Martyrium im Dialog zwischen den Religionen

Am Sonntagnachmittag, den 5. Februar dieses Jahres, wurde der 60-jährige italienische Priester Andrea Santoro in der Türkei ermordet.[1] Als er in der ersten Reihe seiner Pfarrkirche in Trabzon kniete und betete, trafen ihn zwei Kugeln in den Rücken und durchschlugen Herz und Leber. Bevor der etwa 17-jährige Todesschütze aus dem Gotteshaus flüchtete, rief er „Allahu Akbar“. Ein Studienkollege bezeichnete den Tod von Santoro als „Martyrium im Dialog zwischen den Religionen“. Und Maddalena Santoro, die jüngste Schwester des Priesters, erklärte: „Mein Bruder war ein Missionar im wahrsten Sinne des Wortes.“ Wenn Jungen des Viertels in die Kirche gerannt kamen und „auf den Boden spuckten“ oder Steine gegen seine Haustür warfen, ließ er sich nicht einschüchtern, sondern sagte: „Es sind gute Leute“, und er bekannte: „Hier zu leben ist schwierig, aber es ist Evangelium."[2] Nachfolgend sein letzter Brief, der das Datum vom 22. Januar trägt. Auf dem Hintergrund seines Martyrertods erweckt dieses leuchtende Zeugnis die Hoffnung auf ein ungeahntes Wiedererstehen des Christentums in der Wiege der Kirche.

Von Andrea Santoro (†)

Meine Lieben! Ich schreibe aus Rom, wo ich mich vor meiner Rückkehr in die Türkei drei Wochen lang aufgehalten habe. Es waren sehr intensive Tage, die dem Zeugnis-Geben, Treffen, Katechesen, Vorträgen und Gebetszeiten gewidmet waren. Alles war auf die Förderung der Informations- und Wissensvermittlung zwischen dem Mittleren Osten, wie ich ihn aus eigener Erfahrung kenne, und unserer westlichen Welt ausgerichtet, im Einklang mit dem Ziel von „Fenster zum Mittleren Osten“.

Überall habe ich Interesse und rege Teilnahme erfahren sowie den aufrichtigen Wunsch, zu verstehen und Bande der Gemeinschaft zu knüpfen. Ich habe die Bedeutung und die Möglichkeit erkannt, zwischen diesen beiden Welten einen Austausch von geistigen Gütern herzustellen. Der Mittlere Osten, das große „Heilige Land“, wo sich Gott dem Menschen auf ganz besondere Weise mitteilen wollte, besitzt – dank des Lichts, das Gott stets ausgegossen hat – seine Reichtümer und die Kraft, unsere westliche Welt zu erleuchten.

Aber der Mittlere Osten hat auch seine Schattenseiten, seine oft tragischen Probleme und „Lücken“. Deshalb hat er es wiederum nötig, dass das Evangelium, das von dort gekommen ist, wieder ausgesät wird und dass die Gegenwart Christi wieder bekannt gemacht wird. Es ist eine gegenseitige „Re-Evangelisierung“ und Bereicherung, die diese beiden Welten untereinander austauschen können.

Inzwischen ist die winzige christliche Gemeinde in Trabzon an jedem Sonntagvormittag zusammengekommen, um den Wortgottesdienst zu feiern. Zweimal in der Woche ist die Kirche unter der Verantwortung einer vertrauenswürdigen Person für Muslime geöffnet worden. Ich werde euch wissen lassen, wie das funktioniert.

Ich grüße euch, empfehle euch diese Gedanken an und ermahne euch, den Glauben immer mit dem gegenwärtigen Augenblick in Verbindung zu bringen. Er darf kein abstrakter und allgemeiner Glaube sein, sondern ein Glaube wie in der Zeit der „Anfänge“, der uns von Generation zu Generation überliefert worden ist. Wie es im Evangelium heißt, besitzt der Sauerteig die geheimnisvolle Fähigkeit, die ganze Masse zu durchsäuern, wenn er mit ihr in Berührung kommt – die Masse aller Zeiten, aller Orte, aller Generationen.

Darüber hinaus hat Jesus gesagt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen.“ Wenn uns dieses Licht erleuchtet, dann wird nicht nur jede Situation, selbst die tragischste, erleuchtet werden, sondern zudem werden auch wir, wie Jesus immer gesagt hat, selbst Licht sein. Das zarte Kerzenlicht erleuchtet das Haus, während bei einer ausgelöschten Lampe alles dunkel bleibt. Jesus möge in uns strahlen – mit seinem Wort, mit seinem Geist, mit der Kraft seiner Heiligen. Möge unser Leben jenes Wachs sein, das sich bereitwillig verzehren lässt.

In Liebe, Pater Andrea

Papst Benedikt XVI. zum Tod von Andrea Santoro:

Bei der Generalaudienz am 8. Februar sagte der Papst: „Wie könnten wir heute nicht an Don Andrea Santoro erinnern, den Fidei-donum-Priester der Diözese Rom, der am vergangenen Sonntag in der Türkei ermordet wurde, während er sich, ins Gebet vertieft, in der Kirche befand. Erst gestern Abend hat mich ein schöner Brief von ihm erreicht, den er am 31. Januar zusammen mit der kleinen christlichen Gemeinde der Pfarrei Sancta Maria von Trabzon geschrieben hat. … (Brief ist) ein Spiegel seiner priesterlichen Seele, seiner Liebe zu Christus und zu den Menschen, seines Einsatzes für die Kleinen … Möge der Herr die Seele dieses stillen und mutigen Dieners des Evangeliums aufnehmen und gewähren, dass das Opfer seines Lebens zum Anliegen des Dialogs zwischen den Religionen und des Friedens zwischen den Völkern beitrage.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Andrea Santoro wurde 1945 in Priverno in der Region Latium geboren. Unmittelbar nach dem Tod seines Vaters Gaetano trat er als Elfjähriger in das Kleine Seminar ein. „Brücke“ und „Fenster“ zum Islam zu sein, war ihm seit frühester Jugend ein Bedürfnis. 1970 wurde er in Rom zum Priester geweiht, wo er später die Pfarrgemeinde „Gesù di Nazareth“ an der Peripherie der Hauptstadt leitete. Hier kämpfte er acht Jahre lang mit der Verwaltung, um ein Grundstück für den Bau einer Kirche zu bekommen. 1988 baute er diese mit Hilfe von Spenden auf. Im Jahr 2000 ging er auf eigenen Wunsch in die Türkei, die er als „heiliges Land“ betrachtete, „weil hier die Apostel gewesen sind und das Blut der Märtyrer vergossen wurde“. Erst am 22. Januar hatte Santoro auf einer Konferenz seine Vision dargelegt, „der Verständigung und dem Austausch zwischen entfernten Welten, dem Islam, dem Judentum und den christlichen Kirchen, einen Weg zu bahnen“. Er gründete die Vereinigung „Ein Fenster in den Nahen Osten“, die sich in den Dienst einer gegenseitigen „Re-Evangelisierung“ von Ost und West gestellt hat.
[2] In Erinnerung an Don Andrea Santoro feierte Erzbischof Antonio Lucibello am 9. Februar 2006 eine hl. Messe in der St. Esprit Kirche in Istanbul. Neben ihm Luis Pelatre, der Bischof von Istanbul. Einen Tag später kündigte Camillo Kardinal Ruini, der Bischofsvikar des Papstes für die Diözese Rom, beim Requiem in der Lateran-Basilika die baldige Eröffnung des Seligsprechungsprozesses für Don Andrea an, der in der Diözese Rom inkardiniert und als sog. Fidei-Donum-Priester für die Mission in der Türkei freigestellt war. Aus seiner Sicht, so Ruini, seien alle notwendigen Kriterien für ein echtes Martyrium erfüllt. Dieser „Märtyrer und Zeuge der christlichen Liebe“ habe aus der Überzeugung heraus gelebt, dass ein Schüler Jesu sein Leben für die Menschen hingeben müsse. – Kardinal Sepe, Präfekt der Kongregation für die Evangelisierung der Völker, erinnerte in seiner Ansprache an das Wort Jesu vom Weizenkorn (Joh 12,24), das Don Andrea immer wieder zitiert habe, als wäre es sein Lebensprogramm. Aus der heutigen Sicht auf seinen Tod könne man es als „eine Vorahnung und die Ankündigung dessen“ verstehen, „dass die Hingabe des eigenen Lebens für die Sache des Evangeliums nicht ohne Früchte bleiben sollte … Don Andrea war nicht in die Türkei gegangen, um Gläubige abzuwerben, um sich gegen das Umfeld zu wenden, in dem er lebte, um die Gesellschaft zu einem Wandel zu zwingen: Er war ein Missionar durch seine einfache Präsenz, durch sein Gebet und sein Augenmerk für die materielle und geistige Armut, die ihn umgab, ganz eingenommen von der Liebe zu Gott und zu den Menschen in seiner Nähe.“

Don Andrea öffnet die Tür

Als Papst Johannes Paul II. 1979 die Türkei besuchte, standen ihm Türen und Herzen offen. Unter neuen Vorzeichen wird im Herbst dieses Jahres Papst Benedikt XVI. in das muslimische Land reisen. Eine Mission, von der die Welt viel erwartet.

Von Nina von Heereman

Am 5. Februar 2006 wurde Don Andrea Santoro in der Türkei erschossen. Vier Tage später bestätigte der Vatikan die schon lange erhoffte Reise des Papstes in dieses Land. Hat Don Andrea vom Himmel her nachgeholfen?

