Paulus hat die Welt verändert

Walter Kardinal Kasper, der Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, hat in Tarsus, dem Geburtsort des hl. Paulus, am 21. und 22. Juni dieses Jahres die Feierlichkeiten zur dortigen Eröffnung des Paulusjahres geleitet. In herzlicher Atmosphäre wurde er von den türkischen Verantwortlichen vor Ort aufgenommen, mit zahlreichen Pilgern aus der ganzen Welt konnte er auf die Bedeutung des Völkerapostels und des Gebiets der heutigen Türkei für die Geschichte der Kirche aufmerksam machen. Seine Anwesenheit unterstrich vor allem die ökumenische Dimension des Ereignisses sowie des ganzen „Paulusjahres“. Im nachfolgenden Interview fasst er seine Gedanken noch einmal kurz zusammen.

Interview mit Walter Kardinal Kasper, Rom

Kirche heute: Worin besteht – wenn man dies mit einem Wort ausdrücken wollte – die Bedeutung des hl. Paulus?

Kardinal Kasper: Es ist das Verdienst des Apostels Paulus, dass das Christentum zu einer universalen Religion geworden ist. Die Geschichte des Christentums ist ohne ihn nicht vorstellbar, ebenso wenig die Geschichte Europas. Paulus hat wie nur wenige andere Persönlichkeiten die Welt verändert. Er ist eine der herausragendsten Gestalten der Weltgeschichte.

Kirche heute: Wie konnte ihm das gelingen? Wie war es ihm möglich, eine solche Wirkung zu entfalten?

Kardinal Kasper: Paulus hat mit unermüdlichem Einsatz das Licht des Evangeliums in die gesamte damals bekannte Welt getragen. Dazu verwendete er keine außergewöhnliche Methode, keine ausgetüftelte missionarische Strategie. Grund für seine Wirkung war auch nicht ein eindrucksvolles äußeres Auftreten oder eine besondere Redegewandtheit. Im Gegenteil, wie die Schrift bezeugt, ließen gerade diese Fähigkeiten zu wünschen übrig. Der Schlüssel zu seinem Erfolg verbirgt sich in der Geschichte seiner eigenen Passion. Für Jesus Christus war ihm nichts zu viel: Oft war er im Gefängnis, er befand sich ständig in Todesgefahr, fünf Mal erhielt er die 39 Schläge, drei Mal wurde er ausgepeitscht, einmal gesteinigt, drei Mal erlitt er Schiffbruch, war Hunger, Durst, Kälte und Nacktheit ausgesetzt, er wurde verleumdet, verfolgt und schließlich zum Tod mit dem Schwert verurteilt. Im zweiten Korintherbrief beschreibt er ja selbst seine Passion. Die Wirksamkeit seiner apostolischen Arbeit liegt in der Fruchtbarkeit dieser Leiden um des Evangeliums willen begründet. Sein ständiges Martyrium hat die Wahrheit seiner Verkündigung erwiesen.

Kirche heute: Gleichzeitig hat Paulus seiner Nachwelt aber auch ein unüberbietbares Zeugnis in seinem Wort hinterlassen. Wie sind seine Schriften zu bewerten?

Kardinal Kasper: Tatsächlich kann der Apostel Paulus als der erste christliche Theologe bezeichnet werden. Er hat auf eine bleibende Weise die Geschichte der gesamten nachfolgenden Theologie begründet. In den Briefen des Apostels Paulus ist seine Botschaft noch heute lebendig und gültig. Von Anfang an wurden diese Briefe in allen Teilen der Welt im Gottesdienst vorgelesen. Alle christlichen Schulen und theologischen Akademien haben sie studiert. Es handelt sich ohne Zweifel um ein unüberbietbares Zeugnis für das Evangelium Jesu Christi.

Kirche heute: Was zeichnet den hl. Paulus als Theologen aus?

Kardinal Kasper: Die Theologie des Apostels Paulus ist eine Botschaft der Gnade. Nichts schrieb er seinen eigenen Verdiensten zu. Alles, was er war, verdankte er Gott und seiner Gnade. Nach seiner von Jesus Christus geschenkten Bekehrung war allein Gott die Macht und die Stärke seines Lebens. Und diese Gnade ist uns allen geschenkt um des Glaubens willen. In letzter Konsequenz bedeutet die Verkündigung des Apostels Paulus: Alles in unserem Leben ist Gnade. In jeder Situation und für immer stehen wir unter dem Schutz dieser Gnade.

Kirche heute: Was bedeutet das Paulusjahr für die Türkei?

Kardinal Kasper: Paulus ist aus der Geschichte Kleinasiens nicht wegzudenken. Darauf dürfen wir im Rahmen dieses Jahres deutlich hinweisen. Man erinnere sich nur an die zahlreichen Orte, die in der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen genannt werden: Seleuzia, Ikonien, Lystra, Derbe, Ephesus, Milet, Perge, Troas, um nur einige aufzuzählen. In der heutigen Türkei befand sich das Zentrum seiner gesamten Aktivität. Die Türkei ist ein historisches Gebiet, das für die Anfänge der Kirche von bleibender Bedeutung ist. Unterstrichen wird die Verbindung des Apostels Paulus mit dem kleinasiatischen Territorium durch seine Geburt in Tarsus, das sich ebenfalls auf dem Boden der heutigen Türkei befindet. Es ist ein bemerkenswertes Zeichen, dass wir den Eröffnungsgottesdienst in der Pauluskirche von Tarsus feiern konnten, die bislang nur als Museum benützt werden darf. Allerdings ist dies nur ein guter Anfang. Ein echtes Pilgerzentrum für christliche Versammlungen in Tarsus wäre eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht kommt durch das Paulusjahr in der Türkei tatsächlich etwas in Bewegung.

Kirche heute: Welche Möglichkeiten eröffnet das Paulusjahr für die Kirche im kleinasiatischen Raum?

Kardinal Kasper: Es bleibt zu hoffen, dass das Paulusjahr die verschiedenen christlichen Kirchen und Gemeinschaften, die in der Türkei leben oder noch übrig geblieben sind, einander näher kommen und ihr Bestreben nach sichtbar gelebter Einheit festigen. Unter ökumenischer Rücksicht stellt das Paulusjahr für die ganze Kirche eine einzigartige Chance dar, besonders aber für die Christen in der Türkei.

Kirche heute: Welches Signal könnte von diesem Paulusjahr ausgehen?

Kardinal Kasper: Wir kennen heute das weltweite Problem, dass im Namen der Religion, ja im Namen Gottes Gewalt angewendet wird. Die Überwindung des religiösen Fundamentalismus mit derartigen Tendenzen hat sich unser Papst Benedikt XVI. im Dialog mit dem Islam zu einer vordringlichen Aufgabe gemacht. Paulus war selbst ein Mann, der aus religiöser Überzeugung die Christen bis aufs Blut verfolgte. Durch Christus kam die große Verwandlung. Sein Beispiel ist ein Aufruf an die ganze Menschheit und ein starkes Signal für unsere Zeit. Als Christen verstehen wir, dass es nur durch Christus Versöhnung und Frieden geben kann. Mit den Moslems haben wir den Glauben an den einen Gott gemeinsam. Aber im Glauben an Christus unterscheiden wir uns. Wir dürfen unseren Glauben an den Sohn Gottes und Erlöser nicht verstecken, sondern müssen ihn mutig verkünden wie Paulus. Allerdings nicht nur mit Worten, sondern auch durch ein überzeugendes Leben: durch Liebenswürdigkeit, Verfügbarkeit, Wohlwollen, Güte und tätige Nächstenliebe.

Gleichzeitig war Paulus, so betonen es auch die katholischen Bischöfe in der Türkei in ihrem Hirtenbrief, ein Mann des Dialogs. Er kannte die hebräische wie die griechisch-romanische Kultur, sprach Aramäisch und Griechisch. Allerdings bedeutet Dialog nicht, von seinem eigenen Glauben Abstriche zu machen, sondern ihn nachvollziehbar und verständlich vorzutragen – unter beständigem Respekt für den anderen.

Kirche heute: Was wünschen Sie sich für die Kirche zu diesem Paulusjahr?

Kardinal Kasper: Dass sich die Gläubigen auf der ganzen Welt ernsthaft mit den Werken dieses großen Apostels und Lehrers der Völker beschäftigen und in diesen Schätzen eine Stärkung für ihren persönlichen Glauben finden. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass die Kirche die Christen an den Orten, wo Paulus gelebt und gewirkt hat, durch Solidarität, Gebet und Aufmerksamkeit unterstützt. Wir dürfen weder diese Orte, noch die Christen, die dort ihren Glauben bezeugen, vergessen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8+9/August+September 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Ankündigung des Paulusjahres durch Benedikt XVI.

Bei seiner Predigt am 28. Juni 2007 in der Basilika „St. Paul vor den Mauern“ in Rom kündigte Benedikt XVI. ein besonderes Jahr zu Ehren des hl. Paulus an, und zwar anlässlich seines 2000. Geburtstags. Der Papst versuchte, Verständnis für die Größe des hl. Paulus zu wecken und anzudeuten, wer dieser Völkerapostel überhaupt war. Gleichzeitig brachte er zum Ausdruck, wie er sich die Feier eines solchen außerordentlichen Jahres vorstellt. Nachfolgend ein Auszug mit den entscheidenden Passagen.

Von Papst Benedikt XVI.

Paulus, Knecht Christi Jesu

Heute Abend richtet sich unser Blick auf den hl. Paulus, dessen Reliquien in tiefer Verehrung in dieser Basilika verwahrt werden. Zu Beginn des Briefs an die Römer, den wir gerade gehört haben, begrüßt er die Gemeinde von Rom und stellt sich vor als „Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel“ (Röm 1,1). Er gebraucht den Begriff „Knecht“, auf griechisch „doulos“, der auf eine Beziehung der vollkommenen und bedingungslosen Zugehörigkeit zu Jesus, dem Herrn, verweist und eine Übersetzung des hebräischen „ebed“ ist und auf diese Weise auf die großen Knechte anspielt, die Gott auserwählt und zu einer wichtigen und besonderen Mission berufen hat.

