Erzbischof Zollitsch verteidigt den Papst

Schon vor der Veröffentlichung des Papstbriefes an die Katholiken in Irland wies der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, die Kampagne der Medien gegen Benedikt XVI., der sich angeblich in Schweigen hülle, entschieden zurück. „Bei der Mär vom schweigenden Papst“, so Zollitsch, „wird übersehen, dass es nicht den Papst für Deutschland und nicht den Papst für Spanien gibt. Es gibt nur den einen Papst für die weltweite Kirche. Folglich muss Benedikt XVI. klug abwägen, wann er wo und zu wem was in welcher Form sagt. Schnell sind Forderungen in den Raum geworfen, der Papst müsse zum deutschen Problem Stellung beziehen, weil er Deutscher sei. Das ist ebenso kurzsichtig wie oberflächlich. Das Oberhaupt der katholischen Kirche muss Worte für den schrecklichen Missbrauch an Minderjährigen finden, die in aller Welt gehört werden und die allen gelten, auch wenn sie in einem bestimmten Land gesprochen werden. Er hat sie gefunden. Das Gewicht eines Wortes wächst nicht durch die Anzahl seiner Wiederholungen. Das gilt im Leben, in existentiellen Dingen ganz besonders.“ Nun betonte Zollitsch, der Hirtenbrief für Irland gelte eindeutig auch für Deutschland. Nachfolgend seine Bewertung und Zusammenfassung des päpstlichen Schreibens.

Von Erzbischof Robert Zollitsch

Botschaft auch an uns in Deutschland

Papst Benedikt XVI. wendet sich durch seinen Hirtenbrief mit eindringlichen Worten an die Katholiken in Irland. Was er ihnen sagt, hat Geltung für die ganze Kirche und ist eindeutig eine Botschaft auch an uns in Deutschland. Ohne Wenn und Aber verurteilt der Papst die schrecklichen Verbrechen, die an jungen Menschen begangen wurden, als Mitglieder der Kirche, besonders Priester und Ordensleute, sie sexuell missbrauchten. Seine schonungslose Analyse zeigt, dass sich der Heilige Vater dem Problem sexuellen Missbrauchs mit Ernst und mit großer Sorge stellt. Dabei beklagt er, dass häufig auf die „ausreichende menschliche, moralische, intellektuelle und geistliche Ausbildung in Seminarien“ viel zu wenig Wert gelegt wurde.

Heilung der Opfer hat Vorrang

Vorrang hat für den Papst die Perspektive der Opfer. Deshalb kritisiert er den zum Teil übermäßigen Täterschutz, den die Kirche häufig praktiziert habe. Wieder und wieder drängt er darauf, dass die Vorgaben der Justiz und des staatlichen Rechts einzuhalten seien. Vor allem aber müsse es, soweit das möglich ist, Heilung für die Opfer geben. Es sind ergreifende Worte, die Papst Benedikt XVI. findet, wenn er sich an die Opfer wendet und sie um Vergebung bittet: „Im Namen der Kirche drücke ich offen die Schande und die Reue aus, die wir alle fühlen.“

Deutliche Worte an die Täter

Besonders bewegen mich die deutlichen Worte des Papstes an die Priester und Ordensleute, die sich versündigt haben. Sie haben das Vertrauen junger Menschen aufs Schlimmste verletzt und müssen sich vor Gott und den Gerichten verantworten. Auch die Kritik des Papstes an den kirchlichen Autoritäten lässt keine Fragen offen. Wenn die bittere Wahrheit offen ausgesprochen wird, wirkt dies schmerzlich, aber auch befreiend. Ich bin für diese Worte dankbar.

Fehler der deutschen Bischöfe

Wir wissen, dass auch bei uns in Deutschland Fehler gemacht wurden. Wir deutschen Bischöfe haben solche Fehler bei unserer Frühjahrsvollversammlung in Freiburg deutlich erkannt und eingestanden. Wir dürfen Fehler nicht wiederholen und brauchen auch in Deutschland eine lückenlose Aufklärung und uneingeschränkte Transparenz. Daran arbeiten wir in allen Bistümern. Deshalb verstehe ich die Mahnung des Papstes an die Bischöfe in Irland zugleich auch als Mahnung an uns. Der Skandal sexuellen Missbrauchs ist kein bloß irisches Problem, er ist ein Skandal der Kirche an vielen Orten und er ist der Skandal der Kirche in Deutschland.

Deutung der Ereignisse aus dem Glauben

Der Brief des Papstes ist auch ein geistliches Dokument, das geistige und moralische Entwicklungen begreifen und aus dem Glauben deuten will. Der Papst ist geprägt von der Hoffnung, dass Gottes Liebe im Leben von Opfern und Tätern neue Anfänge möglich macht. Der Glaube motiviert vor allem dazu, die Wunden zu heilen, soweit dies menschlich möglich ist. – Mit herzlichen Worten wendet sich der Papst an die junge Generation Irlands und bittet sie eindringlich, trotz aller tragischen Erfahrungen nicht an der Kirche zu verzweifeln, sondern an ihrer Erneuerung mitzuwirken.

Gebet der Hoffnung – eine große Geste

Dazu trägt auch eine große Geste des Papstes bei: Er fügt seinem Brief ein Gebet der Hoffnung auf einen neuen Anfang bei, das er der Kirche in Irland widmet. Ich bitte die Gläubigen in Deutschland, sich dieses Gebet als Gebet auch für unser Land anzueignen. Wir gehen den Weg der Aufklärung und Aufarbeitung, den Weg des aufmerksamen Hinschauens und der Prävention. Es ist ein langer Weg, der Zeit braucht und Mühe kostet, den wir in manchem noch lernen müssen, aber wir werden keine Zeit verstreichen lassen. Der Heilige Vater ruft auch uns zu, dass wir diesen Weg der Heilung, Erneuerung und Wiedergutmachung ohne Angst und gläubigen Mutes gehen sollen.

 

Gebet für die Kirche in Irland

Zum Gebet Papst Benedikts XVI. schreibt Erzbischof Zollitsch: „Ich bitte die Gläubigen in Deutschland, sich dieses Gebet als Gebet auch für unser Land anzueignen.“ Es ist zu erwarten, dass eine offizielle Fassung des Gebets, die an die deutsche Situation angepasst ist, veröffentlicht wird.

Gott unserer Väter, erneuere uns im Glauben, der unser Leben und unsere Rettung ist, in der Hoffnung, die uns Vergebung und innere Erneuerung verheißt, in der Nächstenliebe, die uns reinigt und unsere Herzen öffnet, dass wir dich lieben und in dir jeden unserer Brüder und Schwestern.

Herr Jesus Christus, möge die Kirche in Irland ihre uralte Hingabe an die Bildung für junge Menschen zu Wahrheit und Güte, Heiligkeit und freizügigem Dienst an der Gesellschaft erneuern.

Heiliger Geist, Tröster, Anwalt und Lenker, erwecke einen neuen Frühling der Heiligkeit und apostolischen Eifers für die Kirche in Irland.

Mögen unser Leid und unsere Tränen, unsere ernsten Anstrengungen, vergangene Untaten wieder gut zu machen, und unsere feste Absicht der Besserung eine reiche Ernte der Gnade tragen für die Vertiefung des Glaubens in unseren Familien, Pfarreien, Schulen und Gemeinschaften, für den geistlichen Fortschritt der irischen Gesellschaft und das Wachsen in Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Freude und Frieden, in der gesamten Menschheitsfamilie.

Dir, dreieiniger Gott, vertrauend auf den liebenden Schutz Mariens, Königin Irlands, unserer Mutter, und des heiligen Patrick, der heiligen Brigid und aller Heiligen vertrauen wir dir uns, unsere Kinder und die Nöte der Kirche in Irland an. Amen.

Das Entsetzen über die „katholische“ Moral

Auch Weihbischof Dr. Andreas Laun reagiert mit Entsetzen auf die bekannt gewordenen Pädophilie-Skandale in der katholischen Kirche. Weder für den Missbrauch noch für das Vertuschen kennt er ein Pardon. Die Glaubwürdigkeit der Kirche als moralische Autorität gerät angesichts dieser Vergehen tatsächlich ins Wanken. Wo bleiben ihre hohen sittlichen Ideale? Als Scheinheiligkeit wird nun ihr Verhältnis zur Sexualität bezeichnet. Doch Weihbischof Laun begnügt sich nicht mit einem zerknirschten Schuldbekenntnis. Er zeigt umgekehrt die Heuchelei auf, mit der die Diskussionen in der Öffentlichkeit vielfach geführt werden. Geradezu absurd sind für ihn in diesem Zusammenhang die Forderungen nach einer „sexuellen Revolution“ in der Kirche.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Die katholische Kirche steht, zumindest in Europa und den USA, wie unter Schock angesichts der fast täglichen Meldungen über Kindes-Missbrauch durch Priester und andere Mitarbeiter der Kirche. Dazu kommt die Behauptung, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wolle die Kirche nur „vertuschen“. Von Seiten der Kirche überbietet man sich geradezu im Ausdrücken des Entsetzens über das, was geschehen ist, und wahr ist ja auch:

Es ist entsetzlich, was geschehen ist, sowohl durch Missbrauch als auch durch Vertuschen. Papst Benedikt XVI. selbst setzt sich im besonders schlimmen Fall von Irland mit den Bischöfen zum Krisen-Management zusammen. Und kaum jemand getraut sich, die Kirche irgendwie zu „verteidigen“, um nicht in den Verdacht zu kommen, er wolle das, was geschehen ist, verteidigen – verteidigen, was nicht zu verteidigen ist. Das kann und darf man auch wirklich nicht, aber eine tiefere Analyse des Problems ist etwas anderes als Vertuschen.

In diesem Sinn: Nicht wenige von denen, die die Kirche an den Pranger stellen, sind Heuchler. Denn erstens kosten sie es spürbar aus, die Kirche anklagen zu können. Von den Opfern ist dabei jedoch kaum die Rede: nicht davon, wie man ihnen wirklich helfen kann und wie gute Prävention funktionieren könnte. Auffallend ist auch, dass praktisch allein von katholischen Tätern gesprochen wird, nicht von solchen aus anderen Religionsgemeinschaften und auch nicht von jenen, die sich aus allen anderen Schichten der Gesellschaft rekrutieren.

Man tut so, als wüsste man nicht, dass es sexuellen Missbrauch nicht nur zu allen Zeiten der Geschichte, sondern auch bei allen Völkern quer durch alle Schichten der Gesellschaft gegeben hatte und gibt. Daher die Frage: Warum sind nur die katholischen Täter interessant? Was ist mit den anderen und vor allem: Was ist mit allen anderen Opfern anderer als katholischer Täter? Verdienen diese weniger oder gar kein Mitleid?

Vor Jahren entdeckte die Polizei drei Täter, die sich Kinder-Pornografie aus dem Internet heruntergeladen hatten: einer davon war ein Priester, einer war Richter, der Dritte Angestellter einer Behörde. In den Zeitungen genannt wurde nur der Priester. Warum wohl? Nur ausnahmsweise liest man Meldungen wie etwa diejenige: In den USA missbrauchte ein Kinderarzt mehr als hundert Kinder und bannte seine Taten auf Video.

Vor allem gilt es, eine „Strategie“ anzusprechen, die besonders deutlich macht, wie sehr bestimmte Leute in erster Linie am Beschmutzen der Kirche interessiert sind und nicht an der schlimmen Sache selbst, womit sie die Opfer im Stich lassen: In einer prominenten Zeitung Österreichs heißt es in diesen Tagen auf der ersten Seite: „Denkt doch einmal über die Sexualmoral nach!“ Dies als Denkanstoß, meint der Autor: Das „Riesenproblem der Kirche“ sei die „Unterdrückung der Triebe“ in der katholischen Kirche.

