Licht und Schatten

Professor Dr. Walter Brandmüller, der ehemalige Ordinarius für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Augsburg, ist Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften in Rom. Vor kurzem veröffentlichte er ein spannend geschriebenes und äußerst aufschlussreiches Buch mit dem Titel: „Licht und Schatten. Kirchengeschichte zwischen Glaube, Fakten und Legenden“.[1] In 17 Essays versucht er, geschichtliche Zusammenhänge aufzuhellen und sich der weit verbreiteten Kritik an Papsttum, „finsterem Mittelalter“, Inquisition und Kreuzzügen zu stellen. Wir haben dem Historiker einige Fragen zu seinem neuen Buch gestellt und geben nachfolgend einen Auszug aus dem einleitenden Kapitel „Dieser Kirche trauen?“ wieder. Bereits wenige Zeilen geben einen hervorragenden Einblick in die gewandte Art, mit der sich der Gelehrte auf die bekannten Herausforderungen einlässt.

Von Walter Brandmüller

Gelegentlich wird die Kirche mit der Arche Noahs verglichen: Nur jene Söhne und Töchter, nur jene Tiere, die Noah mit sich in die Arche nahm, wurden aus der großen Flut gerettet. In ähnlicher Weise sei die Kirche die einzige Rettung des Menschen vor der endgültigen Katastrophe.

Wenn es um die allerletzten Dinge, um das ewige Schicksal des Menschen geht, dann kommt der Frage, wem er dieses sein ewiges Schicksal, sich selbst, anvertrauen, worauf er sich im Leben und Sterben verlassen kann, höchste Dringlichkeit zu. Da nun die Kirche den exklusiven Anspruch erhebt, die rettende Arche schlechthin zu sein, muss dieser Anspruch so solide begründet sein, dass es für den Menschen keinen Sprung ins Ungewisse bedeutet, wenn er sein Vertrauen in diese Arche setzt.

Fragen über Fragen

Vielen unserer Zeitgenossen erscheint ein solches Vertrauen auf die Kirche geradezu als eine Zumutung an den gesunden Menschenverstand. Gibt es, so wendet man ein, nicht zahllose Fakten, die die Glaubwürdigkeit der Kirche erschüttern?

Viele haben die nicht wenigen Bücher gelesen oder Fernsehsendungen gesehen, die sich mit dem Thema „Qumran“ befassten und den Beweis zu liefern scheinen, dass die Anfänge Jesu von Nazareth und des Christentums ganz anders dargestellt werden müssten, als dies die Evangelien und das übrige Neue Testament tun. Mancher hat auch jenes in Jerusalem gefundene Tonbehältnis gesehen, in welchem Totengebeine aufbewahrt wurden und auf dem die Namen Joseph, Maria und Jesus zu lesen waren. Ist das nicht ein schlagender Beweis dafür, dass weder Jesus leiblich von den Toten auferstanden ist, noch Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde? Damit aber zerfallen doch die Grundlagen des christlichen Glaubens und der Kirche zu Staub und Asche! So argwöhnen nun viele.

Hinzu kommt, dass die Kirche – wie man sagt – ihren Anspruch auf unfehlbaren Wahrheitsbesitz in zahlreichen Fällen durch grobe Irrtümer ihres Lehramtes desavouiert habe. Folgen wir Hans Küng, der „klassische, heute weithin zugegebene Irrtümer des kirchlichen Lehramts“ aufzählt. Als ersten nennt er die „Exkommunikation des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Photios, und der griechischen Kirche, welche die nun bald tausendjährige Kirchenspaltung mit der Ostkirche formell machte“. Sodann führt Küng „das Verbot des Zinsnehmens zu Beginn der Neuzeit (an), wo das kirchliche Lehramt nach mannigfachen Kompromissen viel zu spät seine Auffassung änderte“. Dass er dann auch noch den Galileiprozess von 1616 beziehungsweise 1633 und anderes dieser Art dazurechnet, ist nicht anders zu erwarten. Den letzten großen Irrtum des Lehramts erblickt er in der Verwerfung der künstlichen Empfängnisverhütung.

Andere vor und nach ihm stellten die Kirche wegen der Kreuzzüge, der Inquisition und der Hexenprozesse an den Pranger, und wem das noch nicht genug ist, der wird auf Finanzskandale der Vatikanbank und auf das Mordkomplott gegen den so sympathischen Papst Johannes Paul I. hingewiesen: Mafia im Vatikan, im Herzen der Kirche. Aus einer anderen Ecke tönt es, eine machtgierige Freimaurerclique habe schon Paul VI. durch einen ihr gefügigen Doppelgänger ersetzt, und überhaupt habe die Loge längst die Macht im Vatikan ergriffen – und so weiter. Wer also kann einer solchen Kirche noch vertrauen?!

Wenn man aber wirklich die kritische Frage nach Glaubwürdigkeit stellt, dann nicht nur an die Kirche, sondern auch an die gegen sie vorgebrachten Einwände.

Berechtigte Kritik?

Das „Qumran“-Thema: Die meistgelesenen Bücher über Qumran, „Verschlusssache Jesus“ (Baigent-Leigh) und „Jesus und die Urchristen“ (Eisenmann) wie auch andere vergleichbare Veröffentlichungen dieses Inhalts, sind durch die ernsthafte Forschung als üble Machwerke entlarvt. Zum Teil sind sie Ergebnisse wissenschaftlicher Unfähigkeit, zum Teil beruhen sie auf bewusster böswilliger Verfälschung der Tatsachen. Gerade die Qumranfunde sind es, die, ganz im Gegenteil, höchst interessante und sogar klärendes Licht auf das Neue Testament werfen. Und dann das Knochenbehältnis mit den Namen Joseph, Maria, Jesus, das tatsächlich aus Jerusalem und aus der Zeit Jesu stammt: Die Namen besagen gar nichts, wenn man bedenkt, dass sie so verbreitet waren und darum so nichtssagend sind, wie es heute die Namen Müller, Meyer oder Schuster wären.

In ähnlicher Weise handelt es sich auch bei Hans Küngs „Irrtümern“ des kirchlichen Lehramts mehr um Irrtümer Hans Küngs als um solche der Kirche. Zum ersten verwechselt er seitenlang den Patriarchen Photios mit dem Patriarchen Kerullarios. Zum anderen verschweigt Küng, dass Photios exkommuniziert wurde, weil er auf unrechtmäßige Art und Weise Patriarch geworden war und überdies Rom der Häresie bezichtigt und mit Hilfe einer manipulierten Synode Papst Nikolaus I. abzusetzen versucht hatte. Je nachdem man die näheren historischen Umstände dieses Falles beurteilt, könnte man allenfalls von einer kirchenpolitischen Fehlentscheidung, einer ungerechten Exkommunikation sprechen, niemals jedoch von einem Irrtum des kirchlichen Lehramts. Gleiches gilt auch vom Zinsverbot und seiner stufenweisen Abschaffung durch die Kirche. Dieses Verbot des Zinsnehmens war schon im Alten Testament begründet und auch von Päpsten und Konzilien festgehalten worden. Warum dies so war, wird klar, wenn man bedenkt, dass in der antiken und mittelalterlichen Welt Zinsnehmen weithin gleichzusetzen war mit Wucher. Den sündhaften Charakter als Wucher verlor das Zinsnehmen jedoch durch die Wandlungen der Wirtschaftsformen im späten Mittelalter. Somit fiel auch der Grund für das Zinsverbot im Laufe der Zeit dahin, und in der Folgezeit ging es dann nur noch um die Frage nach dem gerechten Zinssatz. Das generelle Verbot war damit hinfällig geworden. Wo also liegt hier ein Irrtum des kirchlichen Lehramts vor?

Auch die so oft als Irrtum des kirchlichen Lehramts bezeichnete Verurteilung von Galileis Lehre über das Feststehen der Sonne und die Bewegung der Erde zeigt sich bei etwas genauerem Zusehen als zu ihrer Zeit berechtigt. Weder konnte Galilei mit seinen wissenschaftlichen Mitteln einen die damalige wie die heutige Fachwelt überzeugenden Beweis führen, dass dies wirklich so sei, noch konnte er vor der Entdeckung der Schwerkraft durch Isaac Newton erklären, wie es möglich sein konnte, dass die Erde sich in rasender Geschwindigkeit um die Sonne und um die eigene Achse dreht – während zugleich von uns nichts davon wahrgenommen wird, da ja alles auf Erden fest und sicher steht, anstatt in wildem Wirbel durcheinandergeschleudert zu werden. Vor allem aber ist in diesem ganzen Verfahren gegen Kopernikus und Galilei keine einzige lehramtliche Äußerung erfolgt, die man als Dogma hätte bezeichnen können und die deshalb unwiderruflich gewesen wäre. Auch in diesem Fall versäumt es der Kritiker, die vielen geistes-, kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Vorgänge und Fakten zu berücksichtigen, die diese Entscheidung erklären. Und: Gerade die jüngsten naturwissenschaftlichen Ergebnisse geben der Kirche des Jahres 1633 recht.

Vergleichbar differenziert, vorsichtig und umfassend müssen auch die Probleme behandelt werden, die sich mit den Reizthemen Kreuzzüge, Inquisition und Hexenprozesse verbinden. Sie erscheinen im Lichte der neueren und neuesten Forschung weitaus vielschichtiger und komplizierter, als dies jene wahrzunehmen vermögen, die hier Munition gegen die Kirche zu finden meinen. Wer außerdem nur eine entfernte Ahnung von der Kompliziertheit finanzpolitischer Aktionen und ihrer weltweiten Verknüpfungen hat und überdies weiß, welche Möglichkeiten der Manipulation sich hier eröffnen, wird, wenn es um die bewussten vatikanischen Finanzskandale geht, auf Seiten kirchlicher Instanzen eher zu große Vertrauensseligkeit, vielleicht finanztechnische Unfähigkeit oder gar Leichtsinn annehmen als kriminelle Machenschaften.

Und was die Beurteilung von Yallops Buch „Im Namen Gottes“ anlangt, in dem die Ermordung Johannes Pauls I. behauptet wird, so genügt die Lektüre von dessen ersten dreißig Seiten, um ein Urteil zu fällen. Auf diesen Seiten ist von den Päpsten des 19. Jahrhunderts die Rede, und dabei wird so viel Falsches gesagt, dass man sich kaum vorstellen kann, der Verfasser habe auch nur ein Lexikon benützt. Das hätte nämlich genügt, um diese zahlreichen Fehler zu vermeiden. Wenn er schon das nicht richtig wiedergibt, was alle Welt wissen kann, wie soll man ihm dann glauben können, wenn er sich auf Gespräche und Vorgänge beruft, von denen es der Natur der Sache nach keine Zeugen außer den angeblich Beteiligten geben kann. Von den üppigen Ausblühungen überhitzter Phantasie wie etwa dem Doppelgänger Pauls VI. ist wohl nicht weiter zu reden.