Paulus ist sich bewusst, dass er „zum Apostel berufen“ ist, das heißt nicht durch Eigenkandidatur, noch durch menschlichen Auftrag, sondern einzig und allein durch die göttliche Berufung und Auserwählung. In seinen Briefen wiederholt der Apostel mehrfach, dass alles in seinem Leben Frucht der freien und barmherzigen Initiative Gottes ist (vgl. 1 Kor 15,9-10; 2 Kor 4,1; Gal 1,15).

Berufen zur Verkündigung des Evangeliums

Er wurde auserwählt, um „das Evangelium Gottes zu verkündigen“ (Röm 1,1), um die göttliche Gnade zu proklamieren, die den Menschen in Christus mit Gott, mit sich selbst und mit den anderen versöhnt.

Aus seinen Briefen wissen wir, dass Paulus alles andere als ein fähiger Redner war; im Gegenteil, er teilte mit Moses und Jeremia den Mangel an Redegewandtheit: „Sein persönliches Auftreten ist matt, und seine Worte sind armselig“ (2 Kor 10,10), sagten seine Gegner über ihn. Die außerordentlichen apostolischen Ergebnisse, die er erzielen konnte, können daher nicht einer brillanten Redekunst oder raffinierten apologetischen und missionarischen Strategien zugeschrieben werden. Der Erfolg seines Apostolats hängt vor allem von einer persönlichen Teilnahme an der Verkündigung des Evangeliums mit einer völligen Hingabe an Christus ab; einer Hingabe, die sich vor Risiken, Schwierigkeiten und Verfolgungen nicht fürchtete: „Weder Tod noch Leben“, schreibt er an die Römer, „weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (8,38-39).

Das entscheidende Argument der Wahrheit

Daraus können wir etwas äußerst Wichtiges für jeden Christen lernen. Das Wirken der Kirche ist in dem Maß glaubwürdig und wirksam, in dem ihre Anhänger bereit sind, ihre Treue zu Christus persönlich zu bezahlen, in jeder Situation. Wo eine solche Bereitschaft fehlt, mangelt es auch an dem entscheidenden Argument der Wahrheit, von dem die Kirche selbst abhängt. Wie zu Beginn braucht Christus auch heute Apostel, die bereit sind, sich selbst zu opfern. Er braucht Zeugen und Märtyrer wie den hl. Paulus: Ehemals brutaler Verfolger der Christen, gesellt er sich, ohne zu zögern, als er auf dem Weg nach Damaskus, vom göttlichen Licht geblendet, zur Erde stürzt, an die Seite des Gekreuzigten und folgt ihm ohne Bedenken. Er lebte und arbeitete für Christus; für ihn litt er und ist gestorben. Wie zeitgemäß ist doch heute sein Vorbild!

Offizielle Ankündigung des Paulinischen Jahres

Genau deshalb freue ich mich, offiziell verkünden zu dürfen, dass wir dem Apostel Paulus vom 28. Juni 2008 bis zum 29. Juni 2009 ein besonders Jubeljahr widmen werden, anlässlich der Zweitausendjahrfeier seiner Geburt, die von den Geschichtswissenschaftlern zwischen 7 und 10 nach Christus angesetzt wird. Dieses „Paulinische Jahr“ wird sich bevorzugt in Rom zutragen können, wo seit zwanzig Jahrhunderten unter dem päpstlichen Altar dieser Basilika der Sarkophag verwahrt wird, der nach einhelliger Meinung der Experten und nach unbestrittener Tradition die Überreste des Apostels Paulus beinhaltet.

Wallfahrten zum Paulusgrab

In der päpstlichen Basilika und in der angrenzenden benediktinischen Abtei mit dem gleichen Namen werden daher zahlreiche liturgische, kulturelle und ökumenische Feiern stattfinden können, wie auch verschiedene pastorale und soziale Initiativen, die von der paulinischen Spiritualität inspiriert sind. Ferner wird eine besondere Aufmerksamkeit den Wallfahrten geschenkt, die sich aus den unterschiedlichsten Gegenden zur Buße an das Grab des Apostels begeben wollen, um geistlichen Nutzen zu finden.

Unermesslicher Reichtum der paulinischen Texte

Es werden auch Studientage und besondere Veröffentlichungen zu paulinischen Texten gefördert, um den unermesslichen Reichtum, der in ihnen verschlossen ist – wahres Vermögen der von Christus erlösten Menschheit –, immer bekannter zu machen. Außerdem können in allen Teilen der Welt ähnliche Initiativen in den Diözesen, Heiligtümern und Kultstätten veranstaltet werden, durch die religiösen Institute, die Studien- und Assistenzeinrichtungen, die den Namen des hl. Paulus tragen oder sich an seiner Person und an seiner Lehre inspirieren.

Ökumenische Dimension des Paulusjahres

Schließlich gibt es da noch einen besonderen Aspekt, dem während der paulinischen 2000-Jahr-Feier einzigartige Aufmerksamkeit gebührt: Es geht mir um die ökumenische Dimension. Der Apostel der Heiden, der sich besonders dafür einsetzte, die Frohe Botschaft allen Völkern zu bringen, hat sich vollkommen für die Einheit und die Eintracht aller Christen verausgabt. Möge er uns während dieser 2000-Jahr-Feier leiten, schützen und uns helfen, in der bescheidenen und aufrichtigen Suche nach der vollen Einheit aller Glieder des mystischen Leibes Christi voranzuschreiten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8+9/August+September 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Paulus will mit uns reden – heute

Mit einer feierlichen Vesper am 28. Juni 2008 in St. Paul vor den Mauern eröffnete Papst Benedikt XVI. im Beisein von Patriarch Bartholomäus I. aus Istanbul das Paulusjahr. Er stellte in den Mittelpunkt seiner Predigt, dass Paulus sich selbst „Lehrer der Völker“ sowie „Apostel und Verkünder Jesu Christi“ nennt. Dabei dürfe der Blick „nicht nur in die Vergangenheit“ gehen. „Dieses Wort öffnet sich in die Zukunft hinein auf alle Völker und Generationen hin“, so der Papst. Paulus sei auch unser Lehrer. Was hat er uns heute zu sagen? Nachfolgend einige Auszüge aus der Predigt des Papstes.

Von Papst Benedikt XVI.

Paulus will mit uns reden – heute. Dazu habe ich dieses besondere „Paulusjahr“ ausgerufen: damit wir ihm zuhören und von ihm als unserem Lehrer jetzt „den Glauben und die Wahrheit“ erlernen, in denen die Gründe für die Einheit unter den Jüngern Christi verwurzelt sind. Fragen wir also nicht nur: Wer war Paulus? Fragen wir vor allem: Wer ist Paulus? Was sagt er mir? Ich möchte in dieser Stunde, am Anfang des „Paulusjahres“, das wir hier eröffnen, drei Texte aus dem reichen Zeugnis des Neuen Testaments herausgreifen, in denen seine innere Physiognomie, das Eigentliche seines Wesens erscheint.

I. Das Geliebtsein von Jesus Christus

Im Brief an die Galater hat er uns ein ganz persönliches Glaubensbekenntnis geschenkt, in dem er vor den Lesern aller Zeiten sein Herz auftut – sagt, was die innerste Triebkraft seines Lebens ist. „ ... Ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20). Alles, was Paulus tut, geschieht von dieser Mitte her. Sein Glaube ist die Erfahrung des ganz persönlichen Geliebtseins von Jesus Christus; er ist Wissen darum, dass Christus nicht irgendwie ins Allgemeine hinein gestorben ist, sondern ihn – Paulus – geliebt hat und als Auferstandener ihn heute liebt; dass er für ihn sich gegeben hat. Sein Glaube ist das Getroffensein von der Liebe Jesu Christi, die ihn bis ins Innerste erschüttert und umwandelt. Sein Glaube ist nicht eine Theorie, nicht eine Meinung über Gott und die Welt. Sein Glaube ist das Auftreffen der Liebe Gottes in seinem Herzen. Und so ist dieser Glaube selbst Liebe zu Jesus Christus.

Paulus wird von vielen vor allem als streitbarer Mann hingestellt, der das Schwert des Wortes zu führen weiß. In der Tat, an Auseinandersetzungen hat es auf seinem Weg als Apostel nicht gefehlt. Er hat nicht nach oberflächlicher Harmonie gesucht. In dem ersten seiner Briefe, der an die Thessalonicher ging, sagt er selber: „Wir haben ... das Evangelium Gottes trotz harter Kämpfe freimütig und furchtlos bei euch verkündet. ... Nie haben wir mit unseren Worten zu schmeicheln versucht, das wisst ihr“ (1 Thess 2,2.5). Die Wahrheit war ihm zu groß, als dass er bereit gewesen wäre, sie für den äußeren Erfolg zu opfern. Die Wahrheit, die er in der Begegnung mit dem Auferstandenen erfahren hatte, war ihm des Streites, der Verfolgung, des Leidens wert. Aber was ihn zuinnerst trieb, war das Geliebtsein von Jesus Christus und das Weitergeben dieser Liebe. Paulus war ein Liebender, und all sein Wirken und Leiden erklärt sich nur von dieser Mitte her.

II. Die Kirche als Leib Christi

Auf der Suche nach der inneren Physiognomie des hl. Paulus möchte ich an zweiter Stelle an das Wort erinnern, das der auferstandene Christus auf dem Weg nach Damaskus an ihn gerichtet hat. Der Herr ruft ihm zuerst zu: „Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?“ Auf die Frage hin: „Wer bist du, Herr?“ erfolgt die Antwort: „Ich bin Jesus, den du verfolgst“ (Apg 9,4f). Indem Saulus die Kirche verfolgt, verfolgt er Jesus selbst. „Du verfolgst mich.“ Jesus identifiziert sich mit der Kirche in einem einzigen Subjekt. In diesem Ruf des Auferstandenen, der das Leben des Saulus umwandelte, ist im Grund schon die ganze Lehre von der Kirche als Leib Christi enthalten. Christus hat sich nicht in den Himmel zurückgezogen und auf Erden eine Schar von Anhängern zurückgelassen, die „seine Sache“ weiter betreiben. Die Kirche ist nicht ein Verein, der eine bestimmte Sache voranbringen will. In ihr geht es nicht um eine Sache. In ihr geht es um die Person Jesu Christi, der auch als Auferstandener Fleisch geblieben ist. Er hat „Fleisch und Knochen“ (Lk 24,39), so sagt es der Auferstandene bei Lukas zu den Jüngern, die ihn für einen Geist gehalten hatten. Er hat einen Leib. Er ist selbst da in seiner Kirche, „Haupt und Leib“ ein einziges Subjekt, wird Augustinus sagen. „Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?“ schreibt Paulus an die Korinther (1 Kor 6,15). Er fügt hinzu: Wie Mann und Frau nach der Genesis miteinander ein Fleisch werden, so wird Christus mit den Seinen ein Geist, das heißt ein einziges Subjekt in der neuen Welt der Auferstehung (1 Kor 6,16ff).