Das Blut der Märtyrer ist der Same der Christenheit, so hat es die Geschichte tausendfach bestätigt. Auch Paulus machte die Erfahrung, dass der Herr die Türen öffnen musste, bevor er das Evangelium in Ephesus verkünden konnte. Gleich zu Beginn seines Pontifikats hatte Papst Benedikt XVI. erklärt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um „die Einheit aller, die an Christus glauben“, zu erreichen. Dazu brauche es konkrete Gesten, die in die Seelen eintreten und die Gewissen anrühren, so der Papst in seiner ersten Predigt. Keine geringe Freude war es darum, als ihn der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., schon voriges Jahr einlud, zum Andreasfest nach Istanbul zu kommen, um den ökumenischen Dialog voranzutreiben.

2005 scheiterte die Reise, weil es keine offizielle Einladung der türkischen Regierung gab, wie sie für einen Staatsbesuch notwendig ist. Eine solche Einladung hat nun der Präsident der Türkei, Ahmet Necdet Sezer, für die Tage vom 28.-30. November, dem Andreasfest, ausgesprochen. Papst Benedikt hat angenommen. Die Bedeutung dieser Reise kann kaum überschätzt werden. Nicht nur für die so dringend ersehnte Einheit der katholischen mit der griechisch-orthodoxen Kirche, sondern in deren Folge auch für die dort lebenden Christen.

Die Türkei gilt zu Recht als das sog. „Zweite Heilige Land“: Die Arche Noah soll dort auf dem Ararat aufgesetzt haben (Gen 8,4). Paulus wurde dort geboren, Maria und Johannes sollen der Tradition nach dort gelebt haben. Entscheidende Episoden der Apostelgeschichte haben sich dort abgespielt. Auch der Übergang von der juden- zur  heidenchristlichen Kirche, wie sie uns der Galaterbrief dokumentiert, hat sich in der Türkei vollzogen. Ihr verdanken wir die zentralen christlichen Glaubensbekenntnisse und so viele der bedeutenden Kirchenväter, deren Erbe bis heute unsere Liturgie, Theologie und Spiritualität prägen.

Doch von all dem zeugen heute fast nur noch Ruinen. Am Ende des Osmanischen Reiches, also bis in das 20. Jahrhundert hinein, lebten in der Türkei noch Millionen von Christen, in Istanbul waren es sogar bis zu 40 Prozent der Bevölkerung. 1915/16 erfolgte das Massaker der Türken an den Armeniern, die einen Großteil der Christen ausgemacht hatten. 1923 wurde sodann in Lausanne ein christlich-muslimischer „Bevölkerungstausch“ zwischen Griechenland und der Türkei ausgehandelt, so dass heute von den rund 70 Millionen Einwohnern der Türkei nur noch etwa 100.000 Christen sind. Die griechisch-orthodoxe Gemeinschaft ist in den letzten vier Jahrzehnten allein in Istanbul von 85.000 auf nur noch rund 2.000 geschrumpft, die katholische Kirche zählt überhaupt nur 15.000 Mitglieder, die jedoch fast alle Ausländer oder deren Nachkommen sind.

Ein türkisches Christentum ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum vorstellbar. Spricht man mit muslimischen Konvertiten, so errötet man geradezu vor Scham angesichts der Leiden, die sie dafür erdulden müssen. Die wenigsten können im Land bleiben, da sie meist von ihren Familien verstoßen werden. Auch die christlichen Gemeinden scheuen sich, sie aufzunehmen, aus Furcht vor Racheakten wegen angeblicher „Proselytenmacherei“.

Trotz allem trifft man da und dort auf großherzige Missionare, die die Liebe zu den Menschen in die Türkei geführt hat. Sie leben verborgen, ähnlich wie der hl. Charles de Foucault unter den Touaregs, um durch ihr Leben Jesus zumindest gegenwärtig zu setzen, bereit, wie es nun Don Andrea widerfahren ist, für das Evangelium zu sterben. „Weit und wirksam ist mir hier eine Tür geöffnet worden“, schrieb Paulus über Ephesus (1 Kor 16,9). Gebe Gott, dass der Tod von Don Andrea dem Heiligen Vater und damit dem Evangelium eine neue Tür in die Türkei geöffnet hat!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2006
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Kampf der Kulturen oder Missionszeitalter?

Zum Streit um die Mohammed-Karikaturen hat der Vatikan eine offizielle Stellungnahme abgegeben. Darin wird der eingeforderten Pressefreiheit eine Pflicht gegenübergestellt, die der freien Meinungsäußerung einen Rahmen vorgebe. Die katholische Kirche sieht in den Karikaturen die Pflicht zur Achtung der religiösen Gefühle und zur Förderung des Friedens verletzt und spricht sich deshalb eindeutig gegen die Veröffentlichungen aus. Gleichzeitig bringt sie deutlich ihre Erwartung an die islamische Welt zum Ausdruck, auf Gewaltanwendung im Namen der Religion zu verzichten.

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Stellungnahme des Vatikans

Am 4. Februar 2006 gab das Presseamt des Vatikans „als Antwort auf verschiedene Anfragen nach Präzisierung der Position des Heiligen Stuhls zu den jüngsten Darstellungen, die die religiösen Gefühle einzelner Personen oder ganzer Gemeinschaften verletzen“, folgende Erklärung ab:

„1. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, das durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sanktioniert ist, kann nicht das Recht einschließen, die religiösen Gefühle von Gläubigen zu verletzen. Dieses Prinzip gilt natürlich für alle Religionen.

2. Das menschliche Zusammenleben erfordert außerdem ein Klima von gegenseitigem Respekt, um den Frieden zwischen den Menschen und Nationen zu fördern. Jede Form von überzogener Kritik oder Verächtlichmachung von anderen zeigt daher einen Mangel an menschlicher Sensibilität und kann in einigen Fällen eine unzulässige Provokation darstellen. Der Blick auf die Geschichte lehrt, dass dies nicht der Weg ist, um bestehende Wunden im Leben der Völker zu heilen.

3. Dem ist jedoch gleich hinzuzufügen, dass Beleidigungen, die von einer einzelnen Person oder von einem Presseorgan verübt werden, nicht den öffentlichen Institutionen des jeweiligen Landes angelastet werden können. Allerdings können und müssen dessen Behörden gegebenenfalls gemäß den Prinzipien der nationalen Rechtsprechung intervenieren. Gewaltsame Protestaktionen sind deshalb gleichermaßen beklagenswert. Um auf eine Beleidigung zu reagieren, darf man jedenfalls nicht gegen den wahren Geist einer jeden Religion verstoßen. Intoleranz in Wort oder Tat – gleich von welcher Seite sie kommt, sei es als Aktion oder als Reaktion – stellt stets eine ernste Bedrohung des Friedens dar.“

Fundamentaler Wert der freien Meinungsäußerung

Ohne Zweifel ist das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit eine wertvolle Errungenschaft in der Geschichte der Menschheit. Für unsere freiheitliche Gesellschaft im Westen ist es von fundamentaler Bedeutung. Einerseits lebt ein demokratisches System wesentlich vom freien und unabhängigen Wirken der Medien. Ohne Pressefreiheit kann die Wahrheit im Interesse der Machthabenden unterdrückt und manipuliert werden. Meist ist die Einschränkung der freien Meinungsäußerung das erste Anzeichen dafür, dass eine Politik totalitäre Züge annimmt. Die Freiheit allein ist dabei keine Garantie für die Wahrheit, doch räumt sie der Wahrheit die Möglichkeit ein, sich zu Wort zu melden und sich dank ihrer eigenen Überzeugungskraft im Widerstreit der verschiedenen Positionen durchzusetzen. Andererseits besteht gerade in der Möglichkeit der freien Meinungsäußerung die Grundlage für die christliche Mission, wie sie von Papst Johannes Paul II. unermüdlich hervorgehoben und verteidigt wurde. Das Evangelium braucht keinen politischen Druck. Nach christlichem Menschenbild ist jede Person für die Wahrheit empfänglich. Wer ehrlich sucht, kann das Wahre vom Falschen unterscheiden und auf diesem Weg der einen Wahrheit immer näher kommen. Deshalb bekräftigt die Kirche ihre Überzeugung, dass sich die Wahrheit kraft ihrer selbst durchsetzt. Und je mehr sich die Verkündigung von allen gesellschaftspolitischen Stützen befreit, umso reiner und kräftiger kann sich das Reich Gottes in der Welt entfalten. Deswegen setzt sich die Kirche für die Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion ein. Sie erwartet vom Staat lediglich, dass er jedem Menschen Gewissens- und Religionsfreiheit einräumt und ihm im Sinn der freien Meinungsäußerung ermöglicht, von seiner religiösen Überzeugung öffentlich Zeugnis abzulegen. Eine weitergehende Zusammenarbeit von staatlichen und religiösen Institutionen kann sich nur auf dem Fundament der grundsätzlichen gegenseitigen Unabhängigkeit segensreich auswirken. Gleichzeitig ist es die Pflicht des Staates, jeden Einzelnen zu schützen, sowohl im Blick auf seine Freiheit und Rechte, als auch hinsichtlich der Unversehrtheit seiner Person und der mit ihr verbundenen Würde.

