit guter Symptombehandlung, einen würdigen Abschluss des Lebens darstellen kann. Töten ist dagegen strikt abzulehnen, auch wenn es durch die eigene Hand geschieht.

Wir dürfen nicht über das Geschenk des Lebens verfügen!  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2006
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Das menschliche Lebensende aus christlicher Sicht

Professor Dr. Joachim Piegsa geht als Moraltheologe auf alle relevanten Fragen ein, die das Lebensende betreffen. Ausgehend von einer kurzen Skizzierung der christlichen Wahrheit über den Tod im Allgemeinen bietet er u.a. eine ausgesprochen differenzierte Beurteilung der „christlichen Patientenverfügung“. Durch seine zahlreichen konkreten Hinweise bildet der Beitrag eine echte Hilfe für Gläubige und Seelsorger.

Von Joachim Piegsa

Seit unserer Geburt gehen wir dem Lebensende zu. Doch in der Jugendzeit und noch lange danach empfinden wir es gefühlsmäßig nicht so. Erst das vorgerückte Alter oder eine ernsthafte Krankheit gemahnen uns, ans Ende zu denken.

l. Die christliche Wahrheit über den Tod

Gott, der Schöpfer, hat den Tod nicht gewollt. Dieser kam als Folge der Ursünde über alle Lebewesen. Wir Menschen sind jedoch nach Gottes Ebenbild erschaffen. Daher sind wir mehr als Materie, mehr als das Zufallsprodukt einer blind verlaufenden Evolution. Gott hat einen jeden von uns „beim Namen gerufen“ (Sir 43,1). Wir sind „Kinder Gottes“ (Röm 8,16), für das ewige Leben bestimmt.

Dank der Auferstehung ist unser Tod nicht das totale Ende unserer Existenz, sondern Übergang in das ewige Leben. In der Totenpräfation heißt es: „Deinen Gläubigen, o Herr, wird das Leben gewandelt, nicht genommen.“

Das heißt allerdings auch, dass wir uns vor dem Eintritt ins ewige Leben dem Gericht Gottes stellen müssen. Es ist jedoch das Gericht eines barmherzigen Vaters, der nicht den ewigen Tod, sondern die Rettung eines jeden Menschen will. Diesen „allgemeinen Heilswillen Gottes“ hat das Zweite Vatikanische Konzil in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche (Artikel 14-16) erneut hervorgehoben.

Entscheidend ist für unser Bestehen vor Gottes Gericht, dass wir zeitlebens seine Gebote befolgen und immer wieder durch Gebet und Reue, vor allem in der Sterbestunde, die barmherzigen, rettenden Vaterhände ergreifen.

2. Der glaubenslose Mensch will den Tod verdrängen

Welchen Trost die christliche Wahrheit über den Tod spendet, erkennen wir am besten, wenn wir sie gottlosen Versuchen, den Tod zu verdrängen, gegenüberstellen. Die Verdrängung der Wahrheit über den Tod ist immer zugleich eine Verfälschung der gesamten Wahrheit vom Menschen, insbesondere von der Würde seines Lebens und seines Sterbens.

Eine häufige Art der Todesverdrängung ist die Rede vom so genannten „Freitod“. Gemeint ist die Selbsttötung (Selbstmord) oder das Sich-töten-lassen (aktive Euthanasie), meistens durch Gift. Die Bezeichnung „Freitod“ ist eine irreführende Beschönigung der Tatsache, dass derjenige, der einen Ausweg im Selbstmord oder im Sich-töten-lassen sucht, ein bedrängter, verzweifelter Mensch ist. Das bezeugen ehrliche Ärzte und Pfleger aufgrund ihrer Erfahrung. Nicht selten sind es ältere Menschen, die vereinsamt leben oder denen man zu erkennen gab, dass sie eine unzumutbare Belastung für Angehörige und Pfleger bedeuten. Sie suchen die „Erlösung“ im Tod. Erwiesen ist zudem, dass sich glaubenslose Menschen eher in der Gefahr befinden, im Tod den Ausweg aus einem – ihrer Meinung nach – sinnlosen Leben zu suchen.

Bei jungen Menschen ist die empfundene Sinnleere ihres Lebens, das sog. „existentielle Vakuum“ (Viktor Frankl), oft die Ursache dafür, dass sie in den Selbstmord flüchten. Die Sinnlehre entsteht zunehmend aufgrund unerfüllbarer Wunschvorstellungen. Die Fernseh- und Computer-Scheinwelt gaukelt meistenteils unerreichbare Perspektiven vor, zum Beispiel das angeblich paradiesische Leben eines Stars oder Models. Zudem kann die Arbeitslosigkeit und die dadurch fehlende Zukunftsperspektive zum Selbstmord führen, ebenso der Überdruss an einem alkohol- oder drogenabhängigen Leben. Die „Erlösung" von diesem angeblich „lebensunwerten Leben“ wird fälschlicherweise im Selbstmord gesucht. Jugendliche, die man nach ihrem Selbstmordversuch noch retten konnte, haben meistens bezeugt, dass sie eigentlich gar nicht sterben wollten, sondern dass ihr Selbstmord ein „Schrei nach Geborgenheit und Liebe“ war.

Aus christlicher Sicht ist der Selbstmord entschieden abzulehnen, denn Gott allein ist der Herr des Lebens. Er hat uns das Leben geschenkt. Er allein kann es wieder nehmen, genauer gesagt: Er wird unser irdisches Leben ins ewige überführen. Der Selbstmord ist aus dieser Sicht ein Akt des Ungehorsams, ja sogar eine Herausforderung Gottes. Daher wurden früher Selbstmörder nicht kirchlich beerdigt. Heute wissen wir, dass der sog. „Bilanzselbstmord", das heißt der vollauf bewusst vollzogene Selbstmord, höchst selten vorkommt. Meistens geschieht er im Zustand einer begrenzten Zurechnungsfähigkeit, nämlich als Verzweiflungstat, wodurch die moralische Verantwortung – und sofern auch die Sündhaftigkeit – erheblich geschmälert oder sogar ganz aufgehoben wird. In einem solchen Fall ist es für eine kirchliche Beerdigung entscheidend, ob der Täter ein praktizierender Christ gewesen war, worüber die Angehörigen Auskunft geben können. Ist das erwiesen, so darf man mit ausreichender Sicherheit annehmen, dass der Selbstmord keine vollauf bewusste Tat war und man darf den Toten kirchlich beerdigen.

Indessen ist das Gebet für Selbstmörder immer erlaubt und geboten, denn wir wissen nicht, wie die letzten Sekunden ihres Lebens vor Gott ausgesehen haben. Hierbei denken wir an den Verbrecher, der zur Rechten Jesu gekreuzigt war und in den letzten Minuten seines Lebens bat: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Jesus antwortete ihm: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 42-43).

3. Die „Christliche Patientenverfügung“ – passive und indirekte Euthanasie (Sterbebegleitung)

„Um ein würdevolles Leben bis zuletzt zu ermöglichen“, haben die Deutschen Bischöfe, gemeinsam mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 1999 eine „Christliche Patientenverfügung“ herausgegeben, die 2003 in 2. Auflage erschienen ist.[1] Im beigefügten „Formular“ zur Patientenverfügung, das die pflegebedürftige oder kranke Person unterschreiben muss, heißt es gleich zu Beginn:

„Für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder äußern kann, verfüge ich: An mir sollen keine lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden, wenn nach bestem ärztlichem Wissen und Gewissen festgestellt wird, dass jede lebenserhaltende Maßnahme ohne Aussicht auf Besserung ist und mein Sterben nur verlängern würde“ (Entscheidung für die passive Euthanasie).

„Ärztliche Begleitung und Behandlung sowie sorgsame Pflege sollen in diesen Fällen auf die Linderung von Beschwerden, wie z. B. Schmerzen, Unruhe, Angst, Atemnot oder Übelkeit, gerichtet sein, selbst wenn durch die notwendige Schmerztherapie eine Lebensverkürzung nicht auszuschließen ist“ (Entscheidung für die indirekte Euthanasie).

„Ich möchte in Würde und Frieden sterben können, nach Möglichkeit in Nähe und Kontakt mit meinen Angehörigen und nahe stehenden Personen und in meiner vertrauten Umgebung. Ich bitte um seelsorglichen Beistand. Meine Konfession ist … “

Zwischen der passiven und indirekten Euthanasie einerseits (in Kauf genommene Lebensverkürzung) und der aktiven Euthanasie (direkte Tötung) besteht ein wesentlicher moralischer Unterschied, den jedoch die Vertreter einer direkten Tötung[2] leugnen, damit ihr Geschäft einer „Kultur des Todes“ nicht zu Schaden kommt.