Und wie hieße dann die Lösung? Die Freigabe aller Triebe? „Hätte die sexuelle Revolution die Kirche erreicht, gäbe es dort vielleicht nicht so viele in ihrer natürlichen Sexualität gestörte Menschen, die vertrauensvolle Kinder als Ventil ihrer Triebe missbrauchen.“ Weiter gibt sich der Autor „erschüttert, mit welcher Hartnäckigkeit sich die Männer in Rom der Einsicht verweigern, dass Sexualität ein Konzept der Schöpfung und deshalb positiv ist“. Über das Leid, das dadurch entstehe, sollte der Vatikan, meint der Verfasser, endlich nachdenken.

Nun, es tut weh zu sehen, wie wenig der Autor am Problem selbst interessiert zu sein scheint. Weiß er wirklich so wenig über die Lehre der Kirche, hat er sich nicht die Mühe genommen, sie kennen zu lernen? Und die locker empfohlene „sexuelle Revolution“ – wie sieht denn deren „Moral“ aus? Im sog. Sexkoffer, der heute noch in vielen Schulen Österreichs als Grundlage der „Sexualerziehung“ herumliegt, gibt es nur drei klar erkennbare „Normen der ,Sexualmoral‘“: kein ungewolltes Kind, keine sexuell übertragbare Krankheit zuziehen, keine sexuellen Straftaten. Aus, das ist alles, alles andere ist offenbar in Ordnung, erlaubt und vielleicht sogar empfehlenswert – wohl als „Triebventil“, zur Sättigung der „natürlichen Triebe“, über deren Beherrschung man nicht reden muss: „Eh klar“ oder unnötig? Oder genügt dazu die genannte Angst-Motivation: kein ungewolltes Kind, Strafe, Krankheit? Ist das die Grundlage einer wunderbaren „Moral“ als Frucht der „sexuellen Revolution“? Wie unwirksam eine rein mit Angst begründete Moral ist, sollte eigentlich bekannt sein.

Zu unterscheiden wäre übrigens auch Triebverzicht und Triebunterdrückung. Sie sind nicht identisch. Zu fragen wäre zudem: Was sollte die Kirche im Sinne der sexuellen Revolution „ändern“? Das Nein zum Ehebruch, das Nein zur homosexuellen Praxis, das Nein zu einem Sexualleben mit wechselnden Partnern, das Nein zur Pornografie? Und weiter: Könnte die Kirche die „Moral ändern“, wenn sie im Sinn des oben zitierten Autors „nachgedacht“ hat? Glaubt irgendjemand ernstlich, dass es dann auf der Welt weniger sexuellen Missbrauch gäbe?

Um es klar zu sagen: Die Kirche lehrt die Gebote Gottes, sie hat keine Kompetenz, diese zu verändern, weil es Seine Gebote sind, nicht ihre. Und wenn jemand meint, sie hätte diese Gebote, die letztlich im Herzen jedes Menschen zu lesen sind, falsch interpretiert, dann müsste der Betreffende zeigen, dass er die kirchliche Lehre wirklich kennt, alles andere ist nicht seriös.

Daher: Natürlich hat der Augsburger Bischof Mixa recht, wenn er zu bedenken gibt, dass die seit der sexuellen Revolution übersexualisierte Gesellschaft das Übel des sexuellen Missbrauchs nicht nur nicht eindämmt, sondern sogar fördert, und zwar auch in der Kirche, weil sie auch in die Kirche eingedrungen ist und Christen infiziert hat.

Was wir brauchen, ist nicht weniger katholische Sexualmoral, sondern mehr: einerseits in Form ihrer besseren Vermittlung, andererseits im Nachdenken darüber, wie man denen, die in Kindern ein Sexualobjekt sehen, hilft, diese ihre Antriebe zu beherrschen, wie man ihre abwegige Neigung frühzeitig erkennen und sie darum von Berufen fernhalten kann, die eine „Gelegenheit“ böten: um die Kinder vor ihnen zu schützen und die potenziellen Täter vor sich selbst.

Die Kirche im Kontext des Missbrauchs wegen ihrer Lehre anzuklagen ist, als ob man die Feuerwehr als solche pauschal anklagen und abschaffen wollte, weil eines ihrer Mitglieder Feuer gelegt hat (was bekanntlich schon vorgekommen ist) oder andere Feuerwehrleute trotz Alarm nicht ausrücken wollten. Nein, was wir brauchen, ist eine umfassende Analyse des Problems, in der gefragt werden muss nach den Ursachen, nach gefährdeten Tätergruppen, nach gefährlichen Ideologien, nach Möglichkeiten der Prävention, nach Hilfe für die Opfer und auch danach, wie mit den Tätern zu verfahren ist.

Die einseitige Beschimpfung der Kirche wird keinem Kind helfen, zumal die katholische Kirche derzeit wie kaum eine andere Institution oder Religion darum bemüht ist, sich dem Problem zu stellen: mit tiefer Scham über das, was manche ihrer Mitglieder getan oder geduldet haben, aber auch mit einem starken, problemorientierten Willen, für eine bessere Zukunft zu sorgen. Wer nur von Katholiken redet und nur auf sie die Aufmerksamkeit lenkt, der lenkt von den vielen anderen Tätern und Täter-Milieus ab, er dient dem Vertuschen und Verdrängen, das ja eine allgemein menschliche Versuchung ist, und bedient die Kirchenfeinde.

Das ist auch eine „Haltet den Dieb“-Strategie. Da niemand, keine Religion, kein Staat und keine andere menschliche Einrichtung dies verhindern kann, dass es Menschen mit pädophilen Neigungen gibt und geben wird, auch nicht, dass manche von ihnen ihrem Trieb nachgeben und sich an Kindern vergreifen, muss das Ziel aller Menschen klaren Wissens und guten Willens sein, das Übel, wie andere Sünden und Verbrechen auch, durch Prävention, Abschreckung, Strafe und moralische Unterweisung so klein wie möglich zu halten. Das ist weniger, als wir alle uns wünschen, aber es ist das, was möglich ist, und das, was wir vor Gott und unserem Gewissen verpflichtet sind zu tun. Mit der Hilfe Gottes, entsprechend Seinem Gebot.

Acht Gesichtspunkte zum Missbrauchsskandal

Die katholische Kirche wird durch die Missbrauchsskandale in ihrem Innersten erschüttert. Gott scheint die Angriffe von außen zuzulassen, um ans Licht zu bringen, was sich im Verborgenen an Unheilvollem entwickelt hatte. Es ist ein schmerzhafter und doch notwendiger Prozess der Reinigung und Heilung. Gleichzeitig aber birgt der Sturm, der durch das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle losgebrochen ist und nun über die Kirche hinwegfegt, auch eine Chance für die ganze Gesellschaft. Die Öffentlichkeit könnte sich so mancher Irrwege bewusst werden, auf welche sie im Zug der sog. „sexuellen Revolution“ geraten ist. Damit jedoch diese Gelegenheit nicht ungenützt verstreicht, so zeigt Weihbischof Dr. Andreas Laun auf, darf nicht wieder auf neue Weise „vertuscht“ werden.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Ein Priester wurde bereits auf offener Straße angespuckt, Opfer an Stelle der Täter aus dem Kreis seiner Mitbrüder! Was lässt sich nach all der Scham und Bestürzung, nach allen Entschuldigungen für das, was geschehen ist, und nach aller Bekundung guter Vorsätze für künftige Sorgfalt und Prävention heute noch sagen über die sexuellen und anderen Übergriffe katholischer Priester und Ordensleute? All das zu wiederholen, was schon oft gesagt wurde, hat wenig Sinn. Anzusprechen sind hingegen die Themen und wichtigen Fragen, die in der Diskussion unterbelichtet blieben:

Erstens ist es auch eine Form von Verdrängung und ein „Vertuschen“ der anderen Art, wenn man nur „katholische“ Täter ins Visier nimmt und an den medialen Pranger stellt, alle anderen Täter hingegen nicht! Verdienen denn nur diejenigen Kinder, die Opfer katholischer Täter geworden sind, Mitleid, nicht aber alle anderen auch – oder gibt es diese etwa nicht? Sexueller Missbrauch ist, sagte kürzlich Alice Schwarzer, „keine Erfindung katholischer Priester“! Missbrauch ist doch ein düsteres Problem, das alle Gesellschaftsschichten betrifft! Es gibt, wer wüsste das nicht,  keine Organisation, die nicht ab und zu im eigenen  Keller nach „Leichen“ suchen und sich angesichts der Entdeckungen beim Nachbarn jeder Häme enthalten sollte. Und wer Belege braucht: Inzwischen sind bereits genug Beispiele von Missbrauch in nicht-kirchlichen Einrichtungen aufgedeckt worden, die bestätigen: Sexueller Missbrauch ist wahrhaft kein typisch „katholischer Tatbestand“! Wahr ist vielmehr: Die Katholiken und ihre Amtsträger sind, statistisch gesehen, sogar eine winzige Minderheit unter allen Missbrauchstätern. Das ist keine Entschuldigung, nur ein Faktum.

Zweitens ist es ein verdächtiges Symptom, dass sich diejenigen, die die größte Empörung dokumentieren, weigern, über die Gründe nachzudenken, die den bekannten Skandalen zugrunde liegen! Zu fragen ist: Sind die Gründe nur jene, die wie eine Konstante des Bösen zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte zu sexuellem Missbrauch führten, oder gibt es auch Gründe, die in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte liegen? Tatsächlich war die sexuelle Revolution wirklich eine Revolution – und der Missbrauch, von dem man heute redet, ist auch ein sexuelles Phänomen! Und da soll es keine Zusammenhänge geben oder sieht man sie nur nicht, weil es sie nicht geben darf? Seit der sexuellen Revolution wird Sex in fast allen Formen empfohlen, nicht nur den Erwachsenen, ja er wird den Menschen geradezu abverlangt. Über die Notwendigkeit, oft und oft auf sexuelles Verlangen auch verzichten zu müssen, spricht man nicht, Enthaltsamkeit ist verpönt oder lächerlich. Man muss nicht Psychologie studieren, um zu verstehen: Menschen, denen fast immer nur Trieberfüllung und praktisch nie Triebverzicht empfohlen wird, Menschen, die im Klima der Früh- und Total-Sexualisierung aufgewachsen sind, sind in der Situation, die man früher „Versuchung“ nannte, ziemlich hilflos ausgesetzt – und es gibt eben auch pädophile Versuchungen, wie immer sie entstanden sein mögen!

Drittens fehlt in der Diskussion eine Bestimmung  dessen, was „sexueller Missbrauch“ ist, welche Unterschiede es dabei gibt und wie diese zu verstehen und zu werten sind. Zu fragen wäre insbesondere auch: Gibt es nicht auch einen verbalen Missbrauch, insbesondere in Form der sogenannten „Aufklärung“, wie sie heute gesetzesmäßig in den Schulen praktiziert wird und war im Sinn jener Unmoral, die mit der sexuellen Revolution die Köpfe und Herzen der Menschen weitgehend erobert hat? Wenn man in der Schweiz Kondome für 12-Jährige auf den Markt bringen will, steht das Projekt sicher in Verbindung mit einer entsprechenden Anleitung. Damit die 12-Jähringen statt Fußball zu spielen an Sex denken, Sex probieren und sex-süchtig werden? Auch das ist Missbrauch, auch das hindert die Kinder in ihrem Herzen zu „lesen“, was Gott auf ihr Herz über Liebe und Ehe und Glück geschrieben hat!

Viertens hat man bei vielen, die jetzt den Missbrauch in der Kirche beklagen den Eindruck: Es geht ihnen nicht sosehr um die Opfer, sondern um die Gelegenheit, die verhasste Kirche zu demütigen und ihre Autorität zu zerstören! Die Opfer werden auf diese Weise missbraucht, zu Instrumenten des Kichenkampfes gemacht! Was den Hass betrifft, erinnern die Kritiker zum Teil an J. Göbels, dem es nicht um die Kinder ging, sondern darum, mit „Sittlichkeits-Prozessen“ die Kirche zu schädigen – und auch er hatte nicht alle Fälle frei erfunden! In diesem Sinn muss man sagen: Obwohl die „Fälle“ echt sind, ist die Empörung teilweise pure Heuchelei und Lüge!

