Die Demut des Papstes hat gesiegt

Der Papstreise nach Großbritannien vom 16. bis 19. September ging ein heftiger Gegenwind voraus. Doch Benedikt XVI. ließ ein nachdenkliches Königreich zurück, voller Anerkennung und Hochachtung für seinen Dienst. Was hat den Sinneswandel bewirkt? Wie kam es zu einem solchen Umschwung in der öffentlichen Wahrnehmung des Papstes? Pfarrer Erich Maria Fink sieht den Grund vor allem in der Art, wie Benedikt XVI. aufgetreten ist und die verschiedensten Probleme angesprochen hat. Dabei deutet er die Demut des Papstes, von der in den britischen Medien nach den ereignisvollen Tagen öfters die Rede war, als „Mut zur Wahrheit“.

Von Erich Maria Fink

Demut bedeutet „Mut zur Wahrheit“

Wieder ist es Papst Benedikt XVI. gelungen, eine Auslandsreise brillant zu meistern und ein Land für sich zu gewinnen. Es ist unglaublich, wie sich die Stimmung während des Besuchs gewandelt hat. Dieses Phänomen wird als Kennzeichen des Pontifikats Benedikts XVI. in die Geschichte eingehen. Denn nicht das erste Mal wurde eine Visite nach anfänglichem Wirbel und feindseligen Kampagnen zu einem Triumph. Doch dieses Mal machte sich sogar eine nachdenkliche Stimmung breit und die Medien gestanden öffentlich ein, dass sich das Land für vorausgehende Störmanöver und Attacken schämt. Nicht nur die Bekundungen kämpferischer Atheisten wurden genannt, sondern auch unglückliche Äußerungen von Politikern. Und fast einhellig wurde der Grund für die Überzeugungskraft des Papstes in seiner Demut und Ruhe gesehen. Tatsächlich demonstrierte Benedikt XVI. vom ersten bis zum letzten Augenblick seiner Reise eine Demut, wie sie dem Selbstverständnis eines Christen entspricht. Einerseits das schlichte Auftreten: „Bescheiden, höflich und fast ein wenig unterwürfig schien er für seinen Glauben und seine Kirche nicht mehr zu verlangen, als auch gehört zu werden“, so kommentierte die Süddeutsche Zeitung den Stil Benedikts. Andererseits sehen wir Christen die gesunde Art der Demut im Mut zur Wahrheit: zunächst in der Anerkennung, dass wir letztlich alles Gott verdanken, alsdann im ungeschminkten Eingeständnis der eigenen Grenzen und schließlich in der ehrlichen Freude über den Erfolg der anderen. Genau diesen dreifachen Mut zur Wahrheit strahlte die Englandreise des Papstes aus. Und damit gewann er die Liebe der Briten, ohne von seiner Verkündigung auch nur den geringsten Abstrich zu machen.

Audienz bei Königin Elisabeth II.

Als Papst ist es Benedikt XVI. gewöhnt, Audienzen zu gewähren. Er empfängt Staatsoberhäupter und hochrangige Vertreter der Kirche. Nun war es einmal umgekehrt. Am Donnerstag, den 16. September, ging er im schottischen Sitz Holyroodhouse in Edinburgh zur Audienz bei Königin Elisabeth II., dem Oberhaupt der bedeutendsten Monarchie der Welt, des Commonwealth, also zu einem Staatsempfang. Gleichzeitig aber ist die Queen auch das Oberhaupt der anglikanischen „Church of England“, die mit ihren 84 Jahren den fast gleichaltrigen Oberhirten der katholischen Weltkirche in ihrem Königreich willkommen hieß. Von der „sehr freundlichen und familiären“ Begegnung war Vatikansprecher Federico Lombardi begeistert: „Einen besseren Beginn hätten wir uns gar nicht erwarten können!“

Gleich zum Auftakt versetzte die Queen mit ihrer Ansprache alle Beteiligten in Staunen. Die KNA fasste ihre Ausführungen mit den Worten zusammen: „Sie sparte nicht mit Lob für die katholische Kirche und für den Vatikan. Der Heilige Stuhl habe wertvolle Dienste zur Verbesserung der Situation in Nordirland geleistet. Er spiele eine wichtige internationale Rolle für Frieden, Entwicklung und gegen den Hunger in der Welt. Die Queen beschwor das gemeinsame christliche Erbe und den Beitrag der Christen für den Weltfrieden. Sie stellte sich hinter den jüngsten Appell des Papstes, dass Religion niemals ein Vehikel von Hass sein dürfe. Und sie würdigte den britischen Kardinal John Henry Newman (1801-1890), den der Papst am Sonntag seligspricht. Zuletzt äußerte sie die Hoffnung auf eine Vertiefung der Beziehungen zwischen Katholiken und Anglikanern.“

Der Papst seinerseits bedankte sich für die „liebenswürdige Einladung“ und die „freundlichen Worte der Begrüßung“ und fuhr fort: „Eure Majestät mögen mir gestatten, mit diesem Dank meine persönlichen Grüße an alle Menschen im Vereinigten Königreich zu richten und ihnen in Freundschaft die Hand zu reichen.“ Dann aber ermahnte er die parlamentarischen Institutionen, dem Volk „in einem Geist der Solidarität und der Sorge für das Gemeinwohl zu dienen.“ Er erinnerte die Queen an „herausragende Heilige wie Eduard den Bekenner und Margareta von Schottland“, die „ihre Pflichten als Souverän bewusst im Geiste des Evangeliums ausgeübt“ hätten und legte ihr ans Herz: „Die Achtung Ihrer Vorfahren für Wahrheit und Gerechtigkeit, für Barmherzigkeit und Nächstenliebe erben Sie von einem Glauben, der eine starke Kraft zum Guten in Ihrem Königreich zum Nutzen für Christen ebenso wie für Nichtchristen bleiben wird.“ Im Blick auf die Gegenwart appellierte er an ihre Verantwortung, sich dem „Ausschluss von Gott, Religion und Tugend aus dem öffentlichen Leben“ entgegenzustellen; denn dies führe letztlich zu einer „herabwürdigenden Sicht des Menschen und seiner Bestimmung“. Den Aufbau „einer modernen und multikulturellen Gesellschaft“ bezeichnete er als „interessantes Unternehmen“. Doch dabei möge das Königreich „stets seinen Respekt vor jenen traditionellen Werten und kulturellen Ausdrucksformen bewahren, die von aggressiveren Formen des Säkularismus nicht länger für wichtig erachtet oder nicht einmal mehr toleriert werden. Lassen Sie ihn den christlichen Grund nicht verdunkeln, der seine Freiheit untermauert. Und möge jenes Erbe, das Ihrem Land immer gut gedient hat, stets das Beispiel prägen, das Ihre Regierung und Ihr Volk den zwei Milliarden Mitgliedern des Commonwealth und der großen Familie englisch sprechender Nationen auf der ganzen Welt geben“. Noch deutlicher wurde der Papst bei seiner historischen Rede in der Westminster Hall am 17. September. Der konservative „Sunday Telegraph“ konnte dazu nur feststellen: Mit seinen klaren Ansprachen an eine „säkularisierte Gesellschaft“ habe Benedikt XVI. „die verworrenen Äußerungen britischer Politiker beschämt“. Im Übrigen kommt die Einladung an Benedikt XVI., in diesem geschichtsträchtigen Raum, in dem 1535 der hl. Thomas Morus zum Tod verurteilt worden war, vor beiden Häusern des britischen Parlaments zu sprechen, fast einem Wunder gleich. Vor ihm wurde diese Ehre außer den regierenden Monarchen nur Nelson Mandela (Südafrika), Michail Gorbatschow (Sowjetunion) und Shimon Peres (Israel) zuteil.