In alledem scheint das eucharistische Geheimnis durch, in dem Christus immerfort seinen Leib schenkt und uns zu seinem Leib macht: „Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe am Leib Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1 Kor 10,16f). Mit diesem Wort redet uns in dieser Stunde nicht nur Paulus, sondern der Herr selber an: Wie konntet ihr meinen Leib zerreißen? Vor dem Angesicht Christi wird dieses Wort zugleich zur dringlichen Bitte: Führe uns zusammen aus allen Trennungen. Lass es heute neu Wirklichkeit werden: Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib. Das Wort von der Kirche als Leib Christi ist für Paulus nicht irgendein beliebiger Vergleich. Es geht weit über einen Vergleich hinaus. „Warum verfolgst du mich?“ Immerfort zieht uns Christus in seinen Leib hinein, baut seinen Leib von der eucharistischen Mitte her auf, die für Paulus Zentrum christlicher Existenz ist, von der aus alle und jeder einzelne ganz persönlich erfahren darf: Er hat mich geliebt und sich für mich dahingegeben.

III. Das Leiden für das Evangelium

Ans Ende möchte ich ein spätes Wort des hl. Paulus stellen, einen Zuruf an Timotheus vom Gefängnis her im Angesicht des Todes. „Leide mit mir für das Evangelium“, sagt der Apostel zu seinem Schüler (2 Tim 1,8). Dieses Wort, das wie ein Testament am Ende der Wege des Apostels steht, weist zurück auf den Anfang seiner Sendung. Während Saulus nach der Begegnung mit dem Auferstandenen blind in seiner Wohnung in Damaskus weilte, erhielt Hananias den Auftrag, zu dem gefürchteten Verfolger zu gehen und ihm die Hände aufzulegen, damit er wieder sehe. Auf den Einwand des Hananias hin, dass dieser Saulus ein gefährlicher Christenverfolger sei, ergeht die Antwort: „Dieser Mann ... soll meinen Namen vor Völker und Könige ... tragen. Ich werde ihm auch zeigen, wieviel er für meinen Namen leiden muss ...“ (Apg 9,15f). Der Auftrag zur Verkündigung und die Berufung zum Leiden für Christus gehören untrennbar zusammen. Die Berufung zum Lehrer der Völker ist zugleich und in sich selbst eine Berufung zum Leiden in der Gemeinschaft mit Christus, der uns durch sein Leiden erlöst hat.

Die Wahrheit kostet Leiden in einer Welt, in der die Lüge Macht hat. Wer dem Leiden ausweichen, es von sich fernhalten will, der weicht dem Leben und seiner Größe selber aus; er kann nicht Diener der Wahrheit und so des Glaubens sein. Liebe gibt es nicht ohne Leid – ohne das Leid des Verzichts auf sich selbst, der Umwandlung und Reinigung des Ich in die wahre Freiheit hinein. Wo nichts ist, das des Leidens wert wäre, da verliert auch das Leben selbst seinen Wert. Die Eucharistie – die Mitte unseres Christseins – beruht auf der Hingabe Jesu Christi für uns, sie ist aus der Passion der Liebe geboren, die im Kreuz ihren Höhepunkt fand. Von dieser sich schenkenden Liebe leben wir. Sie gibt uns den Mut und die Kraft, mit Christus und für ihn in dieser Welt zu leiden, wissend, dass gerade so unser Leben groß und reif und wahr wird. Aus allen Briefen des hl. Paulus sehen wir, wie sich in seinem Weg als Lehrer der Völker die Vorhersage erfüllt hat, die in der Stunde seiner Berufung an Hananias ergangen war: „Ich werde ihm zeigen, wieviel er für meinen Namen leiden muss.“ Sein Leiden beglaubigt ihn als Lehrer der Wahrheit, der nicht seinen Gewinn, seinen Ruhm, seine eigene Erfüllung sucht, sondern für den einsteht, der uns alle geliebt und sich für uns hingegeben hat.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8+9/August+September 2008
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Die geschichtliche Bedeutung des Apostels Paulus

Den zahlreichen Veröffentlichungen über die Gestalt des hl. Paulus hat Prof. Dr. Klaus Berger mit nachfolgendem Artikel ein neues Kleinod hinzugefügt. Der Beitrag fasst sein Paulus-Bild in einzigartiger Weise zusammen. Knapp und treffend folgen die Ergebnisse seiner bibeltheologischen Reflexionen aufeinander wie die Perlen an einer kostbaren Kette. Dabei arbeitet er zunächst die Bedeutung des Apostels Paulus für die Urkirche heraus. Dieser Teil fällt verständlicherweise am umfangreichsten aus, zumal Berger überzeugt ist, dass die äußere Gestalt des Christentums zum größten Teil auf Paulus zurückgeht. In einem zweiten Schritt zeigt er kurz die Bedeutung des hl. Paulus in nachbiblischer Zeit auf, also seine Wirkungsgeschichte durch die Jahrhunderte hindurch. Im dritten Schritt geht es um die Bedeutung des Völkerapostels für die Gegenwart. Damit berührt Berger unmittelbar die Sinngebung des eben eröffneten „Paulusjahres“. Er nennt die theologischen und pastoralen Inhalte, die für eine fruchtbare Gestaltung dieses Jubiläumsjahres maßgeblich sind.

Von Klaus Berger

A. Bedeutung des Völkerapostels für die Urkirche

Paulus galt lange als der „zweite“ oder sogar als der „eigentliche“ Gründer des Christentums. Dafür machte man dann die Kluft zwischen Jesus und Paulus besonders groß. Doch inzwischen sieht man Jesus und Paulus wieder enger zusammen, besonders weil man viele enge Beziehungen zwischen den vier Evangelien und Paulus entdeckt hat, zum Beispiel bei Abendmahlsüberlieferung und Apostelbegriff, Taufe und Trinitätslehre, nicht zuletzt auch beim gemeinsamen Thema Kirche.

Für diese Nähe spielte wohl auch der Kontakt zwischen Petrus und Paulus eine Rolle. Doch der entscheidende Schritt des Apostels über das Lebenswerk Jesu hinaus liegt in seiner Rolle als Völkerapostel. Allerdings mag es neben Paulus parallele Ansätze zu einer Heidenmission gegeben haben, die ein Jude-Werden, also eine Beschneidung,  nicht erforderte, so eben auch bei Petrus, dann bei den Christen, die die Gemeinden in Antiochien und Damaskus, in Rom und Alexandrien und wohl auch auf Zypern gründeten. Und Paulus war auch wohl nicht von Anfang an exklusiv Heidenmissionar. Aber in seinen Missionsreisen und Briefen legt er – neben dem 1. Petrusbrief – das deutliche theologische Fundament für die „beschneidungsfreie Heidenmission“. Es besteht darin, dass der Geist des Auferstandenen, der Heilige Geist, die Grenzen zwischen Israel und den Völkern niederlegt und alle Menschen, die glauben und getauft werden, zu Kindern Gottes macht. Paulus ist der Apostel, der radikal mit der weitesten inneren und äußeren Konsequenz für eine Ausbreitung der Kirche auch unter den Heiden gesorgt hat. Doch Paulus tut dieses nicht einseitig: Er setzt alles daran, dass die Heidenchristen die Verbindung zur judenchristlichen Mitte des Christentums bewahren. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Schöpfer der Welt, ist der Vater Jesu Christi. Paulus ist diese nachdrückliche Anbindung an das alte Gottesvolk ebenso zu verdanken wie dem hl. Petrus. Die Bindung an das alte Gottesvolk gilt für das Alte Testament, das auch bei Paulus die heilige Schrift bleibt, und bereitwillig übernimmt Paulus die große Hoffnung Jesu, dass dieser bei seiner Wiederkunft die Anerkennung seines Volkes finden werde (Römerbrief 11). Weil Paulus an Gott als dem Schöpfer festhält, ist die Kirche gewappnet gegen spätere dualistische Versuche, die materielle Welt und sichtbare Schöpfung, ja die Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit des Menschen „weltlos“ abzuwerten. Markion, Gnosis, Manichäismus und Jansenismus haben sich zwar stets auch auf Paulus berufen, aber er selbst würde sie mit Sicherheit als Gegner betrachten. In seinen Gemeinden schützt Paulus je länger desto mehr Menschen, die Judenchristen sind und weiter ihr Judentum pflegen (Heute würde man diese Menschen „messianische Juden“ nennen.) Und nicht zuletzt sorgt Paulus für die Anbindung seiner Gemeinden an die Urgemeinde in Jerusalem mittels einer Kollekte, um so die sichtbare Einheit der Kirche zu bewahren.

Andererseits setzt sich Paulus mit dem Judentum kritisch auseinander: Allein Glaube an den dreieinigen Gott und Taufe auf den Namen Jesu schaffen die zureichende Bedingung der Zugehörigkeit zum neuen Gottesvolk. Er sehnt sich danach, wenigstens einige seiner jüdischen Volksgenossen zum Glauben an Jesus zu bringen. Denn wer versucht, ohne Jesus Christus das Heil zu erlangen, kann das aus der Sicht des Apostels nicht „schaffen“. Denn der Mensch in seiner Schwäche braucht einen stetigen Fürsprecher bei Gott, den auferstandenen Christus, der den himmlischen Vater auf die sühnende Kraft seines Gehorsams und Blutvergießens immer wieder aufmerksam macht. Hier ist der Ursprung dessen, was man später „Rechtfertigungslehre“ nennt, doch eigentlich geht es dabei um den Glauben, der unabdingbar auf Jesus Christus gerichtet ist. Und es geht nicht in erster Linie um die Frage, ob der Mensch aus Leistung oder Gnade gerecht wird. Der Stein des Anstoßes heißt allein Jesus Christus.