Fünftens: In das Reden über den Missbrauch mischten sich von Anfang an Berichte über harte bis grausame Bestrafungsmethoden. Auch mein eigener Vater wusste von der Brutalität eines seiner Lehrer zu erzählen, die ihn bis ins hohe Alter hinein verfolgte. Er hat seine Erfahrung in seiner Autobiographie „So bin ich Gott begegnet“ eindrucksvoll beschrieben! Allerdings: Strenge Erziehungsmethoden wurden in der damaligen Gesellschaft weitgehend für selbstverständlich und richtig gehalten, bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, ohne dass man dabei allzu genau über die Grenze zwischen streng, zu streng und sadistisch nachdachte! Sexueller Missbrauch und Erziehungsmethoden sind zwar je etwas anderes, aber sie haben, das ist nicht zu leugnen, auch einen gemeinsamen Nenner: In beiden Fällen geht es um Missbrauch der Überlegenheit des Erwachsenen. Aber so gut es ist, auch über brutale „Erziehungs-Methoden“ zu sprechen: Menschen, die sich darüber empören und gleichzeitig Abtreibung für ein Menschenrecht halten, sind Heuchler oder moralisch Blinde!

Sechstens: In der Diskussion wird immer auch der Zölibat angesprochen, ohne dass die dahinterliegende, absurde Behauptung ausgesprochen wird: „Ohne Zölibat gäbe es weniger sexuellen Missbrauch!“ Das ist schlicht nicht wahr, es lässt sich weder empirisch belegen noch durch eine psychologische Logik bezüglich der Motivation des Menschen glaubhaft machen: Ob ein Mann mit oder ohne Frau lebt, ändert nichts an seinen sexuellen Sehnsüchten! Wenn er keine Frau hat, wird er vielleicht in Sehnsucht „brennen“, wie sich Paulus ausdrückt, aber sein brennendes Verlangen wird einer Frau gelten, nicht einem anderen Mann und erst recht nicht einem Kind! Dass es in seltenen Fällen auch zu homosexuellen oder eben auch pädophilen Ersatzhandlungen kommen kann, ist damit nicht bestritten, aber das sind kranke Sonderfälle, nicht die Regel! Die Theorie, der Zölibat sei ursächlich für Kindesmissbrauch verantwortlich, würde voraussetzen: „Sex muss sein, Sex immer und überall, das Wie richtet sich nach den Möglichkeiten!“ Wäre es so, könnte man auch homosexuelle bzw. pädophile Neigungen durch Frau und Ehe „heilen, indem man das sexuelle Verlangen einfach umleitet! „Frau statt Sex mit Kindern“? Was für ein absurdes, krankes Menschenbild! Alice Schwarzer hat auch in diesem Punkt Recht: Der Missbrauch hat „nichts mit dem Zölibat zu tun“! Aufgestautes Wasser sucht sich einen anderen Weg, unerfüllte Sehnsucht bleibt unerfüllte Sehnsucht auch als Geschenk an Gott, während gleichzeitig die Sehnsucht nach Ihm das Herz erfüllen und glücklich machen kann!

Siebtens: Nicht Vertuschen: Der alles übertönende Schlachtruf gegen die Kirche lautet: Nicht mehr Vertuschen! Und wahr ist, so mancher Missbrauch in der Kirche konnte geschehen, weil die Verantwortlichen nicht hinschauten und nicht handelten, wenn sie eigentlich sahen! Zuzugeben ist, früher war man sich der Tragweite des sexuellen Missbrauches nicht bewusst, man unterschätzte die Folgen für die Opfer. Das mag als Milderungsgrund für die Verantwortlichen gelten, Entschuldigung ist es nicht! Also, nicht hinschauen und nicht vertuschen bleibt der Imperativ für die Kirche und auch für die Welt. Aber nicht vertuschen heißt auch nicht: Wendet euch an die Presse, es heißt nur: Hinschauen und situationsgerecht handeln. Gegenüber den Verantwortlichen der Kirche muss man hinzufügen: Die Wachsamkeit darf nicht erst dem „handfesten“ Missbrauch gelten, sie muss bei der Lehre beginnen, die vielen gängigen „Häresien“ bezüglich der Sexualität dürfen in der Kirche nicht geduldet werden, sie sind auch ein „Missbrauch“ gegenüber dem Volk Gottes. Sie zu dulden ist auch ein Skandal, der nicht vertuscht werden darf!

Achtens: Denen, die jetzt die Kirche verlassen wegen dieser Missbrauch-Skandale, deren Schrecklichkeit nicht weggeredet werden darf, muss man dennoch, trotz aller Schrecklichkeit, sagen: Wie traurig! Ihr habt leider nicht verstanden, was gläubige Menschen an die Kirche bindet: In der Kirche hat es immer Heilige gegeben, aber die Sündenlosigkeit aller Christen wurde nie behauptet noch hat es sie je gegeben! Grund unseres Glaubens und Grund unserer Unerschütterlichkeit ist nur Jesus Christus, der ohne Gefahr und ohne Lächerlichkeit sagen konnte: Wer kann mich einer Sünde zeihen! Im Übrigen gilt: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?“ Hier könnte man einfügen: „Skandale in der Kirche“? Paulus fährt fort: „Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat.  Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,35ff).



Geheimnis der priesterlichen Berufung

Prof. P. Dr. Karl Wallner OCist von der Zisterzienserabtei Stift Heiligenkreuz bei Wien ist überzeugt, dass wir einen neuen Frühling geistlicher Berufungen erwarten dürfen. Voraussetzung sei allerdings, dass wir alle unseren Beitrag dazu leisten. Diesen sieht Pater Wallner an allererster Stelle im glaubensvollen Gebet. Denn für ihn ist die Berufung zum Priestertum ein reines Geschenk der Gnade, ein Einbrechen des Göttlichen in das konkrete Leben von Menschen. Dabei legt P. Wallner auch ein persönliches Zeugnis darüber ab, wie er selbst den bewussten Verzicht auf Ehe und Familie erlebt.

Von Karl Wallner OCist

Die Kirche erlebt im „Jahr der Priester“ eine reinigende Läuterung. Eben deshalb, weil es Böses und Misslungenes gibt, müssen wir uns dem Guten und Heiligen zuwenden, das im Priestertum Jesu Christi steckt. Denn das Priestertum ist keine Erfindung der Kirche, sondern ein Geschenk Gottes. Im Priestertum setzt sich die Sendung, die Christus seinen Aposteln gegeben hat, in der Verkündigung des Glaubens, im Dienst der Fürsorge und in der Heiligung durch die Sakramente fort. Weil das Priestertum eine göttliche Gabe ist, muss uns in Zukunft noch mehr die Frage umtreiben: Was können wir, was müssen wir tun, um gute Priester- und Ordensberufe zu erhalten? Und zwar geht diese Frage an alle, nicht nur an die Bischöfe und Pastoralverantwortlichen, an „die da oben“, sondern an wirklich alle, die durch Taufe und Firmung zur katholischen Kirche gehören.

„Gnadenlose“ Sicht der Kirche

Das erste ist die Überwindung der Grundhäresie, durch die wir derzeit alle verseucht sind: Sie besteht in einer oberflächlichen und daher „gnadenlosen“ Sicht der Kirche. Ja, in unserer Kirche läuft vieles, und vieles läuft auch gar nicht schlecht. Ich habe bei meinen Kontakten mit den Menschen aus dem Bereich der Medien immer wieder festgestellt, dass sie einen riesigen Respekt vor der Kirche haben. Nirgendwo gibt es ja eine weltliche Institution, eine Firma oder ein Unternehmen, das so lange und so erfolgreich besteht wie die katholische Kirche. Aber eben darin liegt auch für uns in der Kirche die Gefahr, dass wir uns zu weltlich sehen. Joseph Ratzinger hat für das, was ich die Grundhäresie unserer Zeit nennen möchte, in den 90er-Jahren den Begriff des „Neo-Pelagianismus“ verwendet. Pelagius war ein genialer Pädagoge und ein glühender Asket im 5. Jahrhundert. Ein Feuerkopf, der den christlichen Glauben glühend predigte und lebte, dabei aber auf das Entscheidende vergaß: auf die Gnade! Dass alles Göttliche wirklich „von oben“ absteigt, ein Geschenk ist, das Gott gibt. Gott-sei-Dank hat damals im 4. Jahrhundert der hl. Augustinus die Gefahr erkannt, die in der vermeintlichen Tugendhaftigkeit und Perfektion des Pelagius lag: Eine Kirche, die nicht auf Gott vertraut, die nicht alles von Gott erwartet, sondern aus den eigenen Fähigkeiten, der eigenen Pädagogik, dem eigenen Management, der eigenen Organisationskompetenz…, eine solche Kirche ist nicht die Kirche Gottes, denn sie ist „gnadenlos“. Dass man mich nicht falsch versteht: Ich lehne es nicht ab, dass wir nicht das Wissen und Know-how einbeziehen sollen, das uns die schlauen und oft sogar „schlaueren Kinder dieser Welt“ (Lk 16,8) beisteuern. Im Gegenteil: Da können wir tatsächlich viel lernen. Ich fürchte aber, dass uns vielfach die Grundhaltung abhanden gekommen ist, dass Christus selbst der Herr ist, der die Kirche gnadenvoll leitet. Wenn wir die Kirche selber „machen“ wollen, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass sie so schwach ist, wie wir Kirchenmenschen eben selber schwach sind… Die Kirche ist mehr als ein religiös, humanitär und sozial engagierter Apparat: sie ist das Instrument, durch das Gott Göttliches – und damit „Über-Natürliches“ – in diese Welt hineinwirken möchte.

Predigt: Gotteswort im Menschenwort

Dazu ein Beispiel: Warum besteht das Lehramt sosehr darauf, dass die Predigt dem geweihten Dienstamt, also dem Priester und dem Diakon vorbehalten bleibt, wo es doch vielleicht Laien, Männer wie Frauen, gäbe, die viel bessere Reden halten könnten, die theologisch oder zumindest rhetorisch viel besser geschult sind als so mancher Pfarrer? Der Grund dafür liegt in eben dieser Überzeugung, dass die Predigt nicht nur eine getüftelte und emotionalisierende menschliche Rede über Gott ist, sondern dass hier – kraft der Weihe – Christus selbst zu Wort kommen möchte. Dass er im Subjekt der Predigt, im geweihten Bischof, Priester und Diakon, in einer übernatürlichen Weise anwesend sein möchte. Wieder muss ich betonen: Das heißt nicht, dass unsere Priester und Diakone nicht bestens – und vielleicht besser, als sie es manchmal sind – für den Predigtdienst geschult sein müssen! Die Predigt bei der Hl. Messe ist aber mehr als Menschenwort über Gotteswort, sie ist Gotteswort im Menschenwort. Das Wort Gottes wird durch einen ausgelegt, der selber existentiell durch die Weihe ganz von Gott in Besitz genommen ist, sodass das Wort Christi gültig wird: „Wer euch hört, der hört mich!“ (Lk 10,16).