All das also und noch manch anderes wird angeführt, um das Vertrauen in die Kirche zu erschüttern. Wie in diesen allzu knappen Ausführungen gezeigt, genügt aber in all den angeblich die Kirche desavouierenden Fällen historische und theologische Sachkenntnis, um die Grundlosigkeit solcher Angriffe zu erweisen.

Aber das moralische Versagen!

Die umfassendste Sachkenntnis dieser Art wird – so kann mit Recht entgegnet werden – jedoch nicht genügen, um das alle Jahrhunderte hindurch an allen Orten festzustellende religiös-sittliche Versagen nicht weniger Glieder der Kirche – bis hin zu dem päpstlichen Ehebrecher Alexander VI. – zu entschuldigen. Da aber stellt sich die Frage, worauf wir eigentlich das Vertrauen gründen, das wir auf die Kirche setzen.

Eigentlicher Grund unseres Vertrauens kann niemals eine glänzende geistig-religiöse Erscheinungsform der Kirche in dieser Welt sein: Die gab es und gibt es zwar stets und überall – aber es gibt ebenso stets und überall das viel auffallendere Gegenteil davon. So muss schon alle Urkirchenromantik, die in der Kirche der ersten christlichen Generationen eitel Heiligkeit und Größe zu erkennen meint, an den harten Tatsachen scheitern: das christliche Ehepaar Ananias und Sapphira hat versucht, den Apostel Petrus zu betrügen; in der Paulusgemeinde in Korinth gab es einen Fall von Inzest und Opposition gegen den Apostel; in Philippi hatten die – wie man heute sagen würde – engagierten Mitarbeiterinnen des hl. Paulus, Evodia und Syntyche, solchen Krach miteinander, dass Paulus sie ernstlich ermahnen musste. Ja, Paulus selbst trennte sich auf einer Reise von Markus und Barnabas wegen offenbar nicht zu bereinigender Meinungsverschiedenheiten. Schließlich gab es schon um das Jahr 70 – so nach neuesten Forschungen – in Korinth einen Aufstand gegen die Presbyter, so dass der Bischof von Rom dort energisch eingreifen musste.

Die Kirche hat also nie jene makellos leuchtende Erscheinung gehabt, die sie haben sollte. So verwundert es auch nicht, dass solche, die besonders fromm zu sein glaubten, daran immer wieder Anstoß genommen und ihre eigene „Kirche der Tadellosen“ gegründet haben. Demgegenüber hat sich die Kirche selbst immer als große Realistin erwiesen, die immer und überall auch mit dem Versagen ihrer Glieder gerechnet hat und rechnet. Nicht umsonst hat der Herr Jesus selbst, der ja das Menschenherz in seinen Tiefen erforscht und kennt, das Sakrament der Sündenvergebung eingesetzt.

Man kann auch nicht sagen, dass die Hirten und die Glieder der Kirche immer und überall auf die Herausforderungen der Geschichte richtig reagiert haben. Dabei ist, im Gegenteil, mancher im Nachhinein offenkundige Fehler begangen worden. War es denn etwa nicht verhängnisvoll, dass Papst Clemens V. sich von der Forderungen des französischen Königs Philipp einschüchtern ließ und den im Ganzen gewiss unschuldigen Templerorden dem großenteils blutigen Untergang preisgab? Ganze Episkopate – heute würde man von Bischofskonferenzen sprechen – verfielen während der arianischen Krise des 4. und 5. Jahrhunderts der Irrlehre. Im 16. Jahrhundert folgten die Bischöfe Englands mit Ausnahme des hl. John Fisher aus Schwäche und Feigheit König Heinrich VIII. in den Abfall von Papst und Kirche, und ähnlich stand der französische Episkopat im Konflikt um die Freiheit der Kirche vom Staat auf Seiten Ludwigs XIV. gegen den Papst. Fast zwei Jahrhunderte begünstigten die französischen Bischöfe die Irrlehre des Jansenismus. Der Ausnahmen waren nicht viele. Und wie verhielten sich die deutschen Bischöfe im Investiturstreit des 11. und 12. Jahrhunderts? Im Jahre 1080 unternahm eine Mehrheit von deutschen Bischöfen unter dem Einfluss Kaiser Heinrichs IV. auf einer Synode zu Brixen den Versuch, Papst Gregor VII. abzusetzen und einen Gegenpapst zu wählen. Auch jene deutschen Bischöfe, die sich der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts konfrontiert sahen, haben zweifellos großenteils versagt.

All das füllt wahrlich keine Ruhmesblätter in den Annalen der Kirche. Wir können unser Vertrauen also letzten Endes auch nicht auf die Weisheit und Kraft der Hirten setzen. Der Kirche ist aber weder Tadellosigkeit noch Tüchtigkeit ihrer Hirten und ihrer Gläubigen verheißen. Was ihr gottmenschlicher Stifter Jesus Christus jedoch garantiert hat, ist ihr unerschütterlicher Beistand und ihr unerschütterliches Feststehen in der Wahrheit bis zu seiner Wiederkunft am Ende der Zeit. Das bedeutet, dass die Kirche, wenn immer sie in letztverbindlicher Form spricht, niemals einen Glaubensirrtum verkünden kann, dass ihre Sakramente, sofern sie nur der Weisung der Kirche entsprechend gespendet werden, immer die ihnen eigene Gnadenwirkung hervorbringen, und dass ihre hierarchisch-sakramentale Ämterstruktur von Primat, Episkopat und Priestertum unversehrt erhalten bleibt. Eben dadurch aber ist die Garantie gegeben, dass die Gnaden der Erlösung den Menschen aller Generationen zugänglich bleiben, bis der Herr wiederkommt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Walter Brandmüller: Licht und Schatten – Kirchengeschichte zwischen Glaube, Fakten und Legenden, Augsburg 2006, 224 S., geb., ISBN 978-3-936484-99-1.

„Umschwung in der intellektuellen Großwetterlage“

Kurzinterview mit Walter Brandmüller

Kirche heute: Herr Professor, in welchem Zeitraum Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit sind die 17 Abhandlungen Ihres neuen Buches entstanden?[1]

Brandmüller: In diesem Buch sind siebzehn Texte gesammelt, die Vorträge und Artikel wiedergeben, die im Laufe der letzten 20 Jahre vorgetragen bzw. verfasst und an verschiedenen, oft versteckten Orten veröffentlicht wurden.

Kirche heute: Gab es einen aktuellen Anlass für die Herausgabe einer solchen Klarstellung?

Brandmüller: Konkreten Anlass für die Publikation dieser Sammlung bot das unerwartete Echo auf das im Gespräch mit Ingo Langer entstandene Galilei-Buch.

Kirche heute: Worin besteht das Hauptanliegen Ihres Buches?

Brandmüller: Sie fragen nach der Absicht, die dieser Essayband verfolgt? Nun, es ist der durch die Wahl Benedikts XVI. ausgelöste Umschwung in der intellektuellen Großwetterlage, in dessen Folge katholischer Glaube und katholische Kirche in weiten Kreisen auf neues Interesse stoßen.

Unser Buch soll – so wäre zu wünschen – diesem Interesse entgegenkommen, indem es nicht nur sachlich richtige Information bietet, sondern auch Zugänge zu einem sachgerechten Verständnis der Kirche und ihrer Vergangenheit zu eröffnen sucht. Natürlich geht es da auch um die Probleme der Gegenwart vor dem Hintergrund der Vergangenheit.

Außerdem sollten allgemein verbreitete und kaum hinterfragte Verzerrungen des Geschichtsbildes korrigiert werden.

Kirche heute: Haben Sie Ihr Buch dem Hl. Vater übergeben od. vorgestellt?

Brandmüller: Dem Heiligen Vater habe ich dieses Buch natürlich übersandt und dafür sein „Werte in Zeiten des Umbruchs“ mit einer liebenswürdigen Widmung erhalten.

Kirche heute: Herr Prälat, wir danken Ihnen ganz herzlich und wünschen Ihnen für Ihre wichtige Tätigkeit in Rom Gottes reichen Segen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Walter Brandmüller: Licht und Schatten – Kirchengeschichte zwischen Glaube, Fakten und Legenden, Augsburg 2006, 224 S., geb., ISBN 978-3-936484-99-1.

Die Wahrheit über die Kreuzzüge

Robert Spencer aus Washington D.C. ist der Verfasser einer kritischen Abhandlung über den Islam, in der er besonders auf die Geschichte der Kreuzzüge eingeht.[1] Im April 2006 gab er ZENIT zur Grundaussage seines Buches ein viel beachtetes Interview. Er stellte heraus, dass irrige Vorstellungen über die Kreuzzüge von Extremisten dafür genutzt würden, Feindseligkeit gegen die westliche Welt zu schüren. Nachfolgend haben wir die wichtigsten Aussagen des Fachmanns zusammengefasst.

Von Robert Spencer

Längst fällige Verteidigung

Die Kreuzzüge waren kein militärischer Angriffsschlag. Papst Urban II., der auf dem Konzil von Clermont im Jahr 1095 zum ersten Kreuzzug aufrief, hat dies aus Gründen einer längst fälligen Verteidigung getan. Er rufe deshalb zum Kreuzzug auf, so erklärte der Papst, weil „die Angriffe auf die Christen“, die „Gottgläubigen“, durch die Türken und andere muslimische Streitkräfte ohne Verteidigung noch viel größere Ausmaße annehmen würden. „Denn die Gläubigen wurden, wie die meisten von euch bereits gehört haben, von Türken und Arabern angegriffen und das Territorium der ,Romania‘ (des hellenistischen, also griechischen Imperiums), das im Westen bis zur Mittelmeerküste und dem Hellespont (Dardanellen), der der Arm St. Georgs genannt wird, reichte, wurde erobert.“ In dem Aufruf Papst Urbans II. heißt es des Weiteren wörtlich: „Sie haben immer mehr Länder der dortigen Christen besetzt und diese in sieben Kriegen besiegt. Sie haben viele von ihnen getötet und gefangen genommen, die Kirchen zerstört und das Kaiserreich (von Byzanz) verwüstet. Wenn man sie das weiter ungestraft tun lässt, werden die Gläubigen in einem noch weit größeren Ausmaß von ihnen angegriffen werden.“ Was der Heilige Vater damals gesagt hat, stimmte. Im Verlaufe des Dschihad, des „Heiligen Krieges“, sind vom siebten Jahrhundert an bis zur Zeit Papst Urbans über die Hälfte der christlich besiedelten Gebiete erobert und islamisiert worden. Bis zu den Kreuzzügen hatte die europäische Christenheit auf diese Provokationen nicht reagiert.