Das Anliegen, medizinische Eingriffe, die nur das Sterben verlängern, zu unterlassen (passive Euthanasie), sowie die notwendige Schmerzlinderung anzuwenden, auch bei unvermeidbarer Lebensverkürzung (indirekte Euthanasie), um ein „würdevolles Leben bis zuletzt“ (Patientenverfügung) zu gewähren, hat sich die christlich motivierte „Hospizbewegung“ zu Eigen gemacht, die vor einigen Jahrzehnten neu entstanden ist.[3]

Das Wort „Euthanasie“ kommt vom griechischen „eu thanatos“ und heißt „guter Tod“. Damit war in der heidnischen Antike der schmerzlose Tod gemeint. In der Nazi-Zeit verwendete man den Begriff für die Vernichtung „unwerten Lebens“. Zum angeblichen Wohl der Volksgemeinschaft wurde eine massenweise Tötung behinderter Menschen durchgeführt. Heute bedeutet „aktive Euthanasie“ die Tötung auf ausdrückliches oder mutmaßliches Verlangen, wie sie seit Jahren in Holland (1993) und danach in Belgien gesetzlich erlaubt und von Ärzten durchgeführt wird. Da jedoch das Wort „Euthanasie“ durch die politisch verordnete Tötung „unwerten Lebens“ belastet ist, wählten die Vertreter einer aktiven Tötung das Wort „Sterbehilfe“, eine verharmlosende Bezeichnung einer brutalen Tat, die zudem mit finanziellen Vorteilen verbunden ist; denn die Tötung, auch die vorausgehende „Beratung“, kostet Geld, das der Betroffene normalerweise vorstrecken muss.

Mit der Diskussion um die straflose Abtreibung zu Beginn der 90er Jahre lebte auch die Diskussion um die Euthanasie neu auf. Dahinter stand folgende Logik: Wenn man am Beginn menschlichen Lebens straflos töten darf, warum dann nicht auch am Ende des Lebens?

Sobald die aktive Euthanasie (Sterbehilfe) legalisiert wird, kommt auch wieder – begrifflich versteckt – die Unterscheidung von „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben zur Anwendung. Man meidet zwar diese belasteten Worte, aber faktisch wird diese Unterscheidung vollzogen. Der australische Philosoph, Peter Singer, schrieb bereits Ende der 70er Jahre und öfter danach offen, worum es geht: „Das Leben eines neugeborenen Kindes ist weniger wert als das eines ausgewachsenen Hundes."[4] Aus dieser Sicht wäre es folgerichtig, ein Kind zu töten, auch noch durch Spätabtreibung, sobald eine Krankheit oder Behinderung zum Vorschein kommt. Hierbei heißt es beschönigend, man wolle dem Kind und den Eltern, letztlich auch der Gesellschaft, Leid ersparen.[5]

Die deutsche Bundesärztekammer hat die aktive Euthanasie (Sterbehilfe) eindeutig abgelehnt und wählte in ihrem Richtlinienentwurf 1997 den Ausdruck „Sterbebegleitung“ (im Gegensatz zur „Sterbehilfe“), um Missverständnissen vorzubeugen. Das entspricht der christlichen Vorstellung von Sterbebegleitung.[6] Schon zu Beginn der Euthanasiedebatte (1974) erklärte die Deutsche Bischofskonferenz: „Nicht Hilfe zum Sterben sondern Hilfe im Sterben sind wir dem Kranken schuldig. Euthanasie ist unmenschlich."[7] Statt zu töten, sei es notwendig „in das Sterben einzuwilligen“, es also nicht zu verdrängen, „es zu begleiten und zu erleichtern“.[8]

4. Die Hospizbewegung und die christliche „Sterbekunst“ (ars moriendi)

Man sprach früher von der christlichen „Sterbekunst“ – „ars moriendi“, die sich jedoch nicht auf die letzten Stunden des Lebens beschränkt, sondern auf das ganze Leben erstreckt. Dazu gehört vor allem das Gebet um eine gute Sterbestunde.

Aus der christlichen Überzeugung vom Wert und der Würde menschlichen Lebens und Sterbens ist – wie bereits erwähnt – vor einigen Jahrzehnten die Hospizbewegung entstanden. Pflegehäuser wurden errichtet, in denen Schwerkranken durch angemessene Zuwendung und Schmerzlinderung ein menschenwürdiges Sterben ermöglicht wird, umsorgt von Familienangehörigen, Freunden und fachkundigen Betreuern. So soll „ein Leben in Würde bis zuletzt“ gewährleistet werden.

Durch starke Schmerzmittel wird zwar ungewollt das Leben verkürzt (daher indirekte Euthanasie), nämlich durch die Schädigung innerer Organe, aber das gute Ziel der Schmerzlinderung erlaubt es, dies in Kauf zu nehmen. Um das Sterben nicht unnötig zu verlängern, dürfen zudem alle außergewöhnlichen Mittel abgelehnt werden, wenn keine Hoffnung auf Genesung besteht (passive Euthanasie). Für eine geliebte Person will man bekanntlich alles tun, um ihr Leben zu retten. Wenn jedoch die Anwendung der medizinischen Apparatur und anderer außergewöhnlicher Mittel keine Hoffnung mehr auf Genesung bietet, sondern nur noch den Sterbeprozess verlängert, dann darf der todkranke Christ sagen: „Gott ruft mich“. Für die Pfleger gilt die Verpflichtung, die „normalen Hilfen“ nicht zu unterlassen.[9]

Was als „normale Hilfe“ zu gelten hat, präzisierte die Bundesärztekammer (1977): „Zuwendung, Körperpflege, Schmerzlinderung, Freihalten der Atemwege, Flüssigkeitszufuhr und natürliche Ernährung."[10] Damals war von der künstlichen Ernährung noch nicht die Rede. Inzwischen hat der Bundesgerichtshof entschieden:[11] Die künstliche Ernährung darf nicht abgebrochen werden, „wenn das Grundleiden des (einwilligungsunfähigen) Betroffenen noch keinen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat“, das gilt auch dann, „wenn die Mutmaßungen über die möglichen Wünsche des (entscheidungsunfähigen) Patienten in dieser Lage zu dem Ergebnis kämen, dass er nicht mehr behandelt werden möchte.“ Also steht fest: Der Abbruch der künstlichen Ernährung darf nicht direkt zum Tod fuhren, sondern lediglich das Grundleiden.

In der Sterbestunde kommt der „Erlöser“ zur Geltung, dem man sich zeitlebens anvertraut hat. Der Ungläubige ist auf Selbsterlösung angewiesen. Die Befürworter aktiver Euthanasie sprechen verharmlosend und beschönigend von „Erlösungshilfe“ oder vom „Erlösungstod“. Dieselben Vertreter behaupten, dem Glaubenden blieben nur die sinnlose Quälerei und das Ausgeliefertsein an die medizinische Apparatur, im Namen einer Lebenserhaltung um jeden Preis. Das ist eine Verleumdung, denn das Christentum lehnt beides ab: sowohl die sinnlose Quälerei, eine falsche Leidensmystik, als auch die Lebenserhaltung um jeden Preis. Der Glaubende hofft auf den göttlichen Erlöser und nicht auf Selbsterlösung, welcher Art auch immer.

Falsche Leidensmystik ist abzulehnen, denn sie ist unvereinbar mit dem Verhalten Jesu am Ölberg, der in Todesangst betete: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ (Mt 26,39). Der Christ soll also das Leid nicht suchen. Das entschied sinngemäß die Glaubenskongregation in ihrer Erklärung über die Euthanasie.[12] Man darf Schmerzmittel einnehmen, sogar solche, die als Nebenwirkung das Leben verkürzen, indem sie gewisse Organe schädigen, z.B. die Leber oder die Nieren. Auch zu diesem Vorgang, als indirekte Euthanasie bezeichnet, hat sich die Glaubenskongregation positiv geäußert. Schließlich darf der Christ auch Angst vor dem Leid haben. Jedoch mit Jesus am Ölberg muss er hinzufügen: „Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt 26,39). Es ist nicht einfach, diese schwerwiegenden Worte glaubend und betend nachzusprechen.

5. Christlicher Sterbebeistand durch Gebet, Krankensalbung, Wegzehrung (viaticum)

Christus gab seinen Aposteln den Auftrag: „Heilt Kranke!“ (Mt 10,8). Es geht um Heilung durch das Gebet. Darüber hinaus wird von den Aposteln berichtet: „Sie trieben viele Dämonen aus und salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie“ (Mk 6,13). Im Brief des Apostels Jakobus lesen wir, man solle den Presbyter rufen, damit er über dem Kranken bete und ihn mit Öl salbe: „Das gläubige Gebet (des Presbyters) wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten; wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben“ (Jak 5,14f.).

Der „Katechismus der Katholischen Kirche"[13] empfiehlt die Sakramente der Buße, der Krankensalbung und der Eucharistie im Fall schwerer Krankheit (Nr. 1517). Sollte der schwer Kranke oder Sterbende zur Beichte nicht mehr fähig sein, so werden ihm durch die Krankensalbung die Sünden vergeben. Mit „viaticum“ –„Wegzehrung“ (Eucharistie) ist die Krankenkommunion gemeint. Sie ist nämlich die hilfreiche Speise, die dem Sterbenden für das letzte Wegstück des Lebens die notwendige Glaubenskraft schenkt.