Mysterium der Selbstoffenbarung Gottes

Und darum brauchen wir Priester. Priester sind Menschen, die von Gott gerufen worden sind. In der Berufung zum Priestertum – und hier schließe ich immer alle anderen Stände des geistlichen Lebens mit ein – kommt die Grundstruktur des christlichen Glaubens zum Ausdruck, denn das Wort Jesu gilt auch heute: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt!“ (Joh 15,16). Christentum ist nicht eine Religion, die sich aus eigener Phantasie und Vorstellungskraft ein Gottesbild zusammenreimt, sondern Christentum ist die Religion, die unter dem Mysterium der Selbstoffenbarung Gottes steht. Gott, und das ist der springende Punkt, ist von sich her in diese Welt eingebrochen: im Alten Testament durch die Propheten, im Neuen Testament, indem er selbst Mensch geworden ist. Christentum ist Gott zu uns. Lesen wir doch aufmerksam das Alte Testament, wo Gott Menschen wie Abraham, Mose, Jesaja, Jeremia, Amos und wie sie alle heißen, unvermittelt und überraschend anspricht. Gott kommt überraschend! Welch ein Unterschied übrigens zur östlichen Meditation, die mit psychologischen Techniken die Erfahrung des Göttlichen von sich aus einholen möchte. Der biblische Prophet wird immer unerwartet und unberechnend von Gott getroffen. Er ist überrascht und überwältigt. Das setzt sich fort bis hin ins Neue Testament, wo auch Maria „erschrickt“, als sie von Gott angesprochen wird. Das unerwartete Element des Rufes Gottes ist besonders eindrucksvoll in der Berufungsgeschichte des jungen Samuel im Tempel von Schilo (1 Sam 3) geschildert. Dreimal wird der junge Samuel mitten in der Nacht von Gott angerufen: „Samuel, Samuel“. Dreimal kommt dem Samuel gar nicht in den Sinn, dass es Gott sein könnte. Er glaubt vielmehr, der alte Priester Eli habe ihn gerufen und weckt diesen aus dem Schlaf. Doch Eli kann nur sagen: „Ich habe Dich nicht gerufen!“, bis dann am Schluss klar ist: Es ist die Stimme Gottes und Samuel antwortet: „Rede, Herr, Dein Diener hört!“

Berufung als unwiderleglicher Gottesbeweis

Im Ruf Gottes liegt also etwas ganz und gar Erhabenes, eine Art unwiderleglicher Gottesbeweis. Priestersein ist nicht ein Job, den man sich aussucht; es ist auch nicht eine bloße altruistische oder religionsfaszinierte Leidenschaft, die man so auslebt. Es ist ein Geschenk, das über einen verfügt wird. Jeder, der diese göttliche Verfügung erfahren hat, erschaudert. Bei Martin Buber, dem jüdischen Philosophen, habe ich eine Erzählung gefunden, in der die Berufung von Rabbi Mendel zum „Rabbi“ geschildert wird. Auch hier strahlt die Erhabenheit des göttlichen Rufes in ein Amt auf, das nicht menschlich ist: „Ein Mann kam zu Rabbi Mendel und bat, ihm zu bestätigen, dass er zum Rabbi berufen sei: er fühle sich auf dieser Stufe angelangt und fähig, Segen über Israel zu gießen. Der Zaddik sah ihn eine Weile schweigend an. ‚Mich‘, erzählte er dann, ‚pflegte in der Jugend um jede Mitternacht die Stimme eines Mannes mit dem Ruf zu wecken: ‚Mendel, steh auf, die Mitternachtsklage zu verrichten!‘ Die Stimme war mir vertraut geworden. Aber eines Nachts geschah es, da kam ein anderer Ruf: ‚Rabbi Mendel‘, so sprach es, ‚steh auf, die Mitternachtsklage zu verrichten!‘ Der Schrecken erfasste mich, ich zitterte bis zum Morgen und noch tagsüber peinigte mich der Schrecken. ‚Vielleicht habe ich falsch gehört‘, beschwichtigte ich mein Herz. Aber in der nächsten Nacht sprach es wieder: ‚Rabbi Mendel!‘ Von da an kasteite ich mich vierzig Tage lang und betete unablässig, dass es von mir genommen werde. Aber das Tor des Himmels blieb mir verschlossen, und die Stimme ließ nicht ab. Da ergab ich mich drein."[1]

„Wer es fassen kann, der fasse es!“

Unser Gott ist auch heute nicht verstummt, er redet auch heute, er ruft auch heute Menschen in seinen Dienst. Wir brauchen Priester schon deshalb, weil sie uns zeigen, dass Gott auch heute – und gerade heute – wirklich und real in die Lebensgeschichte von Menschen hineinrufen und eingreifen kann. Wie in den letzten 2000 Jahren. Unser Gott ist keineswegs nur eine erdachte Geschichte, die beamtete Religionsdiener erbaulich erzählen können, unabhängig davon ob sie wahr ist oder eben nur eine Geschichte. An jedem Priester wiederholt sich konkret, was vor 2000 Jahren am Seeufer von Galiläa begonnen hat. Damals, so berichten uns alle vier Evangelien, wurden einige Fischer, gestandene Männer, mitten in ihrer Alltagsarbeit plötzlich von einem Ruf getroffen. Diese Fischer hören die schlichten Worte: „Kommt her, folgt mir nach!“ So schlicht diese Worte auch klingen, so wuchtig schlagen sie doch ein in der Lebensgeschichte dieser Männer, die von außen her betrachtet sehr unvernünftig reagieren: Sie lassen ihre Boote, ihre Netze, ihren Beruf, ihre Familien buchstäblich liegen und stehen. Unvernünftig? Nein, es ist das einzig richtige: Sie folgen dem Rufer nach, denn es ist ein göttlicher Rufer, der sie da getroffen hat. Die berufende Gnade Gottes ist immer unfasslich: Jesus wird einmal sagen: „Wer es fassen kann, der fasse es!“ (Mt 19,12).

Unterstützung des Zölibats durch die Gläubigen

Zur scheinbaren „Unvernunft“ dieser göttlichen Berufung gehört auch die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen. Ich muss hier auch ehrlich sagen, dass mir der Kampf gegen den Zölibat, dem sich viele kirchenintern engagierte Menschen regelrecht verschrieben haben, unverständlich ist. Und ich gestehe, dass ich darunter leide, dass diese Lebensform, die mir aus Liebe zu Gott ja viel abverlangt, nicht nur in der weltlichen Öffentlichkeit unter bestimmte Generalverdächtigungen gestellt wird, sondern dass sie vielfach auch von Kirchen-Christen nicht geschätzt wird, denen ich ja gerade nur deshalb dienen kann, weil ich im Zölibat lebe. Denken die Leute wirklich ernsthaft nach, die da permanent fordern: „Schafft doch den Zölibat für die Priester ab, dann sind alle Probleme erledigt?“ Ich habe den Ruf Gottes zum Priestertum als Jugendlicher als etwas sehr Umwälzendes erlebt, als ein wirkliches Getroffenwerden in meinen Lebensplänen, die ganz anders waren. Ich bin erschauert, ja ich war schockiert bei dem Gedanken, ehelos und familienlos leben zu sollen. Und zugleich war es mir klar, dass eben in dieser Herausforderung ein wichtiger Aspekt des Göttlichen dieses Rufes lag: nur Gott kann so etwas einem Menschen zumuten, und wenn er es mir zumutet, dann wird er schon alles so richten, dass es geht. Heute, nach 22 Priesterjahren, kann ich fröhlich sagen, dass all das Schwere des Verzichtes aufgewogen worden ist durch ein Übermaß an Liebe und Gnade, das Gott mir geschenkt hat. Jesus hat recht, wenn er denen, die er aus allen Bindungen herausruft, die Verheißung gibt: „Jeder, der um des Reiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinder verlassen hat, wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten und in der kommenden Welt das ewige Leben“ (Lk 18,29f.). Ein großer Schritt zugunsten geistlicher Berufe wäre schon getan, wenn die Gläubigen uns Priester wieder in unserer Lebensform stützten: durch Gebet, durch Respekt, aber auch durch eine reine und respektvolle menschliche Wärme, die sich in Freundschaft, menschlicher Unterstützung und auch in Gesten der Sympathie äußern kann.

Existentielles Zeugnis des Priesters

Eine Grundhäresie der heutigen Zeitgeistmentalität lautet: Die Religionen, auch die christliche, erzählen großartige und erbauliche und durchaus Lebenssinn-stiftende Geschichten über Gott. Aber eben nur „Geschichten“. Hier widerspricht der christliche Glaube diametral, und hier legt das katholische Priestertum Zeugnis davon ab, dass Gott nicht nur eine Funktion unserer Vorstellung ist. Gott ist nicht bloß eine schöne Idee, er ist nicht bloß die nette kollektive Suggestion einer religiösen Gruppe. Wir Kirchenleute erzählen nicht bloß hübsche Märchen über Gott, sondern wir Priester bezeugen mit unserem Leben, mit unserer Existenz einen Gott, der sich uns zu erkennen gegeben hat, weil er selbst in unsere Lebensgeschichte eingebrochen ist: Wir bekennen nicht nur mit unseren Lippen, sondern bezeugen mit unserem Leben, dass Gott die Macht hat, mit seinem „Folge mir nach!“ alles auf den Kopf zu stellen.

Neuer Frühling der geistlichen Berufe

Was können wir alle zusammen tun, damit wir wieder Berufungen haben? Ich wiederhole: Wir müssen alle wieder Gott mehr zutrauen! Wir müssen nicht nur mit den Lippen um Priester und Ordensberufungen beten, sondern wir müssen auch überzeugt sein, dass Gott die Macht und den Willen dazu hat, der Kirche einen neuen Frühling an Berufungen zu schenken. Es gibt viele Berufungen! Ich erlebe das als Rektor einer Hochschule, an der weit über hundert Ordensleute und Priesteramtskandidaten studieren und wo sich wöchentlich junge Männer und Frauen melden, die so etwas wie einen Ruf im Herzen spüren. Gott ist heute genauso wenig stumm, wie er es in den letzten 2000 Jahren war. Um Gott müssen wir uns nicht sorgen: Er wird immer rufen, berufen, herausrufen. Er wird immer mit göttlicher Souveränität „die rufen, die er wollte“. Unsere Sorge muss uns selbst gelten: Was wir dazu beitragen, dass dieser Ruf besser gehört und angenommen wird. Und dazu müssen wir uns alle viel stärker unter die Gnadenmacht Gottes stellen. Jesus hat ausdrücklich den Befehl erteilt, dass wir bitten sollen, dass der Herr Arbeiter in seine Ernte sendet. Denn die Ernte, so sagt der Herr, sei groß. Ich bin selber einmal tief beschämt worden, als mir während eines Jugendgebetes spontan der Gedanke kam, dass ich Jesus doch um 10 Novizen bitten sollte. Ich habe diese Bitte beim freien Gebet mit 300 Jugendlichen laut ausgesprochen – und ärgerte mich im nächsten Augenblick über meine Blödigkeit. Denn 10 Novizen, das sind so unrealistisch viele, dass ich mich danach schämte, eine so „naive“ Bitte vor Gott getragen zu haben. Doch was passierte? Im nächsten Jahr hatten wir in Heiligenkreuz 11 Novizen…

Seither ist es mir ein Anliegen, dass wir im Bezug auf die geistlichen Berufe das Wort des Engels an Maria ernster nehmen müssen: „Bei Gott ist nichts unmöglich!“ Der erste Schritt dazu ist, dass jeder von uns sich ganz „anti-pelagianisch“, also mit einem unermesslichen Vertrauen, unter die Gnade Gottes stellt. Wir müssen – bei Einsatz all unserer Kräfte und Talente – immer alles ganz von Gott erbitten, dann werden wir unsere Wunder erleben und einen neuen Frühling der geistlichen Berufe.


[1] Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, 12. Auflage: Zürich 1992, 584.

Seid Adler, nicht Hühner!

P. Notker Hiegl OSB trat am 1. April 1964 in die Benediktiner-Erzabtei St. Martin in Beuron ein und wurde später vom Ordensoberen in der örtlichen Pfarrei als verantwortlicher Seelsorger eingesetzt. In einem sehr persönlich gehaltenen Zeugnis versucht er, das Geheimnis seiner monastischen Berufung in Worte zu fassen. Es gelingt ihm, den Leser mit seinen poetisch und mystisch klingenden Ausführungen an den faszinierenden Erfahrungen eines beschaulichen Klosterlebens teilhaben zu lassen.