70 Jahre Bombardement von Coventry

Als Benedikt XVI. im Holyroodhouse das III. Reich erwähnte, wurde es in ersten Kommentaren noch als überflüssig bezeichnet. Er lud dazu ein, „über die nüchternen Lektionen des atheistischen Extremismus des 20. Jahrhunderts nachzudenken“, und begann mit den Worten: „Selbst aus unserer Zeit können wir uns in Erinnerung rufen, wie Großbritannien und seine Verantwortlichen der Nazityrannei widerstanden haben, die Gott aus der Gesellschaft entfernen wollte und vielen das allgemeine Menschsein absprachen, besonders den Juden, die als ‚lebensunwert‘ betrachtet wurden. Ebenso möchte ich an die Haltung jenes Regimes gegenüber christlichen Pastoren und Ordensleuten erinnern, welche die Wahrheit in Liebe sagten, sich den Nazis entgegenstellten und diesen Widerstand mit ihrem Leben bezahlten.“

Als er jedoch in der Predigt zur Seligsprechung wieder auf dieses Thema einging, fielen die Reaktionen bereits ganz anders aus. Bevor er sich dem neuen Seligen John Henry Newman zuwandte, sagte er: „Dieser besondere Sonntag markiert auch einen bedeutsamen Moment im Leben der Britischen Nation, weil er als der Tag gewählt wurde, der dem Gedenken der Luftschlacht um Großbritannien vor genau siebzig Jahren gewidmet ist. Für mich als jemanden, der in den dunklen Tagen des Nazi-Regimes in Deutschland gelebt und gelitten hat, ist es sehr bewegend, bei diesem Anlass hier mit euch zusammen zu sein und daran zu erinnern, wie viele eurer Mitbürger ihr Leben hingegeben haben, indem sie sich mutig den Kräften jener üblen Ideologie widersetzten. Meine Gedanken gehen besonders zum nahe gelegenen Coventry, das im November 1940 ein so schweres Bombardement erlitt und einen enormen Verlust an Menschenleben zu beklagen hatte. Siebzig Jahre danach erinnern wir uns beschämt und entsetzt an den furchtbaren Preis von Tod und Zerstörung, den der Krieg fordert, und wir erneuern unseren Entschluss, für Frieden und Versöhnung zu arbeiten, wo immer die Gefahr eines Krieges sich bedrohlich abzeichnet.“ Von politischer Seite wurden diese Worte sehr positiv aufgenommen. Der Papst aus Deutschland sei auf britischem Boden ehrlich und angemessen auf die tragischen Ereignisse eingegangen, er habe diese Herausforderung hervorragend gemeistert. Und das ZDF bemerkte: „Auffallend unbefangen ging der bei diesem Thema sonst eher zurückhaltende Benedikt XVI. mit der deutschen Vergangenheit um. Mehrmals würdigte er den Einsatz der Briten gegen das Nazi-Regime.“

Tiefes Bedauern über den Missbrauch

Selbst die schärfsten Kritiker verstummten angesichts der Ehrlichkeit, mit der Benedikt XVI. das Thema Missbrauch behandelte. Er sprach von „unbeschreiblichen Verbrechen“ und einer „Perversion des Priesteramts“. Nach einem Treffen mit fünf Opfern zeigte er sich tief schockiert und beschämt. Bei Fachleuten und Freiwilligen, die sich um Opfer kümmern, lobte er die konsequente Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen und die Mitarbeit von unabhängigen Experten bei der Aufarbeitung des begangenen Unrechts sowie der Präventionsarbeit.

Am Samstag, den 18. September, schreckte Benedikt XVI. in der Londoner Westminster Kathedrale, die dem Kostbaren Blut geweiht ist, mit seinen Ausführungen zum Missbrauch die Gläubigen regelrecht auf. In seiner Predigt stellte er die damit verbundenen Leiden in den Rahmen des abgrundtiefen Geheimnisses des Kreuzes Christi, das sich in jeder Eucharistiefeier vergegenwärtigt und im Kostbaren Blut Himmel und Erde versöhnend miteinander verbindet: „Ich denke hier auch an das ungeheure Leiden, das durch den Missbrauch von Kindern verursacht wurde, besonders wenn es in der Kirche und durch ihre Diener geschah. Vor allem möchte ich gegenüber den unschuldigen Opfern dieser unbeschreiblichen Verbrechen mein tiefes Bedauern zum Ausdruck bringen, gemeinsam mit meiner Hoffnung, dass die Kraft der Gnade Christi, sein Versöhnungsopfer, ihrem Leben eine tiefgreifende Heilung und Frieden bringen möge. Gemeinsam mit euch gestehe ich auch die Beschämung und die Demütigung ein, unter der wir alle wegen der Sünden einer geringen Anzahl von Priestern gelitten haben; und ich lade euch ein, dies dem Herrn aufzuopfern in dem Vertrauen, dass diese Strafe zur Heilung der Opfer, zur Läuterung der Kirche und zur Erneuerung ihres uralten Engagements in der Erziehung und Pflege junger Menschen beitragen wird. Ich sage Dank für die Anstrengungen, die unternommen worden sind, dieses Problem verantwortungsvoll in Angriff zu nehmen, und ich bitte euch alle, den Opfern eure Anteilnahme zu zeigen und euren Priestern Solidarität entgegenzubringen.“

In Birmingham fügte er am Sonntag vor den britischen Bischöfen hinzu: „Der schändliche Missbrauch junger Menschen durch Priester untergräbt ernstlich die moralische Glaubwürdigkeit von Kirchenführern.“ Im linksliberalen Observer hieß es dazu, mit seinen „von Herzen kommenden Worten der Besorgnis“ und seinen Gesten habe der Papst sogar einige Skeptiker überzeugt, dass er „ernsthaft und aufrichtig“ gegen die „lange vertuschten“ Verbrechen pädophiler Priester vorgehen wolle. Und der konservative Sunday Telegraph meinte, im Blick auf die Missbrauchsfälle habe der Papst „großen moralischen Mut“ bewiesen.

Ökumenische Begegnung mit dem Erzbischof von Canterbury

Benedikt XVI. wusste genau, wie er sich den verschiedenen Gesprächspartnern gegenüber zu geben hatte, ob als Oberhirte der Katholischen Kirche, der gekommen ist, um seine Brüder im Glauben zu stärken und zur Heiligkeit aufzurufen, ob als Partner im Dialog zwischen Religion und Vernunft wie in der Westminster Hall, oder als Gast im Gotteshaus der Anglikaner. Gleich zu Beginn stellt er in der anglikanischen Westminster Abbey fest: „Ich komme als Pilger aus Rom, um am Grab des hl. Eduard des Bekenners zu beten und mit Ihnen um das Geschenk der Einheit der Christen zu bitten.“ Umso mehr überrascht es dann, dass Benedikt XVI. ausgerechnet in seiner Ansprache vor dem Erzbischof von Canterbury, dem Primas der Anglikanischen Kirche, Rowan Williams, sein Petrusamt hervorhebt. Gleich zweimal bezeichnet er sich als „Nachfolger des hl. Petrus“ – wie übrigens sonst nie auf seiner ganzen Englandreise. Am Anfang spricht er von seiner Wallfahrt „als Nachfolger des hl. Petrus auf dem Bischofsstuhl von Rom“ und später stellt er „die Treue zum Wort Gottes“ dem „intellektuellen Konformismus und der bequemen Anpassung an den Zeitgeist“ gegenüber. Und er schließt seinen Aufruf zur Treue mit der Bekräftigung ab: „Dieses Wort der Ermutigung möchte ich Ihnen heute Abend mitgeben, und ich tue das getreu meines Amtes als Bischof von Rom und Nachfolger des hl. Petrus, der den Auftrag hat, in besonderer Weise für die Einheit der Herde Christi zu sorgen.“ Benedikt XVI. ist sich treu geblieben. Auch hier sprach er nie von der „Anglikanischen Kirche“, sondern nur von der „anglikanischen Gemeinschaft“. Einerseits machte er schon im Lambeth Palace die Einschränkung: „Ich beabsichtige heute nicht, über die Schwierigkeiten zu sprechen, die sich auf dem ökumenischen Weg in der Vergangenheit ergeben haben und sich weiter ergeben werden. Diese Probleme sind allen hier bekannt.“ Andererseits betonte er Freundschaft, Hoffnung und Dankbarkeit für den begonnen Dialog und bekannte sich zur „modernen ökumenischen Bewegung“, die im „hundertsten Jahrestag der Weltmissions-Konferenz in Edinburgh“ ihre „Geburtsstunde“ feiere. Wie sein Vorgänger Johannes Paul II. betonte er, „dass das, was wir in Christus miteinander teilen, größer ist, als das, was uns noch voneinander trennt“. Genau diese klare und verbindliche Haltung scheint Papst Benedikt XVI. einen so ungewöhnlichen Respekt eingebracht zu haben. Und doch bleibt es erstaunlich, wie ernsthaft und ehrerbietig der Erzbischof von Canterbury das gemeinsame christliche Erbe herausarbeitete und angesichts des Petrusdienstes ohne jegliche Anspielungen in die Geschichte zurückgriff. Jedenfalls wurde die Begegnung zu einem gewaltigen Zeichen eines echten und ehrlichen ökumenischen Strebens von beiden Seiten.