Tote können kein Sakrament mehr empfangen. Im Zweifelsfall, der nach ärztlicher Todeserklärung nicht mehr gegeben ist, darf einige Zeit nach Atemstillstand die Krankensalbung noch mit dem Vorbehalt gespendet werden: „Si vivis“ – „wenn du noch lebst“, dann salbe ich dich.

Zu dem bereits Verstorbenen sollte ebenfalls der Priester gehen, um mit den Angehörigen zu beten und sie zu trösten. Der Trost aus dem Glauben besitzt nämlich eine andere Qualität als der psychotherapeutische Zuspruch.[14] Zum Abschied kann der Priester, wie auch die Angehörigen, dem Toten ein Kreuz auf die Stirn zeichnen, das Zeichen, in dem uns die Auferstehung verheißen ist. Hier sei nochmals daran erinnert, dass für den Christen der Tod nicht Ende sondern Übergang ist zum ewigen Leben. Der Apostel Paulus sagt es so: „Wenn Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos, und ihr seid immer noch in euren Sünden. … Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen. … Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden“ (1 Kor 15,17.20).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2006
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]1] Bonn 2003, Vorwort, 5.
]2] Hackethal, Atrott, neuerdings die schweizerische „Dignitas“, eine Vereinigung für aktive Tötung.
]3] Die Anfänge reichen ins 19. Jahrhundert zurück, vgl. Deutsche Bischofskonferenz: Die Hospizbewegung – Profil eines hilfreichen Weges in katholischem Verständnis. Bonn 1993.
]4] Zitiert nach: R. Spaemann: Es gibt kein gutes Töten, in: Spaemann/ Fuchs: Töten oder sterben lassen, Freiburg/Br. 1997, 12.
]5] Ausführlicher dazu: C. Breuer: Person von Anfang an? Paderborn 1995, 96-100.
]6] Vgl. Erklärung der Deutschen Bischöfe und der EKD „Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe“, 14.04.2003.
]7] Das Lebensrecht des Menschen und die Euthanasie. Bonn 1974, 11.
]8] Begleitschreiben der Deutschen Bischöfe zur „Woche für das Leben“, 2003, 13.
]9] Erklärung der Glaubenskongregation zur Euthanasie, 1980, Abschnitt IV, in: Herder Korrespondenz 34,1980, 454.
[10] Zit. nach: Lebensforum, Nr. 43, 1997, S. 11.
]11] F.A.Z. 13.5.2003, 35.
]12] 1980, Abschnitt IV ?, in: Herder Korrespondenz 34 (1980), 453.
]13] 1993, seit 2005 auch in Kurzfassung.
]14] M. Lutz: Der blockierte Riese. Augsburg 1999, 185.

Ein Licht aus der Ewigkeit

Das Zeugnis von Thomas Maria Rimmel, dem Direktor der Gebetsstätte Wigratzbad, zeigt den wunderbaren Wert der Krankensalbung für Sterbende auf. Er ist überzeugt, dass ihm ein übernatürliches Zeichen Gottes zuteil geworden ist – Ausdruck der Dankbarkeit einer Frau, die er auf ihrem letzten Weg begleiten durfte.

Von Thomas Maria Rimmel

Auf dieser Station braucht es Juwelen von Menschen, die sich um die Kranken kümmern“, sagte ich zur verantwortlichen Schwester auf der Palliativstation in einem Vorarlberger Krankenhaus. „Nein, hier sind wir von Juwelen umgeben“, korrigierte mich eine Pflegerin. Wie Recht sie doch hatte!

Eine Barmherzigkeits-CD

Gegen zehn Uhr abends rief mich der Mann einer schwerkranken Frau an und bat mich, am anderen Morgen zu kommen, um seiner Frau die Krankensalbung zu spenden. Dies sei ihr innigster Wunsch. Daraufhin reichte er ihr den Hörer weiter. Als ich ihre nur mehr schwache Stimme vernahm, machte ich mich umgehend auf den Weg.

Die beiden Mittvierziger waren mir als Wigratzbad-Pilger gut bekannt. Ihre Lebenswege sind nicht immer glatt verlaufen. Der Mann war von frühester Jugend an ein Suchender und gelangte zum Teil auf esoterischen Umwegen zum Glauben der Kirche. Die Frau hingegen war schon einmal verheiratet. Im Glauben fand sie erst nach dem Scheitern ihrer Ehe wirklich Halt. Auf einer Altenpflegeschule hatten sich die beiden kennengelernt. Jedoch war ihnen aufgrund ihrer irregulären Lebenssituation eine kirchliche Hochzeit verwehrt.

Wegweisend wurde für sie eine CD über die Botschaft der Göttlichen Barmherzigkeit, wie sie Jesus selbst der hl. Schwester Faustina Kowalska geoffenbart hatte. Nach und nach verstanden sie, dass es auch für ihre Liebe eine Perspektive gab, nämlich jene der so genannten Josefs-Ehe. Diesen Weg sind sie miteinander gegangen. Und Gott gab ihnen die Kraft dazu.

„Was an den Leiden Christi noch fehlt“

Als ich das Krankenzimmer betrat, lag die Frau sehr geschwächt auf dem Bett. Ihre ganze Erscheinung war bereits vom Tod gezeichnet. Reden konnte sie nur noch mit großer Mühe. Aber sie strahlte. „Sie machen es ja wie Papst Johannes Paul II.“, sagte ich: „Ich bin froh, seid ihr es auch!“ In der linken Hand hielt sie den Rosenkranz. Auf Höhe der Knie war über der Bettdecke ein postkartengroßes Bild Unserer lieben Frau von Fatima aufgestellt.

Voller Freude brachte das Paar seine Wertschätzung gegenüber der Gebetsstätte Wigratzbad zum Ausdruck. Der Spiritualität dieser Gnadenstätte hätten sie sehr viel zu verdanken. „Meine Frau versuchte das in die Praxis umzusetzen, was dort gepredigt wird“, wird der Mann später sagen.

In der Tat durfte ich in dieser Nacht die christliche Lehre vom Sinn des Leidens im äußersten Praxistest erleben. Wie oft hatten wir in Wigratzbad über das Pauluswort gesprochen: „Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1,24). Zwar habe der Herr durch sein Leiden am Kreuz alle Gnaden erlitten. Dem ist von menschlicher Seite auch nichts mehr hinzuzufügen. Doch hänge die Fruchtbarmachung dieser „bereitgestellten“ Gnaden vom freien Mittun der einzelnen Menschen ab. Weiter reiche der Aspekt der Sühne, dass diese Gnaden nämlich auch stellvertretend für andere fruchtbar gemacht werden können, speziell durch aufgeopfertes Leiden. In diesem Sinn brachte die Sterbende noch ihren Wunsch zum Ausdruck, ihre angenommenen Leiden mögen für viele Menschen fruchtbar werden. Gerne nahm sie meine Bitte auf, auch etwas für die Fruchtbarkeit der Gebetsstätte Wigratzbad in die himmlische Waagschale zu werfen. Bis zuletzt verzichtete Frau Schneider sogar auf Schmerzmittel.

„Das ist das ewige Licht!“

„Sollten wir für die Feier der Krankensalbung auf der Station nicht um eine Kerze bitten?“, schlug ich dem Mann vor. Bald danach kam er mit einem großen Windlicht zurück. Mein Kommentar angesichts des nahen Todes: „Das ist das ewige Licht!“

Zwei Mal nannte die Sterbende im Verlauf meines Besuchs eigenartigerweise eine Uhrzeit. Ich verstand nur fünf Uhr, konnte das alles aber nicht einordnen.

Als ich das Ölgefäß aus der Hülle nahm, fand ich nicht Krankenöl vor, sondern Chrisam. In der Eile hatte ich die Öle verwechselt. Aber vielleicht war es kein Zufall. Zum einen erlaubt der Ritus im Notfall jedwedes geweihte Öl. Zum anderen handelte es sich ja um Chrisam, das Salböl, das vom Bischof in Konzelebration mit den Priestern seiner Diözese in der „Missa chrismatis“ kurz vor Ostern zusammen mit dem Krankenöl geweiht wird. Die Salbung mit Chrisam bezeichnet die Gabe des Heiligen Geistes, der die Teilhabe am königlichen und prophetischen Priestertum schenkt. Erste Aufgabe des Priesters ist es, das Sühnopfer darzubringen. Die Sterbende wollte selber Sühnopfer sein. Welch glückliche Verwechslung!

Nachts gegen halb zwei Uhr ging ich zu Bett. In der Früh wurde ich plötzlich durch ein helles Licht geweckt. Doch im Zimmer brannte keine Lampe. Und für das Tageslicht war es zu grell. Diese Lichtfülle blendete mich für kurze Zeit dermaßen stark, dass ich mich abwenden musste und die Augen schloss. Ich versuchte wieder einzuschlafen. Etwas später klingelte das Handy. Das Display zeigte 6.08 Uhr und im Zimmer war es stockdunkel. „Meine Frau ist um 5.45 Uhr verstorben“, meldete sich der Mann.

