Plädoyer für den Menschen

Was hat die Kirche zur aktuellen Finanzkrise zu sagen? Wie steht sie zur Globalisierung? Ist es überhaupt Sache der Kirche, sich in die Probleme der Weltwirtschaft einzumischen? Auf diese Fragen gibt Erzbischof Dr. Reinhard Marx in seinem neuesten Buch „Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen"[1] eine klare Antwort. Dr. Andreas Fisch[2] vom Sozialinstitut Kommende Dortmund stellt uns das Buch vor dem Hintergrund der aktuellen Lage vor.

Von Andreas Fisch

Ursachen und Chancen der Finanzkrise

Die Finanzkrise verdeutlicht, wie sehr anonymes Kapital unser Schicksal bestimmt. Spekulationen haben eben noch Vorstandsetagen und Bankkunden unglaubliche Gewinne beschert, quasi über Nacht verwandelten sie sich in enorme Verluste, die uns alle betreffen. Die immense Krise erfasst nach den USA die europäischen Länder, greift auf die Schwellenländer über, trifft die reale Wirtschaft und führt in eine weltweite Konjunkturkrise. Der seit Jahren wachsende Welthandel könnte erstmals seit Anfang der 80er-Jahre schrumpfen. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass diese Entwicklung 20 Millionen Arbeitsplätze vernichten wird. Das Rettungspaket für das eine Land USA beläuft sich auf 700 Milliarden US-$ – das entspricht der weltweiten Entwicklungshilfe für alle Entwicklungs- und Schwellenländer in den Jahren 1990 bis 2004. Und doch sind die diversen Rettungspakete unumgänglich, um Vertrauen und Verlässlichkeit in die Finanzmärkte wieder herzustellen – der überflüssig geglaubte Staat wird es hoffentlich richten. Ursachen für die Finanzmarktkrise sind neben anderen billiges Geld durch die Zinspolitik des ehemaligen US-Notenbankchefs Alan Greenspan und die immer kurzfristiger auf immer höhere Renditen setzenden Investmentbanken. Renditeerwartungen in astronomischen Höhen sind nur über riskante oder faule Geschäfte zu erzielen. Möglich wurde dies zudem durch die herrschende Wirtschaftspolitik, die wirksame Kontrolle verhindert hat. Um die komplexen wirtschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen, finden sich in der aktuellen Diskussion vermehrt theologische Begriffe: Habgier, eine der Todsünden, ist einer davon. Auch die Werte, die nun wieder hergestellt werden sollen – Vertrauen und Verlässlichkeit – klingen eher nach einer erbaulichen Predigt denn nach einer kühl kalkulierenden Finanztheorie. Dennoch: Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren verträgt sich nicht miteinander. Das ist eine genuine Gerechtigkeitsfrage.

Nicht nur im Finanzbereich wirft die Globalisierung bestehende Ordnungen durcheinander. Schon in der Bedeutung von Nationalstaaten, der realen Weltwirtschaft und vielen weiteren verändern sich vertraute und sicher geglaubte Lebensumstände. Der Wandel geht mit Unsicherheit einher, nicht weil er stets negativ verliefe, im Gegenteil: Deutschland profitiert insgesamt gesehen ganz erheblich von neuen Absatzmärkten und den Arbeitsplätzen, die diese schaffen, selbst wenn einige Firmen abwandern. Deutlicher wahrgenommen werden nicht die positiven Folgen, sondern krasse Verwerfungen: eine wachsende Schere zwischen Arm und Reich, Schwierigkeiten für Geringqualifizierte einen Arbeitsplatz zu finden, Arbeitsplatzverluste, Umweltverschmutzung und Ausbeutung in ärmeren Ländern ... Die Liste ist lang. Das sind Gründe, warum das Vertrauen der Menschen in die Marktwirtschaft ähnlich schnell schwindet wie Aktienkurse an ihren schwarzen Tagen, ohne sich davon zu erholen.

Einen tröstlichen Hoffnungsschimmer gibt es: Schon einmal gab es einen solch tief greifenden Umbruch, nämlich zur Zeit der Industriellen Revolution. Auch sie ging einher mit prekären Notlagen in bislang unbekanntem Ausmaß – die „Soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts. Tröstlich daran ist im Rückblick, dass Antworten auf diese Herausforderungen gefunden worden sind. Der durch die Industrie wachsende Wohlstand konnte mit sozialen Grundrechten für alle verbunden werden. Die Kirche hat damals ihre Berufung in politischen und gesellschaftlichen Fragen neu erkannt und dazu beigetragen, diese schwierige Zeit zum Guten zu wenden. Vergleichbare Herausforderungen stehen im Zeitalter der Globalisierung mit erneuter Dringlichkeit vor ihrer Bearbeitung. Klassische Fragen der Katholischen Soziallehre stellen sich darum heute auf neue Weise: das Verhältnis von Kapital und Arbeit, Macht und Ohnmacht von Konsumenten und Modernisierungsverlierern, die Rolle von Staaten, auch im Verbund miteinander ... Zugleich verdeutlicht die Globalisierung die alte Kirchenlehre von der einen Menschheitsfamilie, die ihr Schicksal nur gemeinsam bewältigen kann, unübersehbar bei der Finanzkrise oder beim Klimaschutz. Die Chancen stehen gut, dass auch im 21. Jahrhundert neue Ordnungen zu ähnlich guten Ergebnissen führen wie im 19. Jahrhundert.

Erzbischof Marx und sein „Kapital“

In diesen Fragenkomplex stößt das neue Buch des Münchner Erzbischofs Dr. Reinhard Marx, das unter dem provokanten Titel „Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen“ erschienen ist, innerhalb weniger Tage vergriffen war und wieder neu aufgelegt wird. Christlich-sozialethische Positionen hat Marx vertieft kennen gelernt, als er 1989 Direktor der Kommende Dortmund wurde, dem Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn. Seit 1996 konnte er diese Kenntnisse als außerordentlicher Professor für Christliche Gesellschaftslehre in Paderborn an Studierende vermitteln; insgesamt eine gute Schulung, um als Bischof gewappnet zu sein, sich zu gesellschaftlichen Fragen klug und christlich fundiert Gehör zu verschaffen.

Sein Buch „Das Kapital“ zeichnet gleich Mehreres aus: Marx zieht sich nicht zurück auf abstrakte Prinzipien und doziert ewige Wahrheiten, sondern er lässt sich auf die Niederungen der aktuellen Probleme der Gegenwart ein und macht sich – so weiß er sehr wohl – angreifbar. Mit einem selbstkritischen Blick zu allen wissenschaftlichen christlichen Sozialethikern, zu denen ich mich zähle, ist die dargebotene Form eines eingängig zu lesenden Buches ein Vorbild, um kluge Reflexionen und christliche Positionen für ein breiteres und durchaus interessiertes Publikum zu erschließen; meines Wissen sind solche Bücher noch die Ausnahme; die Internationale Fachzeitschrift für christliche Sozialethik „Amosinternational. Gesellschaft gerecht gestalten“ bemüht sich um einen gut verständlichen Stil bei aktuellen Themen der Katholischen Soziallehre (www.amosinternational.de). Erfrischend ist Marx’ sachkundige und diskussionsfreudige Auseinandersetzung mit aktuellen Philosophen, Theologen und Wirtschaftswissenschaftlern, etwa Jürgen Habermas, Johann B. Metz, Amartya K. Sen und vielen weiteren. So wichtig die ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen ist, vernachlässigt Marx nicht, die christliche Perspektive einzubringen. Sie ist eine wichtige Stimme im Konzert einer pluralistischen Gesellschaft, derer sich niemand schämen muss. Ihren Wohlklang – ihre Überzeugungskraft – verkündigt sie nicht autoritär, sondern möchte durch Argumente und Positionen zu Einsichten führen.

Zentraler christlicher Bezugspunkt ist die Menschenwürde, die gebietet, allen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Wie sagte der ermordete Erzbischof von El Salvador, Oscar A. Romero (†1980), mit Bezug auf den Kirchenvater Irenäus von Lyon: „Die Ehre Gottes ist der Arme, der lebt!“ Vielleicht ist die Adventszeit eine passende Zeit, um an die Weihnachtsansprache Johannes Pauls II. an die Kardinäle und die Römische Kurie in Rom von 1984 zu erinnern, gehalten zu einer Zeit, als die Auseinandersetzung um die Theologie der Befreiung ihren Höhepunkt erreichte. Der damalige Papst nennt die biblische Option für die Armen eine, die von ihm „wiederholt bekräftigt“ wurde, bezeichnet sie als „vorherrschendes Motiv seiner Pastoraltätigkeit“ und formuliert schließlich: „Ich habe diese Option zu der meinigen gemacht und tue es weiterhin, ich identifiziere mich mit ihr.“ Kaum drei Jahre später nahm dieser große Papst die in der Befreiungstheologie und der Heiligen Schrift entdeckte Option für die Armen und weitere befreiungstheologische Begriffe und Einsichten in die Katholische Soziallehre auf – in der Weltsozialenzyklika Sollicitudo rei socialis. Die Option für die Armen vermittelt sich mit der Freiheit und Personalität eines Menschen, weil die ökonomische Unfreiheit Menschen auch in anderen Bereichen hilflos macht, etwa weil sie ihr Recht nicht durchsetzen können, da ihnen ein guter Rechtsanwalt unerschwinglich ist. Im jeweiligen Kontext muss geprüft werden, was die Freiheit von Menschen einschränkt oder sie erweitern helfen kann. Die real gewährte Freiheit ist somit der Maßstab, an dem Politik- und Wirtschaftssysteme zu messen und gegebenenfalls zu reformieren sind. Eine vollkommen gerechte Gesellschaft wird so nicht erbaut, aber eine Verbesserung der bestehenden arbeitet Gott entgegen.

Erfüllen sich die schlimmsten Prophezeiungen von Karl Marx?

Mit seinem Namensvetter Karl Marx, wie der Erzbischof in seiner augenzwinkernden Einleitung „Marx schreibt an Marx“ festhält, verbindet ihn der Wille, soziale Ungerechtigkeiten aufzudecken und anzuprangern, den Armen und Ausgebeuteten eine Stimme zu verleihen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Als Zeichen der gegenwärtigen Zeit identifiziert Marx: die ärmsten Länder, die nicht von der Globalisierung profitieren, Kinderarmut, Arme trotz Arbeit („working poor“), Unmoral bei Managern, die keineswegs nur Einzelfälle seien, die Sorgen kleiner und mittlerer Familienbetriebe, Sorgen der Arbeitnehmer, der Arbeitslosen, der Familien, Sorgen von sozial benachteiligten Menschen ... Statt wie Karl Marx die Abschaffung des Privateigentums zu propagieren, schließt sich Reinhard Marx Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (†1877) an. Dieser rechtfertigte das Eigentum damit, dass es der Pflicht unterliege, dem Gemeinwohl zu dienen; Niederschläge dieser Position gibt es bis heute im Grundgesetz Art. 14. Abs. 2.