Der „heilige Großvater“

Als im Hydepark, dem traditionsreichen Symbol freier Meinungsäußerung, nach polizeilichen Angaben mindestens 200.000 Menschen zusammenströmten, um den von den Journalisten vielfach geschmähten Papst zu hören und enthusiastisch zu feiern, verschlug es ihnen die Sprache. Das Bild, das fünf Jahre lang in England vorherrschte, brach innerhalb weniger Stunden zusammen. Dass die Sunday Times titelte: „Rottweiler? Nein, heiliger Großvater!“, ist sicherlich auch der Versuch einer Wiedergutmachung. Denn eine Gesellschaft, die einen deutschen Papst unmittelbar nach seiner Wahl mit einem bissigen Hund verglichen und in den Medien an dieser Charakterisierung über Jahre hinweg festgehalten hat, muss damit vor der Weltöffentlichkeit erst einmal fertig werden. Auch das Bekanntwerden eines Regierungsdokuments über den „idealen Besuchsablauf“, das unter anderem vorgeschlagen hatte, das Kirchenoberhaupt könnte bei seiner Visite eine Abtreibungsklinik eröffnen und eine Homo-Ehe schließen, erscheint im Nachhinein umso peinlicher. Und es war schließlich auch die Times, die noch kurz vor dem Papstbesuch eine Karikatur veröffentlichte, die das Papamobil mit mehreren Kofferanhängern und Etiketten wie „keine Kondome”, „gegen Homosexualität“ und „Missbrauch“ zeigt. All diese Faktoren wirkten sicherlich auch daran mit, dass sich dem Papst im Endeffekt die Türen weit geöffnet haben. Und er nützte die Chance, das Wort Gottes und seine Verkündigung, die ehrliche Suche nach Wahrheit und die intensive Bildung in die Mitte zu stellen, immer seinen geliebten John Henry Newman an seiner Seite. Auch das scheint den Engländern gefallen zu haben. So konnte Benedikt XVI. den Jugendlichen freimütig zurufen: „Viele Versuchungen stehen euch Tag um Tag vor Augen – Drogen, Geld, Sex, Pornographie, Alkohol –, von denen die Welt euch vorgaukelt, sie brächten Glück, doch diese Dinge sind zerstörerisch und zwiespältig. Nur eines ist dauerhaft: die Liebe, die Jesus Christus persönlich zu einem jeden von euch hat.“ Und in Konsequenz: „Eine gute Schule sieht eine ganzheitliche Erziehung für die Person vor. Und eine gute katholische Schule sollte darüber hinaus allen ihren Schülern helfen, Heilige zu werden.“ Im Parlament sprach er nicht von Heiligkeit, aber davon, dass die Politik „ auf der Suche nach objektiven moralischen Prinzipien zur Reinigung und zur Erhellung der Vernunftanstrengung“ der „korrigierenden Rolle der Religion gegenüber der Vernunft“ bedarf. Benedikt XVI. kam mit seiner Botschaft an. Alle, die dem Papst Intoleranz vorgeworfen hatten, offenbarten sich mit ihren Agitationen plötzlich als die eigentlichen Intoleranten. Der Papst aber wurde nicht belächelt, sondern erhielt die ehrlich gemeinte Auszeichnung: „Bene’s from heeaven“ – „Benedikt ist vom Himmel“.

Zum Religionsunterricht

In seiner Predigt bei der Seligsprechung von Kardinal John Henry Newman[1] in Birmingham sprach Benedikt XVI. auch von den Ideen, die der neue Selige im Zusammenhang mit der Gründung einer katholischen Universität in Irland entwickelte. Der Papst wandte sie auf den heutigen Religionsunterricht an.

Von Papst Benedikt XVI.

Welches Ziel könnten Religionslehrer sich setzen, das besser wäre als der berühmte Appell des seligen John Henry für einen intelligenten, gut unterrichteten Laien: „Ich wünsche mir Laien, nicht arrogant, nicht vorlaut, nicht streitsüchtig, sondern Menschen, die ihre Religion kennen, die sich auf sie einlassen, die ihren eigenen Standpunkt kennen, die wissen, woran sie festhalten und was sie unterlassen, die ihr Glaubensbekenntnis so gut kennen, dass sie darüber Rechenschaft ablegen können, die über so viel geschichtliches Wissen verfügen, dass sie ihre Religion zu verteidigen wissen“ (The Present Position of Catholics in England, IX, 390). An diesem Tag, da der Autor jener Worte zur Ehre der Altäre erhoben worden ist, bete ich darum, dass auf seine Fürsprache hin und durch sein Vorbild alle, die in Unterricht und Katechese beschäftigt sind, von der Sicht, die er uns so klar vor Augen hält, zu größerem Einsatz angespornt werden.


[1] Buchempfehlung: John Henry Kardinal Newman: Apologia Pro Vita Sua. Geschichte meiner religiösen Überzeugungen. 448 S., ISBN 978-3-9811452-9-8, Euro 24,90– Bestellung direkt unter Tel. 07303-952331-0, Fax: 07303-952331-5 oder E-Mail: buch@media-maria.de – Internet: www.media-maria.de

Das Charisma der sel. Mutter Teresa

Am 26. August 2010 wäre Mutter Teresa 100 Jahre alt geworden. Das ZDF strahlte dazu eine eindrucksvolle Dokumentation mit dem Titel „Mutter Teresa – Heilige der Dunkelheit“ aus. Der 44-minütige Film nimmt Bezug auf die erschütternden Briefe, die 2007 in dem Buch „Komm, sei mein Licht! Die geheimen Aufzeichnungen der Heiligen von Kalkutta“ vom Postulator für den Heiligsprechungsprozess, Fr. Brian Kolodiejchuk, veröffentlicht worden sind. Darin geht es um die innere Dunkelheit und die seelischen Kämpfe, die bis zu ihrem Tod anhielten. Außerdem feiert ihre Schwesterngemeinschaft im Monat Oktober ihr Gründungsjubiläum sowie den Tag der Seligsprechung Mutter Teresas. Pfarrer Erich Maria Fink nimmt diese Ereignisse zum Anlass, das Charisma dieses Ordens im Licht der Verkündigung Johannes Pauls II. und der aktuellen Ansprache Benedikts XVI. im Hydepark zu beleuchten.

Von Erich Maria Fink

Die Ordensgründung am Rosenkranzfest

Am 7. Oktober 2010 feiert die Schwesterngemeinschaft der sel. Mutter Teresa ihr 60-jähriges Jubiläum. Bereits 1948 tat sich Mutter Teresa mit 12 Schwestern zusammen, um eine neue Gemeinschaft ins Leben zu rufen. Doch im Oktober 1950 erhielt sie vom Vatikan die offizielle Erlaubnis, eine eigene Kongregation zu gründen. So wurden die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ am 7. Oktober 1950 als religiöses Institut für die Erzdiözese Kalkutta errichtet. Am 1. Februar 1965 erklärte Papst Paul VI. die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ durch die Erteilung des Decretum Laudis schließlich zu einem Orden „päpstlichen Rechts“ und gab ihm damit die Möglichkeit, sich über alle Länder der Erde auszubreiten. Als Mutter Teresa starb, gehörten dem Orden schon fast 4000 Schwestern an, die in 123 Ländern der Erde arbeiteten. Heute sind es über 4500 Schwestern in 133 Ländern. Dabei unterhält der Orden 710 Häuser.

Dass das Gründungsjubiläum am Fest Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz gefeiert wird, ist ein besonderes Zeichen. Die Verehrung der Gottesmutter bildet die Herzmitte der Spiritualität der seligen Mutter Teresa. Ohne Rosenkranz, ohne die mütterliche Liebe Mariens, ohne ihre bräutliche Beziehung zum Erlöser ist ihre Mission der Nächstenliebe nicht denkbar. Ihre Sendung ist zutiefst marianisch geprägt. Mit den Augen Mariens blickte sie auf die Ärmsten der Armen und erblickte in ihnen ihren Sohn Jesus. Immer waren es strahlende Augen, die Güte und Wärme verbreiteten. Und dieses Lächeln ist bis heute die „Visitenkarte“ ihrer Schwestern.