„Es gibt keine größere Liebe“

Am Sonntagmorgen sprach mich eine Mitarbeiterin in Wigratzbad auf das Geschehen in jener Nacht an. Die Zimmernachbarin der Verstorbenen, eine frühere Arbeitskollegin von ihr, hatte sie angerufen und ihr alles erzählt. Sie habe im Krankenhaus alles mitbekommen und sei von diesem Sterben ganz ergriffen. Jetzt habe auch sie keine Angst mehr vor dem Tod.

Dass ich mich in jener Nacht sofort auf den Weg gemacht habe, erfüllt mich heute mit großer Dankbarkeit. Ich betrachte es als ein Geschenk, dass ich den priesterlichen Dienst und die Spendung der Sakramente als übernatürliche Wirklichkeit mit Ewigkeitswert erfahren durfte.

Ich danke der lieben Verstorbenen auch dafür, dass sie ihre Leiden für die pastorale Fruchtbarkeit der Gebetsstätte Wigratzbad aufgeopfert hat. Hier geht es um jenes Gnadenkapital, vom dem eine Gebets- und Gnadenstätte wie Wigratzbad lebt. Mysterium fidei!

Das Licht in meinem Zimmer war zumindest ein Hinweis auf das Licht des Evangeliums. Zu dieser Frohbotschaft gehört der tiefe Sinn des Leidens, wenn es im Geist der Sühne angenommen wird. So dürfen auch die Worte Jesu verstanden werden, dass es „keine größere Liebe gibt, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13). Genau das wollte die Verstorbene, ihr Leben und ihr Sterben für die Menschen hingeben, damit sie Jesus als Erlöser erkennen, annehmen und gerettet werden. Sie wusste nämlich: Es gibt keine Gnade, die nicht erlitten wird.

Gerade im Licht der Frobotschaft unseres Herrn Jesus Christus wird deutlich, was für ein Juwel von Mensch wir unter uns hatten. Das ewig Licht leuchte ihr!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Resolution zur Förderung der Familie

Die schweren wirtschaftlichen Probleme der Industrienationen resultieren unter anderem aus der psychischen Schwächung der Heranwachsenden. 20 Prozent der Hauptschulabsolventen sind nicht in Berufsausbildung und -ausübung zu vermitteln. Die eklatant unzureichende Leistungsfähigkeit und -bereitschaft vieler Jugendlicher schon im Grundschulalter geht einher mit einer abnehmenden Stabilität der Familie und mit der Zunahme der negativen Sozialfaktoren (z.B. Kriminalität, Suchterkrankungen, Geburtenschwund, Ehescheidungen).

Hier besteht ein Zusammenhang: Die „Frühgeburt Mensch“ (Adolf Portmann) ist besonders in den ersten Lebensjahren auf intensive „natürliche“ personale Betreuung angewiesen – wenn sie sich zu einer seelisch stabilen, intellektuell leistungsfähigen, gesunden Persönlichkeit entfalten soll. Die moderne Hirnforschung hat diese von der Kinder- und Jugendpsychologie seit über 30 Jahren vorgetragene Erkenntnis[1] eindrucksvoll untermauert.

Dem Familienschwund (Szondi: „Sucht ist der Ersatz für die veruntreute Mutter“) muss mit aller Kraft entgegengewirkt werden, wenn dem geistigen Niedergang und der wirtschaftlichen Katastrophe Einhalt geboten werden soll. Die gegenwärtigen Bemühungen um die „Vereinbarkeit“ von Familie und Beruf sind großenteils auf die Kollektivierung der Kinder fixiert und schaden der nachwachsenden Generation, wie eine Langzeitstudie in den USA bestätigt hat. Kinder gedeihen in Familien besser. Wir sollten es uns nicht länger leisten, entgegen dieser weltweit gewonnenen Einsicht die Kollektiverziehung durchzupauken. Die Familie ist durch Krippen und Kindertagesstätten nicht zu ersetzen.

Junge Menschen haben mehrheitlich Sehnsucht nach dem Aufbau einer Partnerschaft mit Kindern. Ebenso mehrheitlich möchten Mütter und Kleinkinder beieinander bleiben dürfen. Die Mehrheit junger Eltern möchte ihre Kinder selbst erziehen. Andererseits geraten junge Frauen als „Heimchen am Herd“ ins gesellschaftliche und ökonomische Abseits. Sie haben jedoch kein geringeres Recht als die Männer, gesellschaftlich anerkannt und finanziell unabhängig zu sein.

Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland brauchen also eine Konzeption, die die Familie anerkennt und funktional zur Geltung bringt, ohne dass dies die Frauen ohne Wahlfreiheit in eine Sackgasse führt.

Eine solche Konzeption soll im Folgenden zur Diskussion gestellt werden:

1) Die werdende Mutter kann, sobald ihre Schwangerschaft ärztlich festgestellt worden ist, in eine spezifische Berufsausbildung eintreten (nennen wir den neuen Beruf „Kommunikatorin“), die mit einem Zertifikat abschließt. Pädagoginnen mit Familienerfahrung führen die Ausbildung durch.

2) Nach der Geburt des Kindes erhält die Mutter den Anspruch auf ein Gehalt samt Rentenanspruch, die beide mit der Zahl der Kinder sowie mit der Tätigkeit als „Kommunikatorin“ aufgestockt werden.

3) Ihre Erziehungsarbeit wird von Fortbildung, etwa im 4-wöchigen Turnus, begleitet, an denen auch die Väter teilnehmen können.

4) Bei den Wahlen erhält die Mutter so viele Stimmen, wie sie unmündige Kinder hat.

5) Wird das jüngste Kind 14 Jahre alt, kann sich die Mutter zur Ausbildungsleiterin für junge Mütter und andere entsprechende soziale Tätigkeiten ausbilden lassen. Analog können sich Großmütter betätigen, z.B. als Adoptivgroßmutter in jungen kinderreichen Familien.

6) Zur Entlastung junger Mütter mit mehreren Kindern wird ein „Freiwilliges Familien-Jahr“ entsprechend dem Freiwilligen Ökologischen oder Sozialen Jahr eingeführt. Der Nachweis des Freiwilligen Familien-Jahres kann bei der Ausbildung zur Kommunikatorin angerechnet werden.

7) Jede Frau kann aus ihrer Berufstätigkeit der Kommunikatorin ausscheiden und eine andere Tätigkeit ihrer Wahl ausüben.

Diese Regelungen werden die Gesellschaft qualitativ vorwärts bringen, die Bevölkerungsimplosion aufhalten und unser Land aus der Existenzkrise herausholen:

• Mütter sind mit anderweitig Berufstätigen gleichberechtigt und finanziell unabhängig, auch im Hinblick auf den Tod bzw. die Untreue des Partners.

• Ungeplante Schwangerschaften brauchen nicht so oft zur Abtreibung führen: der Lebensunterhalt der Mutter ist gesichert, ohne dass sie ihr Kind aufgeben müsste. Ihre Erfahrungen werden gesellschaftlich genutzt und eröffnen ihr auch in der zweiten Lebenshälfte Perspektiven.

• Durch die begleitenden Fortbildungskurse geht die Zahl schwerer Fehlentwicklungen – und auch die Isolation der „Grünen Witwen“ – zurück.

• Die Arbeitslosigkeit wird reduziert. Kranken- u. Sozialhilfekosten gehen deutlich zurück: Kinder reifen im gesunden Umfeld zu seelisch stabilen Erwachsenen.

• Das schulische Leistungsniveau hebt sich, wenn junge Mütter sich, planvoll angeleitet, mit ihren Kindern im Vorschulalter beschäftigen und ihnen z.B. durch Vorlesen die Freude an Büchern und am schulischen Lernen vermitteln.

Die Kosten sind langfristig (erst recht kurzfristig) niedriger als die Kosten, die die flächendeckende Errichtung und der Betrieb von Krippen, Kinderhorten, -tagesstätten und Ganztagsschulen verursachen. Da das Familien-Modell psychisch intakte, handlungs- und demokratiefähige Menschen hervorzubringen verspricht, ist es, wenn man Zukunft des christlichen Abendlandes will, alternativlos und bedeutet vom Ergebnis her die Einsparung.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2006
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[1] Z.B. Christa Meves: Geheimnis Gehirn; Manipulierte Maßlosigkeit; Mut zum Erziehen.

Resolution: „Mutter als vollwertiger Beruf“

Weihbischof Dr. Andreas Laun greift nebenstehende Resolution auf, die bereits im Jahr 2002 vom „Verein Verantwortung für die Familie“ formuliert worden ist. Doch gewinnen die darin gemachten Vorschläge und Forderungen nach seiner Ansicht immer mehr an Aktualität. So ist die Resolution auch von Christa Meves selbst, die maßgeblich an deren Ausarbeitung mitgewirkt hat, von neuem vorgelegt worden. Nachfolgend ein begleitender Kommentar von Weihbischof Laun.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Unter der Leitung von Frau Christa Meves erschien die nebenstehende Resolution „zur Förderung der Familie“. Ausgangspunkt sind sowohl die vielfältigen psychischen Probleme der jungen Menschen (u.a. Leistungsschwäche) als Folge falscher Erziehungsprogramme (vor allem „Kollektivierung der Kinder“) als auch die Diskriminierung der Mütter (durch finanzielle Abhängigkeit und gesellschaftliche Ausgrenzung).