Von Notker Hiegl OSB

In den „Confessiones“ („Bekenntnissen“) des Aurelius Augustinus spiegeln sich gewollt „Eigenes und Allgemeines“, bekennend preisgegeben zur Verherrlichung Gottes. Ähnlich will ich mit meinem „Gestammel“ und „Geschreibsel“ die existentiellen Fragen der Lebensform in einem beschaulichen Kloster vorstellen. Was sollte ich sonst zum Ausdruck bringen, wenn nicht das, was mir selber durch das Herz ging, durch das Blut. Nur das, was durch mich selber hindurchgeflossen ist, kann ich im Hinblick auf andere Menschen in Worte fassen.

War es ein April-Scherz?

Es war an einem ersten April, da schickte ich nicht etwa jemand anderen ins „Abseits“, sondern ich stieg persönlich ein in das Wüsten-Wagnis der „Klausur“. Das Locken, das Drängen, das Rufen, das Suchen hatte einfach nicht aufgehört. Wiederum ein halbes Jahr später war das „Postulat“ zu Ende. Die Einkleidung zum Mönch, zum „Wüstenbewohner“ fand an einem 3. Oktober statt, dem damaligen Festtag der kleinen hl. Theresia von Lisieux. Während der Mönchs-Chor die alten lateinischen Weisen sang: „Hic accipiet benedictionem a Domino et misericordiam a Deo salutari suo (Er möge Segen empfangen vom Herrn und Barmherzigkeit von Gott, seinem Retter)“ und das bekannte „Ubi caritas et amor, ibi deus est (Wo die Güte und die Liebe wohnt, dort ist Gott)“, da wusch der Abt dem jungen Novizen die Füße, wie Christus es den Aposteln am Gründonnerstag vorbildhaft getan hatte. Danach warf sich der Novize mit dem Angesicht zu Boden und bat um die Aufnahme in die brüderliche Gemeinschaft. Die zivilen Kleider, das Jackett, der Pullover und die Krawatte wurden ausgezogen und unter begleitenden Gebeten die Ordenstracht, der Habit, der Gürtel und das Skapulier übergeben. „Lernen Sie das Joch Christi zu tragen und erinnern Sie sich der Mahnung des Apostels Paulus: Ziehet den neuen Menschen an, der nach Gottes Bild geschaffen ist, damit ihr wahrhaft gerecht und heilig lebt (Eph 4,24).“ Es folgte schließlich die Mahnung: „Rau und steil ist der Weg, den Sie begonnen haben zu gehen...“

Der Namenswechsel bei der Einkleidung

Bei derselben Zeremonie erhält der Novize einen neuen Namen, einen Klosternamen. Was bedeutet dieser Namenswechsel? Natürlich eine Art Ausstieg aus dem Alten, aus dem alten Menschen, aus der alten Existenz in eine neue hinein. Also eine Art Symbolhandlung. Im Grunde ist die Frage, wenn man in die „Klausur“ eintritt, immer die, welche auch durch die Jahre hindurch, heute noch nach 46 Klosterjahren, weiterdauert, nicht: „Wie heiße ich?“, nicht: „Wer bin ich, wer war ich, wer werde ich sein?“, sondern: „Gott, wer bist DU? Gott und Mensch, Gott und ich, wie geht das?“ Der Taufname ist sowieso sakramental ins Herz „eingeritzt“. Der Klostername aber ist eine Konkretisierung des geistlichen „Lebens-Zieles“. Wie kann das heute noch jemand machen, einen solchen Schritt vollziehen, von „draußen nach drinnen“? Sich lebendig begraben, diese Abgeschlossenheit, dieser Abschied für immer, dieser Bruch mit allem bisher Bestehenden, mit allen Beziehungen und Personen, mit der Vergangenheit? Nicht Bruch! Aufbruch! Es ist ein Loslösungsprozess von der Stadt hinaus in die Wüste, ein Prozess, der lebenslang andauert. Vor allem aber ist es ein Abenteuer. So ein Weg-Gehender fragt sich nicht so sehr: Was ist es, das dich so verlockt, so magnetisch anzieht? Man ist einfach fasziniert von einer Möglichkeit, einer Sache, besser von einer Person, davon, jemandem auf die Spur zu kommen, der einen nicht mehr loslässt.

Die Suche nach Gott, nicht nach dem Ego

In einem gewissen Sinn kann man sagen: Das, was man schon erlebt und gefunden hat, drängt einen in einen Raum hinein, wo man glaubt, dass man IHM noch näher kommt, IHN noch mehr findet. Also die Gottessuche, sie wird zum Motiv, sie ist das eigentlich Bewegende für ein Gehen hinein in die Wüste. Es ist nicht so sehr die Suche nach sich selbst, nach der eigenen Bestimmung, nicht so sehr die hochgejubelte Selbstfindung und Selbstverwirklichung, nicht so sehr die Frage, wer ich bin, sondern wer DU bist. Zuerst war der Wunsch, die Sehnsucht, das Feuer für dieses Fascinosum (das einen fasziniert), dieses Tremendum (das einen erzittern lässt), dieses Desiderium (das in einem Sehnsucht weckt), dieses Mysterium (Geheimnis) in Wüstenwind und Sandsturm. Klausur ist eine Art Wüste inmitten von hohen Mauern. Die monastische Tradition der ersten Mönche in der Thebais erzählt davon, von diesem Ort der Gottes-Suche, der Gottes-Findung, der Gottes-Begegnung – und zwar des Kampfes mit Gott, um Gott, des Kampfes gegen alles Widergöttliche in sich selbst, gegen die Egoismen, gegen Anfechtungen und Angstzustände mit all ihren Schattenseiten. Klausur also ist ein Wüstenbereich, in dem Menschen mit einer ganz bestimmten Berufung dem eigenen Ich entsagen, um IHN zu suchen und IHN zu finden.

Das Mönch-Sein-Dürfen in „Ora et labora“

Das Eingeschlossen-Sein in eine Klausur, dieses Hineingenommen-Sein in die Wüste, dieses Eingefangen-Sein hat mich niemals angefochten und ist mir nie zur Last geworden. Natürlich gibt es im Lauf des Lebens auch Krisen und Stimmungen, eindeutig, diese bewegen sich aber am Rande. Bei anderen und an mir selbst konnte ich sehen, dass die Berufung für die Wüste die Begabungen des Einzelnen nicht zum Erliegen bringt, vielmehr zum Wachstum und zur Entfaltung verhilft. Was ich innerlich in der Vertikalen entdeckte und mir auf den Nägeln brannte vom Geheimnis Gottes, von den geschenkten Erleuchtungen aus der Herzenswurzel heraus, das konnte ich dann auch in die Horizontale einbringen. Das „Ora – Bete“ befruchtet stets das „Labora – Arbeite“ und umgekehrt. Ich möchte sagen, Begabung und Berufung animieren sich gegenseitig, motivieren und tragen zur Entfaltung des Mönch-Sein-Dürfens bei. Gut arbeiten und „fromm“ beten gehören zusammen wie ein paar Sandalen. Eines allein ist zu „wenig“. Das Mönch-Sein-Dürfen in „Ora et labora“ hat mich wie in einem Sandsturm ergriffen und hochgerissen, mich wie in eine Rose eingehüllt – nichts anderes mehr sehend.

In die Weite der Armut, des Gehorsams und der Jungfräulichkeit

Entscheidend ist nicht, was man tut, sondern wie man es tut. Wenn jemand in die Klausur eintritt, dann ist es gleichgültig, was er war, was er hatte, woher er kommt: das liegt hinter ihm. Er hat seine Familie aufgegeben, seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister, seinen Beruf. Ja, er hat seine eigene, vielleicht einmal zu gründende Familie hergeschenkt, die Kinder, welchen er selber Vater hätte sein können, oder eben Mutter. Und den Beruf aufzugeben, statt einen nadelgestreiften Anzug nun die Mönchskutte zu tragen, statt Bürobleistift zu kauen oder die Mistgabel zu handhaben eine andere Tätigkeit in der nun neuen Gemeinschaft auszuüben, was macht es für einen Unterschied? Ohne etwas zueigen zu haben, hat man alles. Man entdeckt, dass es da Dinge gibt, die nicht nur das Vergangene kompensieren, das man verlassen hat. Man wird mit Möglichkeiten beschenkt, die ein Vielfaches neu erstrahlen lassen von dem, was auf einen zukommt, dem man nun einzig dient im Gehorsam einem Oberen gegenüber, in einer Weite der Jungfräulichkeit, welche nur durch Gottes Nahe-Sein ausgefüllt werden kann. Mit der realen Möglichkeit, wie sie einem die Wüstenstruktur eines beschaulichen Klosters anbietet, kann der „Klausner“ in halsbrecherischer Verwegenheit wagen, einfach alles aufs Spiel zu setzen. Man weiß nicht, wie und warum und wohin und vor allem nicht wer und doch geht man eilenden Herzens zur Stadt hinaus und sucht und sucht und sucht und findet IHN.

Sich selber verlieren, um IHN zu finden

Gepackt zu sein, das versteht doch jedermann. Wie von einer großen Liebe. Und das Seltsame: Man weiß nicht, wohin es einen führen wird in zwei oder drei Jahren, in 20, in 40 oder 50 Jahren. Ob man das aushält, ob man da überhaupt durchkommt, ob man in dieser Wüste verhungert oder verdurstet. Das spielt in diesem Moment, wo man die Stadt verlassen hat und sich der Wüste nähert, eintritt in dieses „Gott und ich, wie wird das gehen?“, da spielt es irgendwie keine Rolle mehr. Das Betreten der Wüste „Klausur“ ist einfach ein Geheimnis. Das sich selber verlieren, um IHN zu finden, warum soll dies kein Geheimnis bleiben, zwischen Mensch und Gott, ein Geheimnis, das man andern nicht durchschaubar erklären kann, ja nicht einmal selbst richtig versteht. Man muss sich erst selber verlieren, um sich und dann plötzlich zugleich auch Gott zu finden. Das Hineinsteigen in die Anonymität ist eines der Wüstengeheimnisse, dass man einwilligt, zu sein wie die andern. Wie es das monastische Kollektiv einem positiv anbietet. Darum tragen wir dasselbe Kleid, die Frauen denselben Schleier, die Mönche (vergangener Tage) dieselbe Tonsur oder Corona; es wird viel geschwiegen, die persönliche Vergangenheit ist am besten ein Tabu-Thema und doch ist jeder in der Gleichheit ein Original Gottes. Nichts Besonderes sein, in Reih und Glied gehen, Hergeschenktes nicht wieder zurückholen, keine elitäre Stellung innehaben in der Brudergemeinschaft. Das gehört alles zu diesem Sich-verlieren, um IHN zu finden.

Die Wüste hat eine Mitte

„Die Wüste ist schön“, sagt der Kleine Prinz bei Antoine de Saint-Exupery. Und er fügt hinzu: „Und das ist wahr. Ich habe die Wüste immer geliebt. Man setzt sich auf eine Sanddüne. Man sieht nichts. Man hört nichts. Und währenddessen strahlt etwas in der Stille. Es macht die Wüste schön, dass sie irgendwo einen Brunnen birgt.“ Und was geschieht, wenn der Obere einen aus der Klausur in „die Welt“ zurücksendet, um dort für IHN zu wirken? Ein Problem sah ich persönlich darin nie. Dann mache ich im klösterlichen Gehorsam meinen Part – ein Mitbruder haut aus Steinen Heiligenfiguren, der andere katalogisiert Bücher und Zeitschriften, einer schreibt schon jahrelang eine Dissertation über irgendeinen Kirchenvater, der etwas über einen Ur-Mönch ausgesagt hat, und ein anderer reinigt die Gänge oder wäscht das Geschirr der Klostergäste. Ich möchte sagen, keine Tätigkeit hat einen Charakter, der sie abwerten oder aufwerten würde. Auch nicht jenseits der Klausur-Mauer. Das artverschiedene, im Gehorsam ausgeübte „Labora“ ist in sich gleichwertig. Ut in omnibus glorificetur DEUS (damit in allem GOTT verherrlicht werde)! Warum gleichwertig? Weil alle aus dem Mittelbrunnen der Wüste ihren Durst stillen, aus dem lebendigen Wasser, das Christus Jesus selbst ist.