Johannes Paul II. und Mutter Teresa

Papst Johannes Paul II., der Mutter Teresa am 4. Februar 1986 in Kalkutta besuchte und sie am 19. Oktober 2003 vor einer Schar von über 300.000 Pilgern in Rom seligsprach, betrachtete ihr Wirken als prophetisches Zeichen für den Weg der Kirche in der heutigen Zeit. Sein ganzes Leben lang ging er der Frage nach: „Was ist der Mensch?“ Für ihn bestand in der ehrlichen Suche nach einer Antwort auf diese Frage der Schlüssel, die christliche Botschaft auch der modernen Welt zugänglich zu machen. Und er war davon überzeugt, dass von der richtigen Antwort die Zukunft der ganzen Menschheit abhängt. Er selbst erblickte das entscheidende Moment im Geheimnis der „Person“, die zum Einen von Natur aus nach etwas Absolutem strebt und zum Anderen sich nur in der freien Hingabe ihrer selbst an eine andere Person verwirklichen kann. Beides verlangt nach Johannes Paul II. im menschlichen Miteinander „die bedingungslose Bejahung der Person um ihrer selbst willen“. Das macht für ihn letztlich die „Würde der Person“ aus, wie sie für alle Menschen erfahrbar ist. Und die Menschheit kann nach Johannes Paul II. nur dann Frieden finden und sich als Familie der Völker positiv weiterentwickeln, wenn sie die unantastbare Würde der menschlichen Person erkennt und anerkennt. Dafür hat Johannes Paul II. auf allen Ebenen gekämpft und in Mutter Teresa einen besonderen, ja idealen Mitstreiter gefunden. Denn er war davon überzeugt, dass der göttliche Wert einer jeden Person mit Worten allein nicht vermittelt werden kann. Ein Wert muss „gefühlt“ werden. Genau darin bestand das Lebenswerk von Mutter Teresa. Sie predigte nicht mit Worten, sondern ließ die Ärmsten der Armen, die Ausgestoßenen und Sterbenden durch ihre menschliche Zuneigung spüren, dass auch sie gewollt sind, von Gott angenommen und geliebt. Voller Ehrfurcht wandte sie sich gerade denjenigen zu, die von der Gesellschaft verachtet und preisgegeben wurden, weil sie in ihnen Christus selber erkannte. Aber durch dieses Zeugnis bedingungsloser Liebe, so betonte Johannes Paul II., brachte sie Christus selber in die Welt, machte sie das Geheimnis Gottes offenbar und seine erlösende Liebe gegenwärtig.

Benedikt XVI. im Londoner Hyde Park

In seiner Ansprache im Londoner Hyde Park am 18. September 2010 stellte Papst Benedikt XVI. am Vorabend der Seligsprechung die Bedeutung von Kardinal John Henry Newman für unsere Zeit vor. Während seiner Englandreise waren es oft Themen wie Bildung, Vernunft und Wahrheit, die Benedikt XVI. mit Newman in Verbindung brachte. Im Hyde Park aber setzte er interessanterweise einen anderen Akzent. Er betonte, dass es nicht so sehr um intellektuelle Auseinandersetzungen gehe, als vielmehr um das konkrete Leben. Newman habe „klar erkannt, dass wir die Wahrheit nicht so sehr auf rein intellektuelle Weise annehmen, sondern sie vielmehr mit einer geistigen Dynamik erfassen sollen, die bis ins Innerste unseres Wesens dringt. Die Wahrheit wird nicht nur durch formales Wissen – so wichtig dies ist – übermittelt, sondern auch durch das Zeugnis des in Lauterkeit, Treue und Heiligkeit gelebten Lebens; diejenigen, die in der Wahrheit und gemäß der Wahrheit leben, begreifen instinktiv, was falsch ist, und sie erkennen genau das als falsch, was gegen die Schönheit und Güte ist, die den Glanz der Wahrheit, veritatis splendor, begleiten.“ Und Kardinal Newman lehre, „dass das ‚freundliche Licht‘ des Glaubens uns dazu führt, die Wahrheit über uns selbst, unsere Würde als Kinder Gottes und das erhabene Ziel, das uns im Himmel erwartet, zu verstehen“. Der Papst zog als Konsequenz daraus: „Jeder von uns hat eine Sendung, jeder von uns ist aufgerufen, die Welt zu verändern und sich für eine Kultur des Lebens einzusetzen, eine Kultur, die durch Liebe und Respekt für die Würde eines jeden menschlichen Wesens geprägt ist.“ Und wie wenn er Mutter Teresa vor Augen hätte, rief er dazu auf: „Jesus braucht solche, die ihr Leben dem Dienst der vollkommenen Liebe weihen, ihm in Armut, Keuschheit und Gehorsam folgen und ihm im Geringsten unserer Brüder und Schwestern dienen.“

Zum 100. Geburtstag von Mutter Teresa schrieb Benedikt XVI. eine Botschaft, in der er unterstrich, dass die Missionarinnen der Nächstenliebe ganz besonders die Einladung Christi verwirklichen: „Komm, sein mein Licht!“ Die Hinwendung Mutter Teresas zu den Ärmsten der Armen war umso überzeugender, je weniger Worte sie verwendete und je bewusster sie auf christliche Mission im Sinn der Glaubensunterweisung verzichtete. Von aller Welt wird sie als Ikone der Nächstenliebe verehrt und erhält auch im Zeitalter des zunehmenden religiösen Extremismus von den unterschiedlichsten Glaubensrichtungen Zustimmung. Gleichzeitig ist bekannt, dass sie nur eines versucht hat: Jesus Christus keinen Liebesdienst zu verweigern. Wie sehr hat sie damit der christlichen Botschaft und besonders der katholischen Kirche genützt! Mit den schönsten Worten hätte sie niemals so viele Herzen gewinnen und so weltumspannend bis in die höchsten politischen Sphären vordringen können.

Patron der Seelsorger in der Griechisch-Katholischen Kirche

Das im Juni 2010 zu Ende gegangene Jahr des Priesters war auch von der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) aufgegriffen worden. Sie lenkte die Aufmerksamkeit besonders auf den seligen Priestermärtyrer Emilian Kowcz, den sie im Vorfeld zum Patron der Seelsorger der UGKK proklamiert hatte. „Hier darf ich Gott schauen“, mit diesen Worten fasste der Blutzeuge seine Gotteserfahrung im KZ zusammen. Dr. Oleksandr Petrynko, der Vizerektor des Collegium Orientale in Eichstätt, arbeitet im nachfolgenden Beitrag die wichtigsten Aspekte des pastoralen Wirkens von Emilian Kowcz heraus. Sichtbar wird das aufregende Leben eines einzigartigen Seelsorgers. Wir freuen uns, dass wir mit diesem eindrücklichen Artikel das Verständnis der weltumspannenden Kirche vertiefen können. Nicht zuletzt wirft er ein besonderes Licht auf das Verhältnis zum Judentum.

Von Oleksandr Petrynko

Ein Vorbild im priesterlichen Dienst

In den Jahren 2009 und 2010 wurde in der katholischen Kirche durch das vom Heiligen Vater Benedikt XVI. ausgerufene Priesterjahr (19. Juni 2009 – 11. Juni 2010) das Augenmerk auf die priesterliche Berufung gelenkt. Auch die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK), die größte unter den katholischen Ostkirchen mit weltweit ca. fünf Millionen Gläubigen, widmete sich verstärkt diesem Thema. Unter anderem ging es darum, Antworten zu suchen, wie die zum Priesterstand Berufenen ihren Dienst gut verwirklichen können. Unter dem Leitmotiv, dass der Glaube und der priesterliche Dienst vom Vorbild leben, proklamierte die UGKK am 24. April 2009 feierlich in Kyiv den Seligen Priestermärtyrer Emilian Kowcz zum Patron der Seelsorger der UGKK. Dieser Blutzeuge Christi wurde durch Papst Johannes Paul II. bei seiner Pilgerfahrt in die Ukraine (23.-27. Juni 2001) zusammen mit 26 anderen Opfern des sowjetischen Regimes seliggesprochen; er war der einzige unter den 27 Neumärtyrern, der nicht von den Kommunisten, sondern von den Nazis umgebracht wurde.

„Hier darf ich Gott schauen, der für alle – unabhängig von den religiösen Unterschieden, die es unter uns gibt – gleich ist.“ Diese Worte des Seligen Emilian Kowcz lesen wir heute im Museum des ehemaligen Konzentrationslagers in Majdanek (in der Nähe von Lublin/Polen). In ihm wurde Vater Emilian Kowcz zusammen mit anderen Häftlingen vor 66 Jahren am 25. März 1944 ermordet. Der Selige nannte diesen Ort „den zweiten Himmel“, in dem er verweilen wollte.

Der Lebensweg des griechisch-katholischen Seelsorgers

Der Priestermärtyrer Emilian Kowcz (auch Omeljan Kowcz, ukr.: Омелян Ковч) wurde am 20. August 1884 in einer griechisch-katholischen Priesterfamilie in Kosmach in der Nähe von Kosiv (Galizien/Westukraine) geboren. Sein Vater war Priester und Militärkaplan. Nach dem Abitur im Lviver Gymnasium, dem theologischen Studium im Kolleg der Heiligen Sergius u. Bacchus in Rom (1905-1911) und nach der Heirat mit Maria Anna Dobrjanska (1910) wurde er 1911 von Bischof Hryhoriy Khomyshyn von Stanislav (heute Ivano-Frankivsk), der als ein Märtyrer des sowjetischen Regimes ebenfalls am 27. Juni 2001 von Johannes Paul II. seliggesprochen wurde, zum Priester geweiht. Nach einer kurzen Seelsorgetätigkeit als Pfarrer von Pidvolochysk ging er in die Mission nach Bosnien (ukrainische Emigrationsseelsorge).