Als erlösende Antwort schlägt die Resolution vor, die Mutter als vollwertigen Beruf anzuerkennen, und erklärt anhand vieler konkreter Vorschläge, wie das Berufsbild Mutter in der heutigen Zeit gefördert werden sollte.

Freude an Kindern haben

Überraschenderweise nennt die Resolution die uns bedrohende demographische Katastrophe nicht ausdrücklich, aber in einem Schreiben an mich erklärt Frau Meves: „Der Vorschlag ,Mutter als Beruf‘ schlägt ja viele Fliegen mit einer Klappe: Senkung der Arbeitslosigkeit, Vorbereitung der jungen Mädchen zur Freude am Kinder haben, Aufwertung der Mütter und ihre finanzielle Unabhängigkeit, Sinnfindung für verhinderte Großmütter durch Adoptionsgroßmütter. Die ersten Faktoren sind außerordentlich verursachend für den Geburtenschwund. Ein Missstand besteht auch darin, dass man die Ausbildungen so unsäglich verlängert hat und dabei das Ticken der biologischen Uhr nicht bedenkt – vor allem bei den Akademikerinnen.“

Frau Meves hat Recht, Recht und wieder Recht: die Idee schlägt viele Fliegen mit einer Klappe! Denn: Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum heute wirklich alles und jedes bezahlt wird, die für uns alle so wichtige Aufgabe des Gebärens und Erziehens von Kindern hingegen nicht. Meine eigene Mutter hätte verwundert den Kopf geschüttelt angesichts einer solchen Forderung, sie hätte sie vielleicht sogar als ehrenrührig empfunden, weil sie ihre Kinder doch liebte und nicht „gegen Geld“ für uns Kinder hätte sorgen wollen Aber das wäre heute der ganz und gar falsche Zugang. Auch Ärzte und Priester sollten nicht „wegen des Geldes“ heilen oder gar die heiligen Geheimnisse feiern, aber auch sie bekommen und auch sie brauchen Geld. Es ist einfach so: Frauen brauchen Geld, wenn sie Kinder großziehen sollen; und sie brauchen es, um anerkannt zu werden. Im Gespräch hört man wieder und wieder: Frauen möchten Kinder, aber Frauen können sich nur ganz wenige oder keine Kinder leisten.

Falsche Verteilung des Geldes

Eigentlich muss man sagen: Gott sei Dank, unsere Frauen sind gesünder in ihrer Haltung, als öffentlich behauptet wird! Wenn der Hauptgrund des Kinder-Mangels am Geld liegt, kann man leichter helfen als gedacht: durch Geld eben, und reich sind wir ja immer noch. Wieso? Überall, hört man doch von der Notwendigkeit zu sparen und von Entlassungen? Richtig, aber das Problem liegt ja nicht am Mangel an Geld, sondern an der falschen Verteilung des Geldes. „Wir“ sind reicher denn je, arm sind aber die Frauen, die Mütter werden (wollen).  Der Vorschlag von Frau Meves und bereits vielen anderen – ich erinnere an die Ideen „der Liminskis“ und das Buch von Stephan Baier: „Kinderlos“ – würde Arbeitsplätze schaffen, Einkommen und Konsum. Und vor allem: Die Kinder der neuen Generation wären gesünder, stabiler, beziehungsfähiger, leistungsfähiger. Ein Europa mit vielen Kindern wäre noch nicht das Paradies, aber es würde wieder menschlicher werden, endlich befreit von all den ideologischen Krankheiten, an denen es seit Jahren leidet. „Ideologische Krankheiten“ – das sind die Folgen jener krausen Ideen, die „man“ an lebenden Menschen ausprobiert hat und für die ihre Erfinder bis heute keine Verantwortung übernehmen wollen.

Macht den Frauen zum Wohl Europas

Eine Bezahlung der Mütter wäre, in der Sprache der „Linken“, ein wirkliches „empowerment of women“, das heißt: ein „Den Frauen Macht geben“! Denn wer Geld hat, hat auch Macht, und diese Macht wäre wirklich zum Wohl Europas. Auf der gleichen Linie liegt das Familien- oder Mütterwahlrecht: Wer Kinder hat, soll mehr Einfluss auf die Politik nehmen. Er trägt mehr Verantwortung, er soll auch mehr zu sagen haben. Man gebe den Müttern oder Eltern mehr Stimmrecht, und man wird erleben, wie schnell die Politiker den „Mut“ haben werden, eine Familienpolitik zu machen, die diesen Namen auch verdient.

Ich bin fest überzeugt: Wir sollten endlich das Nächstliegende tun und die Mütter als Beruf anerkennen. Frauen sind die einzigen, die Mütter werden und Kinder auf die Welt bringen können. Frauen sind zudem die bestgeeigneten Personen, um Mütter zu sein. Nur Frauen können die große Not unseres geliebten Europas abwenden – sie oder niemand!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2006
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Gewalt an Schulen – die Saat geht auf

Der Ruf von Lehrern nach Polizeischutz hat heftige Diskussionen ausgelöst. Die Politik reagiert und sucht sogar ein „Bündnis für Erziehung“ mit den christlichen Kirchen. Gabriele Kuby, bekannt für ihre markante und bekennende Sprache, zeigt in einem Kommentar sehr treffend auf, worauf es nun ankäme.

Von Gabriele Kuby

Bekämpft die bürgerliche Kleinfamilie!“ – „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ – „Wer zweimal mit dem gleichen pennt, gehört schon zum Establishment!“ – „Raus aus der Sklaverei der Mutterschaft!“ – „Nieder mit dem Patriarchat!“ – „Lust statt Leistung!“

Kennen Sie die Sprüche?

Wenn Sie 40 Jahre und älter sind, dann haben sie sie vielleicht noch im Originalton gehört. Es waren die Parolen der 68er Generation, inspiriert von der Frankfurter Schule, mit denen sie das Wertefundament dieser Gesellschaft durchlöchert hat. Ein Teil der außerparlamentarischen Opposition (APO) wandelte sich zur RAF und scheiterte kläglich mit Gewalt und Terror. Die Klügeren mauserten sich lautlos von Rot nach Grün und traten den „Marsch durch die Institutionen“ an. Mit enormer strategischer Effizienz besetzten sie Machtpositionen in Staat, Medien und Rechtsprechung.

Auf diesem Weg wurden die Ziele, die in den zitierten Parolen zum Ausdruck kommen, zum „Zeitgeist“ und revolutionierten die gesellschaftliche Realität. Die jüdisch-christliche Tradition, die in mehreren tausend Jahren gewachsen war, wurde in knapp 40 Jahren erledigt. Mächtige, reiche Kirchen gab es im Land, denen 60 Prozent der Bevölkerung angehörten – einen Kulturkampf gab es nicht.

Familie kaputt und umdefiniert (unser Präsident spricht von „gleichgeschlechtlichen Familien“), Pornographie in Kinderhänden, weitergereicht von Erwachsenen, Flucht aus „der Sklaverei der Mutterschaft“ (Simone de Beauvoir) durch Verhütung und Abtreibung, Entwertung der Mütter, die für ihre Kinder da sei wollen („Warum arbeitest du nicht!? Ab in die Kinderkrippe mit dem Kleinen), Männer, die unter dem Druck der weiblichen Alleskönner zu schuldbewussten und verantwortungsscheuen Softies wurden. Das alles eingepackt in die Ideologie der Spaßgesellschaft, die einer ganzen Generation den Genuss als Lebensinhalt verkaufte, und damit das große Geschäft machte.

Nun merkt jeder: Es ist „Schluss mit lustig“

Wir stehen mitten in einem Scherbenhaufen und immer mehr Menschen verletzen sich an diesen Scherben und schlagen um sich. Gewalt ist zum Alltag nicht nur in einer Berliner Schule mit hohem Ausländeranteil geworden. Der Berliner Schulkonflikt ist ein Symptom der Krankheit der gesamten Gesellschaft. Die Vorschläge, die von den Politikern diskutiert werden, werden nicht einmal die Symptome beseitigen können, geschweige denn die Krankheit. Handyverbot in der Schule, gut und schön, aber was ist zwischen 13 Uhr und 8 Uhr früh auf Handybildschirmen zu sehen, im Fernsehen, im Internet, im Kino? Je geringer der soziale Status, umso höher der Medienkonsum, 3,5 Stunden pro Schultag bei zehnjährigen türkischen Jungen, am liebsten verbotene Filme.

Was kann, was könnte die Krankheit heilen?

Die Überwindung der Krise der Vaterschaft auf der Ebene der Familie, des Staates und der Religion. Auch „Vater Staat“ ist dem antiautoritären Denken verfallen. Wenn „freiwillige Selbstkontrolle“ nicht funktioniert, muss der Staat Grenzen setzen.