Caritas Christi urget me – die Liebe Christi drängt mich (vgl. 2 Kor 5,14)

Aus der Fülle der Klausur-Erfahrung drängt es dann den Mönch, diese Begegnungs-Erfahrung weiterzugeben. Nachdem er dem Lockruf Gottes gefolgt ist, möchte er andere an dieser Lichtdurchflutung durch IHN teilhaben lassen, Pfeil sein im Köcher Gottes (vgl. Jes 49,2), abgeschossen werden von ihm, für ihn, treffen, mitten ins Herz. Welch herrliche Berufung, die frohe Botschaft hineinzusagen, hineinzutragen in diese Stadt-Welt, aufzuschlüsseln, was sich ergibt, wenn ein Mensch sich so auf IHN einlässt! Wie unser Heiliger Vater, Papst Benedikt XVI., trotz allem „Geschwätz“ der Welt auf die ewigen Werte der Bibel hinweist, „sei es gelegen oder ungelegen“, so drängt es den Mönch, die Leuchtkraft der Wüsten-Tauglichkeiten aufzuzeigen, konträr zu den oberflächlichen Werten der Diesseitigkeit, auch wenn er belächelt wird ob seiner konservativ-biblischen Rückständigkeit: Nicht Reichtum, Sex, Kondome, Abtreibung, Stellung, Macht, Egalität und Egoismus sind von bleibendem Wert, sondern die Tugenden mit dem Artgewicht der Goldwertigkeit und diese sind Bescheidenheit, Reinheit, Demut, Frömmigkeit, Gehorsam, Armut, Opfer und Sühne. Ich will es versuchen einmal so auszudrücken: Dass Gott einen Menschen umfassend, vollexistenziell mit Leib und Seele liebt, das ist der Urgrund des Ganzen. Weil die Liebe Christi mich liebt, darf ich IHN ebenfalls voll mit Leib und Seele lieben.

Vater, gib mir ein Wort

Natürlich gestehe ich, dass es auch eine verkitschte, eine verbrauchte religiöse Sprache gibt. Daher die ganz einfache Aussage eines Alt-Vaters, als er nach vielen Wüsten-Jahren um seine persönliche Gotteserfahrung mit den Worten angefragt wurde: „Vater, gib mir ein Wort!“ Er sagte nur: „Nescio (Ich weiß nichts)!“ Von Gott kann man keine absolute Formel aussagen; denn somit hätte man ihn verfügbar in den Händen. So geht es nicht! Man kann wahrnehmen, man kann erkennen, man kann entdecken, man kann schauen in einem neuen Licht, mit neuen Augen, und was man dann als Erfahrung weitergibt, ist vielleicht ein Bild in herrlicher Schönheit, aber ER ist ganz anders, viel größer, viel schöner, viel liebender als wir es uns vorzustellen getrauen. In dieser Negation zu sprechen, kommt der Seinsfülle Gottes sicherlich näher, als in einer Position sein göttliches Geheimnis deuten zu wollen. Er ist der viel, viel Größere, nicht als Negativum, sondern als Negativum des Negativums. Mag unsere liebeglühende Aussage über Gott noch so gewaltig und gekonnt erscheinen (von Augustinus über Bonaventura, Thomas v. Aquin, Urs v. Balthasar, Theresia v. Avila, Katharina v. Siena, Birgitta v. Schweden, Ignatius v. Loyola bis Karl und Hugo Rahner – um nur einige zu erwähnen), nicht das Wissen bestimmt mein Leben in der Wüste „Klausur“, sondern die Liebe.

Der Christ der Zukunft ist ein Mystiker

Dieses Wort stammt von Karl Rahner, dem großen Jesuiten und deutschen Theologen, dem führenden Dogmatiker und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts, 1963 Konzilstheologe, Verfasser unzähliger theologischer Werke, an denen noch Jahrhunderte – wie bei Augustinus und Thomas v. Aquin – zu knabbern haben werden, dieser Mann sagt etwas völlig Unerwartetes, fast Schockierendes: „Der Christ der Zukunft ist ein Mystiker, oder er ist nicht.“ Für mich ist das Wort „Mystik“ bei aller Magnetkraft ein unerhört großes Wort, dennoch scheint mir, jeder Christ, der glaubt, ist im Grunde schon objektiv Mystiker. Er lässt das Transzendente, das ganz Andere, den ganz Anderen bei sich ein. Das Geheimnis, das Mysterium, das Jenseitige hat in seinem Leben wie eine Magnetnadel einen nach „Norden“ weisenden Stellenwert. Er geht darauf ein, er lässt es in sich ein, die Wahrheit, die Wirklichkeit, auch wenn er ihr oft eine ganz andere Begrifflichkeit gibt. Es gibt in der Verbindung mit Gott verschiedene Gnadengaben, „Charismen“ nennen wir dies, Gaben des Heiligen Geistes, u.a. auch die Gabe des Nachdenklich-Machens für die Stadt-Menschen, aber auch für diejenigen, welche bereits einmal den Schritt in die Wüste gewagt haben, und für diejenigen, welche diesen Schritt gerade vor sich haben. Mystiker zu sein, ist des Mönchs und der Nonne wachsende Aufgabe seit Taufe, Erstkommunion, Firmung und Ordensprofess. Analog dazu gilt dies natürlich auch für jeden Getauften.

Adler oder Huhn, Huhn oder Adler

Ein Jäger fing sich aus einem Horst einen jungen Adler. Er nahm ihn mit nach Hause und steckte ihn zu seinen Hühnern in den Stall. Monate waren vergangen, der Jäger erhielt Besuch und zeigte ihm seinen Hühnerstall. Der Besucher sagte zu seinem Freund: „Da ist ja ein Adler unter deinen Hühnern!?“ „Ja“, sagte der Besitzer, „er ist aber kein Adler mehr, sondern ein Huhn geworden.“ Im Streitgespräch forderte der Besucher den Jäger auf, ihm den Adler für 10 Minuten zu geben. Er stieg mit dem Adler auf eine Veranda und sagte zu ihm: „Adler, der du ein Adler bist, breite deine Schwingen aus und flieg!“ Als aber der Adler die scharrenden Hühner sah, flog er zu ihnen hinab und scharrte mit ihnen nach den Körnern, welche im Dreck lagen. „Er ist ein Huhn geworden und bleibt ein Huhn“, sagte der Besitzer. Am andern Tag wiederholte sich nochmals dasselbe Spektakel. Am dritten Tag verließ der Besucher mit dem Adler die Stadt und stieg mit ihm in die Höhe. Nun sagte er zu ihm: „Breite deine Schwingen aus und flieg!“ Der Adler zitterte im Gefieder, aber er flog nicht, er erhob sich nicht. Da ließ der Fremdling den Jungadler direkt in die Sonne schauen und plötzlich breitete dieser seine Schwingen immer weiter aus, erhob sich mit dem Schrei eines freien Adlers in die Lüfte und kehrte nie wieder zurück.

Den in die Wüste Gegangenen rufe ich zu: Seid Adler und keine Hühner! Bis in den Morgen hinein schrieb ich an diesen Zeilen und als es zur Matutin läutete, wusste ich beglückend um den Brunnen in der Mitte der Wüste.


„Ich habe euch Freunde genannt!“

Am Freitag, den 12. Februar 2010, besuchte Papst Benedikt XVI. das Päpstliche Römische Priesterseminar. Interessanterweise heißt es in der offiziellen Verlautbarung, dass diese Begegnung „anlässlich des Festes der Gottesmutter vom Vertrauen“ stattgefunden hat. Die Ansprache in der Seminarkapelle hatte die Gestalt einer „lectio divina“, einer ausführlichen Schriftbetrachtung zum 15. Kapitel des Johannesevangeliums. Auf eine wunderbare Weise legte der Papst die Bibelstelle für die „jungen Männer“ aus, „die sich darauf vorbereiten, auf den Ruf des Herrn zu antworten, um Arbeiter in seinem Weinberg, Priester seines Geheimnisses zu sein“. Im mittleren Teil der Betrachtung, den wir nachfolgend wiedergeben, nahm er auch Bezug auf seine berühmt gewordene Regensburger Ansprache. Noch einmal hob er das Einzigartige am christlichen Gottesbild hervor und leitete daraus die Dynamik des kirchlichen Missionsauftrags ab.

Von Papst Benedikt XVI.

Der Herr sagt: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ Keine Knechte mehr, die einem Befehl gehorchen, sondern Freunde, die im selben Willen, in derselben Liebe vereint sind. Die Neuheit besteht also darin, dass Gott sich zu erkennen gegeben hat, dass Gott sich gezeigt hat, dass Gott nicht mehr der unbekannte Gott ist, der zwar gesucht, aber nicht gefunden oder nur aus der Ferne erahnt wird. Gott hat sich sehen lassen: im Antlitz Christi sehen wir Gott, Gott hat sich zu „erkennen“ gegeben, und so hat er uns zu seinen Freunden gemacht.

Vorstellung der archaischen Religionen und Philosophen

Denken wir daran, wie man in der Geschichte der Menschheit, in allen archaischen Religionen weiß, dass es einen Gott gibt. Das ist eine Erkenntnis, die in das Herz des Menschen eingesenkt ist, dass Gott der eine Gott ist, dass die Götter nicht „der“ Gott sind. Dieser Gott aber bleibt sehr weit weg in der Ferne, es scheint, als ließe er sich nicht erkennen, als ließe er sich nicht lieben, er ist kein Freund, sondern in der Ferne. Daher beschäftigen sich die Religionen wenig mit diesem Gott, das konkrete Leben beschäftigt sich mit den Geistern, mit den konkreten Wirklichkeiten, denen wir tagtäglich begegnen und mit denen wir jeden Tag rechnen müssen. Gott bleibt in der Ferne.

Dann sehen wir die große Bewegung der Philosophie: Denken wir an Platon, an Aristoteles, die zu begreifen beginnen, dass dieser Gott das „agathón“, das Gute selbst ist, dass er der „eros“ ist, der die Welt bewegt, und dennoch bleibt dies ein menschlicher Gedanke, es ist dies eine Vorstellung von Gott, die der Wahrheit nahekommt, aber es handelt sich um unsere Vorstellung, und Gott bleibt der verborgene Gott.

Vernunftglaube eines Professors für Physik

Vor kurzem hat mir ein Professor aus Regensburg geschrieben, ein Professor für Physik, der mit großer Verspätung meine Ansprache an der Universität Regensburg gelesen hatte, um mir zu sagen, dass er nicht mit meiner Logik einverstanden bzw. dies nur teilweise sein könne. Er hat gesagt: „Gewiss, mich überzeugt die Vorstellung, dass die rationale Struktur der Welt eine schöpferische Vernunft erfordert, die diese Vernünftigkeit geschaffen hat, die sich nicht aus sich selbst erklärt.“ Und er fuhr fort: „Wenn es aber auch einen Demiurgen geben kann“ – so drückt er sich aus –, „ein Demiurg scheint mir aus dem heraus, was Sie sagen, sicher zu sein, so sehe ich nicht, dass es einen Gott gibt, der Liebe ist, der gut, gerecht und barmherzig ist. Ich kann sehen, dass da eine Vernunft ist, die der Vernünftigkeit des Kosmos vorangeht, das Weitere jedoch nicht.“ Und so bleibt Gott verborgen. Er ist eine Vernunft, die unserer Vernunft, unserer Vernünftigkeit vorangeht, die Vernünftigkeit des Seins, aber es gibt keine ewige Liebe, keine große Barmherzigkeit, die uns leben lässt.