Allerdings warnt Reinhard Marx, beim gegenwärtigen Wirtschaftssystem Acht zu geben, damit Karl Marx’ schlimmste Prophezeiungen nicht erfüllt würden. Derzeit finde sich, diagnostiziert Reinhard Marx, eine Tendenz weg von der Sozialen Marktwirtschaft, hin zu einem „primitiveren Kapitalismus“, vor allem wenn der wirtschaftliche Imperativ „Was Gewinne bringt, darf nicht verhindert werden“ unwidersprochen bleibt. Ein unbegrenzter Kapitalismus kann zu einem „Lob der Gier“ führen, Gier, die Marx als „Sünde mit der Maske der Freiheit“ brandmarkt. Freiheit bedarf um ihrer selbst willen Grenzen, die eine Orientierung am Gemeinwohl sichert. Mit beißendem Spott fügt Marx hinzu, dass dies die „wirklich großen liberalen Ökonomen des 20. Jahrhunderts“ sehr gut gewusst hätten. Pointiert fordert er, dass eine Demokratie sich nicht nur gegen den Missbrauch von politischer Freiheit, sondern auch gegen den Missbrauch von wirtschaftlicher Freiheit zur Wehr setzen muss. Schon Joseph Höffner, der den Ordoliberalismus bei Walter Eucken studiert hat, forderte um des Gemeinwohls willens ausdrücklich auch nicht marktkonforme Eingriffe in den Wirtschaftsprozess. Die „Kirche bejaht die Marktwirtschaft dann, wenn sie an der Menschenwürde und am Gemeinwohl orientiert ist und diese Orientierung durch eine starke Rahmenordnung garantiert wird.“

Wenn der Staat Rahmenbedingungen erlässt – etwa das Tarifrecht – so ist seine Aufgabe, die reale Freiheit von Menschen – etwa in Lohnverhandlungen – zu fördern. Die formale Freiheit zwischen zwei ungleich starken Parteien würde dagegen nur zur Ausbeutung führen und keineswegs Gerechtigkeit verwirklichen. Staatliche Regelungen setzen hier Rahmenbedingungen, die den schwächeren Vertragspartner schützen. Das ist in Deutschland selbstverständlich für das Arbeits-, Miet- und Verbraucherschutzrecht. Im weltweiten Maßstab klafft hier jedoch eine schmerzliche Lücke. Getroffen sind von diesem Mangel Arbeitnehmer in Entwicklungsländern, die unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und obendrein unangemessen bezahlt werden. Getroffen sind aber genauso die hiesigen Arbeitnehmer, die eine Billigkonkurrenz von Arbeitnehmern erleben, die wegen der mangelnden Entwicklung ihres Landes gezwungen sind, ihre Arbeitskraft so billig anzubieten. R. Marx’ Zeitdiagnose beschreibt, dass in einer globalisierten Wirtschaft sich die Gewichte im alten Konflikt zwischen Arbeit und Kapital „eindeutig zu Gunsten des Kapitals verschoben“ hätten. Sichtbares Zeichen dafür ist die Zunahme von Menschen, die trotz Vollbeschäftigung nicht mehr von ihrem Lohn leben, geschweige denn eine Familie ernähren können, während sich das Einkommen der Spitzenverdiener vervielfacht.

Forderung nach internationaler Rahmenordnung

Jenseits von Sowjetsozialismus und ungebremstem Kapitalismus verteidigt Marx die „soziale Marktwirtschaft“ auch in Zeiten der Globalisierung. Nur die Soziale Marktwirtschaft berücksichtigt sowohl die Freiheit des Menschen in Rückbindung an das Gemeinwohl als auch die Leistungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems. Für die Herausforderungen der Weltwirtschaft müsste die Soziale Marktwirtschaft jedoch weiterentwickelt werden. Welche Regelungen brauchen wir, damit Wirtschaften im weltweiten Maßstab gemeinwohl-dienlich wird? Staatliche Regulierungen richten sich gegen offensichtlich unmoralische Geschäftspraktiken, wenn Bankberater ihren Kunden sanierungsbedürftige Immobilien aufschwatzen, indem sie Vertrauen gegenüber den Kunden ausnutzen. Staatliche Regulierungen sind auch dann von Bedeutung, wenn sich die Nebenwirkungen erst in einem anderen Land zeigen. Mit angenehmer Selbstverständlichkeit geht Reinhard Marx von einem Weltgemeinwohl aus, das die Interessen der armen Länder in alle Erwägungen einbezieht.

Marx verfechtet das Ziel einer „Globalen Sozialen Marktwirtschaft“, denn einige Grundanliegen der Katholischen Soziallehre lassen sich im bisherigen nationalstaatlichen Gefüge nicht mehr so regeln, wie dies in den letzten Jahrzehnten möglich, sinnvoll und ethisch war. Eine Globalisierung der Solidarität braucht auf nationalstaatlicher Ebene einen Sozialstaat, der Wirtschaft und Unternehmen entlastet, indem er Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter absichert. Der Sozialstaat gilt Marx als institutionalisierte Form der Solidarität, die Leistungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems nie Selbstzweck. Zweck an sich ist nur der Mensch. Wirtschaften und Wirtschaftssysteme sind daher immer nur Instrument, Wohlstand für alle zu erwirtschaften. Erreichen sie dieses Ziel, bedarf es keiner Neuorientierung. Genügen sie diesem Anspruch nicht, dann sind Reformen um der Menschen willen angebracht. Um dies regelmäßig und institutionalisiert einzuschätzen, greift Marx einen Vorschlag auf, der in dem Papier „Mehr Beteiligungsgerechtigkeit!“ unter dem unglücklichen Namen „Sozialstaats-TÜV“ vorgeschlagen wurde. Als Sachverständigenrat (entsprechend dem Wirtschaftsrat der fünf Wirtschaftsweisen) könnte ein solcher „Sozialrat“, wie man ihn bezeichnen sollte, mit fünf Sozialweisen einen jährlichen Bericht zur sozialen Lage der Nation abliefern und Verbesserungsvorschläge machen. Auf internationaler Ebene gehören zu einer „Globalen Sozialen Marktwirtschaft“ faire Welthandelsbeziehungen, eine Rahmenordnung für den internationalen Finanz- und Kapitalmarkt und international verbindliche rechtliche Standards für unabdingbare Arbeitnehmer- und Verbraucherschutzrechte. Das Interesse der Kirche an gerechteren Verhältnissen entspringt zutiefst der Sorge um das Wohl der Menschen, besonders der Benachteiligten. Eine gerechte (Welt-) Gesellschaft ist dann jene, die den Armen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Die Kirche weiß jedoch auch um die realpolitischen Folgen extremer Ungleichgewichte: Ab wann bedroht eine krass ungleiche Verteilung von Wohlfahrtsgewinnen die politische und soziale Stabilität? Marx hätte sich hier auch auf Leo XIII. berufen können, dass sich der Friede nur auf einem Fundament der Gerechtigkeit aufbauen lässt.

Soziale Pionierarbeit der Kirche

Unbedingt zuzustimmen ist Erzbischof Marx, wenn er die Funktionalisierung der Kirche als „Moralproduzent“ ablehnt, dass sie die fehlende Moral irgendwie herbeischaffen soll. Er betont zurecht, dass der Glaube zuerst Gottes Zuwendung zum Menschen verkündigt. Gott befreit den Menschen aus falschen Zwängen und Maßstäben und nimmt ihn um seiner selbst willen an. Christliche Ethik lässt sich nicht pur vermitteln, aus der Gotteserfahrung erwachsen grundlegende Überzeugungen, die zum Handeln treiben oder nie Wurzeln geschlagen haben. Mit ihrem sozialen Engagement erfüllen Christen einen Traum von Johannes Paul II., nämlich dass Millionen Menschen der Kirche im persönlichen Einsatz oder in Form von Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen zu einer Großbewegung zur Verteidigung und zum Schutz der Würde des Menschen werden (Centesimus annus).

Um soziale Missstände aufzudecken, forscht die Kirche manchmal dort, wo sich sonst niemand hineinwagt. Im Fall von Armutslagen in Deutschland hat dies früher der Deutsche Caritasverband geleistet, heute im Fall der menschenunwürdigen Lebenslagen von Menschen ohne Papiere, die sog. „Illegalen“, finanziert der Jesuitische Flüchtlingsdienst (JRS) diese Pionierforschung. Dies dient dazu, relevante Fakten ins Bewusstsein von Öffentlichkeit und Politik zu heben, wenn diese eklatante Missstände verdrängen. Auch diese gefährliche Erinnerung leistet Marx mit seinem Buch und dessen Schwerpunkten, das den Finger in gesellschaftliche Wunden legt, dorthin, wo eine Gesellschaft auch geheilt werden kann. Kleinere und größere Erfolge der Kirche, die Gesellschaft zum Guten umzuwandeln, sind zahlreich: etwa die Regelungen zum erweiterten Schuldenerlass für Entwicklungsländer, den sie durch ihre prägende Mitarbeit in der Kampagne „Erlassjahr 2000“ befördert hat; aktuell zeichnet sich politisch ab, dass Kindern und Jugendlichen ohne Papiere zumindest der Schulbesuch erlaubt werden soll – auch hier war das Engagement der Kirche im Vorfeld intensiv und geduldig. Auf diese Wege sollte sich die gesamte Kirche – Bischöfe, Gemeinden, Christliche Sozialethiker und engagierte Gruppen – begeben, um den aktuellen Lauf der Dinge aus dem Geist des Glaubens heraus umzugestalten und Zeugnis für einen menschenfreundlichen Gott abzulegen, gerne angeregt durch Erzbischof Marx’ Buch.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Taschenbuch, Knaur, Auflage 2010, 336 S., ISBN 978-3-426-78360-3, Euro 12,95.
[2] Dr. Andreas Fisch, geb. 1971 in München, machte nach dem Abitur zunächst eine Tischlerlehre, studierte anschließend Kath. Theologie und nach einem Auslandsaufenthalt als „Missionar auf Zeit“ bei den Pallottinern in Brasilien Volkswirtschaftslehre für das „Diplom in Christlichen Sozialwissenschaften“. 2006 promovierte er zum Thema: „Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität in Deutschland“ und arbeitet seit 2007 als Referent für Wirtschaftsethik am Sozialinstitut Kommende Dortmund.

Abschluss der Reihe „Glaube und Leben“

Am 23. November 2008, kurz nach Drucklegung dieser Ausgabe, findet im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg ein Festakt zum Abschluss der Doppel-Buchreihe „Glaube und Leben“ (8 Bände) und „Ehe und Familie“ (9 Bände) statt. Den Festvortrag hält Can. Christoph Casetti zum Thema: „Die Chancen der Katechese im 21. Jahrhundert“. Eine Schlüsselrolle bei der Erstellung der 8-teiligen Religionsbuchreihe spielte Lic. Maria Prügl vom Referat Ehe und Familie des Erzbistums Salzburg. Mit innerer Anteilnahme berichtet sie von der Entstehungsgeschichte und den Hintergründen dieses katechetischen Werkes.

Von Maria Prügl

Eine spannende Geschichte

Der letzte Band der Reihe „Glaube und Leben“ ist auf dem Weg![1] Begonnen hat die Geschichte vor gut zehn Jahren im Rahmen des Projekts „Initiative Hauskirche“, gegründet 1998 von Familienbischof DDr. Klaus Küng zusammen mit Laien und Priestern. Ziel dieser Initiative ist die Entfaltung der christlichen Familienkultur als Grundlage der Neuevangelisierung.