• Wir brauchen ein Verbot von Pornographie und Gewaltdarstellungen. Das mediale Gift, das täglich in die Herzen gegossen wird, tut seine Wirkung – auch und zuerst in den Herzen und Handlungen der Erwachsenen. Solange wir den Hahn nicht zudrehen, sind alle Versuche, die Nachahmung zu verhindern, zum Scheitern verurteilt. Sollte sich denn eine Demokratie nicht reinigen können?

• Wir brauchen ein Verbot der Abtreibung und jede denkbare Hilfe für werdende Mütter. Solange ungeborene Kinder massenhaft getötet werden, können Familien nicht stark werden und den Aussterbekurs überwinden.

• Wir brauchen statt Diskriminierung eine Begünstigung der Familien durch Steuer- und Sozialrecht.

• Wir brauchen statt Sexualkunde, die die Jugend in die Frühsexualität treibt, Familienerziehung, die auf die Sehnsucht der Jugend nach Liebe und Treue antwortet.

• Wir brauchen die Erkenntnis, dass es kein größeres Werk gibt, als Menschen das Leben zu schenken und sie zur Liebe zu erziehen, das heißt Achtung und Ehre für Vater und Mutter.

• Wir brauchen Ehevorbereitung und -begleitung, die Mann und Frau lehrt, auf der Grundlage ihrer Ebenbürtigkeit zu lieben.

• Wir brauchen neue Parolen. Sie könnten heißen: Starke Familien machen stark. – Väter setzen Grenzen. – Reinheit macht schön. – Mütter lehren lieben. – Einer ordne sich dem anderen unter. – Lust auf Leistung.

Das klinge utopisch? Ja, das tut es. Aber die Not, die vor uns liegt, wird uns bereit machen, alte Geleise zu verlassen. Schon jetzt wird sichtbar: Der Staat braucht Christen, um die Kultur des Lebens aufzubauen. Es gibt sie. Christen, und damit meine ich Menschen, die in einer lebendigen Beziehung zu Jesus stehen, tun das bereits in ihrem persönlichen Leben. Sie bauen nicht auf ihre eigene Kraft, sondern auf den auferstandenen Gott, bei dem nichts unmöglich ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2006
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Dienst der Stellvertretung

Professor Dr. Gisbert Greshake hat bei der Festfeier des 50jährigen Bestehens der Gebetswache auf Maria Lindenberg am 17.9.2005 einen grundlegenden Vortrag über den christlichen Dienst der Stellvertretung gehalten. Er macht deutlich, dass die Stellvertretung keine Randangelegenheit unseres Glaubens darstellt, sondern das Zentrum unserer christlichen Existenz und den Ausgangspunkt des Selbstverständnisses der Kirche bildet. In dieser Sichtweise stellt er auch den tiefen Sinn der eucharistischen Anbetung heraus. Den höchst aktuellen Beitrag, der trotz seiner theologischen Fundierung gut verständlich ist, haben wir der Jubiläumsfestschrift entnommen und für Kirche heute leicht bearbeitet.

Von Gisbert Greshake

Wir können vor Gott füreinander eintreten

Stellvertretung ist einer der ganz zentralen Schlüsselbegriffe unseres Glaubens. Zunächst einmal: Der Gedanke der Stellvertretung, also die Überzeugung, dass einer für den andern vor Gott eintreten kann und Gott dieses Eintreten füreinander auch gelten lässt, akzeptiert und berücksichtigt – diese Überlegung ist tief schon in die alttestamentliche Heilsgeschichte eingeschrieben. Es gehört nämlich mit zur Idee des Bundes zwischen Gott und seinem Volk, dass darin der Einzelne von Gott an eine bestimmte Stelle gerufen ist, an der er durch sein rechtes Handeln zum Segen oder durch böses Tun zum Unheil wird, und zwar eben nicht nur für sich selbst, sondern für alle, die auf seine Solidarität angewiesen sind.[1] Das heißt: Gott macht das Heil, das er schenken will, mit abhängig von uns Menschen, und zwar so, dass jeder auf seine Weise Verantwortung für andere, ja, für das Ganze des Volkes Gottes trägt. Dies gilt besonders für die Menschen, die einen besonderen Auftrag zugewiesen bekommen haben, etwa für die Propheten. Sie müssen, wenn das Volk von Jahwe abgefallen ist, bereit sein, „ihr eigenes Leben in die Bresche zwischen Gott und Israel zu werfen“,[2] damit durch sie diese Kluft geschlossen wird und wieder neu Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk entstehen kann. Deshalb werden sie zu Für-Bittern, ja – H.U. v. Balthasar formuliert – auch zu „Für-Leidern“ für ihr Volk. Oder nehmen wir Mose. Er muss sein eigenes Leben in die Waagschale werfen, um Gott zu besänftigen, als Israel von Jahwe abgefallen ist und stattdessen ein Goldenes Kalb anbetet. Und Mose weiß, dass dieser Einsatz seines Lebens für das Volk zu seinem Auftrag, zu seiner speziellen Sendung gehört. Er reißt sich darum um diesen seinen Auftrag nicht, im Gegenteil: er hadert deswegen sogar mit Gott: „Warum hast du mir – so schreit er protestierend zu Gott – die Last dieses ganzen Volkes auferlegt?“ (Num 11,11). Aber er nimmt diese Last der anderen auf sich und steht stellvertretend für das abgefallene Volk vor Gott, er fängt gewissermaßen den Zorn Gottes auf sich und erleidet stellvertretend den Tod außerhalb des verheißenen Landes. Von hier aus gehen die Linien weiter zum prophetischen Wort des sog. Deuterojesaja vom leidenden Gottesknecht, der „die Sünden der vielen getragen hat und fürbittend eingetreten ist für die Empörer“ (Jes 53,12). Im Bild des Gottesknechts versteht Israel sich selbst als ganzes dazu berufen, stellvertretend für die Heidenvölker einzutreten, um sie in den eigenen Gottesbund hineinzunehmen.

Das ist der Hintergrund, auf dem auch Jesus Christus sein Leben, Sterben und Auferstehen ganz wesentlich als Stellvertretung für uns vor seinem Vater versteht.

Doch bevor wir darauf weiter eingehen, müssen wir einer Frage nähertreten, die sich bei solchen Ausführungen nicht selten stellt. Es ist die Frage: Wie ist das denn überhaupt möglich, dass Menschen sich gegenseitig vor Gott vertreten können? Ist meine Beziehung zu Gott nicht das Persönlichste und Intimste, was es gibt? Wie kann es da sein, dass ich in meiner unverwechselbaren Einzigartigkeit und ganz persönlichen Freiheit vor Gott von anderen vertreten werden kann, bzw. umgekehrt, dass ich andere mit vor Gott bringen kann?

Der Einzelne – eingebunden in ein „Netzwerk“

Nun, wir können nur ganz ansatzweise auf diese wichtige Frage eingehen. Die Antwort darauf lautet kurz und bündig: Es ist ein Grundirrtum der Neuzeit zu meinen, das eigene Ich sei das Höchste und Größte und der letzte Bezugspunkt von allem anderen. Wo das oberste Prinzip lautet: Ich bin ich; und alles andere ist auf mich hin, und wo die höchste sprichwörtliche Devise heißt: Selbst ist der Mann (oder die Frau)!, da ist von vornherein die Idee der Stellvertretung vor Gott ein Unsinn, da gibt es keine Stellvertretung. Aber das Höchste ist eben nicht das eigene, isolierte, für sich existierende Ich, sondern das WIR, in dem ich dann auch mein eigenes Ich finde und zur Entfaltung bringen kann. Denn mein Ich ist vom Sein und Handeln anderer ganz wesentlich mitbestimmt, es wird immer neu durch andere mitgeprägt, mitgeformt. Man denke nur an das Phänomen der Erziehung oder der Medien und der Ideologien, die ganze Gesellschaften beeinflussen. Der Psychoanalytiker J. Willi schreibt einmal: „Gäbe es einen unvoreingenommenen Beobachter, der in die Seelen der Menschen hineingucken könnte, so wäre er wohl weniger vom Einmaligen und Einzigartigen eines Individuums beeindruckt als vielmehr davon, wie wenig Denken und Fühlen, Bewusstes und Unbewusstes gebunden an Einzelpersonen ist, sondern sich netzartig ausbreitet über Menschen, die miteinander in Kommunikation stehen. Er käme wohl eher zur Vorstellung, dass Menschen an sie übergreifenden Prozessen teilhaben, dass sie ... Faser in einem geistig-seelischen Gewebe ... Resonanzkörper für das (sind), was in der Atmosphäre liegt und zum Ausdruck drängt."[3]