Verfolgung der Christen im Heiligen Land

Eines der häufigsten Missverständnisse ist die Vorstellung, die Kreuzzüge seien ein unprovozierter Angriff von Seiten Europas gegen die islamische Welt gewesen. In Wirklichkeit stand die Eroberung Jerusalems durch die Muslime im Jahr 638 am Anfang jahrhundertelanger Angriffe von Seiten des Islam, und die Christen im Heiligen Land sahen sich einer Spirale der Verfolgung ausgesetzt, die zu eskalieren drohte.

Zu Beginn des achten Jahrhunderts wurden zum Beispiel 60 christliche Pilger, die von Amorion, einer byzantinischen Stadt im Zentrum Anatoliens, kamen, gekreuzigt. Um dieselbe Zeit ließ der muslimische Kommandant von Caesarea eine Gruppe von Pilgern aus Ikonium (antiker Name für Konya, einer Stadt in Inneranatolien) gefangen nehmen und alle – bis auf eine kleine Zahl, die zum Islam konvertierten – als Spione hinrichten. Die Muslime verlangten von den Pilgern auch Geld – unter der Drohung, die Auferstehungskirche zu plündern, falls sie nicht zahlten.

Im späteren Verlauf des achten Jahrhunderts ließ ein muslimischer Herrscher in Jerusalem das Symbol des Kreuzes in der Öffentlichkeit verbieten. Er ließ auch die Steuern für Nicht-Muslime erhöhen, die „jizya“, die die Christen zu zahlen hatten, und verbot ihnen, ihre eigenen Kinder und ihre Mitchristen im Glauben zu unterweisen.

Zu Beginn des neunten Jahrhunderts wurden die Verfolgungen so grausam, dass eine große Zahl von Christen nach Konstantinopel und in andere christliche Städte floh. Im Jahr 937 wüteten Muslime am Palmsonntag in Jerusalem und plünderten und zerstörten die Kirche auf dem Kalvarienberg sowie die Auferstehungskirche.

Im Jahr 1004 ordnete der Fatimidenkalif (als „Fatimiden“ wird die von Fatima, der jüngsten Tochter Mohammeds, abstammende mohammedanische Dynastie bezeichnet, Anmerkung der Redaktion) Abu 'Ali al-Mansur al-Hakim, die Zerstörung von Kirchen, das Verbrennen von Kreuzen und die Aneignung von Kirchenbesitz an. In den darauf folgenden zehn Jahren wurden 30.000 Kirchen zerstört, und unzählige Christen traten zum Islam über, um ihr Leben zu retten.

Im Jahr 1009 ließ al-Hakim die Grabeskirche in Jerusalem zusammen mit mehreren anderen Kirchen, darunter die Auferstehungskirche, zerstören. Im Jahr 1056 vertrieben die Muslime 300 Christen aus Jerusalem und verboten europäischen Christen, die wieder aufgebaute Grabeskirche zu betreten.

Als die seldschukischen Türken im Jahr 1077 Jerusalem einnahmen, versprach der Seldschuke Emir Atsiz bin Uwaq, die Einwohner zu verschonen. Sobald jedoch seine Männer die Stadt betreten hatten, ermordeten sie rund 3.000 Menschen.

Kreuzzüge ohne Zwangsbekehrung

Ein weiterer sehr geläufiger historischer Irrtum besteht in der Meinung, dass die Kreuzzüge mit dem Ziel geführt wurden, Muslime gewaltsam zum Christentum zu bekehren. Entgegen dieser Behauptung ist das Fehlen jeglichen Aufrufs Papst Urbans II. an die Kreuzfahrer, die Muslime zu bekehren, eklatant. In keinem der Berichte über Papst Urbans Erklärung auf dem Konzil von Clermont findet sich irgendeine derartige Aufforderung.

Erst im 13. Jahrhundert – über 100 Jahre nach dem ersten Kreuzzug! – kam es dazu, dass europäische Christen einen koordinierten Versuch unternahmen, Muslime zum Christentum zu bekehren. Das geschah, als die Franziskaner in jenen Gebieten, die von den Kreuzfahrern besetzt worden waren, mit der Mission unter Muslimen begannen. Allerdings blieb dieser Versuch weitgehend erfolglos.

Plünderung Jerusalems durch die Kreuzfahrer

Die Eroberung Jerusalems wird oft als einzigartiges Ereignis in der Geschichte des Mittelalters dargestellt und als Ursache für das Misstrauen der Muslime gegenüber der westlichen Welt. Richtiger müsste es heißen: Sie war der Beginn einer jahrtausendelangen Verbreitung antiwestlicher Ressentiments und antiwestlicher Propaganda.

Die blutige Plünderung Jerusalems durch die Kreuzfahrer im Jahr 1099 war zwar ohne Zweifel ein abscheuliches Verbrechen – besonders im Licht der religiösen und moralischen Prinzipien, auf die sie sich beriefen. Jedoch war sie nach den militärischen Standards der damaligen Zeit nichts Außergewöhnliches. In jener Zeit war es ein allgemein anerkannter Grundsatz der Kriegsführung, dass eine belagerte Stadt, wenn sie gegen die Eroberung Widerstand leistete, geplündert werden durfte. Leistete sie keinen Widerstand, pflegte man sie zu verschonen. Es ist historisch belegt, dass muslimische Armeen sich häufig genauso verhalten haben, wenn sie in eine eroberte Stadt einzogen. Zwar soll hier nicht das Verhalten der Kreuzfahrer entschuldigt werden, indem auf ähnliches Handeln auf anderer Seite hingewiesen wird – eine Gräueltat rechtfertigt nicht eine andere –, es zeigt aber, dass das Verhalten der Kreuzfahrer in Jerusalem dem anderer Armeen der Periode entsprochen hat, und zwar aufgrund derselben Einstellung zu Belagerung und Widerstand, die die verschiedenen Städte besaßen.

Im Jahr 1148 schreckte der muselmanische Kommandeur Nur ed-Din nicht davor zurück, alle Christen in Aleppo (Stadt in Nordwest-Syrien) töten zu lassen. Als im Jahr 1268 die Dschihad-Streitkräfte des Mamelukken-Sultans Baybars Antiochien den Kreuzfahrern weggenommen hatten, war Baybars verärgert, als er feststellen musste, dass der Kommandeur der Kreuzfahrer die Stadt bereits verlassen hatte. Er schrieb deshalb einen Brief an ihn, welcher erhalten geblieben ist und in dem er mit seinen Massakern an den Christen prahlte.

Am berüchtigtsten ist wohl der Einmarsch der Dschihad-Krieger in Konstantinopel am 29. Mai 1453, als diese, wie der Historiker Steven Runciman schreibt, „alle, die sie auf der Straße antrafen, unterschiedslos erschlugen – Männer, Frauen und Kinder“.

Muslimische Propaganda

Jahrhunderte lang, als das Osmanische Reich blühte, waren die Kreuzzüge nicht die vorrangige Sorge der islamischen Welt. Vom westlichen Standpunkt aus betrachtet waren sie einfach ein Misserfolg. Mit dem Verfall der militärischen Macht und der Einheit der islamischen Welt und dem damit zusammenfallenden Aufstieg des Westens wurden sie jedoch zum Brennpunkt muslimischer Ressentiments gegenüber dem, was sie als Übergriff und Ausbeutung empfanden.

Die Kreuzzüge richten heute wohl eine größere Verwüstung an, als sie es in den drei Jahrhunderten, als die meisten von ihnen geführt wurden, getan haben. Ich beziehe mich hier nicht auf das, was den Verlust von Menschenleben und die Zerstörung materieller Besitztümer angeht, sondern meine eine subtilere Form von Zerstörung. Die Kreuzzüge sind zur Hauptsünde nicht nur der katholischen Kirche, sondern auch der ganzen westlichen Welt geworden. Sie sind das Beweisstück Nr. 1 für die Anklage, dass es letztendlich der Westen sei, der die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen der muslimischen Welt und der westlichen post-christlichen Zivilisation zu verantworten habe. Der Westen habe die Muslime provoziert, ausgebeutet und brutal behandelt, seit die ersten Frankenkrieger in Jerusalem einzogen.

Angesichts der derzeitigen Propaganda sollten sich die Bewohner des Abendlandes hinsichtlich der Kreuzzüge nicht ins Bockshorn jagen lassen. Es ist Zeit, klar zu sagen: „Jetzt reicht es“, und unsere Kinder zu lehren, auf ihr eigenes Erbe stolz zu sein. Sie sollen wissen, dass sie eine Kultur und eine Geschichte haben, für die sie dankbar sein können; dass sie nicht Kinder und Enkel von Tyrannen und Schurken sind, und dass ihre Häuser und Familien es wert sind, dass man sie gegen jene verteidigt, die sie ihnen wegnehmen wollen und die nicht davor zurückschrecken, einen Mord zu begehen, um ihr Ziel auch zu erreichen.

 

Vergebungsbitte Papst Johannes Pauls II.

Am 12. März 2000, dem sog. „Tag der Vergebung“, sagte Johannes Paul II.: „Wir müssen einfach die Treulosigkeiten gegenüber dem Evangelium, die von einigen unserer Brüder im Glauben besonders im zweiten Jahrtausend begangen worden sind, zur Kenntnis nehmen. Lasst uns um Vergebung bitten für die Spaltungen unter den Christen, für die Gewalt, die einige bei ihrem Dienst an der Wahrheit angewendet haben, und für die misstrauische und feindselige Haltung, die bisweilen gegen die Anhänger anderer Religionen eingenommen wurde.“

Spencer gibt zu bedenken, dass es sich bei diesen Worten nicht um eine ausdrückliche Entschuldigung des Papstes bei den Muslimen für die Kreuzzüge handelt. Bewusst hat Johannes Paul II. seine Formulierung im Blick auf die Kreuzzüge offen gelassen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Der Titel des englischsprachigen Buches lautet: „Politically Incorrect Guide to Islam (and the Crusades)“„Politisch nicht-korrekter Führer zum Islam (und zu den Kreuzzügen)“, 270 S. (Taschenbuch), Regnery Publishing Verlag 2005, ISBN-13: 978-0895260130.