Innerhalb der „Initiative Hauskirche“ entstanden verschiedene Arbeitskreise, die selbständig zu wirken begannen. Einer von ihnen ist der Arbeitskreis „Familie und Katechese“. Mir wurde die Leitung übertragen. Im Herbst 1998 organisierte ich in Salzburg das erste Treffen. Eingeladen waren Religionslehrer und Eltern: Anton und Anna Riss, Franziska Bartosch, Johanna Bodemann, Sabine und Peter Düren. Schriftliche und telefonische Mitarbeit gab es mit Bischof Klaus Küng, Pater Karl Wallner und Lic. Christoph Casetti.

Wir überlegten uns Wege und Mittel, wie der Glaube an die nächste Generation weitergegeben werden kann. So einigten wir uns auf neun Projekte und begannen zu arbeiten. Abgesehen von der wichtigsten Möglichkeit, dem gelebten Beispiel, knüpften wir an besondere Gelegenheiten an wie etwa die Sakramenten-Vorbereitung: Behelfe wurden gesichtet, bewertet und bei Bedarf neue geschaffen. Etwa für die Erstkommunion: „Jesus, wir kommen!“ und für die Firmung: „Junge Menschen auf dem Weg zu Christus“. Autor beider Hinführungen ist P. Karl Wallner. Weitere Themen wurden ins Auge gefasst: Der Sonntag in der Familie; Katechese durch Lebensereignisse; Segnungen in der Familie; Erziehung zur Liturgie u.a.m.

Neue Bücher und zeitloser Inhalt

Warum neue Religionsbücher? Viele Eltern und Religionslehrer klagen über Religionsbücher, die den katholischen Glauben mangelhaft oder falsch darstellen: „Wir können uns kein Bild machen, wie wenig junge Menschen heute vom Glauben noch wissen!“ Die Katechese soll sein: „Neu in Sprache, in Methodik und im Eifer, doch alt in der Botschaft“, so heißt es sinngemäß im Apostolischen Schreiben Tertio Millenio Adveniente, herausgegeben zum Jubeljahr 2000. Neuevangelisierung ist angesagt in Europa! Viele Eltern sind besorgt: „Was nützt die aufwändigste Vorbereitung und Feier der Sakramente, wenn anschließend keine, eine schlechte oder selektive Katechese geboten wird?“ Eine der Mütter, Franziska Bartosch, berichtete von einer sehr interessanten Religionsbuchreihe aus Amerika: Faith and Life, herausgegeben von Catholics united for faith (CUF) in der Zeit von 1984 bis 1987, also kurz vor Erscheinen des Katechismus der Katholischen Kirche (1993). Sie besorgte die 8-teilige englischsprachige Ausgabe dieser Reihe (jeweils Text-, Hand- und Arbeitsbuch pro Jahr, insgesamt also 24 Bücher). Nach eingehenden Beratungen wurden die Bücher für übersetzungswert befunden, jedoch sollten sie theologisch und lebensmäßig an den europäischen Kulturkreis adaptiert werden.

Aktualisierung der englischen Ausgabe

Von den Herausgebern CUF und Ignatius Press erhielten wir ohne irgendwelche Auflagen die Erlaubnis zur Übersetzung. Nur die verwendeten Bilder konnten sie nicht an uns weitergeben. Ich beriet mich mit Weihbischof Dr. Andreas Laun, Christoph Casetti und Pater Karl Wallner. Es gab Für und Wider, doch letztlich ein Ja! Im Sommer 1999 begann ich mit der Übersetzungsarbeit. Geplant war ein Team, das jedoch auf Grund des Arbeitspensums sowie der Anforderung in Sprache und Dogmatik nicht zu realisieren war. Alle 24 Bücher wurden schließlich von mir übersetzt – eine höchst interessante Arbeit. Besonders gefielen die höheren Bände und letztlich waren wir noch überzeugter von der Bedeutung dieser Reihe. Nun versuchten wir, sie nach dem Allgemeinen Direktorium für Katechese aus dem Jahr 1997 zu aktualisieren. Diese Arbeit übernahm Weihbischof Dr. Andreas Laun. Anfangs eher skeptisch gewann er zunehmend Freude an dieser Aufgabe. Er „überflog“ nicht nur, sondern korrigierte und fügte ein. Ab Band 5 verließ er die Vorgabe von Faith and Life endgültig und schrieb die Bücher neu.

Suche nach geeigneten Bildern

Die Rechte an den wunderbaren und teuren Bildern, die die englische Version enthält, hätten für die deutsche Ausgabe ein Vermögen gekostet. CUF gab den Rat: „Fangen Sie an zu fotografieren. Europa hat doch wunderbare Kirchen, Kreuzgänge, Klöster und Museen.“ Ja, Europa ist reich an sakraler Kunst, Amerika ist jung und diesbezüglich arm. Die Auswahl der Bilder ist wichtig, denn Bilder bleiben beim Leser haften. Deshalb sind katechetisch reiche und kunstgeschichtlich schöne Bilder wünschenswert. „Ein Bild muss so sein, dass man eine ganze Stunde erzählen kann“, meinte Pater Karl Wallner einmal. Außerdem achteten wir darauf, dass alle Stilrichtungen vertreten sind: Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und gute Moderne. Insgesamt benötigten wir für die Reihe „Glaube und Leben“ rund 336 und für die Reihe Ehe und Familie weitere 509 Bilder. Unmöglich, sie zu kaufen! Mit einer Fotoausrüstung, einigen Privatstunden und zwei Fotokursen begann ich zu fotografieren. Kunstgeschichtliche Beratung gaben Mag. Aloisia Sint und Mag. Edith Podbelsek. Es folgten einige Fototouren durch Österreich, Bayern und Südtirol.

Erzbischof Dr. Georg Eder stellte eine Empfehlung aus, worin er alle Kirchenrektoren bat, uns beim Fotografieren zu unterstützen. So bekamen wir Zutritt zu Museen, Stiften und Kirchen. Es entstand ein umfangreiches Fotoarchiv, das eine große finanzielle Entlastung brachte. Lizenzen für thematisch wichtige Bilder, die wir nicht selbst hatten, mussten zugekauft werden. Nach der Herausgabe der ersten Bände wurden uns weitere Bilder und Bildlizenzen geschenkt.

„Nihil obstat“

Als Erzbischof Dr. Georg Eder das „Nihil obstat“, also die kirchliche Druckerlaubnis, erteilte, hatte er seinen Rücktritt als Erzbischof bereits eingereicht. 2002 erschienen schließlich die ersten zwei Jahrgänge.

Ob die Bücher schon approbiert seien, wird oft gefragt. Die Antwort lautet: Nein, die Approbierung steht noch aus! Dafür zuständig ist die Österreichische Bischofskonferenz. Auch Rom hat sich hinter unser Bemühen gestellt. Die Schwierigkeiten sind formaler und ideologischer Art: Die dafür zuständigen Gremien können sich der Autorität der Bischöfe durch ideologische Lehrpläne sowie durch entsprechende Bestellung von Mitgliedern und Approbierungsverfahren weitgehend entziehen. So gibt es bis dato 2008 noch keine Approbierung, obwohl

• schon im Jahr 2004 der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, Leiter der Glaubenskongregation, Glaube und Leben empfohlen hatte;

• im Jahr 2005 Papst Benedikt XVI. die österreichischen Bischöfe anlässlich ihres Ad-Limina-Besuchs zur Erneuerung des Religionsunterrichtes ermutigt hatte;

• eine schriftliche „römische Ermutigung“ bezüglich der Approbierung von Glaube und Leben an die Adresse der österreich. Bischofskonferenz ergangen ist.

Am 3. Juni 2004 traf Papst Benedikt XVI. in Rom eine Delegation des Referats für Ehe und Familie der Erzdiözese Salzburg und sprach von sich aus dieses Thema an: „Wie ich gehört habe, gebt ihr die Religionsbuchreihe „Glaube und Leben“ heraus, hervorragend geeignet für die Weitergabe des Glaubens. Ihr habt auch den Deutschen Schulbuchpreis 2003 erhalten. Ich beglückwünsche euch und hoffe, dass diese Bücher angenommen werden und reichlich Verbreitung finden.“

So bleibt den Religionslehrern vorläufig die Möglichkeit der Verwendung dieser Reihe als „Unterrichtsmittel eigener Wahl“.

Adressaten von „Glaube und Leben“

Die Religionsbuchreihe ist zuerst für Eltern und Kinder gedacht, dann für Lehrer und Schulen, Pfarrer und Pfarren, Novizen, Konvertiten und alle, die sich im Glauben bilden oder weiterbilden wollen. Besonders sollen Jugendliche angesprochen werden. Papst Benedikt ruft alle jungen Menschen zu einem Leben mit Christus und der Kirche auf. Denn je mehr sich der Mensch von Gott, seiner Quelle, entferne, desto mehr verliere er sich selbst und umso schwieriger werde das menschliche Zusammenleben in der Gesellschaft. „Bleibt untereinander geeint, helft einander, im Glauben christlich zu leben und zu wachsen, um mutige Zeugen des Herrn zu sein. Seid geeint, aber nicht verschlossen. Seid demütig, aber nicht ängstlich. Seid einfach, aber nicht naiv. Seid nachdenklich, aber nicht kompliziert. Führt Dialog mit allen, aber bleibt ihr selbst. Bleibt in Gemeinschaft mit euren Hirten: Sie sind Diener des Evangeliums, der göttlichen Eucharistie, der Vergebung Gottes. Sie sind eure Väter und Freunde, Gefährten eures Weges. Ihr braucht sie – und sie – wir alle – brauchen euch“, so Benedikt XVI. (Radio Vatikan, 19. Mai 2008).

Auszeichnung: Deutscher Schulbuchpreis 2003

Das war eine Freude! Am 16. November 2003 erhielten die ersten beiden Jahrgänge von Glaube und Leben in Bielefeld den Deutschen Schulbuchpreis 2003, dotiert mit 2.500 Euro. Im Großen Saal des Neuen Rathauses übergab Wolfram Ellinghaus, Vorsitzender des Vereins „Lernen für die Deutsche und Europäische Zukunft e.V.“ (LDEZ), die Urkunde an den Verfasser, Weihbischof Dr. Andreas Laun aus Salzburg. „Wir brauchen Bücher, an Hand derer die Menschen der kommenden Generation den Glauben wirklich lernen können“, sagte Weihbischof Laun in seiner Rede. „Das Buch enthält eine Fülle von christlichen Glaubensinformationen in vorbildlicher und der Sache angemessenen Sprache“, betonte Herr Ellinghaus. Und er stellte fest: „Der Verein zeichnet Bücher aus, die Nächstenliebe, Toleranz und Ehrfurcht vor Gott vermitteln.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
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[1] Herausgeber der Schulbuchreihe „Glaube und Leben“: Referat für Ehe und Familie, Erzdiözese Salzburg, A-5020 Salzburg, Dreifaltigkeitsgasse 12, Telefon: 0043(0)662-879613, Fax: 0043(0)662-8754494, E-Mail: ehe@familie.kirchen.net – www.familie.kirchen.net bzw. www.glaube-und-leben.at

Den Samen ausstreuen

Heute spricht man gerne von „Supervision“, die nötig sei. Ein neues Wort für eine alte Sache. Denn jeder, der ein Werk vollbringt und vollbringen will, ob es klein ist oder groß, muss ständig seine eigene „Supervision“ betreiben: zurückschauen, vorausschauen, schauen auf das, was er gerade tut, auf die Waagschale legen, was schon getan ist, und fragen, ob es gelungen ist oder auch nicht.