Im Jahr 1916 kehrte er mit seiner Familie nach Galizien/Westukraine zurück, wo er als Pfarrkaplan in Sernyky Horishni und als ukrainischer Militärkaplan (in der Zeit des polnisch-ukrainischen Bürgerkrieges in Galizien) wirkte. Als Militärkaplan kannte man ihn als frommen Priester, der jeden Tag in der Frühe Gottesdienst feierte und tagsüber zu jeglicher geistlicher Hilfe und auch zum militärischen Einsatz bereit stand. Soldaten hatten öfter Angst um sein Leben, worauf er – wie überliefert – lächelnd zu antworten pflegte: „Ihr wisst, meine Herrn, dass ich geweiht bin, und einen Geweihten kann eine Kugel nicht so leicht durchbohren.“

Ab 1922 war Vater Emilian Pfarrer der St. Nikolaus-Pfarrei in Peremyshljany/Lviver Bezirk und war es nominell bis zu seinem Tod. Die 20 Jahre seines Dienstes als Pfarrer waren sehr bedeutend sowohl für das geistliche als auch für das kulturelle, soziale und wirtschaftliche Leben der Pfarrei. Seine Aktivitäten in diesen Bereichen gefielen weder den polnischen noch später den sowjetischen Behörden, aber noch weniger sein Eifer für die ukrainische nationale Bewegung, die er mit dem christlichen Glauben und seinen Tugenden sehr gut verbinden konnte. Durchsuchungen wurden zu regelmäßigen Erscheinungen in seinem Pfarrhaus. Zwischen den Jahren 1925 und 1934 wurde sein Haus fast 40 Mal nach Propagandamaterialien durchsucht; einige der Durchsuchungen endeten für ihn mit kürzeren oder auch längeren Aufenthalten im Gefängnis.

Mutig trat er gegen die kommunistischen Behörden und ihre Ideologie auf. Trotz des Verbots der Behörden hielt er mit seinen Pfarrangehörigen z.B. am Theophaniefest Prozessionen mit Wasserweihe ab; er lud die Menschen zu Eucharistischen Versammlungen ein, die er als eine Art Pfarrexerzitien gestaltete. Dabei bereitete er die Gläubigen intensiv auf den Empfang der Sakramente vor. Da die Zahl der Teilnehmer so groß war, dass sie keinen Platz in der Kirche hatten, hielt er diese Exerzitien mit den Gottesdiensten im Freien ab.

Mit seinem Humor, einer großen Portion gesunden Menschenverstandes und seiner Schlagfertigkeit verstand er es, viele Konflikte zu schlichten, selbst in aussichtslos erscheinenden Fällen. Diese Merkmale seines Charakters waren ihm oft auch eine große Hilfe bei den Verhören in der Untersuchungshaft der sowjetischen Behörden bzw. der Gestapo.

Vater Emilian war berühmt als begnadeter Prediger, leidenschaftlicher und einfühlsamer Seelsorger, großartiger Arbeiter bei der Betreuung der Armen und älterer Personen und der Waisenkinder seiner Pfarrei. Er war Vater von sechs Kindern (drei Töchter und drei Söhne). Zusammen mit seiner Frau lud er oft auch Waisenkinder in sein Haus ein, damit sie dort einige Zeit verbringen und auf diese Weise familiäre Atmosphäre erfahren durften. Zwei seiner Söhne, Myron und Serhiy, wurden ebenfalls Priester. Nicht zu vergessen ist auch seine schriftstellerische Tätigkeit; beispielsweise sei hier auf seine Bemühungen um die liturgische Erneuerung der UGKK in seinem 1932 verfassten Buch „Warum laufen uns die Unseren davon?“ verwiesen.

Die Bevölkerung in seiner Pfarrei Peremyshljany setzte sich zu gleichen Teilen aus Polen, Juden und Ukrainern zusammen. Er war ein Seelsorger für alle, besonders streng war er aber zu seinen griechisch-katholischen Pfarrkindern. Dies zeigt sich deutlich am folgenden Beispiel: Als die sowjetische Regierung 1939 Galizien eroberte, wollten sich manche Ukrainer an Polen rächen. Damals predigte Vater Emilian: „Ich meine, dass ich Euch immer gelehrt habe, wie man ein guter Christ sein kann … und nun muss ich mich vor dem Herrn wegen Eurer Verhaltensweise schämen.“

Ein Leben für die Anderen

Im Jahr 1942 kamen die deutschen Truppen in die Stadt, in der sie auch ein Ghetto für Juden einrichteten. In dieser Situation zeigte sich Vater Emilian als mutiger und furchtloser Kämpfer, was ihn später auch das Leben kostete. Als die Nazis an einem Sabbat in die Synagoge Sprengstoff warfen und die Tür von außen verschlossen, eilten die Nachbarn zu Vater Emilian und berichteten ihm diese Gräueltat. Ohne zu zögern, eilte er mit einigen Helfern zum Tatort. Vater Emilian, der auch gut Deutsch sprach, schrie die Soldaten an, verunsicherte und verwirrte sie, so dass sich diese von der Synagoge zurückzogen. Mit seinen Helfern riss er die Tür der Synagoge auf und rettete viele aus dem brennenden Gebetshaus, u.a. auch den Rabbi von Bels. Die Familienangehörigen von Vater Emilian und das Archiv für Kirchengeschichte der Ukrainischen Katholischen Universität in Lviv besitzen mehrere Zeugnisse über dieses und weitere Ereignisse aus jener Zeit. Die Zeugen erinnern sich daran, dass Vater Emilian damals in seinen Predigten die Gläubigen und besonders die Jugendlichen davor warnte, sich in den Dienst der neuen Machthaber zu stellen und sich auf deren antisemitische Provokationen einzulassen.

Weil er angesehen war, kamen immer wieder Gruppen von Juden aus der ganzen Umgebung zu Vater Emilian mit der Bitte, sie zu taufen. Einerseits wollte er als Priester jeden, der ihn darum bat, gut auf die Taufe vorbereiten und taufen, besonders wenn der Bewerber in einer Notsituation oder Todesgefahr war; andererseits beschäftigte ihn die Frage, ob die Taufe gespendet werden dürfe, wenn die Motivation nicht eindeutig ist. Nach längerem Ringen und einem Gespräch mit Metropolit Andrey Sheptytskyy entschied er sich für die Taufe von Juden, wenn diese zu einem Glaubensgespräch und zum Erlernen des Glaubensbekenntnisses bereit waren. Er erklärte ihnen jedoch auch, wie sein Sohn Myron, damals noch Seminarist, berichtet, dass sie die Taufe nicht unbedingt vor dem Ghetto bewahren wird. Tatsächlich mussten auch viele der Getauften in das Ghetto gehen und das Schicksal mit den nicht getauften Juden teilen. Es wird aber auch berichtet, dass die neugetauften Juden im Ghetto eine Gemeinschaft gründeten, die sich öffentlich zum Christentum bekannte.

Emilian Kowcz – ein ukrainischer Maximilian Kolbe

Der Einsatz von Vater Emilian für die Juden missfiel den neuen Besatzern. Nach einigen misslungenen Versuchen gelang es der Gestapo, Vater Emilian am 30. Dezember 1942 zu verhaften; sie brachte ihn zunächst ins Gefängnis nach Lviv. Obwohl sich Metropolit Sheptytskyy und die Familie von Vater Emilian für ihn einsetzten, wurde er nicht freigelassen, da er keine Kompromisse eingehen wollte. Im letzten Verhör in Lviv bot ihm die Gestapo die Freiheit an unter der Bedingung, dass er aufhöre, Juden zu taufen. Vater Emilian antwortete: „Das Gesetz, das mir mein Gebieter hinterlassen hat, lautet: ‚Tauft im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!’ Es enthält keinen einzigen Hinweis über die Juden. Deshalb werde ich einen jeden, der sich taufen lassen will, im Namen dieses Gesetzes taufen.“ Daraufhin wurde Vater Emilian in das Konzentrationslager Majdanek bei Lublin verlegt. Er erhielt dort die Nummer 2399.

Im Lager setzte er seine Seelsorge fort. In der 14. Baracke drückte der polnische Aufseher Sigmund Miller immer ein Auge zu, wenn Vater Emilian Beichte hörte oder Gottesdienste feierte. Seine Haft im Lager nahm der Selige als Geschenk Gottes an, zum Wohl für ihn selbst und zum Wohl der Anderen. Aus dem KZ schrieb er an seine Familie: „Ich verstehe, dass Ihr versucht, mich zu befreien. Ich bitte Euch aber, nichts zu unternehmen. Gestern ermordeten sie hier 50 Menschen. Wenn ich nicht hier bleibe, wer hilft denn ihnen, diese Leiden zu ertragen? Sie würden mit all ihren Sünden in die Ewigkeit eingehen, in tiefer Enttäuschung, die in die Unterwelt führt. Und jetzt gehen sie in den Tod mit erhobenen Häuptern, indem sie ihre Sünden hinter sich gelassen haben, und besteigen so die Brücke zur Ewigkeit.