Anatolien – die Wiege der Kirche

Professor Dr. Rudolf Grulich ist von einer mitreißenden Liebe zum „heiligen Land der Kirche“, der Türkei, erfüllt. Diese Leidenschaft spiegelt sich auch im nachfolgenden Beitrag über das „Apostolische Vikariat Anatolien“ wider. Er beschreibt das Gebiet als „Wiege der Kirche“, in der bis heute unzählige christliche Schätze zu finden sind. Gleichzeitig ruft er nachdrücklich zur Unterstützung der dort lebenden Gläubigen auf. Dies kann seiner Meinung nach besonders durch Pilgerfahrten geschehen. „Kirche heute“ geht mit gutem Beispiel voran und bietet unter seiner fachkundigen Leitung vom 23. bis 29. September eine Leserreise nach Anatolien an. So gesehen ist der Artikel auch eine informative Einstimmung auf die geplante Pilgerfahrt.

Von Rudolf Grulich

Bei seinem Besuch in der Türkei hat der Papst zwei der drei römisch-katholischen Jurisdiktionsgebiete des Landes besucht: das Apostolische Vikariat Istanbul und die Erzdiözese Izmir. Der Gottesdienst in der Heilig-Geist-Kathedrale in Istanbul wies in seiner Vielfalt der Sprachen auch auf die nichtlateinischen Riten hin. So gibt es ein armenisch-katholisches und ein chaldäisches Erzbistum in Istanbul, sowie auch Katholiken des syrischen und byzantinischen Ritus. Über den ganzen Osten der Türkei östlich von Ankara erstreckt sich das Apostolische Vikariat Anatolien, dessen Bischof Luigi Padovese seit 2004 in Iskenderun residiert. Auf einer Fläche von über 400.000 Quadratkilometern, also größer als das wiedervereinigte Deutschland, betreut er die Pfarreien und Kirchen in Iskenderun, Mersin, Antakya und Adana sowie Samsun und Trabzon am Schwarzen Meer mit insgesamt weniger als 5.000 Katholiken. Dennoch ist es ein Gebiet, das die Wiege der Kirche ist und das wir nicht vergessen dürfen.

Der verstorbene Papst Johannes Paul II. hat die Türkei „ein heiliges Land der Urkirche“ genannt. So wie Palästina das Land Jesu ist, gebührt der Türkei der Beiname „Land der Kirche“. Auf dem Gebiet des Vikariates sind in Antiochien, dem heutigen Antakya, die Jünger Jesu zum ersten Male „Christen“ genannt worden, wie der hl. Lukas in der Apostelgeschichte berichtet. Das Vikariat ist aber auch stolz auf alttestamentliche Traditionen: Der Berg Ararat, auf dem die Arche Noah gelandet sein soll, liegt im Osten der Türkei, und im Südosten erhielt in Haran Vater Abraham den Ruf Gottes: „Zieh‘ in das Land, das ich Dir zeigen werde! “ Abraham machte sich auf nach Kanaan, aber er vergaß Haran nie. Hierher schickte er seinen Knecht Eliezer, um eine Frau für Isaak zu holen. Nach Haran kam Jakob und traf Rachel am Brunnen. Zur Zeit der Verfolgung unter Antiochus zur Zeit der Makkabäer flohen Juden nach Antiochien. Diese Judengemeinde wird zum Kristallisationspunkt einer neutestamentlichen Gemeinde, in der die Heidenchristen die junge Kirche zur Weltkirche machen.

Sitz des hl. Petrus

In der jungen Christengemeinde von Antiochien weilte auch der hl. Petrus. Deshalb beging die Kirche bis zum Zweiten Vatikanum ein eigenes Fest Petri Stuhlfeier zu Antiochien am 22. Februar und gedachte dabei der Tatsache, dass erst von hier aus Petrus nach Rom ging, was am 18. Januar als Petri Stuhlfeier zu Rom gefeiert wurde. Von Antiochien aus startete Paulus mit Barnabas zu seiner ersten Missionsreise. In Tarsus ist der große Völkerapostel geboren. So fußen die Gemeinden des Vikariates auf der Tätigkeit der Apostel und ihrer Schüler. Die Briefe des Ignatius v. Antiochien gehören zum ältesten Schrifttum außerhalb des Neuen Testamentes, zum Schatz der Apostolischen Väter. Wenn wir das Martyrologium Romanum studieren, finden wir neben Rom und Kostantinopel die meisten Zeugen für Christus in Antiochien und seiner Umgebung. Nach dem Ende der Verfolgung lebten und wirkten hier auch viele christliche Autoren und Kirchenlehrer wie Johannes Chrysostomus, Ephräm der Syrer und andere, die es wieder zu entdecken gilt. Leider gingen aber von der „Antiochenischen Schule“ im fünften Jahrhundert auch die Impulse aus, die nach dem dritten und vierten Ökumenischen Konzil von Ephesus und Chalzedon zur Spaltung der Kirche führen, so dass heute fünf Patriarchen den Titel von Antiochien tragen.

Beliebte Heilige aus Anatolien

Bischof Padovese hat viele Jahre im Erzbistum Bamberg in den Sommerferien als Seelsorger gearbeitet und dabei nicht nur seine Deutschkenntnisse vertieft, sondern auch die Verehrung von Volksheiligen erlebt, die aus dem Gebiet seines heutigen Apostolischen Vikariates stammen. Der größte Wallfahrtsort der Erzdiözese Bamberg ist Vierzehnheiligen am oberen Main, wo der große Barockmeister Balthasar Neumann die prächtige Basilika zu Ehren der vierzehn Nothelfer schuf. Zehn der vierzehn beliebten Volksheiligen stammen aus dem Gebiet der Türkei, und davon die meisten aus Ost- und Südostanatolien. Nur der hl. Veit (aus Sizilien), die hl. Katharina (Ägypten), der hl. Dionisius und der hl. Eustachius hätten, wenn sie heute leben würden, keinen türkischen Pass. Katholiken holen sich am 3. Februar den Blasiussegen. Der hl. Blasius war Bischof von Sebaste, dem heutigen Sivas. Die hl. Margarete, die mit der hl. Barbara und der hl. Katharina im süddeutschen und österreichischen Raum das Dreigestirn der „drei heiligen Madel“ bildet, stammt aus Antiochien. Georg und Christopherus sind Kappadokier.

Aber nicht nur diese Nothelfer entstammen dem Raum Anatoliens, auch die heiligen Ärzte Kosmas und Damian und der „Eisheilige“ Bonifatius sind hier zu nennen, und vor allem als Theologen die großen Kappadokier wie der hl. Basilius als Bischof von Cäsarea (Kayseri), Gregor v. Nyssa und Gregor v. Nazianz. Kosmas und Damian werden sogar im alten Kanon der Hl. Messe, dem heute leider kaum mehr gebeteten ersten Hochgebet genannt.

Wahre Ökumene

Die wenigen Katholiken des Apostolischen Vikariates gehören außer der römisch-katholischen Kirche auch der syrisch-katholischen, chaldäischen, melkitischen und der armenisch-katholischen Kirche an, dazu kommen orthodoxe Christen und Gläubige der sog. vorchalzedonischen Kirchen, also orthodoxe Armenier, Syrer und wenige Nestorianer.

Das Dekret über die katholischen Ostkirchen des Zweiten Vatikanums spricht von der Hochschätzung der römisch-katholischen Kirche für die „Ostkirchen mit ihren Einrichtungen und liturgischen Bräuchen, ihren Überlieferungen und ihrer christlichen Lebensordnung. … In diesen Werten von ehrwürdigem Alter leuchtet ja eine Überlieferung auf, die über die Kirchenväter bis zu den Aposteln zurückreicht. Sie bildet ein Stück des von Gott geoffenbarten und ungeteilten Erbgutes der Gesamtkirche. Für diese Überlieferungen sind die Ostkirchen lebendige Zeugen.“ Das Dekret über den Ökumenismus hebt beim Kapitel über die orthodoxen Kirchen hervor, dass zwar „die Kirchen des Ostens und des Abendlandes Jahrhunderte hindurch je ihren besonderen Weg gegangen sind, jedoch miteinander verbunden in brüderlicher Gemeinschaft des Glaubens und des sakramentalen Lebens.“ Das Konzil betont, „dass die Kirchen des Orients von Anfang an einen Schatz besitzen, aus dem die Kirche des Abendlandes in den Dingen der Liturgie, in ihrer geistlichen Tradition und in der rechtlichen Ordnung vielfach geschöpft hat“.

Verschiedene Sprachen und Kulturen, die schon zur Zeit der Urkirche in Ostanatolien, dem nördlichen Mesopotamien und in Syrien neben dem Griechischen bestanden, haben zur Ausprägung eigener Riten mit Bibelübersetzungen und der Liturgie in eigenen Sprachen geführt. So entstanden in diesem Gebiet die Kirchen des byzantinischen, armenischen, antiochenischen (oder westsyrischen) und ostsyrischen Ritus. Bis heute feiern nicht nur die syrischen und chaldäischen Kirchen ihre Liturgie in Syrisch bzw. Aramäisch, sondern sprechen im Tur Abdin Christen immer noch die aramäische Sprache Jesu. Von Cäsarea, dem heutigen Kayseri, aus ist Armenien christianisiert worden, ebenso Georgien. Die Sprachbarriere zu diesen schwierigen Sprachen mit eigenen Schriften hat es mit sich gebracht, dass wir die Kirchenväter dieser christlichen Kulturkreise nicht so kennen wie die anderen Kirchenväter: Ambrosius, Augustinus, Hieronymus oder Gregor. Aber einer von ihnen sei genannt: Ephräm der Syrer, den Papst Benedikt XV. 1920 zur Würde eines Kirchenlehrers erhob. Er hat den Beinamen „Harfe des Heiligen Geistes“, weil er die syrische Liturgie durch Hymnen und Lieder bereichert hat, aber auch gelehrte theologische Schriften hinterließ. Papst Benedikt XV., dem in Istanbul vor der katholischen Kathedrale ein Denkmal errichtet wurde, schrieb 1922: „Die Kirche ist weder lateinisch, noch griechisch, noch slawisch, sie ist katholisch.“ Katholisch aber heißt allgemein, alle umfassend. „Das gilt auch von unserem Apostolischen Vikariat“, betont Bischof Padovese: „Wir sind Türken, Araber, Assyrer, Levantiner, aber gehören zur einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche.“

Auf deutschen Spuren im Vikariat

Die wenigen Christen in Ostanatolien leben weit entfernt vom deutschen Sprachraum, aber das Flugzeug bringt uns heute in wenigen Stunden direkt nach Adana oder über Istanbul oder Ankara zu den Flughäfen von Trabzon, Erzerum, Van, Mardin, Diyarbakir, die alle im Bereich des Vikariates liegen. In früheren Jahrhunderten war dies schwieriger und langwieriger, aber seit mehr als 1000 Jahren kommen auch Pilger aus Mitteleuropa nach Ostanatolien. Die älteste bekannte Pilgerin ist eine Nonne aus Südfrankreich namens Etheria im vierten Jahrhundert. Im achten Jahrhundert war auch der hl. Willibald, später Bischof und Patron von Eichstätt, in Antiochien und Tarsus.