Auch von diesem Blick auf empirische Beobachtungen her wird deutlich: Wir sind gar nicht ausschließlich ich-bestimmt; wir sind ganz wesentlich von anderen her bestimmt. Was einer tut, bestimmt den andern mit; was ich tue, ist nicht ohne Folgen für meine Umgebung. Das freie Tun des einen wird zum Schicksal der anderen, das freie Handeln der vielen zum Schicksal des je einzelnen. Es ist eben ein Irrtum zu meinen, Gemeinschaft und Gesellschaft sei ein Haufen von vielen einzelnen Ichs, die sich zwecks Durchsetzung bestimmter Interessen zusammentun und etwas zusammen unternehmen, ansonsten aber jeweils ihr eigenes privates Leben führen. Nein, ich, mein Ich ist ganz und gar mitbestimmt, mitgeprägt, mitgetragen von anderen. Für diesen Sachverhalt übernimmt Paulus ein Bild der stoischen Philosophie, welche den einzelnen Menschen mit den vielen Gliedern an einem Leib vergleicht, die so untereinander verbunden und voneinander abhängig sind, dass die Folgerung gilt: Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm“ (1 Kor 12,26). So sind wir von Gott geschaffen und gewollt. Wir Menschen sind also keine Isolierten, allein stehenden Inseln, sondern zutiefst miteinander verbunden im Guten und im Bösen. Das ist keine exklusive Überzeugung des Glaubens, diese Einsicht findet sich schon in der heidnischen vorchristlichen Philosophie, so etwa auch beim großen Aristoteles. Er schreibt einmal: „Was wir durch Freunde tun, ist in gewisser Weise unser eigenes Tun."[4] Wieso? Nun, weil wir mit einem Freund so vernetzt sind, so eins sind, dass das Tun des Freundes wie mein eigenes ist und als mein eigenes gelten kann. Der andere, mit dem ich auf Gedeih und Verderb verbunden bin, steht auch für mich, in ihm bin ich gewissermaßen gegenwärtig, anwesend.

Das, was wir im Glauben unter Stellvertretung vor Gott verstehen, setzt genau dieses Menschenbild voraus: Gott hat mich nicht als isoliert einzelnen, als sich selbst genügenden autonomen Menschen, als einsame Insel erschaffen, sondern so, dass wir miteinander aufs engste verknüpft sind und aus dieser engen Verbindung heraus füreinander eintreten können. Und eben weil Gott uns so gewollt und gemacht hat, nimmt er auch das Tun und Lassen des einzelnen für einen anderen oder für viele andere an und lässt es gelten. Das stellvertretende Tun füreinander hat vor Gott das gleiche Gewicht wie das, was jemand selbst wirkt und für sich selbst tut oder erleidet.

Der Stellvertreter – kein Ersatzmann, sondern „Vorangehender“

Stellvertretung ist nun aber keineswegs etwas Mechanisches, so im Sinne von: Ich tue etwas, und schon hat das Bedeutung für den anderen. Wir müssen hier genau unterscheiden zwischen Stellvertreter sein und Ersatzmann (oder Ersatzfrau) sein. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: In einem Metall verarbeitenden Betrieb fehlt morgens wegen Krankheit ein Arbeiter, den man aber zur Montage dringend benötigt. Was muss geschehen? Jemand anderer muss her! Ist das nun ein Stellvertreter? Nein, das ist ein Ersatzmann, jemand, der jetzt die Arbeit tut, ganz gleich, wer das ist, Hauptsache, der Job wird getan, das Band läuft, die Montage kann weitergehen. Bei einem solchen Ersatzmann ist es völlig gleichgültig, für wen er einspringt oder weshalb er einspringen muss. Es geht nur um die sachhafte Leistung, die er bringen muss. Der Job muss getan werden.

Beim Stellvertreter ist das anders. Ein Stellvertreter vertritt ganz persönlich einen anderen oder viele andere. Er will für sie eintreten, er möchte, dass sie in seinem Tun gegenwärtig sind und durch sein Tun etwas Positives, Gutes, Förderliches erhalten. Dem Stellvertreter geht es um die Person, um diesen anderen oder um diese andere. Und noch etwas: Der Stellvertreter betrachtet sein Tun buchstäblich als vorläufig, vor-laufend. Er hat keinen größeren Wunsch als den, dass der andere, für den er eintritt, selbst einmal seine ihm zugedachte Stelle übernehmen kann. Der Stell-Vertreter geht also voran in der Hoffnung, dass die anderen an die Stelle nachkommen, an der er schon ist. So also ist der Stellvertreter kein Ersatzmann, sondern der Vorangehende, der Vorlaufende, der für den oder die anderen einsteht und eintritt, bis diese selbst ihren Platz einnehmen und ihren Auftrag erfüllen können.

Das stellvertretende „Für euch“ als die Mitte der Eucharistie

Kehren wir nach diesen Zwischenüberlegungen zurück zur Hl. Schrift. Nachdem schon im Alten Testament – wie wir sahen – der Stellvertretungsgedanke ganz zentral ist, wird dieser im Neuen Testament von Jesus Christus selbst zur letzten Erfüllung und Vollendung gebracht. Hier könnten wir uns jetzt an viele Aussagen Jesu erinnern, aber ich möchte, um mich kurz zu fassen, nur auf das Abendmahlsgeschehen mit der Einsetzung der Eucharistie hinweisen. Hier am Ende seines Lebens proklamiert Jesus vor seinen Jüngern und damit vor der Welt, was sein ganzes Leben und Wirken war und als was es jetzt bis zum Tod durchgehalten wird: Leib für euch hingegeben – Blut für euch vergossen. Jesus versteht mit diesen Worten seine ganze Existenz unter dem Vorzeichen des „Für euch“ und damit als Stellvertretung. Für uns, an unserer Stelle, an Stelle einer Menschheit, die zu Gott Nein sagt, sagt ER ja, schenkt er sich dem Vater und macht dadurch uns den Weg frei, ihn nachzugehen. Für uns, an unserer Statt nimmt er die Sünde auf sich, um endlich einmal den Kreislauf des Bösen zu unterbrechen und dadurch zu entmachten. Für uns durchbricht er die Grenze des Todes, auf dass wir ihm in das neue Leben Gottes folgen können. Dieses stellvertretende „Für euch“, das Jesus im Abendmahlssaal als Summe und Zusammenfassung seines Lebens aufzeigt, dieses stellvertretende „für euch“ macht die Mitte der Eucharistie aus. In ihrem Zentrum stehen die Worte „Leib für euch hingegeben – Blut für euch vergossen“, Worte, die das Geschehen von damals je neu Gegenwart werden lassen. Das Damals, das „In jener Zeit“, wird deshalb zum „Heute“ und „Jetzt“, damit wir uns in diese Lebensform Jesu, in die Haltung des „Für“ hineinnehmen lassen, damit auch wir Stellvertreter für andere werden in und durch unseren Stellvertreter Jesus Christus. Eucharistie feiern bedeutet ganz wesentlich, sie nicht für sich privat, in eigenem Interesse, zwecks Pflege persönlicher Frömmigkeit zu begehen, sondern sich durch Christus hineinziehen lassen in das Für, in den Prozess der Stellvertretung für andere, in der Gewissheit, dass so wie der Vater das stellvertretende Tun Jesu für uns hat gelten lassen, er auch unser stellvertretendes Handeln für die Brüder und Schwestern gutheißt, annimmt und wirksam werden lässt. Nochmals: Wir feiern Eucharistie nicht privat, sondern für die anderen, wir ziehen alle in unser Stehen vor Gott mit hinein.

Das aber, was in der jeweiligen eucharistischen Feier im zeitlich begrenzten Vollzug einer halben bis ganzen Stunde geschieht, das findet gleichsam seine Verlängerung, seine zeitliche Ausweitung in der eucharistischen Anbetung. Hier sind wir eingeladen, in der Meditation, im stillen Verweilen, im kontemplativen und im fürbittenden Gebet das einzuholen, was in der Messe jeweils im schnellen Ablauf geschieht. Es geht darum, sich hineinziehen zu lassen in die Stellvertretung Jesu, in sein Für, in sein fürbittendes Gebet, aber mehr noch in sein für-handelndes und für-leidendes Tun, in festem Glauben und fester Zuversicht, dass wir dadurch die anderen mit vor Gott nehmen können und Gott dieses für sie akzeptiert.

Minderheit in einer ganz anders denkenden Welt

Wir leben in unseren Ländern hier in einer Gesellschaft, in der das kirchliche Leben immer mehr abnimmt. Und ich persönlich bin der Auffassung, dass wir längst noch nicht die Talsohle dieser Entwicklung erreicht haben. Wir Christen werden zur Minderheit in einer ganz anders denkenden und sich anders verhaltenden Welt. Wie gehen wir damit um? Nicht selten leiden die weniger werdenden Glaubenden an dieser Situation. Sie fragen – völlig zu Recht! –, wo denn da unser universaler Auftrag bleibt, die ganze Welt für Christus zu gewinnen, und wie es um das Wort Jesu steht: Macht alle zu Jüngern! Muss uns diese allumfassende Sendung, die uns da aufgetragen ist, nicht aufregen, nicht unruhig machen, provozieren? Jedenfalls daran hindern, uns als Minderheit in ein kuscheliges, selbstzufriedenes Getto zurückzuziehen? Besonders Eltern und Verwandte haben oft schwer daran zu tragen, wenn ihre Kinder und sonstigen engsten Angehörigen nicht mehr den Weg zum Glauben und zur Kirche finden. Wie gehen wir damit um? Resignierend, protestierend oder wie? Wie gehen wir mit unserer wachsenden Minderheitsposition um? Das wird – glaube ich – eine Frage auf Leben und Tod für die Zukunft der Kirche in unseren Ländern hier sein. Und diese Frage lösen wir nicht, indem wir ein paar Strukturreformen für die äußere Organisation des kirchlichen Lebens durchführen. Diese Frage lässt sich nur lösen, wenn wir uns am geistlichen Kirchenverständnis der Frühen Christenheit orientieren.