Karikaturen behindern sachliche Auseinandersetzung

Blicken wir in diesem Rahmen auf den Streit um die Karikaturen Mohammeds, so wird die zwiespältige Situation sofort deutlich. Einerseits hat niemand das Recht, die religiösen Gefühle des anderen zu verletzen. Andererseits müssen wir das Recht verteidigen, sich auch mit religiösen Inhalten und Überzeugungen sachlich auseinanderzusetzen und gegebenenfalls öffentlich Kritik zu äußern. Eine solche Diskussion muss erlaubt sein, auch wenn sie betroffenen Personen nicht gefällt. In diesem Sinn hat Papst Benedikt XVI. in seiner diesjährigen Botschaft zum Weltfriedenstag angeregt: „Es ist zu wünschen, dass man sich bei der Analyse der Ursachen des zeitgenössischen Phänomens des Terrorismus außer den Gründen politischen und sozialen Charakters auch die kulturellen, religiösen und ideologischen Motive vor Augen hält“ (Nr. 13). Er fordert also dazu auf, die Zusammenhänge zwischen Terrorismus und religiösem Hintergrund kritisch zu analysieren und offen anzusprechen. Doch verlangt ein solcher Weg genaue Differenzierungen und hohes Maß an Feinfühligkeit, um nicht ungerechte Urteile zu fällen, sondern die Sache des Friedens auf interreligiöser Ebene tatsächlich voranzubringen. Die umstrittenen Karikaturen mögen vielleicht ein solches Ziel vor Augen haben, doch bewirken sie genau das Gegenteil, weil sie die sachliche Ebene verlassen haben. Der immense Schaden, den sie weltweit angerichtet haben, besteht vor allem darin, dass sie den ernsthaften Dialog hinterlaufen und das Fundament für die dringend notwendige sachliche Auseinandersetzung über den islamischen Fundamentalismus zerstören. Wer beispielsweise weiß, dass die Moslems selbst nach einem strengen religiösen Prinzip grundsätzlich auf die Darstellung Mohammeds verzichten müssen, wird nicht ausgerechnet solche Bilder als Einstieg für einen aufrichtigen Dialog verwenden. Neben aller Verunglimpfung zeigt den Moslems allein schon diese Tatsache, dass es hier nicht um eine ernsthafte Gesprächsbereitschaft geht, sondern um eine bewusste Provokation. Es wird lange Zeit dauern, bis ein „Westen“, der sich in den Augen der islamischen Welt derart disqualifiziert hat, wieder an Boden gewinnt und mit seinen Werten auf islamischer Seite ernst genommen wird.

Grobe Pflichtverletzung der Medien

So gesehen stellt die Veröffentlichung der Karikaturen eine massive Pflichtverletzung dar. Statt sich der Verantwortung einer sachlichen Auseinandersetzung über kulturelle, ideologische und religionsgeschichtliche Zusammenhänge zu stellen, haben die betroffenen Medien die Autorität der westlichen Demokratie als entscheidenden Gesprächspartner für die Muslime aufs Spiel gesetzt. Der „Mangel an menschlicher Sensibilität“ für die Gefühle der islamischen Welt ist nicht durch ein Pochen auf Pressefreiheit zu entschuldigen. Die Darstellungen müssen als „unzulässige Provokation“ zurückgewiesen werden, da sie das Gut des „Friedens zwischen den Menschen und Nationen“ ernsthaft gefährden. Die Medien haben neben ihrer Freiheit auch die grundsätzliche Pflicht, wahrheitsgemäß zu berichten und zum Wohl der Gesellschaft beizutragen. Natürlich können „Beleidigungen, die von einer einzelnen Person oder von einem Presseorgan verübt werden, nicht den öffentlichen Institutionen des jeweiligen Landes angelastet werden“, wie der Vatikan betont. Doch er fügt hinzu: „Allerdings können und müssen dessen Behörden gegebenenfalls gemäß den Prinzipien der nationalen Rechtsprechung intervenieren.“ Das könnte auch bedeuten, dass sich eine Regierung oder einzelne Politiker für eine grobe Pflichtverletzung der an sich unabhängigen Medien entschuldigen sollten. Interessanterweise sprach sich der umstrittene Schweizer Theologe Hans Küng ausdrücklich für einen solchen Schritt aus. Er meinte, der Westen müsse deutlich machen, dass es neben der Pressefreiheit auch eine Presseverantwortung gebe. Eine Entschuldigung der dänischen Regierung für die zuerst in einer dänischen Zeitung veröffentlichten Zeichnungen sollte „selbstverständlich“ sein. „Wenn eine Zeitung einen solchen Brand jetzt ausgelöst hat, dann hat der Ministerpräsident sich nicht hinter Formalien zu verstecken und zu sagen: Ich kann mich nicht für eine Zeitung entschuldigen“, so Küng.

Achtung der religiösen Gefühle

Dass ausgerechnet Hans Küng nun von der Pflicht der Medien spricht, ihre Freiheit mit „Verantwortung und Umsicht“ zu gebrauchen, zeigt, dass die derzeitigen Erschütterungen auch eine heilsame Wirkung auf unsere westlichen Länder ausüben. Wenn beispielsweise Papst Johannes Paul II. von den Medien verächtlich dargestellt wurde, stand Küng nicht unbedingt auf der Seite der Verteidiger, obgleich die religiösen Gefühle von Millionen von Gläubigen durch diesen unsachlichen Spott verletzt wurden. Überhaupt ist man heute in unseren säkularisierten Ländern der Ansicht, als dürfe man im Namen der Pressefreiheit Gott, Jesus Christus, die Kirche und alles, was einem Gläubigen heilig ist, lächerlich machen, ohne auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen. Gleichzeitig möchte man im Namen der Toleranz den Gläubigen verbieten, sich im öffentlichen Leben durch religiöse Symbole zu seinem Glauben zu bekennen. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um einen krassen Widerspruch, ja letztlich um eine versteckte Form der Unterdrückung der Religionen und der Verfolgung ihrer Gläubigen. Kaum jemand wagt es, seine Stimme dagegen zu erheben, da dies als mittelalterlich und freiheitsscheu gedeutet werden könnte. Spätestens mit der Ankündigung der Holocaust-Karikaturen durch den iranischen Präsidenten ist der westlichen Welt ihre eigene Schieflage aufgegangen. Anscheinend muss es in der Pressefreiheit doch eine Grenze geben. Jedenfalls entpuppt der an sich berechtigte Aufschrei gegen den ausgerufenen Wettbewerb ein gehöriges Maß an Heuchelei, die sich hinter der Rede von der Pressefreiheit verbirgt. Bischof Dr. Klaus Küng von St. Pölten hat nun den im Januar dieses Jahres ausgestrahlten ORF-Film „Schneeweiß und Rosenrot“ mit den Worten kritisiert: „Immer mehr Künstler, Filmdarsteller und Journalisten scheinen das Gespür für das, was für gläubige Menschen unantastbar und heilig ist, zu verlieren. Nicht alles darf man passiv hinnehmen.“ Bezug nehmend auf die obszöne Herabwürdigung katholischer Glaubensinhalte fügte er hinzu, gerade auch angesichts der großen Aufregung, die durch die Karikaturen Mohameds in der islamischen Welt ausgelöst wurde, sei es höchste Zeit, dass auch bei uns ein Nachdenkprozess einsetze.

Missbrauch des Islam für politische Ziele

Eine große Herausforderung für den Islam stellt immer schon die Verbindung von Religion und Politik dar. Umso größer ist die Gefahr, dass Situationen, wie sie durch den Streit um die dänischen Karikaturen entstanden sind, von politischen Kräften für ihre eigenen Ziele ausgenützt werden. Besonders deutlich zeigten dies Bilder aus Beirut, als sich verzweifelte Imame den Steinewerfern in den Weg stellten. Auch der Versuch, die Atmosphäre in den islamischen Ländern durch bewusste Fälschungen weiter anzuheizen, macht deutlich, wie rücksichtslos die religiösen Gefühle von Machthabern oftmals ausgebeutet werden. So wurde nun bekannt, dass unter den arabischen Staaten auf höchster Ebene ein Dossier kursiert, das außer den echten Karikaturen drei besonders beleidigende Bilder enthält. Bei einem beigefügten Foto, das angeblich den Propheten Mohammed in der Verkleidung eines Schweins zeigt, handelt es sich tatsächlich um eine Aufnahme von einem französischen Wettbewerb, bei dem Teilnehmer eines Landwirtschafts-Festivals möglichst echt das Quieken von Schweinen imitieren. Nie wurde dieses Bild in westlichen Medien im Zusammenhang mit dem Islam veröffentlicht. Es wurde nun völlig außerhalb des Kontextes verwendet.

So stellt sich die Frage, ob wir es hier tatsächlich mit dem von Huntington beschriebenen „Zusammenprall der Kulturen“ oder mit politischen Auseinandersetzungen zu tun haben. Natürlich prallen hier zwei verschiedene Kulturkreise aufeinander. Aber im Vordergrund stehen politische Auslöser. Viele Menschen in der muslimischen Welt fühlen sich seit Jahrzehnten vom Westen gedemütigt. Das Versprechen von Demokratie, Freiheit und Wohlstand wurde oft gerade von den Machthabern nicht eingelöst, die nur dem Westen eng verbunden waren. Ein Irakkrieg, ein ungelöstes Palästinenserproblem oder eine Atombombendrohung von französischer Seite angesichts der Irankrise sind noch weniger überzeugend. Nun hat sich dieses Erscheinungsbild mit dem Ausdruck einer Gesellschaft verbunden, die sich als aufgeklärt und laizistisch bezeichnet und glaubt, auf arrogante Weise das für Muslime Heilige lächerlich machen zu können. Nicht ein Kampf der Kulturen ist es, sondern eine Auseinandersetzung zwischen politisch missbrauchter Religion einerseits und einer säkularisierten Welt andererseits, die im Grunde genommen einfach gottlos und antihumanistisch geworden ist, weil sie die religiöse Dimension des Menschen leugnet und Religion deshalb in die Privatsphäre abdrängen will.

Aufgabe der Christen

Ein erster Schritt ist die Solidarisierung mit den Muslimen, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlen. Dringend nötig ist nun ein deutliches Signal von Seiten der Kirche und der Gläubigen an die muslimische Öffentlichkeit. Alle Welt sollte verstehen, dass und warum die Christen die Mohammed-Karikaturen entschieden ablehnen. So war es sicher kein Fehler, dass an manchen Orten wie z. B. in Bethlehem Christen und Moslems gemeinsam gegen die Karikaturen demonstrierten.