Im Jahre 1198 krönte in Tarsus der Erzbischof von Mainz, Konrad von Wittelsbach, den armenischen Fürsten Leo zum König, und zwar im Auftrag von Kaiser und Papst. Heute ist diese Kirche die Ulu Cami, die große Moschee von Tarsus, in der man noch den gotischen Bau im Innern erkennen kann. Erzbischof Konrad reiste von Tarsus nach Akko weiter, wo er im gleichen Jahr dem jungen, erst 1190 entstandenen Orden der „Brüder vom deutschen Haus St. Mariens zu Jerusalem“ die päpstliche Bestätigung gab, der später Deutscher Orden genannt wurde und bis heute mit einem Hochmeister in Wien besteht. Der berühmteste Hochmeister des Deutschen Ordens, der spätere Erbauer der Marienburg in Ostpreußen, Hermann von Salza, erhält bald danach vom armenischen König zwei Burgen: Amuda (Hemite) und Harunya, deren Ruinen man noch heute besichtigen kann. Ein Begleiter des Hermann von Salza, Wilhelm von Oldenburg, hat uns einen Bericht über die Reise des Hochmeisters von Antakya über Tarsus und Kozan bis Silifke hinterlassen.

Durch alle Jahrhunderte finden wir deutsche Reisende und Forscher in Anatolien. Im 19. Jahrhundert besteigt ein Württemberger, der an der damals deutschen Universität Dorpat lehrte (heute Tartu in Estland) erstmals den Ararat. Es ist Henry Parrot aus Mömpelgard (heute Montbéliard). Ein Schlesier namens Theodor Kotschy steht als Erster auf dem Ercias Dag, dem antiken Argäus. „Warum könnte nicht in den Räumen unseres Gästehauses und des biblisch-patristischen Zentrums in Iskenderun ein deutsch-türkisches Symposium über diese Beziehungen stattfinden?“ fragt Schwester Leonarda aus Boston, die in Iskenderun arbeitet.

Platz in christlichen Herbergen

In Iskenderun, dem Sitz des Bischofs, lädt das Haus des biblisch-patristischen Zentrums „Don Andrea Santoro“ zu Tagungen, Konferenzen, Einkehrtagen und auch zum Erholen ein. Es ist nach dem im Februar 2006 in Trabzon ermordeten Priester benannt. Günstig im Zentrum, nicht weit von der Hafenpromenade gelegen, bietet das Haus 45 Plätze in Einzel- und Doppelzimmern an, Vollpension und einen Konferenzraum. Von Iskenderun aus sind Exkursionen und Ausflüge ins traditionsreiche Antiochien oder zu historischen Stätten wie Issos, Misis (das alte Mopsuestia), zu Kreuzfahrerburgen oder osmanischen Bauwerken möglich. Ein zweites Tagungshaus des Vikariates ist das Exerzitien- und Jugendhaus „Aufnahme Mariens“. Es liegt im Gebirge oberhalb von Iskenderun mit einem wunderbaren Blick auf die Stadt und den Golf und kann ebenfalls über 40 Personen aufnehmen.

Kleinen Gruppen, Familien oder Einzelpersonen kann man auch die Räume im Kloster in Antakya empfehlen, direkt in der Altstadt gelegen. Die kleine renovierte katholische Kirche ist ebenso wie die orthodoxe Kathedrale prädestiniert, sich in dieser Urgemeinde des Christentums mit der Geschichte der Kirche intensiv zu beschäftigen.

Das Vikariat ist bei der Ausarbeitung von Programmen und der Benennung von möglichen Referenten oder Leitern bei Ausflügen gerne behilflich.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Der Fürst der Welt“ – eine Neuentdeckung

„Der Fürst der Welt“,[1] so heißt ein Roman, den die 2001 verstorbene Schriftstellerin Erika Mitterer 1940 veröffentlicht hat. Mit diesem Werk verbindet sich eine aufregende Geschichte, die Dr. Maria Seifert mit der neuen Herausgabe des Buches im Frühjahr 2006 wieder in Erinnerung gebracht hat. Ein Zeitdokument, das Wendelin Schmidt-Dengler von der Universität Wien „eine bedeutende Neuentdeckung“ nennt. Und er ruft nicht ohne Grund dazu auf: „Literaturwissenschaft und Literaturkritik sollten beginnen, sich mit dieser Autorin zu befassen.“

Besprechung von Werner Schiederer

Nach über 60 Jahren

Anlässlich des 100. Geburtstages von Erika Mitterer erscheint ihr Roman „Der Fürst der Welt“ nun zum ersten Mal seit der Erstveröffentlichung 1940 wieder in ungekürzter Fassung. Damals konnte das Werk – ein durchschlagender Erfolg – nur gedruckt werden, weil die Nazi-Zensur darin zwar einen Angriff auf die Kirche, nicht aber ein Gleichnis für die aktuellen Zustände erblickte. Nachdem in einer Besprechung auf die Dimension des Buches aufmerksam gemacht wurde, kam es in der NS-Zeit zu keiner weiteren Auflage. Nach eigener Aussage wollte die Autorin in diesem historischen Roman der Frage nachgehen, „wie es sein kann, dass wir alle zu Mitläufern, ja zu Mit-Helfern von Institutionen werden, ohne dass uns das Ausmaß ihrer Perfidie bewusst wird.“

Heute gilt der Roman als herausragendes Beispiel für die Literatur der „Inneren Emigration“.

Zum Inhalt

Vom Ketzerrichter der Heiligen Inquisition werden die abtrünnige Priorin eines Klosters, Maria Michaela, und ihre Schwester Theres verfolgt. In einer süddeutschen Bischofsstadt grassieren Hexenwahn und Aberglauben. Wir befinden uns im ausgehenden Mittelalter, der Zeit der Hexenverbrennungen und Inquisitionsgerichte. Eine junge Adelige wird von ihren Eltern noch vor ihrer Geburt dem Klosterleben versprochen. Und obwohl es zunächst scheint, als füge sich die Nonne Maria Michaela in ihr auferlegtes Schicksal, brechen bald Stolz und Unbesonnenheit in ihr durch. Sie versteigt sich in eine verbotene Liebe zu dem Priester Alexander und verstrickt sich als Priorin des Klosters immer tiefer in Schuld, bis schließlich der Ketzerrichter auf den Plan gerufen wird. Nach Dürre und Missernten wüten Seuchen in der Stadt; die anständigen Bürger brauchen Sündenböcke und sind nur zu gern bereit, den Heilsversprechungen des Inquisitors Glauben zu schenken. Mit Maria Michaela wird auch ihre gutherzige, unschuldige Schwester Theres zum Opfer von kollektivem Wahnsinn und Hysterie.

Blick auf die Autorin

Erika Mitterer (1906-2001) begann schon mit 18 Jahren einen Aufsehen erregenden Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke. Mit 24 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband, von dem sich Stefan Zweig begeistert zeigte. Als wichtigstes Prosawerk gilt der Roman „Der Fürst der Welt“. Weitere Veröffentlichungen sind u.a.: „Alle unsere Spiele“ (Roman), zwei Jugendbücher, sowie Erzählungen, Gedichte, Dramen und Essays. Für ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde sie mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet.

Aus Pressestimmen

„Was ohne Gefahr ist, ödet mich an!“ Dieser Satz der Dichterin und Schriftstellerin Erika Mitterer, die in einem Artikel der NZ als „Meisterin der Erzählkunst“ (Melita Giorgioni) gepriesen wird, könnte auch als Motto über ihrem monumentalen Hauptwerk stehen.

„Der Roman macht Massenwahnphänomene und ihre zugrunde liegenden diffusen Ängste und Aggressionen verstehbar (…) Der Autorin gelang die Umgehung der Zensur nicht zuletzt durch die Länge und Komplexität des Werks“ (Barbara Hoiß, Welt der Frau 9/2006).

„Auf einer hintergründigeren Ebene erkennt der Leser des Romans einen Versuch des geistigen Widerstandes gegen das NS-Regime: Während völkisch-nationale Romane die Geschichte als glanzvolle Ouvertüre zur Gegenwart verstehen, erzählt Mitterer eine Geschichte, um verborgen und dennoch für die Verständigen verstehbar eine Analyse und eine herbe Kritik ihrer Zeit vorzunehmen. Darin warnt sie vor dem Massenwahn, der im Gewand von Notwehr, Bürgerpflicht und Gehorsam geradezu seuchenartig die niedersten Instinkte des Menschen bedient und in Vernichtung endet“ (Der Sonntag, 28.5.06).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Erika Mitterer: Der Fürst der Welt, geb. mit Schutzumschlag, 712 S., ISBN 978-3-902406-26-2. Kontakt: Seifert Verlag GmbH, Ungargasse 45/13, A-1030 Wien.

Erika Mitterer und die Nazi-Zensur

Erika Mitterer, die Verfasserin des Romans „Der Fürst der Welt“,[1] hatte nicht die Absicht, Kritik an der Kirche zu üben. Im Gegenteil, ihre intensive Beschäftigung mit der Thematik führte schließlich dazu, dass sie 1965 selbst in die katholische Kirche eintrat.[2] Gleichzeitig geht es um mehr als nur um eine antifaschistische Zeitanalyse. Der englische Germanist Bernard Brown geht in seiner Deutung des Romans in die Tiefe und arbeitet heraus, wie das Werk von Erika Mitterer die Abgründe des menschlichen Herzens zu erforschen sucht.

Von Bernard Brown

Autorin wird katholisch

Weder mit der Bezeichnung „Schlüsselroman“ noch mit dem Begriff einer vielschichtigen Parabel ist dieser Roman zu erfassen. Mag sein, dass die Autorin, um die eigene Welt besser begreifen und für andere begreiflicher machen zu können, durch die Analogie der Inquisition und deren Hexenprozesse darstellen wollte, wie es zur Machtergreifung des Bösen in einer scheinbar heilen Welt kommen kann. Durch die Arbeit am Roman ist sie aber auch, wie sie selbst erklärt hat, zu einer tiefen Einsicht in die christliche Lehre gelangt; das hat einen sichtbaren Einfluss auf die Gestaltung der Erzählung ausgeübt und sollte die Autorin dann 1965 katholisch werden lassen.