Sehr bedeutsam ist, dass bei Paulus ein theologisches Gleichgewicht besteht zwischen der Rolle Jesu Christi und der des Heiligen Geistes. Besonders in der westlichen Christenheit hat man später oft dieses Gleichgewicht vernachlässigt. Paulus aber hat durch seine ausgewogenen Formulierungen dazu beigetragen, dass die Wahrheit über die Dreifaltigkeit sich in der Kirche durchsetzen konnte.

Im Bereich des Gottesdienstes setzt Paulus bereits die Trennung von eucharistischem Mahl und häuslichem Abendessen durch und er sorgt dafür, dass die Zusammenkünfte der Gemeinden nicht durch einzelne spontane Inspirationen ins Chaos geführt werden. Und innerkirchlich hat der Apostel sich bemüht, Christen nicht moralisch zu überfordern, sondern er hat Kompromisse verordnet, die das Christentum für Menschen nachvollziehbar macht, die in der Welt leben, Kinder bekommen und arbeiten.

Vor allem im Bereich der Missionstätigkeit des Apostels Paulus liegen die Wurzeln des christlichen Verständnisses von einem kirchlichen hierarchischen Amt, das auf dem Fundament der Apostel besteht. Denn vom Zwölferkreis haben wir diesbezüglich aus der Frühzeit weiter keine Nachrichten. Paulus aber setzt Bischöfe und Älteste ein. In seinem Wirkungsfeld entsteht die entscheidende Voraussetzung für alles das, was auch immer man unter strukturierter Kirche versteht.

Wenn man die Bedeutung des historischen Paulus bündig darstellen will, kann man sagen: Die christlichen Glaubensinhalte kleidet Paulus in großer Treue zu Jesus und den Evangelien in die Gestalt griechischer Popularphilosophie und zeitgenössischer Seelsorge. Und die äußere Gestalt des Christentums vom Gottesdienst bis zum Amtsverständnis verdanken wir zu 70 Prozent ihm. Aber bei aller Übersetzung und Neugestaltung ist bei Paulus vor allem dieses zentral geblieben: die große Liebe zu Jesus Christus und die Sehnsucht nach ihm, die unbedingte Nachfolge im Zeichen des Kreuzes und die zentrale Rolle der Auferstehung Jesu.

Den Zusammenhang zwischen Taufe und Eucharistie entfaltet Paulus besonders im 1. Korintherbrief. Und jeder, der sich darüber informieren will, muss bis heute in diesem Brief (und in Röm 6) nachsehen.

Für das, was wir unter „katholisch“ verstehen, ist es elementar wichtig, dass Paulus – trotz der Meinungsverschiedenheit mit Petrus in Antiochien über das Essen von Judenchristen und Heidenchristen – die Kircheneinheit bewahrt hat und in Galater 1 sein eigenes Apostolat ganz an Petrus ausrichtet (Gal 1,12-16 und Mt 16,18f). Schließlich sterben beide wohl gemeinsam unter Kaiser Nero in Rom. Und der Kanon des Neuen Testaments scheint mir eine Sammlung von Petrus- und Paulusschriften zu sein, orientiert an Rom am Schluss der Apostelgeschichte und in der Offenbarung des Johannes. Die Evangelien sind Petrusschriften, weil Petrus überall das entscheidende Bekenntnis formuliert.

B. Wirkungsgeschichte in nachbiblischer Zeit

Die nachbiblische Wirkungsgeschichte des Apostels verläuft dramatisch. Man kann sicher sagen: Stets haben den Apostel nur wenige geliebt, noch weniger haben ihn verstanden. Über Jahrhunderte hin wird Paulus insbesondere von den nicht-theologisch gebildeten Christen kaum wahrgenommen. Alle ganz großen Theologen haben dagegen Paulus geliebt: Augustinus, Bernhard v. Clairvaux (mit Wilhelm v. St. Thierry), Thomas v. Aquin, dann die Reformatoren Martin Luther, Johannes Calvin und der reformierte Theologe Karl Barth im 20. Jahrhundert. Auch der aufsässige Peter Abälard (12. Jh.) hat einen Römerbrief-Kommentar geschrieben.

Ein kleines Symptom: In meiner Sammlung von 5.000 Glocken-Inschriften aus Mittelalter und früher Neuzeit zitiert keine einzige Paulus. Paulus war nie ein Volksheiliger, seine Botschaft war stets schwierig, was er übrigens selbst schon gewusst hat (2 Kor 10,10).

Woran lag das? Wie kam diese Mischung aus Großartigkeit und Schwierigkeit zustande? – Man bedenke: Die Briefe des Paulus entstanden fast alle vor oder gleichzeitig mit den Evangelien. Das meiste hatte noch nie ein Denker bedacht. Paulus gießt es in halb-philosophische Sprache, die aber deshalb schwierig ist, weil sie immer schon Vermittlung von Jesusgut, Judentum und Gebrauchsphilosophie ist. Das Ganze entsteht, wie Paulus sagt und wie auch heute noch erkennbar ist, im Gebet. Die Tiefe, die Paulus dadurch erreicht, ist oft atemberaubend, abgründig und auch heute kaum einholbar. Es sind massive Gegensätze, zwischen denen Paulus immerfort vermitteln muss: Wie der Gott Israels zugleich der Gott aller Völker sein kann, wie der gekreuzigte Messias zugleich der Herr der Herrlichkeit ist, wie das jüdische Gesetz besteht und trotzdem in schlichter, radikaler Liebe erfüllt werden kann, wie der Christ von Gott angenommen ist und dennoch weiterhin sündigen kann, wie der Christ sichtbar vergänglich ist wie alle und trotzdem die Hoffnung auf Auferstehung haben kann.

Die Aufnahme der Gedanken des Apostels zwischen Augustinus und Karl Barth diskutiert freilich vorrangig nur die fundamentale Bedeutung von Sünde und Gnade, von Freiheit und Vorherbestimmung, von Sühnetod und Versöhnung für das Bild von Gott und vom Menschen.

Alle die vielen Begriffe theologischer Theoriebildung, die für den Laien oft ein Buch mit sieben Siegeln sind, gehen stets auf die Verarbeitung johanneischer und paulinischer Gedanken zurück. Man mag sie für überflüssig halten – für interessiertes Nachdenken und die Auseinandersetzung mit nicht-christlichen Denkrichtungen waren diese Begriffe und Themen stets faszinierend und eben auch lebhaft umstritten. Die erste Auflage des „Römerbriefes“ von Karl Barth löste eine kleine theologische Revolution aus. Mit einem Male wurde den Lesern aus dem Bereich des staatstreuen Kulturprotestantismus klar, dass menschliche Institutionen und insbesondere moderne Technik im Wesentlichen aus menschlichem Allmachtstrieb entstanden und dann vergötzt wurden. So wie Karl Barth Paulus auffasste, war all dieses Menschenwerk, das durch den Hammer der Alleingeltung Gottes nur vernichtet werden konnte. Ist der moderne Mensch also einer, der sich selbst zunehmend vergötzt? Das ist wohl richtig, doch ob Paulus das so oder ähnlich gemeint hat, möge offen bleiben. Oder geschieht Ähnliches wie im katholischen Jansenismus des 17. Jh., wo man den Gegensatz von Fleisch und Geist aus Paulus herausgriff und zum Zentrum einer strengen Bußlehre machte?

Immerhin kommt im 15. Jh. eine neue Richtung der mystischen Frömmigkeit auf, die sich an Paulus orientiert, die Brüder (und Schwestern) vom freien Geiste, Vorläufer der seit dem 19. Jh. dann immer wichtiger werdenden charismatischen Bewegungen, die sich mit mehr oder weniger Recht auf Paulus und die Rolle der Charismen in seinen Gemeinden berufen.

C.  Bedeutung des hl. Paulus für die Kirche der Gegenwart

Fragt man nach der Bedeutung des Apostels für die Kirche der Gegenwart, so ergibt sich – vor allem gegenüber der vorherrschenden Deutung des Apostels für Sünde, Gesetz und Gnade wiederum ein stark gewandeltes Bild. Mehr denn je ist die universale Geschichts-Theologie des Apostels gefragt, wonach Gott alle unter der Sünde zusammengeschlossen hat, um sich in der Wiederkunft Christi aller zu erbarmen (Röm 11). Nach dem Zusammenbruch der Utopien des Rassismus und Marxismus hat das Christentum die Perspektive des Weltfriedens unter dem Aspekt der Versöhnung mit Israel anzubieten. Und was die Kirche betrifft: Deren universaler Charakter ist das Alleinstellungsmerkmal unter allen religiösen Angeboten. Paulus entwirft (oder lässt seine Schüler entwerfen) dieses Bild vor allem im Epheser- und Kolosserbrief, die schon gegenüber der universalen Geltung des römischen Kaisertums die Konkurrenz Jesu Christi anmelden.

Schon Paulus hatte das Konzept, als Apostel und Lehrer „allen alles zu werden“, das heißt: die fremden Kulturen in seiner eigenen Person missionarisch nachzuvollziehen. Nur wenn es der Missionar fertig bringt, als Christ in seiner Identität mit den fremden Menschen zu leben, kann auch eine Übersetzung der Botschaft für diese Menschen im Ganzen gelingen. Dabei ist freilich nicht von vornherein festzulegen, wie weit man gehen darf. Wer wachsam ist, dem gelingt es, den Glauben an den dreifaltigen Gott und sein Volk auch anderen nahe zu bringen, ohne irgendetwas zu verraten.

Der „Leib Christi“ hat in der „neuen religiösen Sinnlichkeit“ unserer Tage eine besondere Bedeutung, denn er korrespondiert dem Leib und der Leiblichkeit jedes einzelnen Christen.

Aktuell ist auch das paulinische Konzept der Kirche der „Heiligen“, das heißt: Zu Gottes Volk zu gehören ist ein unauslöschliches Siegel und verlässliches Merkmal der kommenden Welt, was auch immer kommen mag. Und der Christ der Zukunft ist der seiner Berufung bewusste Träger eines je besonderen Charismas, das heißt: einer missionarischen Befähigung, die auch ohne Sonntagsreden die Blicke der Menschen auf Gott lenkt.