Von Weihbischof Dr. Andreas Laun

„Glaube und Leben"[1] mag weltgeschichtlich gesehen ein „kleines Werk“ sein, aber es gibt auch „kleine Werke“, die eigentlich groß und bedeutsam sind. Legt man den Maßstab einer Kinderseele an, muss man zugeben: Auch wenn nur eines dieser „Kleinen“, von denen Jesus in so zärtlichem Ton gesprochen hat, zu dem wahren Gott geführt wird, ist das Werk, das dies bewerkstelligt, ein „großes“.

Natürlich muss man hinzufügen: Niemand kann den Glauben „weitergeben“, niemand kann ihn einem anderen Menschen „machen“ oder gar ihm „aufzwingen“. Aber was man kann und soll, ist: anderen Menschen helfen, zur eigenen Erkenntnis des wahren Gottes zu gelangen und damit zum eigenen, persönlichen Glauben – entsprechend dem, was der Einzige, der Gott wirklich kennt, über Gott gesagt hat. „Glaube und Leben“ will nur das: jungen Menschen helfen, zu ihrem eigenen, wirklich katholischen Glauben, in Einheit mit der „globalen“ Kirche, zu gelangen, trotz des Stimmengewirrs, das „dagegen“ redet. Menschen können den Samen nur ausstreuen, das Wachstum gibt ein anderer.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
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[1] Herausgeber der Schulbuchreihe „Glaube und Leben“: Referat für Ehe und Familie, Erzdiözese Salzburg, A-5020 Salzburg, Dreifaltigkeitsgasse 12, Telefon: 0043(0)662-879613, Fax: 0043(0)662-8754494, E-Mail: ehe@familie.kirchen.net – www.familie.kirchen.net bzw. www.glaube-und-leben.at

Papst: Keine verstümmelte Glaubensunterweisung!

Im Rahmen eines Ad-limina-Besuchs der österreichischen Bischöfe hielt Papst Benedikt XVI. am 5. November 2005 eine Ansprache, in der er mit deutlichen Worten auf das Thema Religionsunterricht einging. Nachfolgend der entsprechende Auszug dieser Rede. 

Von Papst Benedikt XVI.

Es ist wahr, dass wir Bischöfe mit Bedacht handeln müssen. Aber solche Umsicht darf uns nicht daran hindern, Gottes Wort in aller Klarheit darzulegen – auch jene Punkte, die man meist weniger gern hört oder die mit Sicherheit Reaktionen des Protestes, mitunter auch Spott und Hohn hervorrufen. …

Es gibt Themen – im Bereich der Glaubenswahrheit und vor allem im Bereich der Sittenlehre –, die in Euren Diözesen in Katechese und Verkündigung nicht ausreichend präsent sind, die manchmal … gar nicht oder nicht eindeutig im Sinn der Kirche zur Sprache kommen. Das ist Gott sei Dank nicht überall der Fall. Aber vielleicht fürchten die mit der Verkündigung Beauftragten hier und da, die Menschen könnten sich abwenden, wenn klar gesprochen wird. Dabei lehrt die Erfahrung beinah überall, dass genau das Gegenteil wahr ist. Macht Euch keine Illusionen. Eine katholische Glaubensunterweisung, die verstümmelt angeboten wird, ist ein Widerspruch in sich und kann auf die Dauer nicht fruchtbar sein.

Die Verkündigung des Reiches Gottes geht immer Hand in Hand mit der Forderung nach Umkehr und ebenso mit der Liebe, die Mut macht, die den Weg weist, die begreifen lehrt, dass mit Gottes Gnade auch das scheinbar Unmögliche möglich ist. Überlegt, in welcher Form nach und nach der Religionsunterricht, die Katechese auf den verschiedenen Ebenen und die Predigt in dieser Hinsicht verbessert, vertieft und sozusagen vervollständigt werden können. Nützt dabei bitte mit allem Eifer das Kompendium und den Katechismus der Katholischen Kirche selbst. Sorgt dafür, dass alle Priester und Katecheten dieses Werkzeug verwenden, dass es in den Pfarren, Verbänden und Bewegungen erklärt, in Glaubensrunden besprochen und in den Familien als wichtige Lektüre zur Hand genommen wird.

Gebt in den Ungewissheiten dieser Zeit und Gesellschaft den Menschen die Gewissheit des unverkürzten Glaubens der Kirche. Die Klarheit und Schönheit des katholischen Glaubens sind es, die das Leben der Menschen auch heute hell machen! Dies wird besonders dann der Fall sein, wenn er von begeisterten und begeisternden Zeugen vorgelegt wird.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
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Brauchen wir die „Sonntagsschule“ wieder?

Mit dieser Frage möchte Dr. Hansmartin Lochner seine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass wir dringend eine freiwillige, außerschulische Glaubensunterweisung brauchen. Dabei baut Lochner auf ehrenamtliche Katecheten, die beispielsweise in neuen geistlichen Gemeinschaften Feuer gefangen haben und von missionarischem Eifer erfüllt sind. Als einzigartiges Hilfsmittel hebt er die neue Religionsbuchreihe „Glaube und Leben“ hervor, die in ihrer deutschen Fassung von Weihbischof Dr. Andreas Laun ausgearbeitet worden ist. Auf der Webseite www.Gott-lebt.de legt Lochner Zeugnis von seinem eigenen Glaubens- und Berufungsweg ab. Er gibt Einblick in die Grundzüge, die seinen apostolischen Geist prägen.

Von Hansmartin Lochner

Machen Sie einmal die Probe aufs Exempel: Fragen Sie einen Zehn- oder Zwölfjährigen, welche Gebote er kennt? Bestenfalls wird er drei oder vier nennen. Die wichtigen ersten drei Gebote sind in aller Regel nicht dabei. Oder fragen Sie einen bereits Gefirmten, was wir an Pfingsten feiern. Nur sehr selten werden Sie die richtige Antwort bekommen.

Jesus ist an Weihnachten gestorben…

Ähnlich steht es mit der Frage nach den Sakramenten. Manche werden den Ausdruck gar nicht kennen. Andere können – mit Nachhilfe – vielleicht einige wenige nennen. In der Regel aber ist das Sakrament der Beichte nicht dabei.

Als Pfarrer habe ich mit jedem, der sich bei mir persönlich zur Firmung angemeldet hat, ein Gespräch geführt, um ihn in etwa kennen zu lernen. Zweimal habe ich Folgendes erlebt: Auf meine Bitte hin, mir doch irgendein Ereignis aus dem Leben Jesu zu nennen, haben zwei Jugendliche erklärt, dass sie nichts wüssten. Nach mehreren Hilfen – u.a. mit Verweis auf unsere Festtage – erhielt ich schließlich zweimal die gleiche Antwort, nämlich, dass Jesus an Weihnachten gestorben sei.

„Religionskunde-Unterricht“

Nachdem ich oft und oft – auch bei Ministranten – die Erfahrung gemacht habe, wie lückenhaft das religiöse Wissen unserer Kinder und Jugendlichen ist, drängt sich mir der Gedanke auf: Der Religionsunterricht führt unsere jungen Menschen nicht mehr in den Glauben ein, so dass sie darin heimisch würden. Schon die Würzburger Synode aus den Jahren 1971-75 hat seinerzeit beschlossen, dass die Kinder über den Glauben nur noch „informiert“ werden sollen. Den Gedanken an eine wirkliche Katechese hatte man also damals schon aufgegeben. Inzwischen hat sich der Religionsunterricht aber weitgehend zu einem „Religionskunde-Unterricht“ entwickelt, der die verschiedenen Religionen behandelt, und hier heute besonders den Islam. So kann es vorkommen, dass manche Kinder die fünf Säulen des Islam besser kennen als die sieben Sakramente. Auf diese Weise ist es nicht verwunderlich, dass ein Schülerjahrgang nach dem anderen ins Leben tritt, ohne den Glauben wirklich zu kennen, geschweige denn ihn zu lieben und aus ihm zu leben. Die Folge sind die heute weithin leeren Kinderbänke in unseren Kirchen, die sich nur gelegentlich halbwegs füllen, wenn alle vier oder sechs Wochen einmal ein „Familiengottesdienst“ stattfindet.

Nöte der Religionslehrer

Wenn man nach den Ursachen dieser bedauerlichen Entwicklung fragt, so stößt man auf verschiedene Faktoren. Ohne den Gutwilligen und Bemühten unter den Religionslehrern Unrecht tun zu wollen, muss man ehrlicherweise zugeben: Ein Teil der Lehrkräfte im Religionsunterricht hat sich innerlich von der Kirche distanziert. Viele von ihnen können sich mit der Kirche nicht mehr identifizieren. Sie haben für sich am Glauben der Kirche persönlich Abstriche gemacht und hängen oft sehr fragwürdigen theologischen Ansichten an. So ist es nicht verwunderlich, dass sie den Gottesdienst z.T. nur noch selten oder auch gar nicht mehr besuchen. Auch leben Jüngere nicht selten mit Freund oder Freundin unverheiratet zusammen. Wenn man all dies in Rechnung stellt, dann ist es verständlich, dass dieser Personenkreis im Unterricht den katholischen Glauben nicht mehr in der nötigen Intensität vermitteln kann. Man kann ja nur das weitergeben, was man selbst lebt.

Es gibt aber unter den Religionslehrern auch noch eine zweite Gruppe, die persönlich am Glauben festhält und ihr Bestes tut, um ihre Schüler und Schülerinnen für den katholischen Glauben zu gewinnen. Diese Lehrkräfte haben unter ihren Kollegen und Kolleginnen oft keinen ganz leichten Stand. Weit folgenreicher aber ist, dass sie nicht selten vor einer nahezu unüberwindlichen Abwehrwand stehen, insbesondere bei den älteren Schülern. Ich selbst habe z.B. folgendes erlebt: Nachdem ich in einer 8. Klasse der Hauptschule das Neue Testament ausgeteilt hatte, steht eine Schülerin auf und sagt: „Herr Diakon, ich will ihnen mal etwas sagen: Wir sind jetzt acht Jahre in dieser Schule. Uns hat niemand gläubig gemacht und ihnen gelingt das auch nicht.“ Wenn diese Schülerin nicht nur für sich selbst, sondern für die Mehrheit der Klasse spricht, dann hat auch der gutwilligste Religionslehrer einen schweren Stand.