Kein Wunder also, dass die Wächter des Nationalsozialismus lange Zeit nicht auf die Idee kamen, diese breit angelegte historische Erzählung könne sie etwas angehen. Erst die Rezension eines Norwegers, nachdem mehrere tausend Exemplare der norwegischen Fassung „Verdens Fyrste“ verkauft worden waren, machte auf eine mögliche antifaschistische Deutung aufmerksam.

Psychologie des Bösen

Ist das denn auch wirklich „die Moral von der Geschicht“?

Zwar hätten die damaligen Machthaber es der Autorin wohl verübeln können, dass sie die Vorstellung eines friedlichen tausendjährigen Reiches unter deutscher Vorherrschaft als eher belustigend erscheinen lässt, aber um das kurze Gespräch darüber zu finden, hätten sie schon Seite 658 der deutschen Originalausgabe erreichen müssen. Bis dahin ist der unheimliche Dr. Schuller schon dabei, die Bevölkerung der kleinen Stadt bespitzeln zu lassen, zum Verrat zu bestechen und durch „peinliche Befragung“ zu merkwürdigen Geständnissen zu bringen. Wäre hier eine Parallele zum faschistischen Terrorstaat nicht sofort zu erkennen, zumal die unglücklichen Opfer ausgerechnet in den „Judenkeller“ geworfen werden?

Was die Methoden betrifft, vielleicht schon, aber man darf nicht aus den Augen verlieren, dass die Aufrichtigkeit des fanatischen Inquisitors, der eigentlich im Auftrag der politisch mächtigen Kirche fungiert, kaum bezweifelt wird. Auf die historische Entwicklung oder Entartung der Inquisition, auf die Psychologie des Peinigers wird auch nicht eingegangen. Wenn das Böse zur Macht kommt, so geschieht das in den Herzen der selbstsüchtigen, neidischen oder auch bloß verwirrten und leichtgläubigen Stadtbewohner. Durch das Eingreifen der Inquisition reifen lediglich böse Gedanken übernatürlich schnell zu einer grauenhaften Ernte; den normalerweise feigen Sündern wird Gelegenheit zu fast unbegrenzter – und unbestrafter – Niedertracht und Sadismus geboten, während Trägheit, Gefühle der Hilflosigkeit oder ein selbsttrügerischer Optimismus jede Regung des Guten lähmen. Es gehört zu den Grundgedanken des Romans, dass das Böse in uns nistet und sich jederzeit überzeugend als Notwehr, kluges Wirtschaften, Bürgerpflicht, Gehorsam und anderes mehr zu tarnen weiß, sobald es durch seinesgleichen hervorgelockt wird; jede scheinbar heile Welt wäre demnach eine Zeitbombe.

„Man kennt die Menschen nicht“

Der Aufbau der Erzählung ist hochinteressant: gegen den breiten, lebendig detaillierten Hintergrund des späten Mittelalters hebt sich eine Menge von Gestalten ab, die sich um die Hauptfiguren Maria Michaela und Dr. Fabri gruppieren, während die unschuldige Opferfigur Theres im eigentlichen Mittelpunkt steht. Das sich verästelnde Hauptgeschehen umfasst über 70 individualisierte Personen; das stellt aber keine willkürliche Fülle dar, denn jeder noch so nebensächliche Beteiligte steht hier gleichsam vor Gericht, und gerade bei den Nebenfiguren finden sich die rührendsten Beispiele für Güte und Treue: man denke an den Aussätzigen, der Maria Michaelas echte Barmherzigkeit nie vergessen kann; den jungen Rudolf, der Roswitha ins Leben hineinrettet; vielleicht auch den buckligen Außenseiter Philip Näglein, dessen Haltung vor dem Tod den Arzt Fabri murmeln lässt: „Man kennt die Menschen nicht“. Gerade das Fesselnde dieses Buchs ist es auch, dass man seine Einschätzung der Figuren immer wieder revidieren muss, seine eventuelle Identifizierung mit einer der Hauptfiguren rückgängig machen möchte, denn bei allen entdeckt man Widersprüchliches, auch beim Denker und Menschenfreund Fabri, und bei der leidenschaftlichen Nonne Maria Michaela erst recht.

„Von schlechter Liebe hat Er nichts gesagt“

Der Autorin gelingt es meisterhaft, die vielen Fäden weiterzuspinnen und in ein immer komplizierteres, doch übersichtliches Muster zu verweben, indem sie alle paar Seiten ganz ohne Umstände auf eine weitere oder ganz andere Situation überwechselt; dadurch bereitet sie sich auch reichlich retardierende Momente für die letzte Phase vor und ermöglicht sich kommentarlos bedeutende Gegenüberstellungen von Qual und Gleichgültigkeit, Mut und Resignation, Haarsträubendem und Alltag. Das Gefüge wirkt schließlich eher eng als locker, ja manchmal, wie zum Beispiel bei der spät entdeckten jugendlichen Beziehung Ebners zu Maria Michaela, kommt es dem Leser etwas zu niedlich und ordentlich vor und legt den Vergleich mit dem Kriminalroman nahe. Die Haupterzählung dürfte man sogar als umgekehrten Kriminalroman charakterisieren: Täter und Mittel sind von vornherein bekannt, es gilt Opfer und Zeugen der Anklage zu erkennen und Motive in Frage zu stellen.

Schon wieder hat man aber mit einer so vereinfachenden Analyse den Kern verfehlt. Wir glauben diesen in einer Bemerkung Maria Michaelas zu finden, die auf ein ziemlich langes Gedicht von Erika Mitterer verweist. In der Gefangenschaft im Holzkeller des Klosters spricht die entlarvte Betrügerin in Gedanken mit Christus:

„Um der Liebe willen habe ich Dich verraten, Jesus Christus; es kann Dich nicht schmerzen, da es um ihretwillen geschah, denn Du kennst nicht die Unterscheidung der Pharisäer, Liebe ist Liebe für Dich, von schlechter Liebe hast Du nichts gesagt…“

Das Gedicht mit dem Titel „Eine Liebe“ beginnt:

„Von schlechter Liebe hat Er nichts gesagt.“ – und ferner lesen wir: „Wo viel vergeben wird, wird viel geliebt.“

„Ob wir im Fleische, ob im Geiste brennen, vergehend läutern wir uns in der Glut.“ – „Es nährt die Liebe, was die Menschen trennt, … Die Liebe wird am Ende stärker sein!“ – „Glückseligkeit und Qual sind nichts Getrenntes.“

Eine solche Bejahung der „göttlich grausamen Vielfalt des Lebens“ – so Dr. Fabri – bestätigt Maria Michaela am Schluss. Das Bußurteil lautet, sie solle zu Fuß nach Jerusalem pilgern; am Stadttor geduldig wartend denkt sie:

„Ich habe immer Abkürzungen gesucht und bin in die Irre gelaufen. Jetzt gehe ich den ganzen langen Weg und will keine Windung auslassen und keine Mühsal scheuen.“

Ihr Ziel ist die dreizehnte Kammer des Märchens, das sie immer wieder beschäftigt, denn das Herz der Welt ist ein Feuer, sei es das Feuer der irdischen Liebe oder der flammende goldene Glanz, der aus der verbotenen himmlischen Kammer bricht, oder auch der Leib des Heilands am Kruzifix, der als erster in den Flammen des Scheiterhaufens aufglüht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2007
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Erika Mitterer: Der Fürst der Welt, geb. mit Schutzumschlag, 712 S., ISBN 978-3-902406-26-2. Kontakt: Seifert Verlag GmbH, Ungargasse 45/13, A-1030 Wien
[2] In jungen Jahren veröffentlichte Erika Mitterer (verehelichte Petrowsky) ihren Roman „Der Fürst der Welt“. Sie wurde am 30.3.1906 in Wien geboren, wo sie am 14.10.2001 auch starb. Bereits 1929 /30 war sie Sekretärin des Kulturbundes in Wien. Als Lyrikerin, Erzählerin und Dramatikerin bevorzugte sie mythologische Stoffe sowie soziale Themen und versuchte eine Bewältigung des Phänomens der NS-Zeit. Dabei ist ihre Literatur tief geprägt vom katholischen Glauben. 1985 erhielt sie das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst.

Einwände gegen „eingetragene Lebenspartnerschaft“

„Eingetragene Lebenspartnerschaften“ werden von der katholischen Kirche eindeutig abgelehnt. Sie verlangt vom Staat den gesetzlichen Schutz der Ehe zwischen Mann und Frau und zugleich den Verzicht auf alles, was Ehe und Familie abwerten könnte. Worauf stützt sich eine solche Forderung an den weltlichen Gesetzgeber? Professor Horst Seidl, Dozent an der Lateran-Universität in Rom, zeigt auf, dass gegen die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ klare juristische Einwände bestehen. Diese beruhen auf dem natürlichen Sittengesetz und der Wesensordnung im Menschen mit dem Vorrang der Vernunft. Es ist ein offener Widerspruch, dass dieses Fundament in der juristischen Auseinandersetzung um eingetragene Lebenspartnerschaften keine Rolle spielt, obwohl es andererseits die Grundlage unserer Rechtsordnung bildet.

Von Horst Seidl

Die vor kurzem in den meisten europäischen Ländern eingeführten neuen Formen von eheähnlichen Lebensgemeinschaften und ihre juristische Regelung wird in katholischen Kreisen mit Besorgnis beobachtet. Die katholische wie auch die evangelische Kirche haben sie abgelehnt, weil sie damit die Ehe abgewertet und gefährdet sehen, welche die wichtigste Grundlage für den Fortbestand des Staates ist.[1] Von philosophisch-ethischer Seite ist wenig Kritik zu hören, die mehr aus einer christlichen Überzeugung geäußert wird. Die Einwände von christlichen Politikern sind nicht tiefgreifend, so dass ihr Gang zum Bundesverfassungsgericht erfolglos war. Dies verwundert mich nicht, da die Einwände nicht mehr auf das Naturrecht zurückgegriffen haben, während beim Vergleich zwischen der Ehe und den „eingetragenen Lebenspartnerschaften“ der Blick auf das Naturrecht notwendig ist, umso mehr wenn man vom christlichen Standpunkt absieht, der von den Ungläubigen in unserer Gesellschaft nicht mehr geteilt wird. Die folgenden Darlegungen möchten aus philosophisch-ethischem und anthropologischem Standpunkt den Blick wieder auf das Naturrecht lenken.