Und der Gegensatz von Fleisch und Geist ist nach zutreffenderer Auffassung nicht der zwischen Intellekt und Triebhaftigkeit, sondern der zwischen kreatürlicher Schwäche des Menschen und übernatürlicher Rettung durch den Heiligen Geist. Der Feind ist nicht der Leib, sondern die Maßlosigkeit und der Tod.

Und was die paulinische Ethik angeht: Eine große Bedeutung hat die Beobachtung, dass „Gerechtigkeit“ in der Bibel nicht persönliche Eigenschaft ist, sondern Gemeinschaftstreue. Oder anders: Heil wie Unheil haben sozialen Charakter. Seit über einhundert Jahren betonen das die päpstlichen Sozial-Enzykliken, die sich immer wieder auf den Apostel Paulus berufen. Wie zu Zeiten des Alten Testaments ist dieser Zug gemeinschaftlicher Verpflichtung wieder lebendig geworden: Gerechtigkeit heißt, anderen ermöglichen, dass sie mit mir zusammen leben können. Die durch die Annahme in der Taufe erlangte Rechtfertigung ist daher nicht Schlusspunkt, sondern Anfang für ein Zusammenleben. Das wäre die längst fällige Brücke zwischen einer stark individualistisch gesehenen „Rechtfertigung“ und dem Leben in der Gemeinschaft der Kirche. So gesehen ist auch die paulinische Radikalität der Liebe nicht fortdauernde Überforderung, sondern im Miteinander verwirklichte Freundschaft. So taucht der Begriff der Freundschaft als Synthese aus johanneischem und paulinischem Denken seit den charismatischen Bewegungen des Spätmittelalters immer wieder auf, und er hat große Bedeutung in der Gegenwart. Nein, Paulus schickt uns nicht auf den endlosen Weg der Moral und des Moralisierens, er stellt uns jede Gemeinde und die Kirche im Ganzen dar als lebendigen Organismus.

Dabei schärft Paulus ein Thema bleibend ein, das er mit großer Sensibilität beherrscht: das der gegenseitigen Achtung und des sozialen Prestiges. Denn nicht Besitz und Macht sind entscheidend, sondern Missachtung und Diffamierung. Als antiker Jude weiß Paulus sehr wohl, was das ist, sozial diskreditierender Klatsch. Die entscheidende Frage ist, woher wir voreinander soziales Prestige gewinnen können. Unser Umgang mit den Völkern und Kulturen des Nahen Ostens zeigt uns im Augenblick, dass wir da mit der Verankerung unseres Selbstbewusstseins in Geld und Waffen auf dem falschen Weg sind. Vielleicht lässt sich von Paulus etwas lernen, das zu den Lebensprinzipien des Gottesvolkes gehört: Autonomie und Individualismus müssen abgelöst werden durch das biblische Prinzip der Stellvertretung. Sie ist ein Lebensnerv der Kirche: Christus für uns vor Gott, so die Heiligen für die Kirche, so einer für den anderen im Leben.

Fazit: In den vergangenen Jahrhunderten war Paulus unfreiwillig Zeuge der Rivalität zwischen Mensch und Gott. In der Zukunft liegt der Ton auf etwas ganz anderem: auf einer neuen – auch sozial sensiblen – Mystik der Kirche.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8+9/August+September 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Phantombild des Apostels Paulus

Eine der interessantesten Seiten im Internet zum Thema „Paulusjahr“ – www.paulusjahr.info – wurde vom Historiker und Buchautor Michael Hesemann erstellt.

Sie wird von ihm ständig weiterentwickelt und mit aktuellen Informationen auf den neuesten Stand gebracht. Es ist zu spüren, dass Hesemann selbst ein leidenschaftlicher Verehrer des hl. Paulus ist. Schon für sein Petrus-Buch „Der erste Papst, Archäologen auf der Spur des historischen Petrus“ hatte er die Idee, die „Visuellen Fahndungshilfen“ des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen (LKA NRW) hinzuzuziehen, um nach den verschiedensten historischen Befunden ein Phantombild zu erstellen und abzudrucken. Auf gleiche Weise wurde nun das fiktive Bild des Paulus von Tarsus angefertigt. Das Buch „Paulus von Tarsus. Archäologen auf den Spuren des Völkerapostels“ ist Anfang April rechtzeitig zur Eröffnung des Paulusjahres (28. Juni 2008 – 29. Juni 2009) erschienen.

Sonderablass zum Paulusjahr

Die Website informiert auch über den Sonderablass, den die Pilger durch den Besuch des Paulus-Grabes in Rom, sowie in allen Kirchen, die das Patrozinium des heiligen Paulus tragen, und in Kirchen, die von den Ortsbischöfen festgelegt werden, gewinnen können.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8+9/August+September 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Sel. Mutter Teresa: Jesus allein genügt!

Fr. Joseph Langford MC, Priester der von Mutter Teresa gegründeten Gemeinschaft der Missionare der Nächstenliebe (Missionaries of Charity – MC) und Postulator ihres Selig- und Heiligsprechungsprozesses, hielt am 12. Februar 2008 in Tor Fiscale einen Vortrag über die Selige mit sehr persönlichen Zügen. Er führt in das Geheimnis ihres Lebens ein und glaubt, es vor allem in ihrer Grundeinstellung entdecken zu können, nämlich dass für sie Jesus in allen Lebenslagen allein genügte. Nachfolgend der für Kirche heute übersetzte und bearbeitete Vortrag.

Von Joseph Langford MC

An Mutter Teresa konnten wir alle etwas Entscheidendes beobachten: Sie hatte stets das Empfinden und die Gewissheit, dass Jesus allein genügt. Mich hat diese ihre Grundhaltung fasziniert und herausgefordert.

Keine sentimentale Frömmelei, sondern Realismus des Glaubens

Unsere moderne Gesellschaft versucht Jesus Christus in die „Sakristei“ zu verdrängen. Und unser modernes Christentum reduziert ihn auf die Vergebung der Sünden in einem eher juristischen Sinn. Wir lassen ihn dafür gelten, dass er uns unsere Sünden hinweg nimmt. Für alles andere gibt es die Master Card. In allen anderen Fragen sind wir auf uns selbst angewiesen. Wir müssen da sein. Wir selbst müssen Initiative ergreifen. Doch bei Mutter Teresa war dies ganz anders. Und es war geradezu schockierend. Mich persönlich hat es so tief getroffen, weil es meiner „forma mentis“, meiner geistigen Grundeinstellung widersprach. Ich war in einer religiösen Familie aufgewachsen, hatte eine katholische Schule besucht und war in das Seminar eingetreten. Bei Mutter Teresa musste ich jedoch feststellen, dass Jesus in ihrem Leben ein viel breiteres Spektrum einnahm als bei mir. Dabei war sie nicht sentimental. Es ging nicht um „nonnenartige“ Pietät mit Übertreibungen. Mutter Teresa hatte nie übertrieben. Sie war ein albanisches Mädchen vom Land. Ein Realismus formte ihre Mentalität und ihre Sprache. Das heißt: „schwarz ist schwarz“ und „weiß ist weiß“.

In ihrem Büchlein „Meditation im Spital“ behandelt sie die entscheidenden Kategorien ihres alltäglichen Lebens und stellt die vielseitige Realität aus ihrer eigenen Erfahrung dar. Wenn ich sehe, wie sehr Jesus ihr gesamtes Leben geprägt hat, muss ich ehrlich mein Gewissen erforschen. Obwohl auch ich versuche, Gott so großzügig wie möglich zu lieben und ihm in meinem 24-stündigen Alltag Zeit zu widmen, spüre ich, wie weit ich von Mutter Teresa entfernt bin.

Beeindruckende und herausfordernde Begebenheiten

Es gibt viele beeindruckende Geschichten über Mutter Teresa. Eine hat sie mir selbst erzählt und ich habe sie an die Seligsprechungs-Kommission weitergegeben. Eines Tages kam in Kalkutta um 10.30 Uhr eine junge Novizin zu Mutter Teresa und teilte ihr mit, dass es kein Mehl mehr gebe, um für die 300 Schwestern, die in eineinhalb Stunden zum Mittagessen kommen würden, Chapatti zuzubereiten. Wir wissen ja, wie wir in einem materiellen Notfall, bei einem menschlichen Bedürfnis, gewöhnlich reagieren. Es ist nicht gegen den Glauben gerichtet, aber in einem solchen Moment stellen wir unseren Glauben meist hintan und packen das Problem an, um es selbst zu lösen. Danach wenden wir uns wieder dem Glauben zu, um Gott für das zu danken, was wir vollbringen konnten.

Nachdem die Novizin ihr Problem ausgesprochen hatte: „Mutter, das Mehl ist ausgegangen“, fragte Mutter Teresa spontan zurück: „Schwester, bist Du diesen Monat nicht für die Küche zuständig?“ „Ja, Mutter“. „Gut, dann gehe als nächstes zu Jesus und sage ihm, dass wir kein Mehl mehr haben!“ Die Novizin entfernt sich und kniet sich vor dem Tabernakel nieder. Ein paar Minuten später klopft es an der Tür. Mutter Teresa geht nach unten und es erscheint ein Mann mit einer Bitte: „Mutter Teresa, die Lehrer der Schulen in Kalkutta haben soeben zu einem Streik aufgerufen. Der Unterricht ist beendet und wir haben 7000 überzählige Mittagessen. Wir wissen nicht, was wir damit machen sollen.“

Am meisten hat mich das Beispiel eines Seminaristen unter den Oblaten in meiner eigenen Gemeinschaft hier in Rom getroffen. Seit Jahren wollte er Mutter Teresa kennen lernen, wenn sie einmal nach Rom kommen würde. Doch nie gelang es ihm. Schon zwei bis drei Jahre lang hatte er davon gesprochen, dass er Mutter Teresa fünf Fragen zu seinem Leben vortragen wolle und sich von ihr Erleuchtung erhoffe, sehr tiefgründige Fragen, sogar schmerzliche Angelegenheiten. Als er vor seiner Rückkehr nach Kanada gerade noch in Rom weilte, kam Mutter Teresa zu ihrem allerletzten Besuch nach Rom. Er fuhr nach San Gregorio, um sie dort zu sehen. Die Menschen standen Schlange. Und wieder gelang es ihm nicht, ihr zu begegnen. Deprimiert kehrte er nach Hause zurück.