Ich danke Gott für seine Güte mir gegenüber. Außer dem Himmel ist dies der einzige Ort, an dem ich weilen möchte. Hier sind wir alle gleich: die Polen, die Juden, die Ukrainer, die Russen, die Litauer und die Estländer. Ich bin der einzige Priester unter ihnen hier. Ich kann mir nicht vorstellen, was dieser Ort ohne mich wäre. Hier darf ich Gott schauen, der für alle – unabhängig von den religiösen Unterschieden, die es unter uns gibt – gleich ist. Vielleicht sind unsere Kirchen unterschiedlich, aber eine jede von diesen führt der gleiche, große und allmächtige Gott als König an. Wenn ich die Göttliche Liturgie feiere, beten sie alle in ihren verschiedenen Sprachen. Aber, versteht Gott nicht alle Sprachen? Sie sterben, ein jeder in seiner Todesart, und ich helfe ihnen, auf die Brücke in die Ewigkeit zu gelangen. Ist dies kein Segen? Ist dies nicht der großartigste Kranz, mit dem der Herr mein Haupt krönen kann? Ganz gewiss! Ich danke Gott täglich tausend Mal dafür, dass er mich hierher gesandt hat. Ich bitte Ihn um nichts mehr. Kümmert euch nicht um mein Schicksal und werdet deswegen nicht ungläubig. Vielmehr freut euch mit mir. Betet für die, welche dieses Konzentrationslager und dieses System aufgebaut haben. Sie sind die einzigen, die eurer Gebete bedürfen … Möge der Herr ihnen gnädig sein!“

Nach Weihnachten 1943 bekam Vater Emilian Magenbeschwerden und erkrankte schwer. Deshalb wurde er ins Lager-Lazarett verlegt. Ab dieser Zeit hörten die Mitgefangenen und auch die Angehörigen nichts mehr von ihm und seinem Schicksal. Erst 1972 erhielt eine der Töchter von Vater Emilian das Zertifikat über den Tod des Vaters. Als Grund wurde dort genannt: gestorben am 25. März 1944 an einer Thrombose im rechten Bein. Auf diese Weise endete das Leben und Wirken eines großen Mannes des ukrainischen Volkes, eines vorbildlichen Seelsorgers, eines Ehemannes und Familienvaters, eines gläubigen Christen, des Priestermärtyrers Emilian Kowcz. Wie Maximilian Kolbe vollendete auch Vater Emilian Kowcz sein vorbildliches priesterliches Leben in der Hingabe seines Lebens für die Anderen im KZ nach dem Wort des Herrn: Die größte Liebe ist, wenn einer sein eigenes Leben um Christi willen für die Freunde hingibt (vgl. Joh 15,13).

Der Gerechte der Ukraine

Am 9. September 1999 proklamierte der Rat der Juden in der Ukraine Emilian Kowcz zum „Gerechten der Ukraine“. Viele von ihm gerettete Juden erinnerten sich mit Emotionen an ihn. Mit eindrucksvollen Worten sprach z.B. Rubin Pizem von Vater Emilian: „Wir werden ihn nie vergessen. Es ist schwierig, von ihm zu reden, denn ich berichte nicht über einen Menschen, sondern über einen Engel.“

Wenn wir, die Christen von heute, aus dem Leben, dem Wirken und dem Märtyrertod von Vater Emilian etwas lernen wollen, dann können uns die Worte des Patriarchen der UGKK Lubomyr Husar bei einem Gottesdienst für die Opfer des Konzentrationslagers am 25. März 2002 in Majdanek eine Hilfe sein. Über die Bedeutung des Seligen Emilian Kowcz für uns sagte er damals: „Wir haben uns hier versammelt, um Vater Emilian zu ehren. Er war Sohn und Priester seines Volkes, der den Märtyrertod im Land eines anderen Volkes erlitt, weil er die Söhne und Töchter eines dritten Volkes rettete. Wir sind hierher auch deshalb gekommen, um etwas sehr Wichtiges mitzunehmen: Erstens, man kann auch unter den schlimmsten Umständen ein guter Mensch bleiben; zweitens, unser Glaube ist unsere Kraft gegen unsere Schwächen; und drittens, wir müssen alles dafür tun, dass sich solche Tragödien wie diese nie mehr wiederholen. Wollen wir von diesem Ort als bessere Menschen in die Welt hinaus gehen!“

Sel. Emilian, hilf uns über die Brücke, du weißt schon welche!

Von Weihbischof Andreas Laun OSFS

Ich weiß leider nicht mehr, wo und wann ich diesem großen Seligen, dem ukrainischen, polnischen, österreichischen Priester Emilian Kowcz das erste Mal begegnet bin. Er stammte aus Lemberg, seine Heimat gehörte immer wieder zu anderen staatlichen Gebilden, zu Österreich-Ungarn, zu Polen, zur Ukraine, und alle dürfen, alle sollten auf ihn stolz sein! Aber eigentlich gehörte er zu keinem Land, in Wirklichkeit war er im Sinne des Psalm 87,2 „Bürger“ jenes Jerusalems, das der Herr sich für immer zu „Seiner“ Stadt erwählte, in der jeder Mensch „geboren“ und seine Heimat hat, der Gott erkannt hat, Ihn liebt und Christus nachfolgt! Anders gesagt: Der große Priester Emilian war vor allem Sohn der heiligen Kirche Jesu Christi und hätte alle seine „Heimaten“ für diese eine wahre Heimat verlassen! Oder besser gesagt: Genau das hat er getan, alles verlassen um Christi willen! Heute ist er bereits im „himmlischen Jerusalem“ und sitzt mit Pater Maximilian Kolbe und vielen anderen, den beiden in der Art ihres Sterbens ähnlichen Märtyrern am Tisch des himmlischen Hochzeitsmahles! P. Kolbe gab sein Leben freiwillig hin für das Überleben eines Anderen, Emilian Kowcz wollte im KZ bleiben, um den Mitgefangenen „Brücke in die Ewigkeit“ zu sein, und Ignatius v. Antiochien, ihr wohl berühmtester „Vorgänger“, wenn man so sagen kann, wollte ebenfalls nicht befreit werden, um endlich zu Christus zu gelangen. Ihre Motive waren ein wenig verschieden und doch war es nur ein einziges Motiv, am klarsten sichtbar vielleicht doch beim hl. Ignatius: Als man ihn nach Rom brachte, um dort den wilden Tieren vorgeworfen zu werden, war zu erwarten, dass ihn die dortigen Christen mit Hilfe ihrer Beziehungen retten würden. Ignatius flehte sie an, das nicht zu tun, denn: „Ich sterbe gerne für Gott, wenn nur ihr mich nicht hindert! Ich ermahne euch, mir kein unzeitiges Wohlwollen zu erzeigen … Seid nachsichtig mit mir, hindert mich nicht zu leben! Lasst mich das reine Licht empfangen, dort angelangt, werde ich wirklich Mensch sein! Verwehrt es mir nicht, Nachahmer des Leidens meines Gottes zu sein. Wenn einer ihn in sich hat, muss er verstehen, was ich will, und Mitgefühl mit mir haben…!“ Kolbe und Kowcz hätten ihn sicher verstanden. In uns „normalen“ Christen“ sollte ihr Beispiel die Sehnsucht wecken, solche Heilige zu verstehen, auch wenn wir Gott gleichzeitig bitten, uns ihre Liebe zu schenken, aber ein ähnliches Leiden wie das Ihre zu ersparen.

Papst Benedikt XIV. hat uns Priestern und Bischöfen den hl. Pfarrer v. Ars als Vorbild vor Augen gestellt, die griechisch-katholische Kirche hat ihm Emilian Kowcz zugesellt. Seit ich um ihn weiß, verehre ich ihn, mit und ohne „Ernennung“! Es ist übrigens gut, dass er verheiratet war! Denn sein Leben zeigt, dass es Heiligkeit auch ohne Zölibat geben kann und wirklich gibt. Es zeigt aber auch, dass man auf die Familie verzichten kann, um bei denen zu bleiben, die eine „Brücke“ brauchen und einen Priester, der ihnen drüberhilft! Daher: Sel. Emilian, hilf uns, wie du es im KZ gemacht hast: allen, Katholiken und anderen Christen, den Juden, die du besonders geliebt hat,  und allen anderen Menschen auch, hilf uns über „die Brücke“, Du weißt schon welche!