1. Die Gleichstellung der sog. „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ mit der Ehe

An sich ist die juristische Regelung von Partnerschaften zwischen Personen notwendig und sinnvoll. Fragwürdig wird eine solche Regelung nur, wenn es um geschlechtliche Beziehung geht; denn diese ist bis jetzt nur der Ehe vorbehalten gewesen. Deshalb versuchen die Befürworter der „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ (EL), sie der Ehe gleichzustellen. Dabei werden – stillschweigend oder ausdrücklich – folgende Voraussetzungen gemacht:[2]

a) dass die Ehe eine konventionelle Form von Lebensgemeinschaft neben anderen ist, die sich im Lauf der Geschichte herausgebildet hat und durch neuere Formen abgelöst werden kann;

b) dass die Geschlechtlichkeit des Menschen unbestimmt ist und zu verschiedenen Lebensformen hin finalisiert werden kann, so dass dies der freien Entscheidung des Menschen überlassen bleibt;

c) dass die Gesetzgebung, indem sie für die individuelle, freie Persönlichkeitsentfaltung eintritt, auch die de facto Lebenspartnerschaften schützen muss.

2. Einwände gegen die Gleichstellung

Gegen diese Voraussetzungen erheben sich aber folgende Einwände:

Zu a) Die Ehe wird traditionell als eine Freundschaftsform bestimmt, die sich von anderen dadurch unterscheidet, dass sie sich zwischen den beiden Geschlechtern vollzieht, zwischen Mann und Frau, mit dem zweifachen Zweck der Kindererzeugung und der gegenseitigen personalen Liebe.[3] Die Ehe ist also keineswegs bloß eine Konvention, die durch andere ersetzt werden könnte, sondern erweist sich als eine Tugend, die grundlegend für das menschliche Zusammenleben ist und in der sozialen Natur des Menschen selbst gründet. Sie wird als gegenseitiges Wohlwollen/Gutes-wollen der Menschen zueinander definiert und teilt sich in verschiedene Freundschaftsarten auf, in den verschiedenen Lebensbereichen, mit dem je eigenen Guten oder Zweck (z.B. Freundschaften zwischen Berufskollegen – in Politik, Sozialem usw. –, zwischen Reisegefährten für die sichere Reise und Besichtigung der Ziele, zwischen Sportlern für körperliche Gesundheit und Leistung, usw.). Auf sexuellem Gebiet ist das Gut oder der Zweck die Nachkommenschaft, worauf die Ehe als die hier allein spezifische Freundschaftsform final ausgerichtet ist. Mit dem Begriff der Partnerschaft ist zwar noch die Freundschaft gemeint, kann aber diesen Begriff nicht ersetzen, da er rein konventionell verstanden wird, nicht als eine der menschlichen Wesensnatur entsprechende Tugend.

Mit dem zweifachen Ehezweck leistet die Ehe als gesamtmenschliche Tugend die Integration des Geschlechtstriebes in ein personales Liebesverhältnis. In den ersatzweise eingerichteten Lebenspartnerschaften sind die beiden Zwecke desintegriert. Entweder haben sie noch Nachkommenschaft, welche jedoch nicht Frucht einer auf sie gerichteten personalen Liebesgemeinschaft ist, die sich hierauf durch ein eheliches Treuegelöbnis verpflichten würde. Oder es verbindet sich mit dem Geschlechtsverkehr überhaupt kein Wille mehr zum Kind, wodurch der spezifische Zweck dieser Freundschaftsform verloren geht.

Die mit dem geschlechtlichen Zweck verbundene Lust könnte diesen nie ersetzen und als notwendig für die Persönlichkeitsentfaltung beansprucht werden, die ja von dieser Lust nicht abhängen dürfte; denn die Persönlichkeit muss sich auch in vielen anderen Fällen entfalten, z.B. im Zölibat, in der Witwerschaft, oder bei Ehescheidung. Mit Siegmund Freud wird heute der Geschlechtstrieb, gegen seine natürliche Finalität, in einen „schwulen“ Lusttrieb umgedeutet. Im Deutschen hat das Wort „schwul“ eine eindeutig negative, libidinöse Bedeutung, die mit der Menschenwürde kaum vereinbar ist.

Zu b) Aus der Tatsache, dass im Menschen seine Sinnes- oder Triebvermögen bildsam und nicht so festgelegt sind wie bei den Tieren, darf nicht der falsche Schluss gezogen werden, dass sie beim Menschen keine bestimmte Finalität, d.h. keine Ausrichtung auf den spezifischen Zweck, mehr haben. Ihre Bildsamkeit beruht darauf, dass sie, anders als bei den Tieren, nicht in sich geschlossen sind, sondern offen für das höhere Geistvermögen im Menschen, um von ihm geführt und gebildet zu werden. So kann z.B. der Nahrungstrieb durch den Geist auch zum Fasten angehalten werden, ohne dass er seine Finalität der Nahrungsaufnahme verlöre. Analog lässt sich der Geschlechtstrieb vom Geist leiten, bis zur Enthaltsamkeit, wenn er auch an sich auf den Zweck der Erzeugung von Nachkommen gerichtet bleibt.

Für die Führung durch den Geist in der Erziehung ist die gute Gewohnheit ein entscheidend wichtiger Faktor. Wenn der Geist dieser Führungsaufgabe nicht nachkommt, z.B. den Partner fürs Leben nicht bewusst beim anderen Geschlecht zu suchen, sondern – ohne Beachtung der natürlichen Finalität – zulässt, mit dem gleichen Geschlecht intim zu werden, so kann die entgegengesetzte Gewohnheit den Trieb verbilden und zu homosexuellen Partnerschaften führen, im Gegensatz zum natürlichen Zweck der Erzeugung von Nachkommen mit dem anderen Geschlecht.

Der Mensch kann mit der Vernunft diese Verhältnisse einsehen und hat ein warnendes Gewissen, wenn er zwar Geschlechtsverkehr hat, aber eine Lebensform gegen den Zweck seiner Triebnatur wählt, so dass dieser nicht in das gesamtpersonale Leben integriert wird. Das schlechte Gewissen der Vernunft lässt sich keineswegs psychologisch in eine „Homophobie“, eine Furcht vor dem gleichen Geschlecht, umdeuten. Wollte man aber die Verhältnisse auch psychologisch betrachten, so würde man umgekehrt aus Spezialstudien entnehmen, dass bei Bekanntschaften mit dem anderen Geschlecht Berührungsängste, Heterophobien, auftreten können, die dann dazu veranlassen, den Partner beim gleichen Geschlecht zu suchen. Indes, Partnersuche für eine eheliche Lebensgemeinschaft ist eben nicht nur eine Sache irrationaler Gefühle, sondern auch des Verstandes, der die Aufgabe hat, hier seine Verantwortung wahrzunehmen.

Zu c) Bei der Befürwortung der EL ist die Berufung auf das Grundgesetz mit dessen Intention in Widerstreit. Dieses ruft in der Präambel zur „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ auf, anerkennt also den Bezug des Verstandes bzw. der Vernunft des Menschen zu Gott. Der Artikel 1 erklärt die Würde des Menschen als unantastbar, wobei der Gesetzgeber nicht diese Würde definieren muss, sondern in ihrem allgemeinen Verständnis bei den Bürgern voraussetzen kann. Der Mensch, der sich vor den Tieren durch seine Vernunft auszeichnet, weiß um seine Würde, die in der wesensmäßigen Vorrangordnung der Vernunft vor dem Trieb und dem Leib begründet liegt.

Artikel 2 garantiert das Recht jedes Menschen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und fügt hinzu: „ … soweit es nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Diese Hinzufügung nennt geradezu die Grundlage des Staates, nämlich die verfassungsmäßige Ordnung in den gegenseitigen Rechtsverhältnissen der Bürger und das Sittengesetz. Dieses liegt, so können wir ergänzen, in der (oben erwähnten) Wesensordnung des Menschen selbst, wonach gilt, immer so zu handeln, dass der Vorrang der Vernunft/des Geistes über den Trieb und den Leib gewahrt wird, d.h. nicht behindert, sondern gefördert wird. Die verfassungsmäßige Ordnung steht in Analogie zur Wesensordnung im Menschen, sowie zur Ordnung der gesamten Schöpfung hin zu ihrem Schöpfergott, auf den die Präambel verweist.[4]

Absatz 2 des Artikels nennt das fundamentale Recht jedes Menschen auf Leben, das auch die Grundlage für die Würde des Menschen und die Entfaltung seiner Persönlichkeit ist. Dabei vermeidet es der Gesetzgeber vorteilhaft, das Leben von einem bestimmten Datum an beginnen zu lassen. So gilt die intuitive Annahme, dass das Menschenleben von der Empfängnis an beginnt, da es von Menschen-Eltern kommt.

Artikel 6 stellt Ehe bzw. Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, weil sie ja selbst zu dieser Ordnung wesentlich beiträgt durch die Erweckung neuen menschlichen Lebens und die Erziehung der Kinder.

Ein von christlichen Politikern verwendeter Einwand zu den EL, der nicht direkt deren Mängel angibt – hinsichtlich des rechten Verhältnisses der Trieb- und der Vernunftnatur –, sondern nur indirekt, dass nämlich die EL ein in Art. 6 implizites „immanentes Abstandsgebot“ bezüglich der Ehe zu wenig beachte: ein Argument, das (wie schon erwähnt) beim Verfassungsgericht keinen Erfolg gehabt hat. Was die homosexuelle Partnerschaft betrifft, leistet sie keinen positiven Beitrag für den Staat. Würden alle Bürger sie praktizieren, wäre morgen der Staat am Ende.

Aber auch die Argumentation des Gerichtes mit der Feststellung, dass jegliche Diskriminierung aufgrund der sexuellen Neigung verboten sei, überzeugt nicht; denn um diese geht es nicht. Kein Gesetzgeber und kein öffentliches Amt könnte Nachforschungen über die sexuellen Neigungen der Bürger anstellen, was lächerlich wäre. Für die öffentliche Ordnung und die Rechtsprechung zählen nur die Entscheidungen der Bürger. Welche seelischen Neigungen sie dabei haben, interessiert nicht. Gesetz und Recht gehen von entscheidungsfähigen Bürgern aus. Im vorliegenden Fall interessiert nur, ob die Entscheidungen, die zur EL geführt haben, der Intention des Gesetzgebers entsprechen. Nach meiner Ansicht nicht, oder nur teilweise. Jedenfalls überzeugen mich einige, in Diskussionen bisher angeführte Argumente für die EL nicht, sondern veranlassen mich zu den hier vorgebrachten Einwänden.