Ein zweiter Schritt ist die Versachlichung in der Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Phänomen des Terrorismus. Es gilt die verschiedenen Ebenen genau auseinander zu halten und die einzelnen Probleme wie zum Beispiel die Verquickung von Religion und Politik Punkt für Punkt aufzuarbeiten. Auf diesem Weg müssen die Verantwortlichen des Islam unermüdlich dazu aufgefordert werden, jeder Form von Gewaltanwendung im Namen der Religion eine Absage zu erteilen und die Selbstmordattentate öffentlich und international zu verurteilen.

Ein dritter Schritt ist die konkrete Friedensstiftung. Überall, wo sich in Wort oder Tat Intoleranz zeigt, gilt es durch Vergebung und Versöhnung der Spirale der Gewalt entgegenzuwirken, die im Zeitalter der medialen Verstärkung binnen weniger Tage um den ganzen Erdball springen kann. Ohne Verzagtheit muss jede Politik unterstützt werden, die der Toleranz Wege ebnet und Geduld für ehrliche Diplomatie aufbringt.

Ein vierter Schritt ist die Einforderung der Religionsfreiheit in Europa wie in den muslimischen Ländern. Dazu kann insbesondere die Türkeifrage herangezogen werden. In die Diskussion um einen EU-Beitritt ist die Öffnung des Landes für eine freie Tätigkeit der christlichen Kirchen offenherzig und hartnäckig einzubringen. Gleichzeitig sollte eine freimütige Evangelisierung unter Muslimen in Europa zu einem selbstverständlichen Bereich der kirchlichen Pastoral werden.

In diesen Schritten ist die Antwort der Christen auf die Islamisierung Europas und die weltweite Bedrohung durch muslimische Fundamentalisten zu suchen. Sie können eine Atmosphäre der gegenseitigen Achtung schaffen und von falscher Angstmacherei befreien. Gleichzeitig mobilisieren sie neue Kräfte für die Sendung der Kirche. Umgekehrt werden sie nicht den befürchteten Kulturkampf heraufbeschwören, sondern vielmehr dem Christentum in den Augen der muslimischen Welt eine neue Achtung verschaffen, die zu dem Missionszeitalter führen kann, das Papst Johannes Paul II. zusammen mit vielen prophetischen Heiligen am Horizont heraufdämmern sah.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Betrachtungen zur neuen Enzyklika von Papst Benedikt XVI.

„Deus caritas est“ – „Gott ist die Liebe“. Mit dieser fundamentalen Botschaft unseres christlichen Glaubens hat Papst Benedikt XVI. die Herzen der Menschen erreicht. Weihbischof Dr. Andreas Laun ist erfreut über den weltweiten Erfolg der neuen Enzyklika. Doch versucht er gleichzeitig, die tatsächliche Auswirkung sowie die Chancen des Lehrschreibens nüchtern zu betrachten. Laun lässt uns miterleben, wie es einem gewissenhaften und engagierten Moraltheologen geht, wenn er sich mit den Gedanken des Papstes ernsthaft auseinandersetzt.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Soweit die „Welt“ die neue, erste Enzyklika des Papstes Benedikt gelesen hat, war sie glücklich und geradezu begeistert. Dafür darf man zunächst einmal dankbar sein. Aber der Jubel der „Welt“ zeigt auch: Offenbar hat man das, was der Papst sagt, nur zum Teil verstanden. Wäre es anders, würden sie den Papst nicht so loben, wie sie es tun, sondern z.B. sagen: Wer soll denn dieses Märchen glauben, dieses „Märchen“ von einer solchen Liebe Gottes, wie sie die Christen behaupten? Dass er irgendwie „lieb“ ist, wäre schön, aber so – mit Inkarnation, Kreuz, einer geradezu „ehelichen“ Liebesbeziehung und dem Himmel?

Vom hl. Franz von Sales sagt man, er habe sich der Methode der „indirekten Kontroverse“ bedient: Weil die direkte Widerlegung des Irrtums die Herzen so leicht verhärtet und darum oft erfolglos bleibt, bemühte er sich, die Wahrheit sozusagen „am Irrtum vorbei“ so einleuchtend und anziehend darzulegen, wie irgend möglich, um auf diese Weise die Irrlehre unauffällig zu widerlegen und die „Anderen“ gewinnen zu können. Das ist ihm zwar nicht immer, aber doch immer wieder gelungen. Auch Papst Benedikt XVI. geht diesen Weg: Ebenso anspruchsvoll wie liebevoll erzählt er die Geschichte von Gott und den Menschen, das Wesentliche von ihr. Wer sie wirklich aufnimmt, wird zumindest hoffen, dass sie wahr ist und so vielleicht zum Glauben finden.

„Gott ist Liebe“ – statt der Gebote?

Viele jubelten: Endlich ein Papst, der nicht nur von der Liebe spricht, sondern sie auch dann übt, wenn er lehrt, indem er auf den „erhobenen Zeigefinger“ verzichtet.

Ist es so, muss man dem Papst danken, dass er an keines der „umstrittenen“ Gebote erinnert und es „hart und unerbittlich“ eingefordert hat? Gegenfrage: Hat das sein Vorgänger „so“ getan? Vielleicht gar unter seinem, Kardinal Ratzingers, Einfluss? Waren Lehrschreiben wie „Evangelium vitae“ (zum 5. Gebot) oder „Familiaris consortio“ (zum 6. Gebot) „lieblos“, weil sie sich den Anschauungen der Zeit und aller „political correctness“ widersetzten? Ganz sicher nicht, im Gegenteil, sie waren ein Akt der Liebe zu allen Menschen. Das lehrt Papst Benedikt XVI. fast ausdrücklich, indem er „nebenbei“ („indirekt“) erklärt, wie die Gebote zu begreifen sind:

„Die Liebesgeschichte Gottes mit Israel besteht im tiefsten darin, dass er ihm die Thora gibt, das heißt, ihm die Augen auftut für das wahre Wesen des Menschen und ihm den Weg des rechten Menschseins zeigt“ (11).

Genau das tut die Kirche im Auftrag Gottes die ganze Geschichte hindurch, obwohl manchen Menschen die „Augen“ nicht aufgehen, sondern fest geschlossen bleiben. Sind die Argumente der Kirche so schlecht, die Gebote so schwer zu verstehen? Nein, das nicht, aber die Menschen hören vielfach nicht hin. Die Folge ist, wie auch das Konzil (GS 16) lehrt, eine Erblindung des Gewissens, die nicht an einem mangelnden Intelligenz-Quotienten liegt, sondern von der Sünde herrührt.

„Die ethische Erblindung der Vernunft durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die sie blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr“ (28).

Wie lässt sich die Vernunft in Hinblick auf die Erkenntnis von Gut und Böse reinigen? Der Glaube, sagt der Papst, „befreit sie von der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr deshalb, besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Vernunft, ihr eigenes Werk besser zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen“ (28). Das ist eine Einsicht, die schon lange nicht mehr so klar ausgesprochen wurde: Der Glaube steht nicht nur nicht im Widerspruch zur Vernunft, sondern er heilt sie und bringt sie zu ihrer Vollendung; er ist nicht ihr Gegenspieler, sondern ihr bester Verbündeter. Dass es unvernünftige Gläubige gibt, ist damit keineswegs bestritten: Bekanntlich setzt die Gnade die Natur voraus. Gesagt ist nur: Wenn es um ethische Einsichten geht, ist der wahre Glaube die beste „Nährlösung“ für die Entfaltung der Vernunft. Ganz in eben diesem Sinn spricht Thomas von Aquin von „gesunder Vernunft“, offenbar im Gegensatz zur einer „kranken Vernunft“, der Heilung durch Glaube und Gnade bedürftig.

Was aber ist die „Perspektive“ Gottes, die die Vernunft erlöst und reinigt? Der Papst erklärt es nicht näher. Aber er nennt die „Interessen“ als Ursache der Erkrankung. Daraus lässt sich folgern: Also kann die gemeinte Heilung nur in der spirituellen Auseinandersetzung mit diesen „Interessen“ bestehen, die in der „Perspektive Gottes“ in einem anderen Licht erscheinen, als es der bloß natürlichen Vernunft zur Verfügung steht: Dieses Licht lässt manche Interessen verwerflich erscheinen, andere relativiert es nur, und manche reinigt dieses Licht, indem es ihnen im Sinn des „ordo amoris“ einen anderen „Platz“ zuweist. Im Grunde bewirkt die „Perspektive“ Gottes nur das Eine: Sie befreit und bewahrt die Vernunft davon, in einer nicht legitimen Weise von den „Interessen geleitet“ zu sein (wie es die 68er nannten) und dadurch unsachlich zu werden. Eine solchermaßen gereinigte Vernunft durchbricht innerkirchliche Tabus und Denkverbote des Zeitgeistes.

Hat der Papst die Gebote vergessen oder schämt er sich, sie anzusprechen? Nein, er nennt sie zwar nicht, aber er lehrt sie richtig sehen: als Geschenke der Liebe Gottes, damit das Menschsein gelingt.

Am Anfang des Christseins: eine Begegnung

Heute spricht man viel von der Weitergabe des Glaubens, aber paradoxerweise ist gleichzeitig die Mission sogar bei Christen in Verdacht geraten, eine geistige Kolonial-Herrschaft anzustreben, die andere Kulturen zerstören will. In der so genannten „relativistischen Religionstheologie“ meint man, der Wahrheits-Anspruch des Christentums sei ein Problem, ein Störfaktor für den Frieden der Religionen. Man sagt, es könne doch nicht nur eine Wahrheit geben, jede Religion sei „wahr“, insofern sie einen Ausschnitt Gottes erfasse, aber auch „unwahr“, weil Gott – wie das „Ding an sich“ bei Kant – für immer der große Unbekannte bleibe.

Dagegen steht der Satz der neuen Enzyklika: „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt“ (1).