Freiwillige außerschulische Glaubensstunde

Ich habe diese und ähnliche Szenen seinerzeit dem heutigen Papst erzählt, der damals unser Erzbischof war. Ich sagte zu ihm: „Herr Kardinal, mir tun in jeder Klasse die fünf Kinder leid, mit denen noch etwas anzufangen wäre. Aber die übrigen zwanzig machen es einfach unmöglich.“ Weiter schlug ich ihm vor, dass wir – ähnlich wie in der damaligen DDR – eine freiwillige außerschulische religiöse Unterweisung einführen sollten, damit wenigstens ein Teil der Kinder noch gläubig heranwachsen könnte. Diesen Vorschlag machte ich u.a. deshalb, weil ich bei Besuchen in der DDR sah, dass die Kinder meiner dortigen Verwandten im Glauben viel besser Bescheid wussten als meine eigenen hier im Westen. Seit diesem Gespräch sind inzwischen viele Jahre vergangen. Und seitdem sind weiterhin viele Jugendliche ohne fundiertes Glaubenswissen und ohne eine persönliche Bekehrung ins Leben getreten. Sie sind inzwischen häufig selbst schon junge Väter und Mütter, die mit ihren Kindern sonntags nicht mehr den Gottesdienst besuchen und auch nicht mehr mit ihnen beten.

Als ich Jahre später selbst noch Pfarrer geworden bin, hatte ich die Möglichkeit, die Kinder meiner Pfarrei im Religionsunterricht selbst auf die Erstkommunion vorzubereiten. Wenn dann das Schuljahr zu Ende ging, sagte ich ihnen, dass sie im nächsten Jahr einen anderen Religionslehrer bekommen würden. Da gab es immer ein großes Bedauern: „Warum kommen sie denn nicht mehr?“ Ich sagte dann: „Von jetzt ab könnt ihr zu mir kommen. Jeden Dienstag um 3 Uhr ist im Pfarrheim Glaubensstunde, und ihr alle seid herzlich dazu eingeladen.“ Daraufhin kam dann jeweils etwa ein Drittel der Klasse zu diesen Glaubensstunden und machten interessiert mit, so dass sie im Laufe der Zeit ein gediegenes Glaubenswissen vorweisen konnten. Diese Glaubensstunden konnte ich über mehrere Jahre fortführen.

Aufgabe neuer geistlicher Bewegungen

Deshalb möchte ich vorschlagen: Wir sollten – wo immer es möglich ist – auch in Deutschland wieder eine außerschulische Glaubensunterweisung einführen. In vielen Ländern ist dies sowieso selbstverständlich, z.B. in den USA. Freilich kann man bei unserem heutigen Priestermangel diese Aufgabe nicht den immer weniger werdenden Pfarrern und Kaplänen übertragen. Es wäre meines Erachtens aber ein anderer Weg denkbar: Es gibt bei uns eine Vielzahl geistlicher Bewegungen und Neuaufbrüche. Unter den Mitgliedern dieser Gruppen – aber auch unter den anderen tiefgläubigen Gemeindegliedern – sind viele bereit, unentgeltlich und in ihrer Freizeit eine solche Aufgabe zu übernehmen. Die Betreffenden hätten auch selbst einen großen Gewinn davon, denn bekanntlich vertieft nichts den eigenen Glauben mehr, als wenn man ihn weitergibt.

Ich denke, es wäre verfehlt, so etwas von heute auf morgen überstürzt und flächendeckend einführen zu wollen. Vielmehr sollte es hier ein allmähliches Wachstum geben, etwa indem man an einzelnen Orten mit solchen Glaubensstunden beginnt, also dort, wo die Voraussetzungen besonders günstig sind. Ich könnte mir auch vorstellen, dass der zuständige Bischof zunächst eine geeignete Person sucht, die selbst aus einer der neuen geistlichen Bewegungen stammt und gute Kontakte zu anderen derartigen Gemeinschaften hat. Wichtig ist, dass der- oder diejenige selbst darauf brennt, den Glauben unter den Kindern und Jugendlichen auszubreiten und ein solches Werk aufzubauen. Wer diese Aufgabe übernimmt, sollte deshalb zunächst Kontakt zu den einzelnen Gemeinschaften aufnehmen, um Leute zu gewinnen, die bereit sind, gewissermaßen als „Sonntagsschullehrer“ diese Arbeit zu beginnen.

Hervorragendes Hilfsmittel: Reihe „Glaube und Leben“

Um diese Mitarbeiter anzuleiten und zu begleiten, steht bereits jetzt ein hervorragendes Hilfsmittel zur Verfügung. Es ist die Reihe „Glaube und Leben“.[1] Sie wurde von Weihbischof A. Laun, Salzburg, herausgegeben. Hier sind inzwischen die Jahrgänge eins bis sieben erschienen, der achte steht kurz vor seiner Fertigstellung. Die Reihe stammt ursprünglich aus den USA und wurde von Weihbischof Laun für den deutschen Sprachraum bearbeitet. Da in den Staaten das „Home-Schooling“ erlaubt ist – also Eltern ihre Kinder auch zu Hause schulisch unterrichten dürfen – war diese Reihe für die häusliche katholische Glaubensunterweisung gedacht. Ohne zu übertreiben kann man sagen: Hier liegt seit Jahren zum ersten Mal wieder ein Buch für die religiöse Unterweisung der jungen Generation vor, das man uneingeschränkt empfehlen kann, weil es den authentischen katholischen Glauben ohne Abstriche und Verfälschungen auf eine moderne Weise wiedergibt. Für jeden Jahrgang sind drei verschiedene Bücher erschienen: das eigentliche, gut bebilderte Lehrbuch; dann ein ideenreiches Arbeitsheft für die Hand der Kinder, mit dessen Hilfe sie das Gelernte wiederholen und vertiefen können; schließlich noch ein didaktisches Buch, dass dem Unterrichtenden zeigt, wie er mit diesen Büchern arbeiten kann. Mit Hilfe dieser Arbeitsmittel sollte es nicht schwierig sein, die zukünftigen „Sonntagsschullehrer“ auf ihre Arbeit vorzubereiten und sie bei den ersten Schritten zu begleiten.

Abschließend noch ein Wort zum Prinzip der „Ehrenamtlichkeit“ der vor Ort tätigen  „Sonntagsschullehrer“. Das Gelingen dieses Unternehmens steht und fällt mit der missionarischen Einstellung und der tiefen Gläubigkeit der hier Tätigen. Hier sind Menschen nötig, die vom Heiligen Geist erfüllt darauf brennen, junge Menschen in die Fülle und Schönheit des katholischen Glaubens einzuführen. Hauptamtliche, die nur „teilidentifiziert“ sind, sind hier fehl am Platz. Wenn aber hauptamtlich Tätige bereit sind, in ihrer Freizeit diese Arbeit zu tun, dann steht dem sicher nichts im Weg. Der brennende Wunsch, Kinder und Jugendliche für das zeitliche und ewige Heil in Jesus Christus zu gewinnen, sollte die ausschließliche Motivation für diese Tätigkeit sein.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Herausgeber der Schulbuchreihe „Glaube und Leben“: Referat für Ehe und Familie, Erzdiözese Salzburg, A-5020 Salzburg, Dreifaltigkeitsgasse 12, Telefon: 0043(0)662-879613, Fax: 0043(0)662-8754494, E-Mail: ehe@familie.kirchen.net – www.familie.kirchen.net bzw. www.glaube-und-leben.at

Literatur für die Advents- und Weinachtszeit

Als geeignete Literatur oder passendes Geschenk für die Advents- und Weihnachtszeit möchten wir auf folgende zwei außergewöhnliche Bücher hinweisen.

Von Werner Schiederer

„Father Elijah“

Der Roman „Father Elijah“ von Michael D. O‘Brien ist ein großartiges, visionäres Werk. Von Gabriele Kuby wurde er meisterhaft ins Deutsche übersetzt. Der Autor entwirft im Licht der christlichen Offenbarung eine Apokalypse, einen Blick in die „Endzeit“, die für den Apostel Johannes bereits mit der Menschwerdung begonnen hat, aber in einen Endkampf einmündet, aus dem die Kirche schließlich siegreich hervorgehen wird. Der Roman ist frei erfunden, eine Spekulation, doch zeigt er auf faszinierende Weise auf, wie der „Hauptakteur die verborgene Struktur seiner chaotischen Zeit erkennen, wie er aus ihr heraustreten kann, um sie objektiv zu sehen, während er doch weiter an ihr teilhat als einer, der Gutes tun will“.

Zum Handlungsablauf: Der karmelitische Mönch Pater Elijah, Überlebender des Warschauer Ghettos, wird vom Papst mit einer geheimen Mission beauftragt: Er soll den „Präsidenten“, der im Begriff ist, zum Weltherrscher aufzusteigen, an seine Seele erinnern … ein abenteuerliches Unterfangen, das dem Leser ebenso Einblick gibt in die Kämpfe hinter den Mauern des Vatikans wie in die Kämpfe in der menschlichen Seele. Gefesselt von der Spannung der Handlung, bemerkt der Leser am Ende staunend, dass seine innere Welt heller geworden ist und er Antworten auf große Fragen unserer Zeit bekommen hat.

Michael D. O‘Brian: Father Elijah – Eine Apokalypse, übersetzt von Gabriele Kuby, geb., 544 S., ISBN 9783939684329, Euro 19,95.

„Ibrahim und die Heilige Nacht“

Der Münchner TV-Journalist und Autor Rudolf Nottebohm hat sich von der Geschichte der Heiligen Nacht anregen lassen und vier ebenso spannende wie ungewöhnliche Erzählungen vorgelegt. Ibrahim, den es von Istanbul in die bayerischen Alpen verschlagen hat; Annette, die immer fürs Falschsingen verspottet wird, Annemarie, die ihrem Freund nicht sagen kann, dass sie ein Kind von einem anderen Mann erwartet; und der kleine Heiner, dessen Vater den Tod der Mutter im Alkohol ertränkt – das sind die Helden von Nottebohms Geschichten. Sie alle erleben das Weihnachtsfest, mit ihren Sorgen und Nöten, ihren Ängsten, ihren Träumen und Wünschen. Und sie alle erleben in dieser Heiligen Nacht ein kleines Wunder oder zumindest einen Strahl der Hoffnung. So unkonventionell, so unsentimental die Geschichten auch sind: Sie zeigen, dass die tröstende und befreiende Botschaft von Weihnachten auch in der rauen Welt von heute unvermindert aktuell ist.

Rudolf Nottebohm: Ibrahim und die Heilige Nacht – Neue Geschichten zur Weihnacht, geb., 144 S., ISBN 978-3-86744-058-5, Euro 16,90.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Sicht eines gläubigen Arztes

Im Rahmen seines Vortrags „Lebensende aus der Sicht eines gläubigen Arztes“ gab Dr. Günther Feil beim diesjährigen „Kirche heute-Herbstforum“ ein entschiedenes Plädoyer für die Hospiz- und Palliativversorgung ab. Im Geist der Nächstenliebe müssten die schwer und unheilbar kranken Patienten bis zum Ende begleitet und gepflegt werden, wie dies in früheren Jahrhunderten auf den Krankenstationen der Klöster geschehen sei. Heute komme diesem unverzichtbaren Dienst vor allem der Fortschritt der Palliativmedizin zugute.