Armselige Apologie vom „nicht allmächtigen Gott“

Und siehe da: In Christus hat sich Gott in seiner absoluten Wahrheit gezeigt, er hat gezeigt, dass er Vernunft und Liebe ist, dass die ewige Vernunft Liebe ist und auf diese Weise erschafft. Leider leben auch heute viele fern von Christus, sie kennen sein Antlitz nicht, und so erneuert sich fortwährend die ewige Versuchung des Dualismus, die auch im Brief dieses Professors verborgen liegt, das heißt: dass es vielleicht nicht nur ein Prinzip des Guten, sondern auch ein Prinzip des Schlechten, ein Prinzip des Bösen gibt; dass die Welt geteilt ist und es zwei gleichstarke Wirklichkeiten gibt: und dass der gute Gott nur ein Teil der Wirklichkeit ist. Auch in der Theologie, einschließlich der katholischen, verbreitet sich im Moment diese These: Gott sei nicht allmächtig. Auf diese Weise wird eine Apologie Gottes gesucht, der demgemäß keine Verantwortung für das Böse trüge, das wir so weit verbreitet in der Welt finden. Aber wie arm ist doch eine derartige Apologie! Ein nicht allmächtiger Gott! Das Böse ist nicht in seinen Händen! Und wie könnten wir uns einem derartigen Gott anvertrauen? Wie könnten wir in seiner Liebe sicher sein, wenn diese Liebe dort endet, wo die Macht des Bösen beginnt?

Allmacht der Liebe, die leiden kann

Gott aber ist nicht mehr der Unbekannte. Im Antlitz des gekreuzigten Christus sehen wir Gott, wir sehen die wahre Allmacht, nicht einen Allmachtsmythos. Für uns Menschen sind Kraft und Macht immer gleichbedeutend mit dem Vermögen, zu zerstören, das Böse zu tun. Der wahre Begriff von Allmacht jedoch, der in Christus zutage tritt, ist genau das Gegenteil: in ihm ist die wahre Allmacht das Lieben bis zu dem Punkt, an dem Gott leiden kann: hier zeigt sich seine wahre Allmacht, die bis zu einer Liebe gehen kann, die für uns leidet. Und so sehen wir, dass er der wahre Gott ist, und der wahre Gott, der Liebe ist, ist Macht: die Macht der Liebe. Und wir können uns seiner Liebe anvertrauen und in dieser, mit dieser allmächtigen Liebe leben.

Das Antlitz Gottes im Menschen Christus

Ich denke, wir müssen immer von neuem über diese Wirklichkeit nachdenken, Gott danken, dass er sich gezeigt hat, dass wir ihn vom Antlitz her kennen, von Angesicht zu Angesicht; nicht mehr wie Mose, der allein den Rücken des Herrn sehen durfte. Auch dies ist eine schöne Vorstellung, zu der der hl. Gregor von Nyssa sagt: „Nur den Rücken des Herrn sehen will heißen, dass wir immer hinter Christus gehen müssen.“ Gleichzeitig aber hat Gott mit Christus sein Gesicht, sein Antlitz gezeigt. Der Vorhang des Tempels ist zerrissen, er ist offen, das Geheimnis Gottes ist sichtbar. Das Erste Gebot, das Bilder Gottes ausschließt, da sie nur dessen Wirklichkeit herabsetzen könnten, ist geändert, es ist erneuert worden und hat eine andere Form. Jetzt können wir im Menschen Christus, das Antlitz Gottes, sehen, wir können Ikonen Christi haben und so sehen, wer Gott ist.

Quelle unaufhörlicher Freude, die sich mitteilen möchte

Ich denke: Wer dies begriffen hat, wer sich von diesem Geheimnis berühren lässt, dass Gott sich offenbart hat, dass der Vorhang des Tempels zerrissen ist, dass Gott sein Antlitz gezeigt hat – der findet eine Quelle unaufhörlicher Freude. Wir können nur sagen: „Danke. Ja, jetzt wissen wir, wer du bist, wer Gott ist und wie wir ihm antworten können.“ Und ich denke, dass diese Freude, Gott zu kennen, der sich gezeigt hat, der sich bis ins Innerste seines Seins gezeigt hat, auch die Freude einschließt, dies mitzuteilen: Wer dies verstanden hat, wer sich in seinem Leben von dieser Wirklichkeit berühren lässt, muss so handeln, wie dies die ersten Jünger getan haben, die zu ihren Freunden und Brüdern eilen und sagen: „Wir haben den gefunden, von dem die Propheten sprechen. Jetzt ist er da.“ Der Charakter der Mission ist nichts, was dem Glauben äußerlich hinzugefügt wäre, sondern die Dynamik des Glaubens selbst. Wer Jesus gesehen hat, wer ihm begegnet ist, muss zu den Freunden eilen und ihnen sagen: „Wir haben ihn gefunden, es ist Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist.“


Wahrheit und Dialog

„Die Wahrheit ist nicht verhandelbar“, diese Worte stellt Prof. Dr. Adel Theodor Khoury an den Beginn seiner Überlegungen, um von vornherein Missverständnisse auszuschließen. Er will als katholischer Priester kein Jota vom christlichen Glauben aufgeben, doch setzt er sich als einer der besten Kenner des Islam im deutschsprachigen Raum mit allem Nachdruck für einen vorurteilsfreien Dialog ein. Er versucht einen Weg aufzuzeigen, wie wir die Versuchung überwinden können, einander wie Gegner zu behandeln und uns gegenseitig als Konkurrenten zu betrachten, und wie es uns gelingen kann, zu Partnern und Freunden zu werden, die füreinander da sind. Er hält dieses Bemühen für ein Gebot der Stunde angesichts der fortschreitenden Globalisierung der Welt.

Von Adel Theodor Khoury

Dialog und Glaubenstreue

Viele Christen äußern ihr Unbehagen darüber, dass fachlich geschulte Christen mit Andersgläubigen in einen Dialog über ihre religiösen Überzeugungen treten. Sie fürchten, dass der Dialog bedeutet, die Wahrheit zur Disposition zu stellen oder in Zweifel zu ziehen oder wenigstens verschweigen zu sollen. Die Wahrheit des Glaubens scheint ihnen in der Situation des Dialogs als eine zur Verhandlung gestellte Ware, obwohl sie ja nicht verhandelbar ist.

Dem ist aber nicht so. Zwar fordert der Dialog eine entschiedene Offenheit des Geistes und eine große Bereitschaft des Herzens. Wer den Dialog sucht, muss nämlich bereit sein, aus sich selbst herauszugehen, aus der gewohnten Sicherheit der eigenen Tradition auszuziehen und auf den anderen zuzugehen. Die spontan aufbrechenden Gefühle des Misstrauens gegenüber dem Fremden, das das Gewohnte stört und die orientierenden Normen des praktischen Lebens in Frage zu stellen droht, müssen gezähmt und überwunden werden.

Dennoch, meine ich, lohnt es sich in unserer Welt, die von Hass und Entfremdung erfüllt ist, in der Nachfolge Christi, der sich für alle hingegeben hat, Offenheit zu zeigen, Misstrauen und Missverständnis zu überwinden, eine ehrliche Sympathie zu entfalten, die das gegenseitige Verstehen-Wollen und Verstehen-Können ermöglicht und fördert. Diese Offenheit bedeutet zweierlei: suchen zu verstehen, und Treue zu sich selbst halten.

Suchen zu verstehen

Suchen zu verstehen bedeutet zunächst einmal, dem Gesprächspartner nicht mit der Masse unserer Vorurteile zu begegnen, ihm und seiner Religion nicht mit stereotypen Formulierungen und so genannten allgemeinen Erkenntnissen zu konfrontieren, sondern zuzuhören und eine möglichst objektive Information über seine Religion zu erhalten, eine Information, die auf der Lehre der Gelehrten der jeweiligen Religion gründet, um damit dem Partner in seiner wirklichen Identität zu begegnen.

Es wird hier kein blindes Entgegenkommen empfohlen. Die kritische Suche nach der Wahrheit verliert auch hier nicht ihre Berechtigung und ihren Platz. Kritische Offenheit, kritische Sympathie wird geradezu gefordert, und dies aus Liebe zur Wahrheit, aus Respekt für den Gesprächspartner, den man in seiner Person und in seiner Religion wirklich ernst nimmt. Die kritische Haltung schützt die Gesprächspartner vor einem Austausch oberflächlicher Höflichkeiten und vor einem nivellierenden Synkretismus.

Treue zum eigenen Glauben halten

Aber der Dialog lebt nicht nur von der Aufgeschlossenheit und der Aufnahmebereitschaft der Gesprächspartner. Der Dialog lebt gleichermaßen von der Dynamik der ernsten Treue zum eigenen Glauben und zur eigenen Religion. Diese Treue ist kein blindes Festhalten an allem, was in irgendeiner Form zur eigenen Tradition gehört. Umgekehrt lässt sie auch nicht zu, dass man leichtfertig das aufgibt, was zur Substanz der eigenen Tradition gehört und die Identität der eigenen Religion ausmacht bzw. darstellt. Diese dezidierte und offene Treue zur eigenen Identität ist ein Grundpfeiler des echten, fruchtbaren Dialogs. Denn je tiefer die Überzeugung von der Wahrheit der eigenen Religion ist, desto offener kann man sein für die Werte, die in der religiösen Erfahrung der Andersgläubigen und in den anderen Religionen zum Ausdruck kommen, desto eifriger kann man das Gespräch und den Austausch mit den anderen suchen, ohne sich dadurch selbst aufzugeben.

So lebt der Dialog nicht vom Verzicht auf die Wahrheit und auf das Urteil über die Wahrheit vertretener Lehren, sondern umgekehrt von der Treue zur erkannten Wahrheit des eigenen Glaubens, und zwar auf beiden Seiten. Denn beide Gesprächspartner schulden sich selbst, ihrer Glaubensgemeinschaft und auch einander, das mitzuteilen, wovon ihr Glaube lebt, ihr religiöses Leben sich nährt. Der Gesprächspartner auf der gegenüberliegenden Seite hat das Recht, zu erfahren, was die Wahrheit unserer Religion ist, und er seinerseits hat das Recht und die Pflicht, seinen Glauben mitzuteilen und seine Art, Gott zu begegnen und ihn zu erfahren, kundzutun.

Verschiedenheit religiöser Erfahrungen

Verschiedenheit und Vereinbarkeit

Außerdem, wenn man bedenkt, dass der Glaube innerhalb der Geschichte erhalten und erlebt wird, muss man damit rechnen, dass auf der Ebene der menschlichen Erfahrung eine gewisse Verschiedenheit offenbar wird.

• Verschiedenheit ist nicht immer Widerspruch. Wo ein eindeutiger Widerspruch zu den festen Glaubenslehren meiner Religion steht, dann ist die Unvereinbarkeit der beiden Positionen festzustellen.

• Es gilt, nicht nur zu wissen, was der Gesprächspartner sagt, sondern man muss versuchen, zu verstehen, warum er so denkt und glaubt. Das heißt man muss den Weg des Andersgläubigen zu seinen religiösen Überzeugungen (mit den Prämissen, Argumenten und Schlussfolgerungen) mitvollziehen, um seine Position wirklich zu begreifen. Es geht hier darum, zu verstehen, nicht darum, mit der Aussage einverstanden zu sein. Aber wer versteht, was gesagt wird und warum es gesagt wird, kann eine gerechtere Haltung gegenüber dem Gesprächspartner einnehmen.

Dies gilt nicht nur für den Fall, dass man einen Widerspruch feststellt, sondern auch im Falle einfacher Verschiedenheit.

• Verschiedenheit ist nicht immer Widerspruch. Sie ist oft eben nur Verschiedenheit. Das Anderssein anderer ist auch im normalen Bereich menschlicher Beziehungen nicht immer und nicht in erster Linie ein Angriff auf meine Identität, sondern eben eine andere Form menschlichen Daseins.