Im Grunde wieder ein einfacher Satz, aber in seiner Einfachheit klar und hilfreich wie ein Wegweiser, dessen Information der Autofahrer mit einem einzigen, schnellen Blick erfasst:

Das Christentum ist nicht eine Sammlung von ewigen Wahrheiten, sondern das Ergebnis einer Geschichte, die schon vor Abraham beginnt, aber „so richtig“ mit ihm anfängt und über die Propheten und Könige des Alten Testaments bis zu Johannes dem Täufer führt und dann zu Maria. Sie ist es, die das größte Ereignis der Geschichte einleitet, denn aus ihr ist Jesus geboren, der Gesalbte des Herrn. Mit und nach ihm fängt die Geschichte der Kirche an, und sie wird dauern bis ans Ende der Welt.

Darum ist auch das Credo keine Aufzählung „ewiger“ Wahrheiten, sondern erzählt nur eine Geschichte, eine wahre freilich: Wer Gott ist, setzt das Credo voraus, und von diesem Gott erzählt es, was Er getan hat und was Er tun wird.

„Am Anfang war das Wort“ und, viel später, am Anfang der Endzeit, war wieder das „Wort“ und – die Begegnung mit Ihm, mit Jesus Christus, dem Worte Gottes. Jesus selbst überzeugte die ersten Apostel nicht durch eine Diskussion, nicht durch einen Vortrag über die Eigenschaften Gottes, sondern durch die Einladung, mit ihm zu gehen und zu „sehen“. Was zu „sehen“? Ihn selbst, und später wird Er über sich sagen: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ Es war, vermerkt das Johannesevangelium, „um die zehnte Stunde“. Danach traf Andreas, einer der beiden, seinen Bruder Simon: „Wir haben den Messias gefunden“, teilte er ihm mit und wieder bestand die „Überzeugungsarbeit“ nicht im Reden oder gar Überreden, sondern in einer Begegnung: „Er führte ihn zu Jesus“ (Joh 1,41).

Um die Echtheit von behaupteten Ereignissen  zu prüfen, bedarf es einer anderen Methodik als bezüglich der Wahrheit von philosophischen Sätzen. Relativieren, wie das die genannte Religionstheologie mit der „Wahrheit“ tut, kann man Ereignisse nicht. Das Christentum gründet in Ereignissen, nicht in Spekulationen.

Möglich ist es auch nachzudenken, ob es vergleichbare Ereignisse in der Geschichte gegeben hat: z.B., ob etwa Mohammed „genauso“ wie Jesus ein Gesandter Gottes war und ob eine solch ähnliche Sendung überhaupt denkbar ist. Die Antwort ist eindeutig: Wenn Jesus der ist, als den ihn der Johannesprolog oder der Epheser-Brief beschreiben, kann die Antwort nur lauten: Nein, es kann neben Jesus keinen zweiten „Sohn Gottes“ geben, der „Fleisch geworden“ wäre, keinen anderen Gott „Emmanuel“, der mitten unter den Menschen wohnt, keinen Menschen, von dem man sagen könnte: Wer ihn gesehen hat, hat Gott geschaut.

Gott ist die Liebe

Die jüdisch-christliche Religion, die bestimmte Kreise so gerne auf „eine Religion unter vielen anderen, die gleich gut sind,“ einebnen wollen, verkündet ein einzigartiges Bild von Gott. Sie sagt nämlich:

Es gibt nur einen Gott, auf ihn geht alle Wirklichkeit zurück, und es gibt keine anderen Götter außer dem Heiligen Israels. Während sich Aristoteles Gott dachte als einen, der geliebt wird, selbst aber unbewegt bleibt, ist der Gott, dem Israel glaubt, ein Gott, der selbst liebt: Und „seine Liebe ist noch dazu eine wählende Liebe: Aus allen Völkern wählt er Israel und liebt es – freilich mit dem Ziel, gerade so die ganze Menschheit zu heilen.“ Die Folge ist, „dass der Mensch … sich als Geliebten Gottes erfährt und die Freude an der Wahrheit, an der Gerechtigkeit – die Freude an Gott findet, die sein eigentliches Glück wird: ,Was habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde … Ich aber – Gott nahe zu sein, ist mein Glück‘ (Ps 73,25f)“ (9).

Bevor der Papst weiter ausführt, welche Folgen dieses einzigartige Gottesbild – „Gott liebt!“ – für den Menschen hat, verweilt er noch bei dieser Liebe Gottes. Es ist, sagt er, nicht nur eine Liebe, die Gott dem Menschen ohne dessen Verdienst zuwendet, sondern mehr noch:

„Die leidenschaftliche Liebe Gottes zu seinem Volk – zum Menschen – ist zugleich vergebende Liebe. Sie ist so groß, dass sie Gott gegen sich selbst wendet, seine Liebe gegen seine Gerechtigkeit. Der Christ sieht darin schon verborgen sich anzeigend das Geheimnis des Kreuzes: Gott liebt den Menschen so, dass er selbst Mensch wird, ihm nachgeht bis in den Tod hinein und auf diese Weise Gerechtigkeit und Liebe versöhnt“ (10). So hat es schon der Prophet Hosea geweissagt: ,,Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich aufgeben, Israel? … Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte“ (Hos 11,8- 9) (10). Was für eine Idee: eine innergöttliche Zerrissenheit anzunehmen, einen „Streit“ der Liebe gegen die Gerechtigkeit in Gott selbst, einen Streit, den die Liebe „gewinnt“!

Dieses Gottesbild ist buchstäblich neu und unerhört, weil keine andere Religion es je gewagt hat, sich Gott „so“ vorzustellen und zu verkünden.

Das neue Menschenbild und die neue christliche Mystik

Dem neuen Gottesbild entspricht ein neues Menschenbild: nicht neu im Sinne der Anthropologie, sondern „neu“, insofern sich der Sinn des menschlichen Lebens ändert, vergleichbar einem Menschen, der seinem künftigen Ehepartner begegnet und dessen Leben dadurch neu wird.

Wie war es vorher, vor dieser Begegnung mit der Liebe Gottes, mit dem Menschen bestellt? Das „Allein-Sein“, sagt die Bibel, war für den Menschen nicht gut. Um dieser seiner Not abzuhelfen, „erfand“ Gott die Frau, und die Menschen verstanden, dass Mann und Frau einander brauchen und dass sie nur gemeinsam „die Ganzheit des Menschseins“ darstellen, nur miteinander ihre Erfüllung finden (11). Erfüllung durch die Ehe? Ja und nein, Ja, weil sich in der Ehe die große Sehnsucht des Menschen erfüllt, aber ebenso Nein, weil auch in der glücklichsten Ehe jene Unruhe des Herzens bleibt, die nach dem berühmten Augustinus-Wort nur in Gott zur Ruhe kommt.

Gerade die geglückte Ehe weist über sich hinaus: „Die auf einer ausschließlichen und endgültigen Liebe beruhende Ehe wird zur Darstellung des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk“ (11).

Das heißt: Die Menschen haben die Beziehung zu Gott fast immer nur als die Beziehung zu einer übermächtigen Autorität verstanden, vor der man sich fürchtet und der man vor allem gehorchen muss.

Der Papst sagt: Die Beziehung zu Gott darf man sich vorstellen wie jene Liebe, die in einer glücklichen Ehe herrscht.

Damit ist jede wahre, menschliche, schöne Liebesgeschichte, in der Literatur oder im Leben, immer auch eine „Darstellung“ und Erinnerung an jene Beziehung, wie sie nach jüdischem und christlichen Glauben zwischen Gott und seinen Auserwählten besteht:

„Auf diese Weise ist das Hohelied in der jüdischen wie in der christlichen Literatur zu einer Quelle mystischer Erkenntnis und Erfahrung geworden, in der sich das Wesen des biblischen Glaubens ausdrückt: Ja, es gibt Vereinigung des Menschen mit Gott – der Urtraum des Menschen –, aber diese Vereinigung ist nicht Verschmelzen, Untergehen im namenlosen Ozean des Göttlichen, sondern ist Einheit, die Liebe schafft, in der beide – Gott und der Mensch – sie selbst bleiben und doch ganz eins werden“ (10).

Christliche Mystik? Ja, sie ist die wirkliche, „eheliche“ Vereinigung mit Gott selbst. „Das“ soll man glauben? Ja, genau das! Wenn man es „wirklich“ glaubt, ist man Christ.  Wenn die Ehe ein Bild für die Vereinigung mit Gott ist: Wo und wie findet diese Vereinigung wirklich statt? In der Eucharistie! Denn darin empfängt der Christ Jesus selbst und damit wird das Bild von der Ehe zwischen Gott und Israel „in einer zuvor nicht auszudenkenden Weise Wirklichkeit: Aus dem Gegenüber zu Gott wird durch die Gemeinschaft mit der Hingabe Jesu Gemeinschaft mit seinem Leib und Blut, wird Vereinigung: Die ,Mystik‘ des Sakraments, die auf dem Abstieg Gottes zu uns beruht, reicht weiter und führt höher, als jede mystische Aufstiegsbegegnung des Menschen reichen könnte“ (13).

Die Nächstenliebe

Von dieser Mystik der Liebesvereinigung mit Gott selbst – der einzigen Mystik, die wirklich christlich ist – führt ein letzter Schritt zum Mitmenschen:

„Denn in der Kommunion werde ich mit dem Herrn vereint wie alle anderen Kommunikanten: ,Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib, denn wir alle haben teil an dem einen Brot‘, sagt der heilige Paulus (1 Kor 10,17).“ Das heißt: „Die Vereinigung mit Christus ist zugleich eine Vereinigung mit allen anderen, denen er sich schenkt. Ich kann Christus nicht allein für mich haben, ich kann ihm zugehören nur in der Gemeinschaft mit allen, die die Seinigen geworden sind oder werden sollen. Die Kommunion zieht mich aus mir heraus zu ihm hin und damit zugleich in die Einheit mit allen Christen. Wir werden ,ein Leib‘, eine ineinander verschmolzene Existenz“ (14).