Von Günther Feil

Palliativmedizin und Hospizbewegung sind eng miteinander verknüpft. Beide haben das Ideal einer ganzheitlichen Versorgung der Patienten im Blick und können ambulant oder stationär ablaufen. Sie stellen ein Kontrastprogramm zur aktiven Sterbehilfe dar und werden von der katholischen Kirche nachhaltig unterstützt. Mit der Zunahme entsprechender Dienste gehen die Suizidzahlen deutlich zurück. Bei seiner Ansprache auf der Wiener Hofburg befürwortete Papst Benedikt XVI. im Rahmen seines Österreichbesuchs 2007 ausdrücklich diesen Weg und stellte ihn dem Ruf nach Euthanasie gegenüber: „Die richtige Antwort auf das Leid am Lebensende ist Zuwendung und palliative Medizin und nicht aktive Sterbehilfe“.

Was bedeutet „Palliativmedizin“?

Von der Wortbedeutung her bezeichnet „Palliativmedizin“ ganz allgemein den „Umgang mit Patienten“. Die „Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin“ definiert den Begriff als „aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten (also sich weiterentwickelnden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative (heilende) Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt“. Im Vordergrund der Behandlung steht die Lebensqualität, nicht die Verlängerung der Lebenszeit.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO = World Health Organization) rückte 2002 in ihrer Definition von Palliativmedizin neben der Lebensqualität der Patienten auch die der Angehörigen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Außerdem geht sie auf präventive, also vorbeugende Behandlung von Schmerzen und anderer belastender Symptome ein.

Entstehung der Hospizbewegung

Die neuere Hospizbewegung entwickelte sich aus der Palliativmedizin. Sie geht auf Mrs. Cicely Saunders zurück, die 1967 in London das St. Christopher Hospiz gründete. Als sie das Leid von z.T. sehr vereinsamten und unglücklichen Sterbenden sah, wollte sie ihnen eine beschützende Bleibe für ein Sterben ohne Angst und in respektvoller Würde geben. Das Haus stand jedem offen. Die Behandlung bestand vorwiegend in der frühzeitigen und konstanten Linderung von Schmerzen. Damit half sie den Patienten zu einem besseren körperlichen Befinden, mit der Folge, dass auch eine bessere Ausgangssituation für psychischen und spirituellen Beistand erreicht wurde.

In den USA wurde die Hospizbewegung durch den Einsatz von Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004) gefördert. Sie stammte eigentlich aus der Schweiz und machte nach dem Medizinstudium in den USA eine Fachausbildung für Psychiatrie. 1965 erhielt sie eine Professur an der Universität Chicago. Ihr zentrales Anliegen bestand darin, die Bedürfnisse von Sterbenden und ihrer Angehörigen zu erkennen und diese in die Mitte der Sterbebegleitung zu stellen.

 Bekannt sind ihre Interviews mit Sterbenden, auf deren Grundlage sie 1971 die Beschreibung von fünf Sterbephasen erarbeitete (Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depression und Zustimmung). Außerdem haben ihre Aufzeichnungen von Nahtoderlebnissen weltweite Berühmtheit erlangt.

Hospiz und Palliativversorgung

Die heutige Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland weisen bei gleicher Zielsetzung verschiedene Entwicklungsgeschichten und Organisationsstrukturen auf. In vielen Ländern außerhalb Deutschlands wird dieserseits kaum eine Trennung vorgenommen.

Die Hospizversorgung ist i.d.R. außerhalb eines Krankenhauses angesiedelt, u.a. auch in Alters- bzw. Pflegeheimen, arbeitet neben hauptamtlichem Pflegepersonal betont mit fortgebildeten Ehrenamtlichen und niedergelassenen Ärzten, Schmerzambulanzen (Anästhesisten) u.a. zusammen. Die Palliativeinrichtungen sind mehr am Krankenhaus angesiedelt und versorgen die Patienten mit dem dort angestellten Mitarbeiterpool.

Die stationären Aufenthalte sind in den Palliativeinrichtungen zeitlich auf wenige Wochen befristet, in den Hospizen sind diese z.T. bis zu vielen Monaten möglich. Die Kosten der Palliativversorgung werden von den Krankenkassen abgedeckt.

Die Hospizeinrichtungen werden neben dem ehrenamtlichen Engagement unter der Zielsetzung der christlichen Nächstenliebe z.T. von Spenden getragen. Eine klare finanzielle Regelung von Seiten der Krankenkassen gibt es bisher nicht, ist aber zur Zeit – mit kräftigen Abschlägen gegenüber der Palliativversorgung – in Verhandlung.

In beiderlei Einrichtungen werden vorwiegend Patienten im Terminalstadium von Krebsleiden und AIDS bzw. neurologischen Erkrankungen mit Lähmungen umsorgt bzw. begleitet.

In Deutschland wurde an der Uni-Klinik Köln 1983 die erste Palliativstation eröffnet. Eine Übersicht über die inzwischen hochgeschossenen Zahlen von Hospiz- und Palliativeinrichtungen ist dem Bild zu entnehmen:

Drei Bereiche der Hospiz- und Palliativversorgung

Die Arbeit der Hospiz- und Palliativversorgung erstreckt sich im Wesentlichen auf folgende drei Bereiche:

1. Symptomkontrolle

„Schmerzen, Schwäche, Unruhe, Luftnot, Inkontinenz, künstlicher Darmausgang, Liegeprobleme im Bett, PEG („perkutane endoskopische Gastrostomie“ – PEG ist die Anlage einer Ernährungssonde), Schlafstörungen, Depression, soziale Einsamkeit u.a. können ein unerträgliches Leben bedeuten. Eine Linderung erfolgt mit Schmerzmitteln, Sedativa, Antidepressiva, intensiver Pflege, aber auch physikalischen Maßnahmen wie Massagen, Bewegungs- und Atemübungen.“

Damit wird häufig das primäre Leiden in seiner Aussichtslosigkeit psychisch in den Hintergrund gedrängt, so dass Tage wieder als lebenswert empfunden werden können. Für die Schmerzbehandlung gibt es je nach Intensität sog. Stufen-Schemata bis zu Höchstgrenzen von Opioiden und Kombinationspräparaten. Bei Tumor- und AIDS-Patienten wird die Behandlung irgendwann abgebrochen, bei neurologischen und respiratorischen Erkrankungen jedoch wird die lebenserhaltende Therapie weitergeführt.

Assistierte Suizid- und direkte Sterbehilfe widersprechen den Intentionen einer Palliativmedizin. Passive („sterben lassen“ = Nichteinleitung oder Abbruch einer Therapie) und indirekte Sterbehilfe (Medikamentenverabreichung unter evtl. Inkaufnahme einer Lebensverkürzung) sind erlaubt. Die passive Sterbehilfe erfordert jedoch eine eindeutige und gültige Patientenverfügung bzw. eine Absicherung des mutmaßlichen Willens bei Bewusstlosigkeit oder Verwirrtheit.

2. Psychosoziale Kompetenz in Teamarbeit

Zur umfassenden Betreuung der Patienten mit entsprechend hohem personellen und zeitlichen Aufwand sollte ein Team aus Pflegepersonal, Ärzten, Sozialarbeitern, Psychologen, Physiotherapeuten und Seelsorgern zur Verfügung stehen. Eingebunden sind z.T. ehrenamtliche Helfer mit eigener Schulung. Ziel ist es, für die Patienten eine optimale Sterbebegleitung zu erarbeiten.

Im Vordergrund steht immer die menschliche Zuwendung. Dadurch gewinnen die Patienten eine Art positive Lebensperspektive bis zum Ende. Unter dieser Begleitung ist der Suizidwunsch vieler, vor allem sozial isolierter und depressiver Patienten deutlich zurückgedrängt worden. Die soziale Isolierung aus familiären und Krankheitsgründen ist heutzutage an der Tagesordnung. Hier erfolgt der soziale Tod vor dem körperlichen Ende.

Die meisten Patienten leiden an Krebserkrankungen im Endstadium und sind geistig intakt. Zunehmend werden in solchen Einrichtungen aber auch Demenz-Patienten erwartet.

3. Sterbebegleitung

In der Begrenzung der medizinischen Behandlungsmöglichkeit ist das Ziel der Sterbebegleitung vor allem ein Sterben in Würde, ohne Ansehen der Besonderheit der Erkrankung, des sozialen Status oder der Religion. Der Sterbeprozess bedeutet auch eine geistige Auseinandersetzung, deshalb wird auch auf eine spirituelle Begleitung geachtet. Den Patienten belasten Unsicherheit und Ängste vor dem Ende, Aufarbeitung von Verstrickungen und Schuld wollen bewältigt werden.

Sterben Patienten zu Hause, so sind die Angehörigen in der Betreuung häufig verunsichert. Sie erleben eine für sie unbekannte Situation und wissen oft nicht, wie sie sich angemessen verhalten sollen. Wenn sich Angehörige für eine Sterbebegleitung zu Hause entscheiden, sollten sie sich beraten lassen, welche Belastungen auf sie zukommen und mit welcher Unterstützung sie von welchen Sozialdiensten, Ärzten oder ambulanten Palliativ- oder Hospizdiensten rechnen können. Patienten mit einem festen Bezug zur Religion – in der Anzahl geringer – tun sich im Loslassen und im Bezug zu ihren Angehörigen und Freunden leichter. Für sie ist der erwartete Tod nur ein Übergang in das Fortleben in einer anderen Realität des erlösenden Himmels.

Ausblick

Von einem gläubigen Arzt darf man erwarten, dass er heilungs- und lebensbetreffende Entscheidungen immer aus einem in der kirchlichen Lehre verankerten Gewissen fällt, das bedeutet eine klare Absage an alle lebensvernichtenden Vorgänge von Embryonenforschung, pränatalen Eingriffen und Abtreibungen, Erhaltung auch von behindertem oder kranken Lebens nach der Geburt, Absage an jede Form der Beihilfe zum Suizid oder aktiven Euthanasie, Absage an passive Sterbehilfe, soweit kein irreversibler Sterbevorgang vorhanden ist und dies dem klar eruierbaren Willen des Patienten entspricht. Indirekte Sterbehilfe muss auch vor dem Gewissen des Arztes und dem Patientenwillen Bestand haben, da mit Medikamenten leicht eine aktive Sterbehilfe durch Überdosierung von Medikamenten möglich ist. In Grenzfällen wird er sich mit Priestern und Kollegen beraten, um auch hier eine gute Entscheidung zu finden. Ermutigend sind die Worte Johannes Pauls II.: „Sicherlich besteht ein Missverhältnis zwischen den zahllosen und mächtigen Mitteln, mit denen die Kräfte ausgestattet sind, die zur Unterstützung der ‚Kultur des Todes‘ am Werk sind, und jenen, über welche die Förderer einer ‚Kultur des Lebens und der Liebe‘ verfügen. Doch wissen wir, dass wir auf die Hilfe Gottes vertrauen dürfen, für den nichts unmöglich ist.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Deutschlands sexuelle Tragödie

„Die Arche“ ist ein evangelisch-freikirchliches „Christliches Kinder- und Jugendwerk“ in Berlin. Es wurde 1995 von Bernd Siggelkow, einem Jugendpastor der Heilsarmee und Vater von inzwischen sechs Kindern, gegründet. Zusammen mit dem Journalisten Wolfgang Büscher, dem Pressesprecher der „Arche“, hat er nun ein erschütterndes Buch mit dem Titel „Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist“[1] herausgegeben. Prof. Dr. phil. Dr. theol. Thomas Schirrmacher, Theologe und Soziologe, hat zu dieser Sammlung von tragischen Lebensgeschichten das nachfolgende auswertende Vorwort geschrieben und dazu aufgerufen, die schrecklichen Folgen der sexuellen Freizügigkeit ernst zu nehmen. Am 10.11.2008 erhielt Schirrmacher als Sprecher für Menschenrechte der Weltweiten Evangelischen Allianz den finnischen Menschenrechtspreis.