Es folgt aus dieser Bemerkung, dass man den Mut zur Geduld haben und Vertrauen in die Entfaltungsmöglichkeiten der Zukunft pflegen muss. Es wäre viel zu schnell und vielfach unberechtigt, zu urteilen, dass das Verschiedene unvereinbar mit dem eigenen Glauben ist. Wer weiß, wenn man eine Erweiterung und Vertiefung der jetzt erworbenen Erkenntnisse erzielt hat, eröffnet sich vielleicht die Möglichkeit, in einem größeren Rahmen verschiedene Aussagen doch noch miteinander zu versöhnen und miteinander zu verbinden.

Verschiedenheit und Komplementarität

Da jedoch bei der Wahrheit der Religion die menschliche Erkenntnis und die menschliche Erfahrung die größte Rolle spielen, so kann man oft von einer Komplementarität religiöser Erkenntnisse und Erfahrungen sprechen.

• Viele religiöse Elemente in den verschiedenen Religionen, die auch wir als Christen als wahr und heilig anerkennen können, verdanken ihre Entstehung nicht dem Einfluss des Christentums, sie sind genuine Früchte der eigenen Tradition. Sie zeigen, dass zwischen dem Christentum und den religiösen Erfahrungen anderer Religionsgemeinschaften eine gewisse Komplementarität vorhanden ist. Die Frage wird dann die sein: Wie kann der Christ solche Elemente in seinen eigenen Glauben und in seine eigene religiöse Praxis aufnehmen und integrieren.

Dabei gilt es hier, zwei Grundfragen Rechnung zu tragen:

• Wieviel Verschiedenheit verträgt ein System, ohne auseinanderzubrechen und seine Identität zu verlieren und ohne dass die Wahrheit Gefahr läuft, sich zu verflüchtigen?

• Wieviel Gemeinsamkeit mit dem Christentum müssen diese Elemente aufweisen, damit sie überhaupt integriert werden können? Denn es lässt sich nur das integrieren, was Verbindungsstellen zum aufnehmenden System aufweist.

Wahrheit, die getan werden soll

Ungerechte Behandlung der anderen meiden

Man findet fast überall grobe Angriffe auf die Gegner. Selten findet man die Bereitschaft, erst zu verstehen, was der andere sagt, bevor man ihn verurteilt. Sobald man den Eindruck hat, dass eine andere Lehre als die eigene vertreten wird, wird diese Lehre als falsch, schwachsinnig verurteilt, die Gläubigen der anderen Religion werden als Irre ohne Verstand beschimpft. Kaum ist die Bereitschaft vorhanden, das Andersartige nicht sofort als das Falsche anzuprangern, es zunächst einmal nur als andersartig zu betrachten und es vielleicht in einen breiteren Rahmen zu stellen, damit es sich erweist, ob es nicht doch wahr ist oder wenigstens Teile von Wahrheit enthält.

Auch die Mechanismen der Verteidigung der eigenen Religion gehen schnell in Mechanismen der Zerstörung der anderen über: Selbsterhaltung durch Niederhaltung und Niederschlagung der anderen.

Hartnäckige Vorurteile überwinden

Einige Beispiele aus dem Bereich der Beziehungen zwischen Christen und Muslimen seien hier angeführt:

•  Christen neigen dazu, die islamische Religion für die Rückständigkeit islamischer Länder im Bereich der Wissenschaft, der Technik, der Organisation und der allgemeinen Zivilisation verantwortlich zu machen.

•  Muslime verwechseln ständig den Westen mit dem Christentum, als wäre die „Christenheit“ des Mittelalters nicht längst durch den säkularisierten Staat abgelöst worden.

•  Christen neigen dazu, vor allem die militanten Muslime, die mit Terrorakten in Verbindung gesetzt werden, als die wahren Vertreter des Islam zu betrachten. Sie übersehen fleißig die friedfertigen Muslime in der Welt. Islam und Schwert werden ständig in Verbindung miteinander gebracht.

•  Muslime wollen partout die westliche Gesellschaft als dekadente Gesellschaft anprangern, ohne sich die Mühe zu machen, diese Gesellschaft in ihren Komponenten und auch kritischen Erscheinungsformen näher zu betrachten und gerecht zu würdigen. Oder sie wittern fast überall Spuren einer Kreuzzugsmentalität im „christlichen“ Westen.

Eintreten für eine brüderliche Gerechtigkeit

Von großer Bedeutung für die Zukunft der Christen und der Andersgläubigen sowie für die Zukunft der Menschheit ist die Frage, ob es gelingt, eine Gesellschaft aufzubauen, die auf einer geschwisterlichen Gerechtigkeit gründet.

Das 2. Vatikanische Konzil schreibt an die Adresse der katholischen Christen folgendes: „Allen Menschen gegenüber muss man Gerechtigkeit und Menschlichkeit walten lassen“ (Dignitatis humanae, 7). Diese von Menschlichkeit durchdrungene, von der Liebe beseelte Gerechtigkeit muss nicht nur im politischen Leben (GS 73), sondern auch im wirtschaftlichen Bereich walten: „Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen; dabei hat die Gerechtigkeit die Führung, Hand in Hand geht mit ihr die Liebe“ (GS 69).

Praktische Zusammenarbeit

Der Dialog der Religionen muss eine praktische Zusammenarbeit ermöglichen und fördern. Die Haltung dabei ist nicht mehr nur die von Gesprächspartnern, die einander gegenüber sitzen und über ihre gegenseitigen Beziehungen, Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten sprechen. Die Haltung ist die der Gesprächspartner, die nebeneinander sitzen und gemeinsam die Probleme betrachten, die uns alle betreffen.

• Jeder muss sich und seine Religionsgemeinschaft nach ihrem Beitrag zur Lösung dieser Probleme fragen und diesen Beitrag einfordern.

• Jeder muss den Partner nach seinem Beitrag und dem Beitrag seiner Religion fragen und diesen Beitrag einfordern.

• Alle beide müssen sich bemühen, ihren gemeinsamen Beitrag zu leisten.

• Und endlich ihren gemeinsamen Beitrag gemeinsam zu leisten.

Schluss

• Wir können in der heute fortschreitenden Globalisierungs-Bewegung nicht mehr gegeneinander sein und einander wie Gegner behandeln.

• Wir dürfen nicht nur nebeneinander wie Fremde leben und uns gegenseitig als Konkurrenten betrachten.

• Wir müssen miteinander wirken und Partner sein.

• Und wir sollten es auch schaffen, füreinander da zu sein und Freunde zu werden.


Die Kreuzestreue des Priesters

Unter diesem Titel ist letztes Jahr ein ergreifendes Zeugnis von Erzbischof em. Dr. Karl Braun über die Bedeutung des katholischen Priestertums erschienen. Das Buch geht auf Gespräche zurück, die Dr. Veit Neumann mit ihm anlässlich seiner Weihe zum Bischof vor 25 Jahren geführt hat. Erzbischof Braun betrachtet den kreuzgeprägten Dienst des Priesters im verklärenden Licht der Auferstehung.

Von Erich Maria Fink

Das Jahr des Priesters

Das Buch „Die Kreuzestreue des Priesters“[1] von Erzbischof em. Dr. Karl Braun ist ein großartiger Beitrag zum „Jahr des Priesters“, das Papst Benedikt XVI. anlässlich des Todes des hl. Pfarrers von Ars vor 150 Jahren ausgerufen hat. Der Titel des Buchs lehnt sich bewusst an das Motto an, das der Papst für dieses Priesterjahr ausgewählt hat: „Treue Christi, Treue des Priesters“. Benedikt XVI. zeigt den Priestern seine besondere Vorliebe. Bei jeder Pastoralreise sieht er ein eigenes Treffen mit Seminaristen und Priestern vor, um sie angesichts der vielfältigen Anfechtungen in ihrer Berufung zu stärken. Mit dem „Jahr des Priesters“ ruft er sie eindringlich zum Streben nach persönlicher Heiligkeit auf; denn, so seine tiefe Überzeugung: Von der geistlichen Vollkommenheit des Einzelnen hängt die Fruchtbarkeit seines priesterlichen Dienstes ab.

Selbstheiligung und Seelsorge

Auch für Erzbischof Braun spielt dieser Zusammenhang eine zentrale Rolle: „Die Selbstheiligung des Priesters ist kein abgesonderter Bereich, der neben der priesterlichen Seelsorge ein Eigenleben führen dürfte.“ Allerdings führe die Tätigkeit in der Seelsorge nicht automatisch zur Heiligung des Priesters. Die Erfahrung lehre, „dass die Seelsorge – Predigt, Vortrag, Beichtehören, Taufen, ja selbst die Feier der Liturgie – zur bloßen Funktion werden kann, die auch ein unwürdiger Priester schablonenhaft, manchmal sogar feierlich zu vollziehen vermag. Es kann über den Priester eine Art Schizophrenie kommen: hier sein priesterliches Tun, dort sein geistliches und sittliches Leben, im inneren Widerspruch zu ersterem. Wehe dem Priester, der das Heilige bloß gültig vollzieht... Die priesterliche Selbstheiligung ist nicht die selbstverständliche Folge des seelsorglichen oder liturgischen Wirkens, sondern die Voraussetzung für eine fruchtbare Seelsorge“ (S. 32).

Treue im geistlichen Leben

„Das eigene geistliche Leben ist auf eine gewisse Methode angewiesen“, so erklärt Braun. Es werde gerne über „Spiritualitäten“ gesprochen, doch entscheidend sei es, sie jahre- und jahrzehntelang konkret und treu zu leben. Geistliches Leben sei zwar mehr als die Summe von Frömmigkeitsübungen, doch gäbe es unerlässliche Bestandteile: „das tägliche Leben aus der Eucharistie, aus der eucharistischen Anbetung, aus der regelmäßigen Beichte, aus dem Mitbeten mit der Kirche im Brevier, aus dem persönlichen Gebet und aus der Betrachtung, aus dem geistlichen Gespräch, aus regelmäßigen Zeiten der Stille, dem brüderlichen Dienst der Führung und der correctio fraterna“. Sehr realistisch fügt er hinzu: „Ohne das objektive Gerüst, das sich auf Übung und Methode stützt, bricht die Spiritualität auf Dauer in sich zusammen, denn sie bleibt dann fromme Absicht oder letztlich gar Selbsttäuschung“ (S. 30-31).

Bewährung im Kreuz

„Bei Christus zu bleiben, sich in allem an ihn rückgebunden zu wissen, das ist die grundlegende Bedingung der priesterlichen Spiritualität“, so Braun. Diese Einheit mit Christus aber bewähre sich im Kreuz: „Nicht nur dass der Erfolg ausbleibt ... Es kommt noch viel schlimmer: einsam sein, missverstanden werden, und zwar auch von Mitbrüdern ..., Ablehnung erfahren, die schwindende Zahl der Gottesdienstbesucher, die Prüfung des Zölibats, die Erfahrung von Trostlosigkeit und Dunkelheit im Gebet, die Konfrontation mit vielerlei Not, bei der wir oft genug nicht helfen können, die Zunahme der Aufgaben in der Seelsorge, Krankheit und die Schwierigkeiten des Alters. Hier fragt sich: Welche Antwort aus dem Glauben trägt mich durch die Nöte meines Lebens?“

Blick auf den Durchbohrten

„Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben“, so lautet das Motto, das Braun bei seiner Bischofsweihe gewählt hat, und zugleich seine Antwort: Dieser „Blick“, „die Freundschaft mit dem wundenübersäten Sieger am Kreuzesstamm ist die Basis, die uns als Priester ein Leben lang trägt.“ Und: „In der Feier des eucharistischen Opfers bringen wir uns mit Christus dem Vater dar und nehmen den Verzicht und die Opfer an, die unser Priesterleben fordert: ‚sacerdos et hostia (victima)‘ mit Christus.“ Durch diesen täglichen Akt der Hingabe senkt sich nach Erzbischof Braun Tag für Tag ein österlicher Jubel ins Herz.


[1] Erzbischof em. Karl Braun/Veit Neumann: Die Kreuzestreue des Priesters. Mit einem Nachwort von Prof. Dr. Andreas Wollbold.  fe-verlag, 128 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-939684-49-7, Euro 10,–.

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