Darum, um dieses Zusammenhanges willen, speist sich christliche Nächstenliebe aus anderen Quellen als jeder Humanismus, den sie weit hinter sich lässt. Kein Zufall, dass Menschen wie Mutter Teresa nur „auf christlichem – vor allem katholischem – Boden“ wachsen.

Die Liebe zum Nächsten als Folge des Vereint-Seins mit Christus betrifft zuerst die anderen Christen, aber der Tendenz nach erstreckt sie sich auf alle Menschen: Weil Gott alle Menschen liebt und weil die Gemeinschaft mit Gott dazu führt, „dasselbe“ zu denken und zu wollen wie Er. „Dasselbe“, das heißt: die Menschen zu lieben, wie Gott sie liebt (17).

Kirche, Liebe und Verkündigung

Mit diesen Erwägungen über das innerste Geheimnis der Kirche will Papst Benedikt XVI., „eine neue Lebendigkeit wachzurufen in der praktischen Antwort der Menschen auf die göttliche Liebe“ (1). Mit der „praktischen Antwort“, wie er sie im 2. Teil seiner Enzyklika darlegt, meint er die weltweite caritative Arbeit der Kirche, den „Dienst der Liebe“, wie er nicht nur dem einzelnen Christen, sondern der Kirche als Ganzer aufgetragen ist:

„Alles Handeln der Kirche ist Ausdruck einer Liebe, die das ganzheitliche Wohl des Menschen anstrebt: seine Evangelisierung durch das Wort und die Sakramente … und seine Förderung und Entwicklung in den verschiedenen Bereichen menschlichen Lebens und Wirkens“ (19). Jeder einzelne Christ soll seinen Nächsten lieben, aber: „Auch die Kirche als Gemeinschaft muss Liebe üben“ (20), zum Wesen der Kirche gehört neben der Verkündigung und der Feier der Sakramente auch der Dienst der Liebe, „Caritas“ ist ein „unverzichtbarer Wesensausdruck“ der Kirche selbst (25), „genauso“ wichtig wie die Sakramente und die Verkündigung (22).

Ähnlich wie Mutter Teresa sieht der Papst in der Caritas wohl auch ihre Bedeutung für die Verkündigung. Dabei erinnert er an Kaiser Julian (†363): Angesichts der Heuchelei des Kaisers Konstantin, der sich als großer Christ ausgab, fiel Kaiser Julian vom Christentum ab und wollte das Christentum überhaupt wieder abschaffen. Aber von der Liebestätigkeit der Christen war er so beeindruckt, dass er eben diese auch von den heidnischen Priestern verlangen wollte. Das beweist, dass die Caritas schon damals ein Kennzeichen der Gemeinde Christi war (24).

Caritas ist um des Menschen willen zu üben, ohne andere Ziele, ohne Absicht. Aber gerade in dieser Lauterkeit ist sie „das beste Zeugnis für den Gott, dem wir glauben…“ Durch nichts wird Gott so sehr gegenwärtig wie eben durch die Liebe, in ihr besteht „die beste Verteidigung Gottes und des Menschen“. Darum kann es richtig sein, von Gott zu schweigen und nur die Liebe reden zu lassen (31).

Ganz leicht zu lesen ist die Enzyklika von Papst Benedikt XVI. nicht. Aber wenn der Schatz groß ist, scheut ein vernünftiger Mensch keine Mühe, ihn zu heben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2006
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Mitwirkung zur Sünde gegen das Leben

Dr. François Reckinger zeigt eine der verhängnisvollen Folgen einer „Kultur des Todes“ auf. Aufgrund der Legalisierung von Abtreibung, Euthanasie und Embryonenforschung werden immer mehr Menschen und Berufsgruppen in die „Mitwirkung zur Sünde“ hineingezogen. Unser christlicher Glaube aber verlangt, dass wir uns diesen Fesseln des Bösen mit aller Entschlossenheit entziehen und dafür auch zu Opfern bereit sind. Dies aber kann dem Einzelnen nur gelingen, wenn er sich von der Gemeinschaft der Gläubigen gestützt weiß. Die erste Hilfe von Seiten der Kirche besteht darin, klar aufzuzeigen, wo eine sittlich nicht verantwortbare Mitwirkung beginnt. Was einen konkreten Widerstand oder gar berufliche Entscheidungen betrifft, so möchte Dr. Reckinger in einen Austausch mit Betroffenen treten sowie durch bekenntnishafte Beispiele Orientierung geben und andere ermutigen, gleichzeitig aber auch durch ein breites Zeugnis auf eine Umgestaltung der Gesellschaft hinwirken.

Von François Reckinger

In Kirche heute 4/2002, S. 20f., war ein Brief an Weihbischof Laun abgedruckt, in dem ein Geschäftsstellenleiter einer deutschen gesetzlichen Krankenkasse berichtet, wie er sich nach langem inneren Ringen dazu entschlossen habe, keine Bescheinigungen über die Kostenübernahme für Abtreibungen mehr zu unterschreiben oder sie von seinen Mitarbeitern unterschreiben zu lassen. Anschließend bat er den Weihbischof, zu der damit aufgeworfenen Frage aus der Sicht der Moraltheologie Stellung zu beziehen – obwohl, wie er sagte, er sie für sich selbst schon beantwortet hätte.

Diese Veröffentlichung zeigt, wie notwendig es ist, die Frage der Mitwirkung zum Bösen nicht nur in theologischen Fachschriften, sondern auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zu besprechen, sie im Sinne Gottes zu beantworten und – dem Beispiel des Geschäftsstellenleiters folgend – die praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen.

Zurückstecken der Moraltheologie

Was die Theologie begrifft, ist ein erstaunliches Phänomen zu beobachten: Die seit den 60er Jahren tonangebende Moraltheologie von Bernhard Häring[1] enthält 20 Seiten zu diesem Thema (II, 458-477), mit weitgehend sehr konkreten Beispielen zu gut 20 verschiedenen, zumeist beruflichen Tätigkeiten, die in durchweg überzeugender Weise beurteilt werden. In der vollständig überarbeiteten Neuausgabe von 1979-81 dagegen sind es nur noch sieben Seiten (457-463),[2] und von den ehem. gut 20 Tätigkeiten ist nur knapp die Hälfte erhalten geblieben.

Im „Lexikon der christlichen Moral“ von 1976[3] finden sich dazu nur eineinhalb Spalten (1060f), im Nachfolgewerk „Neues Lexikon der christlichen Moral“ von 1990[4] zwar ca. fünf Seiten (507-511), jedoch ohne jegliche griffige und orientierende Aussage. Im Gegensatz zur 2. Auflage des „Lexikon für Theologie und Kirche"[5] erwähnt die aktuelle 3. Auflage das Stichwort überhaupt nicht.[6] Wenn man bedenkt, wie sehr sich die Situationen, in denen Menschen zur Mitwirkung bei sündhaften Handlungen gedrängt werden, seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht verringert, sondern vermehrt haben, ist ein solches Zurückstecken kaum anders denn als eine Kapitulation zu verstehen. Hier ist eine Neubesinnung erforderlich.

Worum es letztlich geht

Zunächst ist diese Problemanzeige an die Adresse der Moraltheologen gerichtet, damit sie diese Frage vorrangig behandeln und brauchbare Wegweisung dazu im Geiste Jesu vorlegen; und gleichzeitig als Ersuchen an unsere Bischöfe, damit sie dieselbe Frage mit uns Priestern beraten und anschließend richtungweisende Worte dazu sagen und schreiben: in welchen Lebensbereichen sündhafte Mitwirkung am häufigsten vorkommt, wie die wichtigsten der unterschiedlichen Situationen zu beurteilen sind und in welcher Art von Fällen öffentlich bekannte schwere Sünde vorliegt.

Ist der Sachverhalt offensichtlich, so hat dies zur Folge, dass Täter und ggf. Mittäter, die ihr Verhalten nach Mahnung nicht ändern wollen, vom Kommunionempfang auszuschließen sind. Eine derartige Maßnahme hebt das Problem und die Dringlichkeit entsprechender pastoraler Reaktion ins Bewusstsein. Sie darf nicht nur unter dem Aspekt von Strenge oder Barmherzigkeit betrachtet werden, vielmehr ist sie als stärkende Hilfe sowohl für den Betroffenen als auch für alle Gläubigen zu verstehen. Ähnlich sehen die Bischöfe der Niederlande ihre kürzlich veröffentliche Anweisung, mit der sie klarstellen, dass jemand, der sich für den Tod durch aktive Euthanasie entscheidet, nicht kirchlich beerdigt werden kann.

Ein Ausschluss vom Kommunionempfang als pastorale Maßnahme braucht von den Hirten nicht erstmals angeordnet oder gar überhaupt erst genehmigt werden. Denn sie ist entsprechend der gesamten Tradition bereits angeordnet durch Canon 915 des „Codex des Kanonischen Rechtes“, der bestimmt, dass Personen, „die hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren“, zur Kommunion nicht zugelassen werden dürfen. Es geht hier nicht nur darum, dass die Betreffenden von sich aus auf deren Empfang verzichten müssten. Das wäre auch der Fall bei geheimen, nur ihnen selbst bekannten schweren Sünden: davon handelt der folgende Canon 916. Durch Canon 915 werden Bischöfe, Priester und Diakone (und in Abhängigkeit vom jeweils zuständigen Priester auch die Laien-Kommunionhelfer) in die Pflicht genommen, offenkundige schwere Sünder nach vergeblicher Mahnung nicht länger zum Empfang zuzulassen.