Am nächsten Morgen aber erschien er mit strahlendem Gesicht zum Frühstück. Wir fragten ihn: „Was ist denn mit Dir passiert? Du warst doch gestern Abend noch so deprimiert!“ Da erzählte er uns sein Erlebnis, nachdem er bereits mit seinem geistlichen Mentor und seinem Beichtvater darüber gesprochen hatte. Etwa um vier Uhr morgens sei er von einem hellen Licht im Zimmer aufgeweckt worden – in der Vassilina in Santa Helena. Zuerst habe er gedacht, es sei sein Bruder, der zum Scherz das Licht eingeschaltet habe, um ihn aufzuwecken. Doch er sei der Einzige im Zimmer gewesen. Es war hell, obwohl der Lichtschalter ausgeschaltet war. Da habe er plötzlich gesehen, wie Mutter Teresa im Zimmer steht. Er selbst sei im Pyjama dagesessen. Gleichzeitig beteuerte er: „Ich weiß, dass ich wach war, denn ich spürte, wie das Haus vibrierte, als die Tram vorbeifuhr“, (wie das in Cassilia tatsächlich der Fall ist) und er setzte fort: „Eigentlich hätte ich erschüttert sein müssen, aber ich war von einem vollkommenen Frieden erfüllt. Mutter Teresa stand vor mir, schaute mir in die Augen und sagte zu mir: „Bruder, Du hast Fragen an die Mutter?“ Da habe er mit seinem ersten großen Anliegen begonnen und seine ganze Geschichte erzählt. Mutter Teresa habe ihm aufmerksam zugehört, am Ende fest in die Augen geblickt und gesagt: „Bruder, alles für Jesus und nur für Jesus!“ Da habe er zurückgefragt: „Was hat das mit meinem Problem zu tun?“

Schließlich habe er Mutter Teresa sein nächstes Problem geschildert. Wieder habe sie ihm aufmerksam zugehört und am Schluss gesagt: „Bruder, alles für Jesus und nur für Jesus!“ Dasselbe habe sich auch beim dritten, vierten und fünften Anliegen wiederholt. Obwohl er letztlich keine wirklichen Antworten erhalten habe, so sei er dennoch von einem tiefen Trost erfüllt worden. In diesem Fall spüren wir deutlich: Es war nicht Mutter Teresa, die wieder einmal etwas Frommes erzählte. Gott selbst hatte sie zu diesem jungen Mann geschickt. Hier wirkte die Kraft des Heiligen Geistes: Gott sprach durch Mutter Teresa. Er sandte sie, um seine Worte zu überbringen. – Ich persönlich habe über diese Begebenheit, die sich vor etwa 30 Jahren zugetragen hat, lange nachgedacht und gegrübelt, um einen Sinn dahinter zu entdecken. Meine Gefühle schwankten zwischen einer Art Wut über Mutter Teresa, weil sie aus meiner damaligen Sicht die Chance verpasst hatte, dem jungen Mann mit einer zuverlässigen Erleuchtung zu helfen, und einer Ungeduld mit mir selber, da ich ihre Worte nicht zu interpretieren und Gott nicht zu fragen vermochte: „Was willst Du damit sagen?“ Im Lauf der Jahre habe ich begriffen, dass wir ihre Vision mit ihr teilen müssen, um sie wirklich verstehen zu lernen, nämlich ihr Empfinden, dass Jesus allein genügt.

Absolutes Vertrauen, welches alles von Gott erwartet

Als Gott das Volk des alten Bundes segnen wollte, sagte er durch den Propheten zu den Israeliten, sie sollten „ihre Zelte vergrößern“. Denn er wollte sie mit Vieh, reicher Ernte und vielen Kindern füllen. Sie sollten Platz schaffen, damit er sie noch reicher beschenken konnte. Dieses Bild des Propheten können wir auf das Beispiel Mutter Teresas übertragen. Wir müssen das „Zelt unserer Seele“ ausweiten, wenn wir denselben Jesus erfahren wollen wie sie. Mitten in Dunkelheit wurde ihr die Erfahrung des gegenwärtigen und machtvoll wirkenden Herrn zuteil, der mit allen Einzelheiten ihres Lebens vertraut war. Es ist kein sentimentaler Trost, mehr als Gefühle oder leere Versprechungen von Rettung. Für Mutter Teresa bedeutete Jesus eine ständige Herausforderung, die Antwort des Vaters auf allen Ebenen der menschlichen Bedürfnisse. Durch Jesus wurde ihr Leben vollkommen verwandelt: emotional, intellektuell und auch physisch. Dies bezeugt die Fülle sinnlich wahrnehmbarer Eingriffe Gottes in ihr Leben.

Gott wirkt von innen nach außen. Er erobert den Menschen umgekehrt herum: Gleich einem Senfkorn bringt er sein Königreich in diese Welt. So werden Tod und Krankheit als letztes überwunden, obwohl er Krankheiten auch jetzt schon heilen kann. Aber die Sendung Mutter Teresas hat ihren tiefen Grund. Es war nicht ihre Aufgabe, die Menschen physisch zu heilen. Gott hätte es durch sie tun können. Sicherlich kam es auch vor, dass Menschen durch ihre Fürbitte Heilung erfahren haben. Doch dies scheint im göttlichen Plan für Mutter Teresa nicht der Schwerpunkt gewesen zu sein. Und damit ist es auch nicht die Aufgabe ihrer Gemeinschaft, der Missionarinnen bzw. der Missionare der Nächstenliebe. Ich glaube nicht, dass Gott in der MC bei all den Fähigkeiten, mit welchen er uns Priester ausgerüstet hat, jemals einem von uns die Kraft schenken wird, körperliche Heilungen zu wirken, wie einem Pater Diorio oder einer Schwester Briege und vielen anderen.

Mutter Teresa hatte ein anderes Charisma. Sie konzentrierte sich auf das, was im Menschen am Tiefsten liegt. Was sie äußerlich tat, war für das innere Wohl der Menschen. Durch ihr Mitgefühl erlangte sie einen Zugang zum Herzen, zu den Gefühlen, zum Geist, zur Seele des Menschen. Ziel war nicht nur die ewige Rettung, sondern die Verwandlung der Herzen, die Vergöttlichung der Menschen schon in dieser Welt.

Ein ähnlicher Zusammenhang besteht zwischen den Wunderheilungen in Lourdes und der Offenbarung der Unbefleckten Empfängnis. Maria ist der erste Stein im großen Werk der Wiederherstellung der Menschheit. Wie in der Heiligen Schrift die sichtbaren Heilungen immer Zeichen für unsichtbare Heilungen, für Vergebung sind, so geht es Mutter Teresa bei ihrer sichtbaren Zuwendung zu den Armen um deren innere Heilung. So hat sie auch die Armen nicht einfach mit sentimentalem Trost abgespeist, da ja eines Tages, eines Tages … oder gesagt: „Jesus liebt dich! Das weißt du ja, weil es eben so in der Bibel steht.“ Das wäre zu einfach.

Wie können wir den riesigen Schmerz der Armen lindern, wenn wir vielleicht zehn Minuten bei ihnen verweilen können, sie aber 23 Stunden und 50 Minuten des Tages alleine lassen müssen. Das Geheimnis von Mutter Teresa entdecken wir in der Frage: Welche Rolle spielen wir hier, wenn Jesus allein genügt? Damit beginnt die entscheidende Erkenntnis: Die Armen brauchen nicht uns, sie brauchen Jesus. Das ist die größte Erkenntnis, die uns je widerfahren kann. Sie brauchen uns als Diener Gottes, wie es Johannes der Täufer war, in dem Sinn, dass wir Jesus genügend kennen, Ihm nahe stehen und den Armen die Wahrheit vermitteln können: „Hier ist das Lamm Gottes! Ich muss kleiner werden, Er muss größer werden“. Die Hilfe, den Trost, das Licht, den Frieden, die Verwandlung, welche die Armen brauchen, das alles kann ihnen unser Mitgefühl nicht geben. Unsere Liebe, so aufrichtig sie auch sein mag, kann die Herzen nicht heilen. Es gibt nur einen Retter, und der sind nicht wir, sondern allein Jesus. In der „Zwölf Stufen Tradition“ wird der Mensch aufgefordert, sich nicht so wichtig zu nehmen. Gemeint ist damit genau dasselbe: „Es gibt nur einen Gott und dieser bin nicht ich“. Das ist das Unerhörte: sich selbst „auszulassen“ und Gott Gott sein zu lassen.

Befreiung von allen negativen Empfindungen

Diese Haltung bewirkt zunächst meine eigene Verwandlung: Gott nimmt mir meine Sterblichkeit und gibt mir seine Unsterblichkeit, er nimmt mir meine Dunkelheit und gibt mir sein Licht, er nimmt mir meinen Schmerz und gibt mir seinen Trost, er nimmt mir meine Allüren, meine Ignoranz und gibt mir Seine Wahrheit.

Traditionell spricht man im geistlichen Leben davon, wir sollten Gott unsere Sünden, unsere Kämpfe, unser Unvermögen darbringen. Die Grundhaltung Mutter Teresas hilft uns, dieses Darbringen zu verwirklichen. Ein einfaches Beispiel: Heute Morgen war ich ungeduldig. Ich wollte etwas auf meinen Computer herunterladen, das ich für meine Reise brauchte. Aber er funktionierte nicht und ich dachte: der blöde Computer. Also Ungeduld! Ist das eine Sünde? Nein, ich denke nicht. Aber was tue ich, wenn ich die Ungeduld Gott übergebe? Ich sage: „Gott, ich überlasse mich Dir. Ich gebe Dir meine Ungeduld. Gib mir dafür etwas von dem, was Du in Deinem Herzen hast, das Gegenteil, das Positive in Deinem Herzen, das Heilmittel, welches Dein einsames Leiden darstellt, Deine Geduld, Deine Vision des Glaubens, dass letztendlich alles gut wird.“ Damit sich ein solcher Austausch vollziehen kann, müssen wir uns bewusst Zeit für das Gespräch mit Jesus nehmen.