Von Thomas Schirrmacher

Ich wünsche mir, dass so viele Menschen wie möglich die erschütternden Lebensgeschichten junger Menschen lesen, die „Die Arche“ in diesem Buch zusammengetragen hat. Sie sollten es aber nicht mit dem Blick des entsetzten Zeitungslesers tun, der nur wieder einen Beweis mehr findet, dass die Welt früher besser war, sondern mit dem mit-leidenden und hilfsbereiten Herzen der Arche-Mitarbeiter, die diese Geschichten nur deshalb aufzeichnen konnten, weil sie bereit waren, vor Ort zu sein, viele Stunden lang zuzuhören und zu helfen.

Das einstige Tabu, mit dem das Thema Sexualität behaftet war, ist längst dem Tabu gewichen, über die Folgen der sexuellen Freizügigkeit zu sprechen. Dass es Sexsucht, Pornografiesucht und extreme sexuelle Verwahrlosung gibt, wird nur selten thematisiert. Wer es dennoch tut, gilt als lebensunlustig und verklemmt.

Am schlimmsten trifft es wieder einmal Kinder und Jugendliche. Selbst wenn die sexuelle Verwahrlosung bei ihnen in alle anderen Lebensbereiche übergreift und ihnen die Zukunft verbaut, fühlt sich keiner zuständig. Und selten haben diese jungen Menschen eine Familie, die ihnen helfen kann – ist doch meist die Familie überhaupt der Ursprung ihrer Probleme.

Was ich als Wissenschaftler aus Untersuchungen und Statistiken in meinen Büchern „Ausverkaufte Würde“ und „Internetpornografie“ zusammengetragen habe, erleben die Mitarbeiter der „Arche“ täglich im Umgang mit Betroffenen. Wo ich meine Bücher beiseite legen kann, wenn mich die Trauer überfallen will, und Feierabend mache, fängt die Arbeit der „Arche“-Mitarbeiter erst an!

Eine Tragödie nimmt ihren Lauf, die allein deshalb schon ein gesellschaftliches Thema sein müsste, weil sie aufgrund ihrer Folgen auch die Sozialkassen stark belasten wird, wenn einen das Schicksal Einzelner schon nicht bewegt. Die verheißene sexuelle Befreiung ist längst völlig aus dem Ruder gelaufen. Der versprochene Spaß wird täglich beworben, über diejenigen, die die Zeche bezahlen, spricht man kaum; seien es Zwangsprostituierte, Sexsüchtige oder Kinder, die durch Frühsexualisierung die Fähigkeit verlieren, noch irgendwelche stabilen Beziehungen jenseits vom Sex aufzubauen – mit allen Folgen, die das hat. Während wir erfreulicherweise an Deutschlands Arbeitsplätzen dafür sorgen, dass sexuelle Belästigung und sexistisches Gerede aufhören, ist beides in immer mehr Familien Alltag. Wenn Eltern mit ihren Kindern täglich Pornofilme schauen und Kinder zu Hause ständig wechselnde Partner ihrer Mütter kommen und gehen sehen, dann folgen sie nicht nur diesem Vorbild, sondern rutschen in der Regel noch tiefer in den Sumpf ab als ihre Eltern. Gut, dass es Menschen wie die Mitarbeiter der „Arche“ gibt, denen das nicht egal ist, sondern die vor Ort sind, Zeit haben und denen Gesprächspartner sind, die zu Hause keine mehr haben.

Das Ganze ist, wie die Autoren deutlich zeigen, längst kein reines Unterschicht-Problem mehr. Zwar habe ich in meinem Buch „Die neue Unterschicht“ versucht zu zeigen, dass die Unterschicht die entstehenden Probleme viel schlechter kaschieren und Geld manche Folgen abfedern kann, doch wir haben hier letztlich kein materielles, sondern ein ethisches Problem vor uns, und wo die ethischen Grundlagen wegbrechen, kann auch Geld keinen Ersatz schaffen. Die „Arche“ arbeitet im Geist der christlichen Nächstenliebe. Aber die von ihr beschriebenen Einzelschicksale sind so offensichtlich dramatischer Natur, dass man längst keine spezielle christliche Ethik mehr braucht, um zu erkennen, dass hier Menschen dringend Hilfe brauchen. Christlich an der „Arche“ ist aber eben auch, dass sie sich an vorderster Front denen widmet, die im Sumpf versinken. Christen reden deutlich von Sünde, Schuld, bösen Strukturen und persönlicher Verantwortung, aber sie sind – hoffentlich jedenfalls – auch mitten im Geschehen präsent, und bieten Tätern, schuldig Gewordenen und Opfern gleichermaßen die Hilfe an, die Jesus Christus allen angeboten hat – den Prostituierten wie den korrupten Zollbeamten, den Pharisäern wie den Kleinkindern. Das Böse wird nicht einfach überwunden, indem man von außen darüber schreibt, sondern indem man auch in die Realität hinabsteigt und den Menschen dort hilft, wo sie tatsächlich leben. Die Botschaft der Bibel ist nicht deswegen eine gute Nachricht, weil es die Glücklichen noch glücklicher macht, sondern weil sie sich dort bewähren will, wo das Leben am dunkelsten ist. „Die Starken brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Verlorenen zu rufen und nicht die Gerechten“ (Jesus in Markus 2,17).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Gerth Medien, Klappbroschur, 192 S., ISBN 978-3-865913463, Euro 14,95.

Ein Leben für die Wahrheit: Alexander Solschenizyn

Alexander Solschenizyn (1918-2008) war zweifellos einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Unerschütterlich kämpfte er für das Gute und für die Wahrheit. Weder von der Ideologie der sowjetischen Machthaber noch vom westlichen Liberalismus ließ er sich in seiner tiefreligiösen christlichen Haltung beirren. Prof. Dr. Josef Seifert und Dr. Vladimir Bliznekov heben in einem biographischen Abriss die entscheidenden Stationen seines bewegten Lebens hervor. Bliznekov ist Sekretär der Russischen Kulturgesellschaft und Seifert seit 1986 Gründungsrektor der Internationalen Akademie für Philosophie (IAP) in Liechtenstein sowie seit 2004 an der Pontificia Universidad Católica de Chile in Santiago de Chile. Diese Akademie verlieh Alexander Solschenizyn 1993 die Ehrendoktorwürde.

Von Vladimir Bliznekov und Josef Seifert

Der große russische Schriftsteller und Träger des Nobelpreises für Literatur, Historiker, Philosoph und ehemalige politische Dissident, der in jahrzehntelangem Kampf gegen die kommunistische Ideologie und das kommunistische Sowjetregime seine Freiheit und sein Leben mutig und heldenhaft einsetzte, eine der großen Gestalten des 20. Jahrhunderts und Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Russland und im Ausland erlag am 3. August 2008 in Moskau im Alter von 89 Jahren einem langjährigen Herzleiden.

Alexander Issajewitsch Solschenizyn wurde am 11. Dezember 1918 in Kislowodsk, einer Stadt im nördlichen Kaukasusgebiet, geboren. Obwohl seine Eltern Isaakij und Taisija von südrussischen Bauern abstammten, waren beide hoch gebildet. Sein Vater, zu Beginn des Ersten Weltkriegs Student an der Moskauer Universität, meldete sich freiwillig an die Front und wurde während des Krieges drei Mal für seine Tapferkeit ausgezeichnet. Er starb bei einem Jagdunfall sechs Monate vor der Geburt seines Sohnes. Um die Familie ernähren zu können, musste Alexanders Mutter nach dem Tod ihres Mannes als Stenotypistin arbeiten. Als der kleine Alexander sechs Jahre alt war, übersiedelten sie in das südrussische Rostow am Don, eine der größten Städte Russlands, wo Alexander seine Kindheit verbringt. Solschenizyns Großvater mütterlicherseits, ein Großbauer, wurde im Zuge der stalinistischen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft (ab 1928) verhaftet und kam in der Verbannung ums Leben.

Der junge Alexander besuchte in Rostow eine gewöhnliche Schule und liebte Fußball und das Theater. Ab 1936 studierte er an der Universität von Rostow am Don Mathematik und Physik. Schon in jungen Jahren reifte in Alexander allerdings der Wunsch, Schriftsteller zu werden. Im Alter von 19 Jahren fasste er den Entschluss, einen historischen Roman über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die sozialistische Revolution zu schreiben, und fing an, Material dafür zu sammeln und die ersten Kapitel seines außerordentliches Romans „August Vierzehn“ zu schreiben.[1] Ab 1939 studierte er zeitgleich auch im Fernstudium an der prominenten Moskauer Hochschule für Geschichte, Philosophie und Literatur. 1941 schloss Solschenizyn sein Studium an der Universität Rostow mit Auszeichnung ab und begab sich nach Moskau, wo er den Hochschulabschluss in Geschichte, Philosophie und Literatur ablegen wollte. Doch es kam der Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion. Am 18. Oktober 1941 wird Alexander Solschenizyn eingezogen und an die Front geschickt, zuerst als Soldat, nach dem Abschluss der Offiziersschule von Kostroma als Leutnant. Solschenizyn kämpfte drei Jahre lang als Batteriechef einer Artillerieeinheit der Roten Armee an der Front, erlangte den Rang eines Hauptmanns und erhielt mehrere Auszeichnungen.

Wenige Monate vor Ende des Krieges, am 9. Februar 1945, wurde Hauptmann Solschenizyn, der zu dieser Zeit noch für Lenins proletarische Revolution schwärmte, von der militärischen Spionageabwehr wegen kritischer Äußerungen über Stalin, die er in Briefen an einen Freund geäußert hatte, verhaftet. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt und in ein Straflager in Kasachstan interniert.

Am 5. März 1953, am Todestag Stalins wird Alexander Solschenizyn aus der Lagerhaft entlassen und nach Kasachstan geschickt, verbannt auf Lebenszeit. In dieser Zeit musste er sich einer schweren Krebsoperation unterziehen. Seine wie durch ein Wunder erfolgte vollständige Heilung 1954 in einem Taschkenter Krankenhaus sah Solschenizyn als Zeichen des Willens Gottes in Form des Auftrags und der Sendung, der ganzen Welt von den Straflagern für politische Gefangene in der Sowjetunion zu erzählen und allen die Wahrheit zu enthüllen, die davon nichts wussten oder nichts wissen wollten.

Am 3. Februar 1956 hob das Oberste Gericht der Sowjetunion die Verbannung auf, ein Jahr später wurde Solschenizyn rehabilitiert. Solschenizyn übersiedelte in die Region Rjasan nach Zentralrussland, wo er als Physiklehrer an einer Dorfschule unterrichtete.