Der Missionsauftrag der Kirche für das Judentum

Prof. Dr. Klaus Berger ist dafür bekannt, dass er seit Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit eine Lanze für das Judentum bricht. In seinem Beitrag nimmt er auf erfrischende Weise zu den heiklen Fragen der Judenmission Stellung. Er geht auf die jüngsten Auseinandersetzungen um die Karfreitagsfürbitte für die Juden ein und verteidigt Papst Benedikt XVI., er bewertet die Gründung des Staates Israel und stellt sich eindeutig auf die Seite der messianischen Juden. Ihnen misst er eine große heilsgeschichtliche Bedeutung zu, auch wenn sie sich in der Art einer Freikirche organisieren. Prof. Berger gibt klare und eindeutige Antworten, die er durchgehend biblisch fundiert. Ein spannender Artikel, der auf einen Vortrag im Rahmen des diesjährigen KIRCHE heute-Frühjahrsforums zurückgeht.

Von Klaus Berger

Evangelisierung durch Wundertaten oder durch Belehrung

Im 28. Kapitel des Matthäus-Evangeliums heißt es: „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,19f.). Gilt dieser generelle Missionsauftrag wirklich auch für die Judenmission?

Für Völker steht im Griechischen hier der Ausdruck „ethnä“. Im Sinn der Bibel sind damit alle Heidenvölker gemeint. Seit den Propheten-Übersetzungen der griechischen Bibel werden mit diesem Wort ganz klar die nicht-jüdischen Völker bezeichnet.

Kennt dasselbe Matthäus-Evangelium auch eine besondere Mission an Israel? Davon ist in Matthäus 10 die Rede. Zunächst heißt es: „Jesus rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Vollmacht, die unreinen Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen“ (Mt 10,1). Dann sagt Jesus zu diesen Zwölf: „Geht nicht auf einen Weg der Heiden (ethnon) und betretet keine Stadt der Samaritaner, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“ (Mt 10,5-8).

Die Rede Jesu behandelt weiter die Verfolgung der Jünger und schließt in 10,23 mit den Worten ab: „Amen, ich sage euch: Ihr werdet nicht zu Ende kommen mit den Städten Israels, bis der Menschensohn kommt.“ Bis er wiederkommt, bis zur Wiederkunft Christi also werden die Jünger mit der Mission Israels beschäftigt sein. Und sie sollen eben nicht zu den Heiden gehen.

Man hat lange über das Verhältnis von Matthäus 10 zu Matthäus 28, also zur generellen Beauftragung der Jünger mit der Mission gerätselt. Denn es ist klar: Diese beiden Texte widersprechen einander. Entweder geht man zu den Völkern oder man geht nur zu Israel. Da formulierte man die These, der Text Matthäus 10 beziehe sich nur auf die Mission zu Lebzeiten Jesu, Matthäus 28 dagegen auf die Mission nach Ostern. Dem aber widerspricht, dass in Matthäus 28 eben nur von den Heidenvölkern die Rede ist und dass es in Matthäus 10 ausdrücklich heißt: „Ihr werdet nicht fertig werden mit den Städten Israels, bis der Menschensohn kommt“ – also keine Begrenzung durch Ostern, sondern eine Begrenzung durch die Wiederkunft des Menschensohnes.

Daher ein anderer Vorschlag: Matthäus 10 beschäftigt sich mit der Israelmission vor und nach Ostern, Matthäus 28 hingegen mit der Heidenmission. Das kann man auch inhaltlich begründen. In Matthäus 10 werden die Jünger nämlich nicht damit beauftragt, die Leute zu lehren, sondern sie sollen die Kranken heilen und die Toten auferwecken, die Aussätzigen reinigen und die Dämonen hinauswerfen. Es soll also ganz klar eine Verkündigung der „Nähe des Gottesreiches“ stattfinden, unter der Überschrift: durch Wundertaten und nicht durch Belehrung. In Matthäus 28 dagegen ist nur von der Belehrung die Rede: „Lehrt sie alles halten, was ich euch aufgetragen habe!“ Von Wunderzeichen ist dagegen überhaupt nicht die Rede, was schon sehr erstaunlich ist.

Dahinter steckt System und dieses System wird an einer Stelle des Neuen Testaments erklärt, die bis dahin immer rätselhaft war. In 1 Kor 1,22 sagt Paulus: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit.“ Die Juden fordern Zeichen und genau diese Zeichen werden ihnen gegeben: durch die Krankenheilungen und Exorzismen, die Jesus mit der Aussendungsrede in Matthäus 10 den Jüngern zu wirken aufträgt. Und die Griechen fordern Weisheit. Das ist genau die Belehrung, zu der Jesus die Jünger nach Matthäus 28 auffordert: „Macht zu Jüngern alle Völker und lehrt sie alles zu halten, was ich euch aufgetragen habe.“ Und Weisheit lehrt man. Der Weisheitslehrer ist der Philosoph. Das frühe Christentum hat selber deutlich zwischen den Erfordernissen der Judenmission und der Heidenmission unterschieden. Das Erfordernis der Judenmission sind die Zeichen der Heilung von Krankheiten, das Erfordernis der Heidenmission die Verkündigung des Monotheismus, der Wahrheiten des Katechismus und all der Dinge, die zur Lehre dazugehören, aber eben nicht die Zeichen.

Judenmission durch Juden

Das heißt, die Judenmission ist nach dem Neuen Testament von der Heidenmission getrennt. Der Auftrag der Judenmission richtet sich ganz speziell an die zwölf Jünger, die selber Juden sind. Und es scheint daher der Schluss naheliegend, dass Judenmission auf jeden Fall nur durch Juden vollzogen werden kann. Es ist ausdrücklich das Geschäft der Zwölf, die aus Palästina kommen und dort zu Hause sind. Die Heidenmission dagegen ist anders und wird weltweit vollzogen. Wenn man das auf die Gegenwart anwenden will, kann man sagen: Eine Judenmission durch Heidenchristen ist nicht vorgesehen.

Dass also Heidenchristen, wie wir es sind, nach Israel gingen, um dort Juden zu bekehren, ist im Neuen Testament nirgendwo vorgesehen und es widerspräche auch dem Stolz des Gottesvolkes. Vielmehr rechnet das Gottesvolk damit, dass bis zur Realisierung des Neuen Bundes nach Jeremia 31,31 unter den Juden einer den anderen über Gott belehrt. Das ist sozusagen auch der Missionsauftrag im Zeichen des Neuen Bundes – als ein Geschäft unter Juden. Die paulinische Regel im Römerbrief macht hinsichtlich der Mission ganz klar: Die ersten Anwärter der Verkündigung sind Juden, dann kommen die Heiden an die Reihe. Aber dass sich die Heiden an Israel zurückwenden und hier eine Bekehrung vollziehen, ist nicht vorgesehen und wird im Neuen Testament nirgendwo berichtet.

Vielmehr versucht Paulus, der eigentlich zu den Heiden gesandt ist, durch die Berufung der Heiden nebenbei noch einige von den Juden eifersüchtig zu machen, damit sie sich auch zu Jesus Christus bekehren. Diese berühmte Stelle über das Eifersüchtigmachen steht im Römerbrief (11,14). Dort wird noch einmal erkennbar, dass Paulus als Judenmissionar eigentlich der ist, der für die Juden zuständig ist. Er hat ja jede Menge Heiden missioniert, aber er erwartet von keinem dieser Heiden, dass sie nun nach Israel gehen und Juden missionieren. Die Würde des Volkes der Juden kommt also darin zum Ausdruck, dass es heißt: zuerst die Juden und dann die Heiden. Daraus folgt auch, dass sich die Juden anschließend das Zeugnis gegenseitig weitergeben müssen.

Im Übrigen sagt ja Jesus nach Matthäus 15,24 selber, dass er nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt ist. Es handelt sich also um Jesu eigene Sendung vor Ostern. Das, was er wirklich leibhaftig tut, ist, dass ein Jude, nämlich er, die anderen Juden belehrt. Auch der Auferstandene geht nicht zu den Heiden. Nach Ostern tun das eben seine Jünger, aber nicht der Auferstandene. Also noch nicht einmal Jesus selber geht zu den Heiden, um sie zu bekehren, sondern beschränkt seine Sendung auf Israel.

Resultat: Wenn in der Gegenwart irgendjemand zur Mission der Juden berufen ist, dann wären es die messianischen Juden. Sie erfüllen die Grundlage, die Forderung: Juden erzählen Juden vom jüdischen Messias. Im Übrigen mangelt es natürlich den Heiden an den Grundvoraussetzungen der Glaubwürdigkeit. Damals, auch schon zur Zeit Jesu, ist der Ausdruck für Heide und für Sünder identisch. Die Heiden sind aus der Sicht des Judentums immer weiter weg von Gott als das Volk Israel. Das bedeutet nicht, dass sie etwa Menschen zweiter Klasse sind. Es ist schlichte Erwählungstheologie. Daher ist auch die Einschränkung, die Jesus für sich selber macht, ganz glaubwürdig. Er sagt: Wenn ich mich als Messias Israels „verzettele“ und mich ab und zu auch auf ein paar Heiden einlasse, dann mache ich meinen Weg im Ganzen unglaubwürdig. Deshalb gestattete er nach Markus 7,24-30 (Matthäus 15,21-28) der Kanaanäerin nur den Exorzismus und nach Matthäus 8,5-13 (Lukas 7,1-10) dem römischen Hauptmann nur die Fernheilung. Und er ist weit davon entfernt, jemals ein heidnisches Haus zu betreten. Die absolute Distanz bleibt also gewahrt.