Für das Neue Testament ist Kirche das von Christus geführte, durch die Wüste dieser Welt wandernde Gottesvolk auf dem Weg zu seiner himmlischen Heimat. Noch hat die Kirche (wie der Hebräerbrief sagt) hier „keine bleibende Stätte“, noch sollen ihre Zelte auf Abbruch hin gebaut sein, bereit zu ständigem Neuaufbruch. Ihr Ort ist nicht das Etabliertsein in der festen Stadt. Denn so begründet es der Hebräerbrief: Wie ihr Meister „außerhalb der Tore gelitten hat“, so ist auch die Kirche herausgerufen, „zu ihm hinaus vor das Lager zu gehen“ (Hebr 13,13). Nicht ununterscheidbar gemischt und darum kaum erkennbar unter den anderen dürfen die Christen ihre Bleibe nehmen, sondern – so der 1. Petrusbrief – neben den anderen, im Anderssein und Andersleben, in der Zerstreuung (1,1), Pilger und Fremdlinge, das sind – wie der 1. Petrusbrief sagt (1 Petr 2,11) – die Christen in einer ganz anders orientierten Welt. Es wäre ja einmal einer kritischen Selbstbefragung wert, ob sich dieses neutestamentliche Kirchenbild an unserer Kirche hier und heute ablesen lässt. Wenigstens ein bisschen? Jedenfalls hat das Neue Testament gar keine Furcht davor, dass die Christen eine Minderheit sind und zwar eine Minderheit, die anders ist und anders lebt als die „Welt“, die sich Gott und seinem Christus widersetzt.

Minderheit in universaler Sendung

Aber diese Minderheitskirche des Anfangs war zutiefst davon überzeugt, dass sie einen universalen Auftrag und eine universale Sendung hat. Wir haben eine Reihe von Schriften aus dem 2.-3. Jahrhundert, worin Christen an den Kaiser von Rom schreiben, etwa: Kaiser, Du sollst wissen, wenn wir Christen nicht regelmäßig für Dich und den Bestand Deines Reiches beten würden, wäre schon längst die Katastrophe eingebrochen. Unser Gebet hält das Römische Imperium noch zusammen!

Eine unglaubliche Überzeugung: Wir Christen, wir, diese kleine Minderheit, stehen stellvertretend für alle vor Gott und wirken mit am Heil der Welt. Wir sind für alle da.

Gerade angesichts unserer heutigen Situation müssen wir uns ganz neu und intensiv auf dieses Zentrum unseres Glaubens, auf das Zentrum auch der Eucharistie besinnen, auf das „Für euch“, das Jesus gesprochen und verwirklicht hat, und vor ihm und nach ihm all die Glaubenden einer vieltausendjährigen Geschichte. Wir dürfen keine Minderheit in dem Sinn werden, dass wir unsere universale Sendung vergessen, verstecken und verdrängen. Nein, wir haben eine universale Sendung, und die wird sich nicht zuletzt darin verwirklichen, dass wir als Christen Stellvertreter für alle anderen sind, für die ganze Welt. Und Stellvertreter ist man immer in einer irgendwie gearteten Minderheitenposition: Einer für alle, die wenigen für die vielen. Wir Christen haben, auch wenn wir zur Minderheit werden, durch unsere Lebensart und unser Gebet alle anderen vor Gott mitzunehmen, vor Gott hinzustellen, vor Gott mitzutragen.

Dazu ein anschauliches Bild: Ab 1927 lebte mitten unter den allerärmsten Berbern in Marokko der französische Priester Albert Peyriguere: er teilte das elende Leben dieser Menschen und setzte sich bei ihnen mit äußerstem Engagement für die Kranken, Leidenden und ungerecht Behandelten ein. In seiner umfangreichen Korrespondenz findet sich ein Brief an eine Ordensschwester. Darin heißt es sinngemäß: Ich feiere jeden Morgen die hl. Messe in meiner kleinen Kirche. Diese ist jeden Tag brechend voll. Es sind zwar nur zwei alte Weiblein da, aber die bringen alle anderen mit! Eine wunderbare Formulierung: Meine Kirche ist immer brechend voll, weil die, die da sind, alle anderen mitbringen. Müssten wir das nicht alle sagen können, die Priester und die Laien. Unsere Kirche ist immer brechend voll, alle sind da, weil sie von uns, den vielleicht wenigen Anwesenden, mitgebracht und vor Gott gestellt werden!

Der tiefe Sinn eucharistischer Gebetswache

Das könnte auch als Leitwort über dem Dienst der ewigen Anbetung stehen, der Gebetswache einzelner vor dem eucharistischen Herrn: Die Kirche hier und alle Kirchen sind immer brechend voll. Denn wir bringen alle anderen mit. Wir tun stellvertretenden Dienst für alle. Wir legen alle anderen mit ihren Sorgen und Anliegen in die guten Hände Gottes. Wir legen alle hinein in der Zuversicht, dass, wenn wir unseren Dienst als Stellvertreter wahrnehmen, Gott auch Wege und Mittel weiß, alle, die wir jetzt noch vor-läufig vertreten, schließlich und endlich auch persönlich zu sich zu führen. Wir halten uns an Jesus Christus fest und halten zugleich die anderen fest, wir lassen sie nicht los, und so bringen wir sie mit uns zusammen vor Gott und zu Gott.

Auch dazu ein anschauliches Bild: Um die Wende zum 20. Jahrhundert lebte in Frankreich der Dichter Charles Peguy, in dessen Werk der Stellvertretungsgedanke eine ganz entscheidende Rolle spielt. In einem seiner stärksten poetischen Bilder beschreibt er anschaulich, wie Gott der Vater auf seinem himmlischen Thron sitzt, um am Himmelfahrtstag Jesus, seinen Sohn, der zu ihm heimkehrt, zu empfangen. Der Vater breitet sozusagen seine Arme aus, um den Sohn in Empfang zu nehmen. Und da sieht er plötzlich, wie sich hinter dem breiten Rücken Jesu die ganze Menschheit duckt. Alle halten sich an Jesus und aneinander fest. Alle! Und dann lässt Peguy Gott Vater sprechen: „Ich muss sie alle nehmen; ich kann sie nicht auseinanderbrechen!“ Ein wunderschönes Wort und Bild, Jesus Christus, unser Stellvertreter, nimmt uns alle mit zum Vater, wenn wir uns an ihm und aneinander festhalten. Die einen stellvertretend die anderen. Wir lassen sie nicht los. Durch unser Leben im Glauben und durch unser stellvertretendes Gebet bringen wir sie mit, nehmen wir sie mit, so dass Gott auch uns zusprechen kann: „Ich nehme sie alle, ich kann sie nicht auseinanderbrechen! Ja, ich will sie auch gar nicht auseinanderbrechen, weil ich die Menschheit gerade so geschaffen und erlöst habe, dass einer für den anderen stehen kann, steht und stehen soll!“

Wer weiß: Vielleicht ist diese unsere Welt nur deshalb nicht schon längst ins Chaos gesunken, weil da stellvertretende Beter sind, um derentwillen Gott der Welt immer wieder eine neue Zukunft schenkt. So wie es in diesem aufregenden Dialog zwischen Abraham und Gott heißt, wo Gott spricht: „Wenn es in Sodom auch nur 10 Gerechte gibt, werde ich ihretwegen Vergebung auch für alle anderen walten lassen“ (vgl. Gen 18,26). Was bei der eucharistischen Anbetung geschieht, lässt sich durchaus mit dieser biblischen Szene vergleichen: Menschen, so etwas wie 10 Gerechte, oder sagen wir besser: so etwas wie zehn, die ihren Auftrag zur Stellvertretung wahrnehmen, springen in der Nachfolge des Stellvertreters Christus in stellvertretendem Gebet füreinander in die Bresche, für viele, für alle. Und so dürfen sie mitwirken am Heil der ganzen Welt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Die Ausführungen an dieser Stelle folgen z.T. bis in den Wortlaut hinein Karl-Heinz Menke: Das Gottespostulat unbedingter Solidarität und seine Erfüllung durch Christus, in: IkaZ 21 (1992), 489.
[2] Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments, Bd. I, München 4. Aufl. 1962, 307.
[3] Jürg Willi: Des Menschen Sehnsucht nach verlässlicher Beziehung, in: F.A.Z. v. 27.9.1986, Nr. 224, S. 10.
[4] Aristoteles: Nikomachische Ethik 3, 6.

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