Durch Nichtbeachtung dieser pastoralen Pflicht wird die Heiligkeit der Kirche verletzt, ihre Glaubwürdigkeit erschüttert und die Botschaft, die sie zu verkünden hat, verdunkelt. Es entsteht der Anschein des Sich-Arrangierens mit dem Bösen. Dadurch sammeln wir, nach den ideal gedachten Schuldbekenntnissen des Jahres 2000, neue Vergehen und schuldbare Unterlassungen, die unsere Nachfahren etwa im Jahr 2100 zu bekennen haben werden, falls sie eine solche Praxis von Schuldbekenntnis fortzuführen gedenken sollten.

Arten und Grade der Mitwirkung

Die herkömmliche Moraltheologie unterscheidet zu Recht zwei Arten von Mitwirkung: Formelle Mitwirkung ist dann gegeben, wenn der Mittäter die sündhafte Absicht des Haupttäters teilt. Eine solche Mitwirkung kann naturgemäß nie erlaubt sein. Andernfalls spricht man von bloß materieller Mitwirkung. Auch diese kann nie erlaubt sein, wenn sie in einer Handlung besteht, die in sich selbst immer Sünde ist. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand bei einer Abtreibung zwar ungern, aber immerhin auf Anweisung doch einen Teil der Abtreibungshandlung durchführt.

Anders ist es dagegen, wenn die Mitwirkung darin besteht, Nebendienste zu leisten, die in sich moralisch wertneutral sind, wie etwa „die Vorbereitung der chirurgischen Instrumente oder die medizinische Versorgung einer Frau nach einer Abtreibung“. Diese beiden Beispiele nennt Hörmann.[7] Was die Instrumente betrifft, wäre aber wohl hinzuzufügen, dass das Gesagte nur gilt, falls es sich um Instrumente handelt, die auch für sittlich einwandfreie Operationen benutzbar sind. Sind sie ausschließlich für Abtreibungen zu gebrauchen, ist ihre Bereitstellung wohl als unmittelbare materielle Mitwirkung anzusehen, die nie erlaubt sein kann.[8]

Das andere von Häring genannte Beispiel, die nachfolgende medizinische Versorgung einer Frau, die eine Abtreibung hat durchführen lassen, ist ein eindeutiger Fall entfernterer materieller Mitwirkung. Eine solche ist aus entsprechend wichtigen Gründen sittlich erlaubt. Derartige Gründe können im erwähnten Fall sein: die Gefahr, als Folge einer Weigerung den Arbeitsplatz zu verlieren; oder die Chance, zu Abtreibungspatientinnen eine persönliche Beziehung aufzubauen, um ihnen ggf. im Post-Abortion-Syndrom (PAS) beizustehen und ihnen Hilfe anzubieten, um durch Reue und Buße bei Gott Vergebung zu finden.

Eindeutiger als die Bereitung und Darreichung der Instrumente, aber offenbar zu Recht beurteilt Häring den Verkauf von Mitteln, die nur der Abtreibung dienen können, durch Besitzer und Leiter von Apotheken sowie durch deren qualifizierte Angestellte als in jedem Fall unerlaubt, während es sich bei Verpackern und Kassierern um entferntere materielle Mitwirkung handeln würde, die wie oben gesagt zu beurteilen ist.[9] Mittel, die nur zur Abtreibung dienen, sind vor allem die sog. Abtreibungspille (Mifygene), aber auch die frühabtreibenden Pessare (Spirale) und die „Pille danach“.

Weite Verzweigung

Dasselbe ist dann aber auch hinsichtlich des eingangs genannten Beispiels zu sagen: Der Krankenkassen-Filialleiter hatte mit seiner Entscheidung unbedingt Recht: Die Finanzierung einer Tötung ist unmittelbare Mitwirkung und daher niemals erlaubt. „Sie lassen Ihre Schwiegermutter umbringen, ich bezahle nur den Killer“, so kann sich niemand herausreden. Ähnlich erscheint aber auch die Situation eines Krankenhausleiters und seiner engeren Mitarbeiter, wenn sie Gynäkologen und Chirurgen suchen, die bereit sind, Abtreibungen durchzuführen; und die von Krankenhausangestellten, die Abtreibungsmittel und -instrumente besorgen. Dieselbe Art von Mitwirkung leisten Unternehmer, Angestellte und Vertreter der Pharmaindustrie, die derartige Produkte herstellen und vertreiben; ebenso Staatsbeamte, die dafür sorgen, dass der „Bedarf“ an Krankenhäusern mit Angebot der Abtreibung gedeckt ist. Von daher wird deutlich: Wenn ein Staat die Tötung von ungeborenen Kindern nicht nur für straffrei erklärt, sondern sich selbst an dem Vergehen beteiligt, wuchert und verzweigt sich die Krake der Verführung zur Mitwirkung in die verschiedensten Berufssparten hinein. Dasselbe gilt von der aktiven Euthanasie und der verbrauchenden Embryonenforschung, dort wo auch diese beiden Tötungsarten „legalisiert“ sind.

Was tun?

Die wichtigsten unterschiedlichen Situationen der Mitwirkung, die sich daraus ergeben, sollten wie gesagt von Moraltheologen im Blick auf die geltende kirchliche Lehre untersucht und beurteilt werden. Gestützt auf eine solche Vorarbeit sollten die Bischöfe und wir Priester in Verkündigung und Seelsorge den uns Anvertrauten hinsichtlich der entsprechenden moralischen Pflichten klaren Wein einschenken. Gleichzeitig aber müssten wir an Beispielen aufzeigen können, wie Menschen von heute versuchen, diese Pflichten zu erfüllen. Um derartige Beispiele zu sammeln, lade ich Ärzte, Apotheker, medizinische Mitarbeiter, Krankenhausleiter und -angestellte, Verwaltungsbeamte und alle anderen, die zur Mitwirkung bei Abtreibungen aufgefordert oder veranlasst worden sind und eine solche verweigert haben, ein, mir mitzuteilen, wie sie diese Weigerung formuliert und vorgebracht haben und welche berufliche, gesellschaftliche oder familiäre Konsequenzen das für sie gehabt hat. Zugesichert wird, dass von keinem der berichteten Beispiele unter Angabe von Namen, Ort oder genauer Bezeichnung der jeweiligen Institution Gebrauch gemacht wird. Dasselbe gilt für Forscher im Bereich der Humangenetik, die jegliche Mitwirkung verweigern, wo verbrauchende Embryonenforschung im Spiel ist.

Lesern, die von guten Bekannten wissen, dass diese sich in einer der genannten Situationen befinden, wäre ich dankbar, wenn sie die Einladung an die Betreffenden weiterleiten wollten. 

Weitere Informationen auch unter www.f-reckinger.de.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2006
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[1] Das Gesetz Christi, in: Moraltheologie, drei Bände, Freiburg i. Br. 81967.
[2] Frei in Christus, drei Bände, Freiburg i. Br. 1979-81; aktualisierte Sonderausgabe 1989.
[3] Lexikon der christlichen Moral, hg. von K. Hörmann, Innsbruck 1976.
[4] Neues Lexikon der christlichen Moral, hg. von H. Rotter und G. Virt, Innsbruck 1990.
[5] II, 1962, 503-505.
[6] Anderweitige kritische Beobachtungen zu dieser Auflage: F. Reckinger: Defizient und irreführend. Die Themen Wunder und Parapsychologie im Lexikon für Theologie und Kirche, in: Forum Katholische Theologie 18, 2002, 66-77.
[7] Mithilfe (zur Sünde): wie Anm. 3, 1060.
[8] So auf jeden Fall beurteilt Häring die Darreichung von derartigen Instrumenten (1967; wie Anm. 1, 469), in der er allerdings, unabhängig von der inneren Absicht, formelle Mitwirkung gegeben sieht. Logischer erscheint mir, von unmittelbarer materieller Mitwirkung zu sprechen. Aber das praktische Ergebnis – Unerlaubtheit in jedem Fall – bleibt sich gleich.
[9] 1967 (wie Anm.1): 466-468; 1980/1989 (wie Anm.2): 462.

Eine Botschaft von hoher Aktualität

Der Verleger Arnold Guillet ist von der neuen Enzyklika überwältigt und dem Papst für dieses Geschenk unendlich dankbar. Er bringt sie als eigenes Büchlein heraus und hat als Cover das Farbbild „Christus und die Kinder“ des berühmten russischen Malers Wassilij Bakschejew (1862-1958) gewählt.

Von Arnold Guillet

Neun Monate nach seinem Amtsantritt hat Papst Benedikt XVI. seine erste Enzyklika vorgelegt: Deus caritas est – Gott ist Liebe. Zum ersten Mal hat ein Papst damit eine theologische Ortsbestimmung der christlichen Nächstenliebe in Form einer Enzyklika vorgenommen. Warum ist das Thema Liebe gerade jetzt aktuell? Benedikt selbst erklärt es im Vorwort seines Lehrschreibens: „In einer Welt, in der mit dem Namen Gottes bisweilen die Rache oder die Pflicht zu Hass und Gewalt verbunden wird, ist dies eine Botschaft von hoher Aktualität und von ganz praktischer Bedeutung.“

Wenn tags darauf die islamistische Hamas-Partei die palästinensischen Parlamentswahlen gewinnt, scheint das die Aussage des Papstes aufs Trefflichste zu bestätigen. Deshalb liegt für manche Theologen just in diesem Vorwort der Schlüssel zur Enzyklika – hier wird gleichsam der politische Gehalt der Liebe vertäut. Der Tübinger Dogmatiker Peter Hünermann: „Wir sind in einer Situation, wo im großen Maß im Namen einer Religion, des Islam zum Beispiel, von vielen Kanzeln herab der Hass gepredigt wird. Und die Antworten darauf führen wiederum an die Grenzen: an die Grenzen nämlich des Völkerrechts und der Menschenwürde, wenn hier offen von Folter gesprochen wird, die man den Terroristen antut, und so weiter. All diese Dinge werden in der Enzyklika in einer radikalen Weise in ihrer Vordergründigkeit und Fruchtlosigkeit noch einmal angesprochen. Es wird gezeigt, dass das nicht der Weg der Welt, der Weg der Menschheit zur Humanität ist.“ Eben in seiner theologischen Ausrichtung sei dieses päpstliche Lehrschreiben ein überraschend klares Wort an die Welt von heute, betont der Theologe Peter Hünermann. Eine Spur von Rückzug in Spiritualität könne er nicht erkennen.