Mit dem Machtantritt Chruschtschows (1953) und der darauf folgenden Tauwetter-Periode und Entstalinisierung des Landes wurde die Veröffentlichung der ersten Erzählung Solschenizyns über das Leben im sowjetischen Straflager möglich: der russische Dichter Alexander Twardowsk, Chefredakteur der Literaturzeitschrift Nowy Mir („Neue Welt“), ließ 1962 „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ als Erstlingswerk Solschenizyns ebendort abdrucken. Die Veröffentlichung war eine politische Sensation und ein historisches Ereignis zugleich. Solschenizyn wurde im ganzen Land als Schriftsteller bekannt, bald auch im westlichen Ausland, und bereits ein Jahr später erschien die amerikanische Übersetzung des Romans.

Nach diesem Erfolg durchlebte Solschenizyn eine intensive schöpferische Phase und verfasste viele seiner großen Werke wie „Der Archipel Gulag“, „Krebsstation“, „Der erste Kreis der Hölle“ u.a. Mit dem Sturz Chruschtschows, dem Kritiker Stalins und Gönner Solschenizyns, veränderte sich die politische Situation im Land ab 1964. Mitte der sechziger Jahre galt Solschenizyn, für dessen Kritik kein Platz mehr war, den politischen Machthabern als Feind, es folgten Beschlagnahmungen seiner Bücher und Manuskripte, der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der UdSSR und gleichzeitig Solschenizyns offener und kompromissloser Kampf gegen das kommunistische Regime.

Bereits 1970 wird Alexander Solschenizyn der Nobelpreis für Literatur verliehen „für die moralische Kraft, mit der er die Tradition der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts fortgesetzt hat“.

1968 ist Solschenizyns Arbeit an „Der Archipel Gulag“, der erschütternden und peinlich genau recherchierten Geschichte der Straflager, Gefängnisse und des Repressionssystems der Sowjetunion beendet. Die erste Auflage erscheint 1973 im Westen, erschüttert die ganze Welt und gilt fortan als wichtiges literarisches Zeugnis für die Herrschaft von Angst, Schrecken und Leid im ideologischen Regime der Sowjetunion. Das Wort GULAG[2] wird zum Synonym für ein umfassendes Repressionssystem der Sowjetunion, bestehend aus Zwangsarbeitslagern, Straflagern, Gefängnissen und Verbannungsorten.

In der sowjetischen Öffentlichkeit erreicht die Propagandakampagne gegen den so in Ungnade gefallenen Solschenizyn 1974 ihren Höhepunkt. Der Schriftsteller antwortet darauf mit einem „Offenen Brief an die Sowjetische Führung“, in dem er vor der katastrophalen Irrlehre der marxistischen Ideologie warnt. Am 13. Februar 1974 wird Solschenizyn erneut verhaftet, des Landes verwiesen und es wird ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt. Zunächst findet er Aufnahme bei Heinrich Böll in Deutschland, übersiedelt dann nach Zürich (Schweiz) und lebt schließlich siebzehn Jahre lang in der kleinen Stadt Cavendish (Vermont, USA).

Im Laufe seiner 20 Jahre währenden Emigration veröffentlicht Alexander Solschenizyn einen Großteil seiner Werke. Auch die lange Zeit der Emigration kann aus Solschenizyn keinen Mann des Westens machen. Solschenizyn ist und bleibt ein überzeugter Kritiker des moralischen Relativismus der westlich liberalen Ideen von Werten und von Gut und Böse, und sieht hier den geistigen Sieg des Kommunismus über die westliche Welt, wie er in seinen „Drei Reden an die Amerikaner“ (45-46) schreibt:

„Der Kommunismus hat nie verheimlicht, dass er alle absoluten Moralbegriffe ablehnt, die Begriffe von ,Gut‘ und ,Böse‘ als Wertkategorien verhöhnt. Die Moral ist für den Kommunisten die relative Moral der jeweiligen Klasse. Entsprechend den Umständen und der politischen Situation könnte jede Handlung, auch Mord, sogar Ermordung von Hunderttausenden, böse oder auch gut sein. (...) Ich muss jedoch sagen, dass in dieser Hinsicht der Kommunismus am erfolgreichsten war. Denn er hat es geschafft, die ganze Welt mit dieser Vorstellung über die Relativität von Gut und Böse anzustecken. (...) Es gilt heute in der fortschrittlichen Gesellschaft als unschicklich, die Worte ,Gut‘ und ,Böse‘ ernsthaft zu benutzen. Der Kommunismus konnte uns allen suggerieren, dass diese Begriffe altmodisch und lächerlich seien. Aber wenn man uns die Begriffe von ,Gut‘ und ,Böse‘ nimmt, was bleibt uns dann noch? Es wird ein Dahinvegetieren sein. Wir werden auf das Niveau von Tieren hinabsinken.“

Nach dem Zerfall der Sowjetunion von 1991 spürt Solschenizyn, dass der Westen ihn nicht mehr braucht, und beschließt, in seine Heimat zurückzukehren. Mit Michail Gorbatschow wird er 1990 rehabilitiert und erhält die sowjetische Staatsbürgerschaft zurück.

Seit 1990 erscheinen die Werke Alexander Solschenizyns, darunter „Der Archipel Gulag“, in hoher Auflage in Russland. Es ist wohl Ironie des Schicksals oder aber ein Zeichen für den massiven politischen Umschwung im Land, dass der Schriftsteller für das Buch, dessen Veröffentlichung ihn einst in Ungnade fallen ließ und zu seiner Ausbürgerung führte, im Jahre 1990 die höchste staatliche Auszeichnung für Leistungen auf dem Gebiet von Wissenschaft und Kultur – den Sowjetischen Staatspreis – aus der Hand Gorbatschows erhalten sollte.

Im Mai 1994 kehrt Solschenizyn nach Russland zurück. Seine Rückkehr ist ein aufwändiges Unterfangen – der Schriftsteller will mit eigenen Augen das Leben seines Volkes nach dem Abschied vom Kommunismus kennen lernen und unternimmt dafür eine zweimonatige Zugreise von Wladiwostok nach Moskau. Solschenizyns Rückkehr ist eine Sensation für die Medien und für die Menschen: überall trifft er auf Anhänger und Sympathisanten und am 21. Juli 1994 trifft Alexander Solschenizyn in Moskau ein.

Solschenizyn lässt sich in der Nähe von Moskau nieder, schreibt seine Memoiren und zahlreiche historische und publizistische Bücher und Aufsätze. Er spricht im Fernsehen über seine Einschätzungen der Politik der russischen Machthaber. Der Schriftsteller verurteilt die von Präsident Jelzin durchgeführten liberalen Reformen als unbedacht, unmoralisch und schädlich für die Gesellschaft, kritisiert aber auch im Wesen den allgemeinen Missbrauch von Freiheit und den Verfall der freien Gesellschaft, die der Lust, der Habsucht und dem Egoismus frönt und einem falschen, willkürlichen Freiheitsverständnis und einem Fortschrittsidol anhängt, ohne zu erkennen, dass der einzige wirkliche Fortschritt im moralischen Fortschritt der Menschen liegt, wie er 1993 in seiner Rede an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats am 14. September 1993 (57) sagt: „Fortschritt? Gültig kann nur ein einziger sein: die Summe der geistigen Fortschritte der einzelnen Menschen, der Grad der Selbstvervollkommnung auf ihrem Lebensweg.“

Ohne diesen geistig-moralischen Fortschritt, wie er in derselben Rede (55) sagt, gilt das Wort des russischen Philosophen Nikolai Losskij: „Wenn eine Person nicht auf überpersönliche Werte hin ausgerichtet ist, dann dringen in sie unvermeidlich Verderbnis und Verfall ein.“

Mit seinen Äußerungen enttäuscht Solschenizyn die russischen Liberalen. In seinem Versuch, die moderne russische Politik zu beeinflussen, trifft sich der prominente Schriftsteller 1994 mit Präsident Jelzin und 2000 mit Präsident Putin. Als Jelzin ihn auf seine eigene persönliche Anordnung hin 1998 mit dem Oden des Heiligen Andreas des Erstberufenen (Andreas-Orden), einer der höchsten staatlichen Auszeichnungen Russlands, ehren will, lehnt Solschenizyn ab. Aus der Hand von Präsident Putin nimmt er 2007 den Russischen Staatspreis entgegen mit der Begründung, dieser Preis sei von einer Expertengruppe, angesehenen und respektablen Forschern und Kulturschaffenden, nicht von einer Staatsmacht vergeben worden.

Im Jahr 1997 wird Alexander Solschenizyn als Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaft aufgenommen.

Für Solschenizyn bleibt der moralische der wichtigste Wert und er mahnt die Gesellschaft, ihren moralischen Zustand zu bessern: „Wenn das Gewissen nicht geweckt wird, rettet uns keine fortgeschrittene Wirtschaft.“ Damit berühren wir den Schwerpunkt seiner Werke: die Bewahrung der menschlichen Seele im Totalitarismus und den inneren Widerstand der Person gegenüber dem Bösen. Nach der Tradition der klassischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts werden die tragischen Schicksale der handelnden Personen in seinen Werken im Lichte des moralischen und christlichen Ideals erfasst. Das philosophische Konzept von Alexander Solschenizyn kann mit Hilfe von zwei Begriffen dargestellt werden: organischer Staatsaufbau und Christentum als Grundlage der persönlichen und gesellschaftlichen Ethik.

Letzten Endes Sieger gegen den Kommunismus, war der tiefreligiöse orthodoxe Christ Alexander Solschenizyn einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, ein unerschütterlicher Kämpfer für das Gute und für die Wahrheit. Dazu kann man nur zwei Zitate vom Schriftsteller anführen: „Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt“ (aus seiner Nobelpreisrede) – und: „Niemand kann die Wege der Wahrheit verhindern, für ihre Vorwärtsbewegung bin ich bereit zu sterben“ (aus seinem Brief an den Kongress der sowjetischen Schriftsteller).

Als einer der letzten moralischen Propheten unserer Zeit hatte Alexander Solschenizyn ein schweres, aber glückliches Leben, weil es ihm gelungen ist, sein Ziel, die Enthüllung der Wahrheit über den Kommunismus, zu erreichen und weil er über die Zeit seiner Gefangenschaft, seiner Verfolgung und seines Totgeschwiegenwerdens hinaus ein Zeuge für die Wahrheit geblieben ist und so jenen geistig-moralischen Fortschritt verkörpert, den er als den einzigen wahren Fortschritt erkannt hat.

Alexander Issajewitsch Solschenizyn wurde am 6. August 2008 auf dem Friedhof des Donskoj Klosters in Moskau beigesetzt. Möge er in jenen wahren Frieden, die Ruhe in der Ordnung und in der Wahrheit einkehren, von denen er uns 1993 so beredt in Liechtenstein gesprochen hat!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2008
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] „August Vierzehn“ wurde 1971 in Paris veröffentlicht und ist der erste Teil der bis heute nur teilweise in deutscher Sprache erschienenen mehrbändigen historischen Romanserie „Das rote Rad“.
[2] Russische Abkürzung für Glawnoje Uprawlenije Isprawitelno-trudowych LAGerej i koloniy – deutsch: Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager.

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