Es kann vorkommen, dass uns jemand beschimpft hat. Wir sind beleidigt, fühlen uns verletzt und sind wütend. Wir können die Wut nicht zerstören, wollen sie auch nicht abstreiten, aber dennoch diesen Zustand überwinden: „Herr, nimm meine Wut von mir und gib mir die Liebe, die Du für diesen Menschen in Deinem Herzen hast“. Ungeachtet des jeweils herrschenden negativen Zustands, sei es Eifersucht, Ungeduld, Wut, Verzweiflung oder Depression, wir können unser Herz zum Herrn erheben und ihn bitten, dass er uns das Gegenteilige aus der unermesslichen Fülle Seines Heiligen Herzens übergebe, menschlich und göttlich. Es ist ein erstaunlicher Weg, aber er wirkt. Und wir können ihn auch auf Vorfälle anwenden, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben. Es geschieht Heilung durch Vergebung, Ermutigung, Einsicht: „Herr gib mir Deine Einsicht in das, was sich ereignet hat.“ In der Sicht Jesu liegt selbst über den schmerzhaftesten Momenten Frieden. Er sieht all diese Vorkommnisse wie Sein Vater und will sie zu unserem Segen verwenden.

Was geschieht, ist eine Art „Desinfizierung“ der Schmerzen aus der Vergangenheit. Jesus hat nach seiner Auferstehung den Aposteln seine Wundmale gezeigt. Der Vater hat nicht alle Wunden Jesu verschwinden lassen. Die größten sind noch immer da, aber er hat sie „desinfiziert“, befreit von der Bitterkeit, der Negativität, dem Hass, durch den sie entstanden sind. So werden seine Wunden zu einem Becken des Lichts. Und er strahlt mehr Licht aus, als wenn er keine Wunden hätte. Das ist es, was er auch mit all unseren Wunden machen will. Diejenigen, die mich immer noch plagen, also diejenigen, die ich noch „eintauschen“ muss, können zu einem Becken des Lichts und zum Segen werden, mehr als wenn wir sie nie gehabt hätten.

Was passierte mit den Emmaus-Jüngern? Jesus entzog ihnen langsam und ehrfurchtsvoll Ihre Negativität, nicht ihre Sünde, sondern Ihre zerstörten Hoffnungen, Ihre Enttäuschungen, Ihren schwindenden Glauben, Ihr Gefühl, von Gott verlassen zu sein. Gott bringt sie dazu, sich von all dem zu entledigen. Er gibt ihnen dafür sein Licht und heilt sie. Seine Liebe beginnt in ihnen zu brennen. Es verändert die Realität des gekreuzigten Jesus Christus nicht, aber plötzlich eröffnet er ihnen die heilige Schrift. Auch wir müssen unseren Geist und unser Herz öffnen, bis wir an die Wahrheit glauben und die Wirklichkeit im Licht des Evangeliums sehen können. Das fünfte Evangelium, das ist mein Leben – in der Sicht des Vaters. Dies bringt nicht nur Frieden und Trost, sondern auch ein Licht, die Gewissheit, dass Gott gegenwärtig ist. Wir erleben, dass Er selber zugegen ist und persönlich in unser Leben eingreift. Es ist das Gefühl der unmittelbaren Nähe Jesu und seines Wirkens in unserem Leben. Dabei sehen wir die Dinge nicht nur von oben her, dass also unser Schuldschein im Himmel ausgelöscht ist, sondern wir erleben, wie seine Auferstehung unser Leben schon jetzt beeinflusst.

Zeugnis für die Gegenwart und Macht des Auferstandenen

Als die Emmaus-Jünger zurückgekehrt waren, sagten die anderen Jünger als erstes: „Er ist auferstanden!“ Und sie bekräftigten: „Ja, und er ist dem Simon erschienen.“ Als ein Apostel ausgewählt werden sollte, um Judas Iskariot zu ersetzen, war die wichtigste Bedingung, dass der Kandidat „ein Zeuge der Auferstehung“ sein müsse. Das trifft auch für Mutter Teresa zu: Sie war ein Zeuge des Auferstandenen – in erster Linie durch ihre innere Einstellung. Allein durch ihr Dasein, ob sie sprach oder berührte, tröstete oder diente, was auch immer sie tat, gesprochen oder unausgesprochen, das war ihre Botschaft: Jesus lebt und er liebt euch, er nimmt an eurem Leben teil, er ist sich eures Leidens bewusst und der Schmerz eures Lebens wird vollkommen tragbar, wenn er von der durch Satan immer und immer wieder eingeflössten Negativität gereinigt wird. Auch wir müssen Zeugen des Auferstandenen werden, nicht nur dadurch, dass wir an die Auferstehung glauben und davon reden, sondern dass wir die Kraft des Auferstandenen im Gefüge unseres eigenen Lebens persönlich bezeugen.

Satan hat Adam und Eva im Paradies dazu gebracht, an Gottes vollkommener Liebe zu zweifeln. Auch in unserem Leben streut er ständig den Samen dieses Unkrauts aus, so dass wir zu zweifeln beginnen: an Gottes Wirken, an Seinem Willen und an seiner Vorsehung in unserem Leben. „Er wird nicht auf euch Acht geben! Ihr müsst selber eure Hände ausstrecken und für euch sorgen.“ Hier finden wir den Ursprung jeder Sünde, die sich letztlich immer auf das Bedürfnis nach Eigenverantwortung zurückführen lässt. Wenn eine Existenz unabhängig von Gott aufgebaut wird, nicht unbedingt gegen Ihn, sondern parallel zu Ihm, so besteht auch nicht die Gefahr, dass der Antichrist über Gott lästern wird. Er verspricht und beginnt, eine Welt des Friedens, der Harmonie, der Güte, der Herrlichkeit, der Fülle aufzubauen, aber all das ohne Gott. Und darum werden sogar die Auserwählten getäuscht. Satan versucht, wie er es im Paradies getan hat, mit der Verführung: „Ihr werdet wie Götter sein“, nicht wie Gott, sondern ihr werdet eure eigenen Götter sein: unabhängig. Non serviam – Ich diene nicht.

Unser großer Fehler besteht darin, dass wir unser spirituelles Leben als Eigenprojekt betrachten, als ein Selbsthilfeprojekt, anstatt Tag für Tag unsere Unordnung dem Herrn anzuvertrauen. Der falsche Weg beginnt damit, dass wir uns mehr darauf konzentrieren, wie arm wir sind, anstatt uns bewusst zu werden, wie reich Er ist. Mutter Teresa lebte immer aus diesem wunderbaren Austausch. Sie drückte ihn auch durch den Herzenstausch mit Maria aus: „Mutter Gottes, leihe uns Dein Herz!“ Ich gebe mein schwaches Herz, sie gibt mir ihr Herz. Ich habe nicht alles, was ich brauche. Und so wendet sich Mutter Teresa an die Gaben Gottes. Und diese ständige und spontane Erwartung an Jesus ist bei ihr zur „Formgewohnheit“ geworden. Sie spricht Bände. Daran können wir auch uns selbst prüfen: Wie sehen jeweils unsere ersten Reaktionen aus?

Gleichzeitig können wir unsere Mitmenschen auf den gegenwärtigen und mächtigen Herrn hinlenken. Damit bringen wir ihnen das „Fischen“ bei, so dass sie – auch wenn wir längst aus ihrem Leben entschwunden sind – eine nie versiegende Quelle geistlicher Nahrung besitzen.

Vielleicht vermochte Mutter Teresa ihre Grundhaltung nicht auf theologische Weise zum Ausdruck zu bringen und zu erklären. Aber sie hinterließ mit ihrem Lebensbeispiel eine Botschaft, die die ganze Kirche erschütterte: Nur Jesus, Jesus genügt! Dieses Licht leuchtet in der Dunkelheit und die Dunkelheit wird es nie überwältigen können.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8+9/August+September 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Das neue „Gotteslob“ mit neuem Namen

In seinem vierten Beitrag zum neuen „Gotteslob“ behandelt Dr. François Reckinger das Tischgebet. Vorwiegend geht es um formale Gesichtspunkte, doch lässt sich gerade bei einem Thema wie dem Tischgebet das Formale nicht sinnvoll vom Inhaltlichen trennen. Selbst wenn man Dr. Reckinger nicht in allen Punkten folgen wird, so ist seine unbefangene und ehrliche Art, mit der er an die Texte herangeht und oft allzu Gewohntes hinterfragt, in jedem Fall hilfreich und erfrischend. Er gibt bedenkenswerte Anstöße.

Von FranÇois Reckinger

Bewertung des Entwurfs

Es ist gut, dass dem Tischgebet drei Seiten gewidmet werden (44-46), statt zwei im GL (46f). Im Unterschied zum GL (das nur Teile davon enthält) wird hier u. a. das gesamte Gebet vor und nach dem Essen angeboten, das traditionell auf Latein in Klöstern und Priestergemeinschaften gesprochen wurde (Nr. 3,13.22). Auch das ist zu begrüßen, doch sollte der Text noch weiter, als bereits geschehen, nach den Prinzipien der Liturgiereform überarbeitet werden.

Geändert wurde darin zu Recht Folgendes: Auf „Herr, erbarme dich“ wird nicht mehr, wie ehemals, unter Profis, mit „Christus, erbarme dich …“ geantwortet, sondern, wie bei der Messfeier, jeweils die Anrufung wiederholt, die vom Vorbeter vorgesprochen wird. Das „Vater unser“ wird nicht mehr, wie damals, abgesehen von den Anfangs- und Schlussworten, leise gesprochen, sondern in seiner Gesamtheit gemeinsam laut. Zudem wurde ihm eine neue Einleitung beigegeben, die die Brotbitte hervorhebt.

So weit, so gut. Eine weitere Änderung scheint im Anschluss an GL (Nr. 16, 3) vorgenommen worden zu sein. Statt, wie dort und hier, „Zum Gastmahl des ewigen Lebens führe uns der König der Herrlichkeit“ heißt es im lateinischen Original: „… der König der ewigen Herrlichkeit“. So sollte es m. E. auch jetzt wieder lauten. Man braucht in diesem Fall die Wiederholung nicht zu scheuen, weil sie begründet ist. Der König kann ein Gastmahl ewigen Lebens nur geben, weil er ein König ewiger Herrlichkeit ist.