Und der Baseler Bischof Kurt Koch schreibt in einem Kommentar zur Enzyklika: „Dabei geht es ihm entscheidend darum, dass der Christ selbst aus der Liebe Gottes so sehr lebt, dass er die Nächstenliebe nicht mehr als ein Gebot empfindet, das ihm gleichsam von außen auferlegt wäre, sondern als Antwort auf das Geschenk des Geliebtseins, mit dem Gott dem Menschen entgegengeht, und insofern als Folge des Glaubens, der in der Liebe wirksam wird: ‚Der Glaube, das Innewerden der Liebe Gottes, die sich im durchbohrten Herzen Jesu am Kreuz offenbart hat, erzeugt seinerseits die Liebe‘ (Nr. 39). Und im Schlussteil zeigt die Enzyklika am Beispiel der Heiligen und vor allem Marias, dass derjenige, der zu Gott geht und vor ihm im Gebet verweilt, sich gerade nicht von den Menschen entfernt, sondern ihnen erst wirklich nahe wird.“

Wir dürfen Gott danken, dass er uns einen Papst geschenkt hat, der uns die Frohbotschaft unseres Glaubens so spannend erklärt. Benedikt XVI. ist sehr gelehrt, sehr wortgewaltig! Aber nicht nur das: Wir alle spüren, dass sein Charisma ein Geschenk des Heiligen Geistes ist. Seine Predigt belehrt uns nicht nur, sie packt uns, wie die Juden am Pfingstfest vom Wort des hl. Petrus ergriffen wurden. Sein Wort beglückt uns, es berührt unsere Herzen, es gibt uns neuen Mut, neue Kraft, kurz: Die Liebe Christi drängt uns.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2006
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Fastenzeit als Zeit der Befreiung

Zu Beginn der Fastenzeit geht Kaplan Dr. Christof May auf den Sinn des christlichen Fastens ein. Es hat nichts mit Kraftanstrengung zu tun, mit dem Versuch, sich selbst zu beweisen, was man schaffen kann. Vielmehr offenbart es den Weg zu einem wirklich gelungenen Leben. Es befreit vom Alltagsballast und schafft Raum für den, der allein die Sehnsucht des menschlichen Herzens stillen kann.

Von Christof May

Fasten – 40 Tage lang? So tun es die Christen jedes Jahr. Die Moslems fasten im Fastenmonat Ramadan, den Hindus sagt man strenge Askese und Fasten nach. In allen großen Religionen wird gefastet. Schon im alten Bundesvolk Israel wurde beim Tod eines Menschen ein großes Trauern und Fasten ausgerufen. Jesus befindet sich in dieser Tradition, wenn er 40 Tage in der Wüste fastet.

Den Sinn des christlichen Fastens können wir gerade durch und in dem Text des Evangeliums erschließen, der von der Versuchung Jesu in der Wüste am Ende dieser 40 Tage berichtet (Mt 4,1-11).[1]

Die einfache Logik des Teufels

40 Tage lang wird Jesus vom Heiligen Geist durch die Wüste geführt. Wer schon mal in der Wüste war, der kann sich vorstellen, dass das mit Anstrengungen und Entbehrungen verbunden war. Am Tag ist es extrem heiß und nachts sinken die Temperaturen so stark, dass man ungemein friert.

Genau in dieser Situation tritt der Teufel auf. Gerade dort, wo es dem Menschen am schlechtesten geht und wo er darben muss, kommt der Versucher und sagt: „Mach dir dein Brot selber!“ Eine ganz praktische Aufforderung – das zum Leben Notwendige, ein Stückchen Brot, das könnte sich doch Jesus selbst machen.

Aber dann wird‘s grundsätzlicher: „Wenn du mich anbetest und als das höchste Wesen verehrst, dann schenke ich dir alle Reiche, alle Macht und allen Einfluss dieser Welt.“

Schließlich, um Jesus endgültig vor die Entscheidung und Wahl, also auf die Probe zu stellen, sagt er ihm: „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann stürze dich von diesem Felsen herab. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dich auch im Sturz zu tragen, dich auf ihren Händen zu tragen – Kann doch gar nichts passieren! – Spring doch!“

Jesus antwortet entwaffnend einfach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen!“

Woher hat er die Kraft, den Versuchungen zu widerstehen?

Versetzen wir uns in die Lage: 40 Tage nichts zu essen, es ist unerträglich heiß, schon lange hat man die Orientierung verloren. Da kommt einer, der verspricht, dass er zu essen und zu trinken gebe. Wenn man sich zu ihm bekenne und ihn anbete, dann schenke er allen Luxus dieser Welt: Macht, Ansehen, Prestige, Wellness, Schönheit, Dolce Vita …

Das alles zu einem geringen Preis, nämlich zu sagen: „Luxus, ich bete dich an. Des Brot ich ess‘, des Lied ich sing!“ Das ist das Lied des Konsums, des Verbrauchs, des Überflusses und des Schönheitswahns. Die Logik des Teufels aber ist entwaffnend einfach! Hat nicht jeder die Sehnsucht, sein Leben etwas schöner zu gestalten? Natürlich sind Geld und Besitz nicht alles, aber glücklich scheint doch in der gegenwärtigen Gesellschaft nur derjenige zu sein, der sich alles leisten kann. So versprechen es zumindest die Werbungen im Fernsehen.

Die andere Perspektive Jesu

Jesus hat eine andere Perspektive: Er schaut nicht auf die augenblickliche Erfüllung aller Sehnsüchte und Wünsche. Er sieht nicht nur sehnsüchtig auf das, was gerade fehlt – denn irgendetwas fehlt doch immer!

Wenn man den Blick allein auf das Fehlende konzentriert, dann wird die Fastenzeit tatsächlich zu einem schweren Opfer. In dieser Perspektive nehmen sich viele Menschen die Vorsätze für die Fastenzeit: keine Süßigkeiten, weniger Fernsehen, weniger Internet und Computer, kein Alkohol, weniger Fleisch, nicht mehr rauchen …

Das sind alles „Nein-nicht-kein-Sätze“. Es wird negativ festgestellt, was in der Zeit der Vorbereitung auf Ostern nicht gewollt wird. Ganz aus eigener Kraft wollen die Menschen verzichten. Etwas überspitzt formuliert: Da werden die Ärmel hochgekrempelt, da reiß ich mich zusammen, nicht mehr so viel zu trinken. Da hungert man sich 10 Kilo runter, um sich zu beweisen, dass man doch noch in die alten Hosen passt.

All diese Motivationen sind ausschließlich auf das Diesseits bezogen. Unterbewusst wollen sich viele Menschen beweisen, dass sie es schaffen können. – Darum geht es gerade nicht; sich zu beweisen, zu was man alles in der Lage ist, auf was alles verzichtet werden kann. In diesen 40 Tagen geht es doch vielmehr darum, das Leben neu auszurichten, oder besser: es ausrichten zu lassen – auf Gott hin. Es geht darum, sich die Zügel über das Leben aus der Hand nehmen zu lassen, um zu erkennen: letztendlich ist Gott das Fundament meines Lebens. Er ist der wirklich zum Leben Notwendige.

Alles andere ist Makulatur, vergängliches Schmuckwerk, Eitelkeit der Welt. So schön diese Dinge auch sind, sie können das Leben nicht tragen. Wir können die Fastenzeit nutzen, um den tragenden Grund unseres Lebens, Gott, wiederzuentdecken und um uns neu auf ihn hin auszurichten.

Fasten mit Leichtigkeit

Wenn wir ihn erkannt haben, dann können wir mit Hilfe seines Geistes auch den Versuchungen des Alltags widerstehen; nicht in einem Akt größter Kraftanstrengung, sondern in der Gelassenheit, dass wir alle Kinder des einen Gottes sind. Dann können wir uns befreien, von diesen seltsamen, immer mehr um sich greifenden Konventionen, die besagen, dass nur der Gesunde, der Schöne, der Erfolgreiche ein gelungenes Leben habe. Dessen Leben ist gelungen, der sein Leben vertrauend auf Gott gestellt hat. In dieser Leichtigkeit kann Jesus am Ende der vierzig Tage in der Wüste dem Teufel widerstehen.

Wenn wir das verstanden haben, dann fasten wir gern; um uns zu befreien für ihn, Gott; dann bekommt unser Leben erneut Ziel und Sinnausrichtung. Menschen, die wirklich und in rechter Gesinnung fasten, sind keine Trauerklöße, die dauernd auf etwas verzichten müssen, sondern sie sind froh, Gott in ihrem Leben in dem Maß wiederzuentdecken, in dem sie sich vom Alltagsballast befreien. Fastenzeit ist nicht vorrangig eine Zeit des Verzichts, sondern eine Zeit, um frei zu werden von Dingen, die den Blick auf das Gottesverhältnis verstellen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2006
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[1] Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt; dort sollte er vom Teufel in Versuchung geführt werden. Als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, bekam er Hunger. Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird. Er aber antwortete: In der Schrift heißt es: Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt. Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellte ihn oben auf den Tempel und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. Jesus antwortete ihm: In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen. Wieder nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen Berg; er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest. Da sagte Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen. Darauf ließ der Teufel von ihm ab und es kamen Engel und dienten ihm.

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