3) Ergänzende Bemerkungen

a) Anzumerken ist ein Nachteil der gesetzlichen Texte über die EL, dass sie nur die Unterscheidung treffen zwischen der ehelichen Lebensgemeinschaft und den nicht-ehelichen, während man angemessener zwischen der natürlichen, d.h. der Menschennatur gemäßen, und den ihr mehr oder weniger nicht gemäßen unterscheiden müsste. Auch wäre zu beachten, dass es innerhalb der sog. EL solche gibt, die der Ehe ähnlich und somit der Menschennatur mehr gemäß sind, da sie Kinder und/oder den Willen zum Kind haben, während homosexuelle Verbindungen dem nicht gemäß sind.

Die Beurteilung der Ehe als der allein natürlichen Form der geschlechtlichen Lebensgemeinschaft stimmt mit der Intention des Gesetzgebers überein, der im Bereich der Ehe und Familie noch von natürlicher Gemeinschaft spricht und vom natürlichen Recht der Eltern bezüglich der Kindererziehung, sowie vom besonderen, gleichsam natürlichen Schutz, den die Mutter vonseiten des Staates genießen darf. Statt vom „immanenten Abstand“ zu sprechen, der für die Ehe gegenüber anderen Formen von Lebensgemeinschaften gefordert sei, wäre es besser, der Ehe die einzig natürliche Form der geschlechtlichen Lebensgemeinschaft zuzusprechen, die ihr ohnehin den „Abstand“ zu allen anderen Formen sichert.

b) Vergleicht man die deutschen Verhältnisse mit den italienischen, die mir vor Ort bekannt sind, wo die freien Lebensgemeinschaften „Bürgerliche Verträge der Solidarität“ heißen (patti civili di solidarietà, in Anlehnung an die französische Bezeichnung, abgekürzt: PACS), so versuchen ihre Befürworter ebenfalls, sich auf das Grundgesetz zu stützen, jedoch wieder unter Missachtung der Intention des Gesetzgebers. Man beruft sich auf das Italienische Grundgesetz (Costituzione Italiana), das im Art. 29 für den Schutz von Ehe und Familie eintritt, und auf Art. 2, der die „unverletzlichen Rechte des Menschen“ (inviolabili diritti dell'uomo) garantiert, sowohl der Individuen, als auch der gesellschaftlichen Gruppen.

Die Befürworter scheiden nun soziales Recht vom individualen Recht und verstehen das letztere – mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit – so, dass es jede Form der Lebensgemeinschaft einschließe, auch die homosexuelle. Dabei übergeht man jedoch den Schluss des Artikels, wonach die Persönlichkeitsentfaltung „die Erfüllung der unerlässlichen Pflichten politischer, ökonomischer und sozialer Solidarität erfordert“ (richiede l'adempimento dei doveri inderogabili di solidarietà politica, economica e sociale). Aus dem Text geht hervor, dass das Recht des Individuums nicht vom sozialen Recht getrennt besteht, sondern auf dieses bezogen ist. Das heißt: Mit dem Recht des Individuums, seine Persönlichkeit zu entfalten, verbindet sich die Pflicht, solidarisch mit dem Staat zu sein, im Dienste des politischen, ökonomischen und sozialen Gemeinwohles. Dem genügen jedoch die PACS nicht mehr, da sie sich teilweise den für Ehegatten geltenden Pflichten entziehen, und im Falle der homosexuellen Verbindungen keine Nachkommenschaft für den Staat vorsehen. Die Solidarität, die der Gesetzestext fordert, ist also sehr verschieden von der „Solidarität“ des PACS, in der durch Vertrag bloß die Eigeninteressen zweier Individuen zusammengehen. Im Übrigen kann ein Vertrag sich nicht auf ein natürliches Menschenrecht der Persönlichkeitsentfaltung berufen, wenn er nicht mehr der Wesensnatur des Menschen gemäß ist, da dann die Persönlichkeit in ihrer Entfaltung eher behindert würde.

Allgemein entsprechen den Grundrechten der Bürger auch Pflichten gegenüber den anderen, wie gegenüber dem Staat. So garantiert der Staat z.B. in Costit. Ital., Art. 4 das Recht auf Arbeit für alle Bürger, nimmt sie aber auch in die Pflicht, mit ihrer Arbeit, „je nach den eigenen Möglichkeiten und der eigenen Wahl, eine Tätigkeit oder eine Funktion zu entfalten, welche den materiellen oder spirituellen Fortschritt der Gesellschaft unterstützt“. Wie sollte nicht auch das vom Staat garantierte Recht jedes Bürgers auf Leben seinerseits den Bürger gegenüber dem Staat verpflichten, mit seiner Lebensform zu Fortbestand und Wohlergehen des Staates nach Möglichkeit beizutragen?!

c) Die Bezüge des deutschen und des italienischen Grundgesetzes auf die Menschennatur müssten meines Erachtens voller ausgeschöpft werden, als es bislang geschieht, wenn es um die Verteidigung der Ehe gegen andere Formen von Lebensgemeinschaften zwischen den Geschlechtern geht. Die Gesetzestexte beziehen sich offenkundig auf die Vernunftnatur des Menschen und die mit ihr verbundene Würde. Es leuchtet ein, dass nur die Ehegemeinschaft, mit dem Treuegelöbnis, der Tugend dieser Freundschaftsform und der Würde der Vernunft, die dies fordert, voll gerecht wird, die anderen Lebensgemeinschaften dagegen nicht mehr. Argumente von Politikern, die zugunsten der Ehe nur dies anführen, dass sie stabiler und sicherer sei als die anderen Formen von Lebensgemeinschaft, sind zu äußerlich und greifen zu kurz; denn die massenhaften Ehescheidungen sprechen nicht für ihre größere Stabilität (und bezeugen übrigens ihrerseits ein mangelndes Eheverständnis).

Leider wirkt sich ungünstig auch eine gegenwärtige Tendenz in der Rechtsprechung hin zu einem Positivismus aus, der den Bezug zur Menschennatur naturalistisch missversteht (als Verweis auf die bloße Triebnatur des Menschen) und das Rechtsurteil von immer neuen Erfahrungen bzw. Trends in der Gesellschaft abhängig macht. Allgemeine Normen, die vor aller Erfahrung gelten, weil in der Vernunftnatur des Menschen begründet, kommen nicht mehr in den Blick. Und doch bezeugt die Vernunft im Selbstbewusstsein, dass zur Natur des Menschen nicht nur der Trieb gehört, sondern auch sie selbst. Dieses Zeugnis der Vernunft von ihrer Vorrangstellung, Gutheit und Führung im Menschen bestimmt ja das natürliche Gewissen von Gut und Böse und war Grundlage der traditionellen Rechtsordnung mit den unveränderlichen Normen: niemanden zu töten, niemandem zu schaden, jedem das Seine zu geben. Die Rechtsordnung basiert auf einer dreifachen Ordnung: der Wesensordnung im Menschen mit dem Vorrang der Vernunft, auf der sich die staatliche Ordnung gründet, die wiederum eingefügt ist in die gesamte Schöpfungsordnung, die religiös und metaphysisch gesehen auf Gott bezogen ist, das höchste Gute, den obersten Zweck aller Ordnung.

In ihrer positivistischen Tendenz geht die gegenwärtige Rechtsprechung dazu über, sich, rein strukturell, auf die Verhältnisse zwischen den Bürgern zu beschränken und die moralischen Aspekte herauszunehmen. Sie werden zwar beachtet, aber in die subjektive Privatsphäre verwiesen, wie auch das Gewissen, gleichsam als individuelle Gefühlssache. Indes, wenn auch Recht und Moral, ebenso wie positives und Naturrecht, verschieden sind, stehen sie doch in Zusammenhang; denn das Recht wäre nicht als gut oder schlecht beurteilbar, wenn es nicht eine moralische Grundlage hätte, nämlich im natürlichen Gewissen von Gut und Böse, sowie in der Gerechtigkeit, schon als natürlicher Tugend (die dann zur qualifizierten Tugend zu vervollkommnen ist). Das Gewissen wiederum ist kein Gefühl (wenn auch von Gefühlen begleitet), sondern ein Wissen, wie schon der Begriff anzeigt, und zwar ein evidentes, objektives Wissen vom Gutsein des Menschen, in seiner Vernunftnatur.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 3/März 2007
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[1] Papst Benedikt XVI hat sich klar gegen den PACS, die parallele Organisation zur EL, ausgesprochen; siehe: Il Tempo, vom 13. Jan. 2006, S. 3. – Kardinal Camillo Ruini, der Vikar von Rom, hat öffentlich gegen die Legalisierung des PACS Stellung genommen, da sie die Familie zerstöre. Siehe Il Tempo, vom 20. Sept. 2005, S. 3: „I pacs mirano a distruggere la famiglia“. – Von den zahlreichen bischöflichen Wortmeldungen sei z.B. die von Bischof Klaus Küng erwähnt, in: Die Tagespost, vom 5. Okt. 2006, S. 1: „Die christliche Familie ist die wichtigste Schule des Lebens“ (Interview mit Stephan Baier). Verwiesen sei auch auf die von Bischof Andreas Laun herausgegebene Broschüre: Homosexualität aus katholischer Sicht, Eichstätt (Franz Sales) 2001.
[2] Im Folgenden beziehe ich mich auf die Mitteilungen der Rechtsanwältin Martina Schürmann, Eingetragene Lebenspartnerschaft: Die „Homoehe“ in Deutschland feiert bald ihren 5. Geburtstag!, in: Anwalt-Seiten.de, vom 5.11.2006. Wie der Titel zeigt, wird für eine Praxis, die noch weiter diskussionswürdig bleibt, schon emotional Stimmung gemacht. Am Ende würde derjenige diskriminiert, der wagt, noch kritische Einwände zu erheben.
[3] Der Quellentext hierzu findet sich bei Aristoteles, Ethica Nicom. VIII-IX. Über den zweifachen Ehezweck siehe VIII, 12, 1162a 16-27. Thomas v. Aquin hat diese Lehre übernommen in: Summa theol., Suppl. q 44, a. 1.
[4] Die für die Ethik wichtige anthropologische Grundlage ist in meiner Abhandlung dargelegt: Vom Dasein zum Wesen des Menschen, Hildesheim (Olms) 2001.

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