Geändert werden sollten jedoch dem Original gegenüber drei Dinge. Zuerst: „Aller Augen warten auf dich, o Herr; du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du öffnest deine Hand und erfüllst alles, was lebt, mit Segen.“ Dieser Teil des traditionellen Klerikergebetes ist allgemein bekannt und wird weitgehend benutzt (soweit überhaupt bei Tisch gebetet wird). Aber die Aussage dieser Verse stimmt nicht in dem Sinn, wie sie spontan verstanden wird. Würde sie das, dann brauchte kaum um Brot gebetet zu werden. Dann würden auch nicht in Städten Indiens, Afrikas und Lateinamerikas Menschen auf der Straße verhungern, manchmal in nächster Nähe zu kirchlichen Häusern, in denen die zitierten Worte gesprochen werden. Die Aussage stimmt in Bezug auf uns Menschen nur in dem Sinn, dass unsere Art bis zur Wiederkunft Jesu fortleben und nicht durch Hunger oder andere Katastrophen aussterben wird. Für Pflanzen und Tiere stimmt sie nicht einmal in diesem Sinn der Arterhaltung, sondern nur in dem Sinn, dass das gesamte ökologische System vor dem genannten Termin weder durch Hunger noch durch andere Katastrophen untergehen wird.

Daher sollte auf die Aussage in dieser gewohnten Form, entsprechend Psalm 145,15f, unbedingt verzichtet werden. Zum Glück gibt es dazu aber eine Parallele in Psalm 104,27f, die kritischer ist und mit der Wirklichkeit nicht in Konflikt gerät. Deren Wiedergabe in der Einheitsübersetzung lautet: „Aller Augen warten auf dich, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit.“ Der hier redende Psalmist rechnet nicht damit, dass die genannte Erwartung in jedem Fall erfüllt wird. Denn er fährt fort mit zwei gegensätzlichen Möglichkeiten: „Gibst du ihnen, dann … werden sie satt an Gutem. Verbirgst du dein Gesicht, … so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde.“

Derselbe Vorbehalt ist gegenüber der Erklärung unter Nr. 3,19: „… Du gabst, du wirst auch künftig geben …“ anzumelden.

Gefragt werden muss ferner, ob in der Hauptformel und in den davon abgeleiteten Kurzformeln und Liedern weiter um Segnung der Speisen gebetet werden soll oder ob man das zugrunde liegende lateinische „benedicere“, griechisch „eulogein“ (wörtlich: „gutsagen“), nicht besser im aufsteigenden Sinn als Preisung Gottes für die Speisen verstehen und wenigstens einen Teil der entsprechenden Texte in diesem Sinn formulieren sollte. Um Segnung („gutsagen“ im niedersteigenden Sinn) könnte dann, falls mehrere Personen gemeinsam essen, für deren Tischgemeinschaft gebetet werden. Betroffen sind von dieser Frage außer der erwähnten Nr. 3,13 auch die Nummern 3,16, 3,18 und das Tischlied Nr. 91. Bei Letzterem wäre darüber hinaus zu fragen, ob es nicht inhaltlich zu arm ist, um in einem offiziellen Buch abgedruckt zu werden.

Das dritte Desiderat betrifft den Nach-Tisch-Teil des überlieferten Gebetes für kirchliche Häuser, Nr. 3,22. Dieses Gebet erscheint überladen und sollte nach den Prinzipien der Liturgiereform vereinfacht werden, damit seine Struktur durchsichtig wird. Zur Zeit sieht sie so aus:

- Ein Psalmvers

- Dankformel, mit Orationsschluss

- Der ganze Psalm 117

- Ehre sei dem Vater …

- Sammlung von Versen aus drei verschiedenen Psalmen

- Fürbittformel für Wohltäter

- Abschlussruf (wie bei Terz/Sext/Non im Stundenbuch, aber anders übersetzt!)

Da könnte man etwa durch folgende Maßnahmen Ordnung hineinbringen:

• Sammlung von Psalmversen streichen.

• Die Dankformel mit dem Orationsschluss erst nach dem „Ehre sei dem Vater“ ansetzen, anschließend die Fürbittformel für die Wohltäter.

• Den Abschlussruf streichen.

Der Abschluss der Dankformel wäre ans Messbuch und an das Stundenbuch anzupassen. Da mit der Anrede „… allmächtiger Gott“ normalerweise der Vater gemeint ist, sollte es am Ende nicht heißen: „… der du lebst …“, sondern „durch Christus unseren Herrn“. Das Umgekehrte wäre auch denkbar: Den Abschluss unverändert lassen und als Anrede „Herr Jesus Christus“ setzen.

In der Bitte für die Wohltäter sollte die Aussage gestrichen werden, dass es sich nur um jene handeln soll, die uns „um deines Namens willen“ Gutes tun. Möglicherweise ist das sogar eine Fehlübersetzung des lateinischen Textes. Denn dieser könnte auch so verstanden werden, dass Gott um seines Namens willen allen, die uns (auch aus bloß zwischenmenschlichen Motiven heraus) Gutes tun, dies vergelten soll. Aber auch das ist nicht einfach zu verstehen. Die Einengung auf die Wohltätigkeit aus dem formellen Motiv der Gottesliebe heraus mag früher in Klöstern nahegelegen haben, weil deren Wohltäter damals in der Regel aus diesem Motiv gehandelt haben. Heute aber sieht das für jene, die das geplante Buch benutzen sollen, durchweg anders aus. Vor allem aber steht die genannte Einengung in Spannung zu dem, was Jesus in der Gerichtsrede (Mt 25,31-40) sagt, nämlich dass er auch jene mit dem ewigen Leben belohnen will, die Bedürftigen Gutes getan haben, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass sie es damit ihm tun würden.

Das doppelte „sollen“ im eröffnenden Psalmvers könnte durch Satzumstellung vermieden werden. Eine solche ergäbe sich von selbst, wenn für diesen Vers, wie schon für Psalm 117, der Text der Einheitsübersetzung benutzt würde. Doch könnte entsprechend der Probepublikation statt „deine Frommen“ „deine Heiligen“ stehen bleiben, weil „fromm“ in manchen Kreisen noch immer einen negativen Beigeschmack hat. In der orationsähnlichen Dankformel könnte, um den Text etwas zu erweitern und ihn gegenüber dem eröffnenden Psalmvers leicht zu variieren, statt „Wir danken dir …“ gesagt werden: „Wir sagen dir Dank“.

Ein Gegenvorschlag

Alle hier vorgeschlagenen Veränderungen vorausgesetzt, könnte das Gebet m. E. sinnvoll so lauten:

V Danken sollen dir, Herr, all deine Werke

A und deine Heiligen dich preisen.

V Lobet den Herrn alle Völker, preist ihn, alle Nationen.

A Denn mächtig waltet über uns seine Huld, die Treue des Herrn währt in Ewigkeit.

V Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist.

A Wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.

V Wir sagen dir Dank, allmächtiger Gott, für alle deine Wohltaten, durch Christus unseren Herrn.

A Amen.

V Herr, schenke allen, die uns Gutes tun, das ewige Leben bei dir.

A Amen.

Fragen zur Formulierung und zur Sprachgestalt

S. 363 mitte sollte es heißen: „Unser Glaube (nicht Glauben) sagt uns …“ Und in der folgenden Zeile wäre wegen der Voranstellung des Objektes das Komma nach „gilt es“ zu streichen.

„Gegrüßet seist du …“ (27.372) klingt eher veraltet, „gegrüßt“ sagt man durchweg heute.

Veraltet ist auch der Akkusativ „Christum“, z. B. S. 121, und um so mehr der in unserer Sprache nicht existierende Vokativ „Jesu“, z.B. S. 106; glücklich behoben dagegen im Verweis auf GL 520, S. 359. Dieses inhaltlich eher etwas dünne Lied („Liebster Jesu, wir sind hier ..“) weist innerhalb von drei kurzen Strophen sechs Beispiele von Ausdrücken auf, die in dem jeweiligen Zusammenhang nur gebraucht werden, sowie von Buchstaben oder Silben, die nur hinzugefügt werden, um dem Reim und/oder dem Versmaß Genüge zu tun („Begier“, „von der Erden“, „umhüllet“, „erfüllet“, „dichten“, „verrichten“). In anderen Texten dient demselben Zweck auch die Elision, wenn etwa von Fehd, Fried oder Lieb die Rede ist. Ein schwer erträgliches Beispiel ist das S. 309 ebenfalls angekündigte „Du höchstes Licht …“, mit dem Reim „leucht‘/zeucht“. Der diesem im GL (557) beigegebene Hinweis, dass „zeucht“ eine alte Form von „zieht“ ist, macht die Sache nicht besser. Denn das ist genau der Grund, warum eine solche Form in einem heute zu singenden Lied nicht vorkommen sollte.

Dass heutige echte Dichtung (und daher auch eine Überarbeitung älterer Liedtexte) ohne derartige Mittel auskommen kann, beweisen die meisten Hymnen des Stundenbuches, obwohl sie an eine lateinische Vorlage gebunden sind und sich trotz dieser Hürde z.T. auch noch den Luxus des Reimes leisten konnten: s. etwa den zur Lesehore der beiden letzten Fastenwochen oder zur 2. Vesper von Fronleichnam (= GL 544). Ein solches sprachlich-dichterisches Niveau sollte in offiziellen Büchern nicht erheblich unterschritten werden.

Auf eine Tendenz zum Kitschigen bei Kindergebeten wurde unter den inhaltlichen Aspekten bereits hingewiesen. Sie konkretisiert sich u.a. in dem Ausdruck „Äugelein“ in Nr. 4,8. Von diesem Abendgebet gab es im Übrigen bessere, leicht überarbeitete Fassungen in Gebetbüchern vor dem GL. Ein ähnliches Beispiel findet sich in einem auch für Erwachsene bestimmten Weihnachtslied, mit dem Wort „Krippelein“ (Nr. 32). Das Diminutiv „Kindlein“, das im selben Zusammenhang vorkommt, mag das eine oder andere Mal angehen, weil Jesus bei seiner Geburt wirklich ein kleines Kind gewesen ist. Aber eine Krippe in Miniaturausfertigung extra für ihn ist nicht vorauszusetzen.

Zuletzt ein orthographischer Hinweis: In „die heilige Messe“ wird „heilige“ nach Herkommen und nach Duden klein geschrieben (entgegen dem Titel vor Nr. 103).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8+9/August+September 2008
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