Deshalb kommt die Heilsgeschichte aus meiner Sicht nur durch messianische Juden wirklich voran. Sie können dieses Grunderfordernis vorbereiten, dass sich Juden zu Jesus Christus bekennen und bekehren.

Benedikt XVI. und die Karfreitagsfürbitte

Bei den Resümees über die ersten fünf Pontifikatsjahre Benedikts XVI. wurde immer wieder der Vorwurf laut, er habe durch die Genehmigung der alten Karfreitagsfürbitte die Liturgie unterstützt, die zur Judenmission aufrufe. Und ein Journalist schreibt diese Falschmeldung vom anderen ab. Keiner von ihnen hat je den Text der Karfreitagsliturgie gelesen. In der Fürbitte wird nicht zur Judenmission aufgerufen, sondern es wird darum gebetet, dass Gott die Juden die Wahrheit erkennen ließe. Und das steht in der alten Karfreitagsfürbitte genauso wie in der neuen. Das heißt, dieser Streit ist an den Haaren herbeigezogen. Und überhaupt rufen liturgische Texte nicht zu etwas auf, sondern sie sind bezogen auf Fürbitte, Lobpreis und Danksagung.

Außerdem wird die Unterstellung, es würde jetzt wieder zur Judenmission aufgerufen, als antisemitischer Akt gedeutet. Dies kann man überall lesen. Der Papst ist als Antisemit gestempelt, weil er für Juden beten lässt. Ich denke, dass hier die Tatsachen genau umgedreht werden. Wenn ich für jemanden um etwas bitte, das aus meiner Sicht etwas Gutes ist, dann will ich doch nichts Böses, sondern im Gegenteil, dann möchte ich gerne, dass er zur Erkenntnis einer auch von mir geschätzten Wahrheit kommt. Eine Besonderheit in der alten Karfreitagsfürbitte ist das Wort „perfide“. Es bedeutet aber etwas ganz anderes als das deutsche Lehnwort. Vielmehr bezeichnet es die Juden, die nicht an Jesus Christus glauben. Und dass sie nicht an ihn glauben, das sagen sie ja doch selber. Also meint hier die Verwendung des Wortes perfidus dasselbe wie die des Wortes infidelis. Es bedeutet also nichts anderes als ungläubig. Allerdings ist infidelis im Sprachgebrauch der Kirche ein Ausdruck für die Heiden, die nicht an Jesus glauben. Beispielsweise wird jemand Weihbischof in partibus infidelium. Er erhält also den Titel nicht einer Stadt im Reich Israel, sondern im Gebiet der ungläubigen Heiden. Aber hier geht es um Israel. Deshalb ist der zutreffende Ausdruck nicht infidelis, sondern perfidus. Entscheidend ist, dass er hier nicht im Sinn von perfide als moralischer Untugend gebraucht wird, sondern einfach im Sinn des Nicht-Glaubens an Jesus. Man kann also in keinem Fall behaupten, dass man aufgrund der Bitte um das Gläubigwerden von Israel antisemitisch wäre oder dass man den Juden etwas nehmen möchte. Es soll ihnen etwas geschenkt werden und das kann nur Gott, nicht eine Judenmission, die von der Kirche ausgeht.

Aber selbst, wenn eine Mission der Kirche an den Juden stattfände, wäre dies kein Verbrechen. Der Versuch, andere Leute zur Wahrheit zu führen, gilt neuerdings als Verstoß gegen die Toleranz. Von Mission darf man ohnehin nicht mehr reden. Offenbar soll die Kirche mit den Heidenvölkern nur noch Dialoge führen. Das ist nun auch wieder gegen den Sinn des Neuen Testamentes. Dort heißt es nicht: „Führt Dialoge mit anderen Religionen bis ans Ende der Welt!“, sondern: „Missioniert sie, macht sie zu Jüngern und lehrt sie, das zu halten, was im Evangelium steht!“ Aber unsere Zeiten sind auf Toleranz eingestellt und der, der andere überzeugt, gilt als intolerant. Das bekomme ich persönlich in jedem Fernsehauftritt zu hören. Ich sei ein Muster von Intoleranz, weil ich überhaupt von Wahrheit rede. Wenn heute jemand wagt, in einem öffentlichen Medium das Wort Wahrheit auch nur in den Mund zu nehmen, gilt er als Fundamentalist und verstößt gegen jede Art von Toleranz. Toleranz soll ja heißen, dass alle Religionen Recht haben, aber interessanterweise besonders diejenigen, die den Christen alle Möglichkeiten entziehen möchten.

Nüchterne Deutung der Gründung des Staates Israel

Im Zusammenhang mit der Judenmission wird oft eine weitere Frage gestellt: Ist auf dem Weg zur Rettung Israels nicht auch die Gründung des Staates Israel ein „Zeichen“ und ein heilsgeschichtliches Phänomen? Jesus hat eine Fülle von Zeichenhandlungen in die Welt gesetzt. Diese Zeichen haben alle die Eigenschaft, dass sie auf einem begrenzten Gebiet und in völliger Klarheit geschehen. Sie sind nur vom Himmel her zu erklären, nur in himmlischer Grammatik überhaupt verständlich. Zeichen also sind Wunder, die eindeutig sind: Entweder ist der Mann tot oder er ist wieder zum Leben gekommen, entweder ist er gelähmt oder er kann wieder laufen. Zeichen sind per definitionem in sich begrenzt, das heißt, sie können, weil sie eindeutig sind, nur eine himmlische Deutung zulassen. Und weil sie begrenzt sind, können sie nicht große internationale undurchschaubare Phänomene wie die Gründung des Staates Israel verständlich machen. Ich würde sagen, nach dem biblischen Verständnis von Zeichen kann die staatliche Gründung Israels nicht als Zeichen betrachtet werden. Denn dies ist ein so vielschichtiges und vieldeutiges Unternehmen, dass es auch in Israel selber keineswegs als eindeutig akzeptiert ist. Daher sollte man dem schönen rabbinischen Grundsatz folgen, welcher lautet: Im Zweifelsfalle lieber nicht segnen! Er würde hier bedeuten: Wenn ein Zweifel besteht, ob etwas ein Zeichen ist, dann sollte man diese Anerkennung besser nicht aussprechen bzw. zurückhaltend sein.

Eindeutige Zeichen mit einer Botschaft auf kleinem Terrain sind beispielsweise Jesu Wundertaten, die Einsetzung der Eucharistie oder die Vertreibung der Händler aus dem Tempel. Die Gründung des Staats Israel jedoch, die aus ganz unterschiedlichen Motiven seitens unterschiedlichster Völker geschah und im Übrigen auch einen ganzen Rattenschwanz von Unrecht im Gefolge hatte, kann kein biblisches Zeichen sein. Aber wäre nicht vielleicht das Übersiedeln ins Heilige Land ein solches Zeichen? Wäre dies nicht das Vorzeichen eines Vorzeichens, wenn sich Juden wieder allmählich in Israel sammeln? Auch da wäre ich skeptisch. Ich würde sagen, die Vorzeichen von Vorzeichen waren in der Geschichte immer besonders blutig. Ein Beispiel ist das Täuferreich in Münster: Die Leute wollten damals in Münster eine Vorstufe des Tausendjährigen Reichs errichten. Dafür aber sind sie gegenüber Menschen und Dingen grausam vorgegangen. Ich bin daher nicht der Meinung, dass das Täuferreich in Münster in die christliche Eschatologie hineingehört, sondern in die Usurpationen der Eschatologie. Usurpation nennt man eine widerrechtliche Machtergreifung bzw. eine missbräuchliche Inanspruchnahme. So schlimm muss man das Siedeln in Israel nicht unbedingt deuten, aber es geht doch auch hier um ein gerütteltes Maß an Grausamkeit gegenüber denen, denen das Land gehörte. Dazu kommt viel Zweideutigkeit aus sehr widerstreitenden Machtinteressen. Deshalb würde ich auch hier mit einer Beurteilung ex cathedra vorsichtig sein.

Heilsgeschichtliche Rolle der messianischen Juden

Gleichzeitig kann ich sagen: Wir freuen uns über jeden Juden, der an Jesus Christus glaubt. Und wenn zu mir als christlichem Theologen ein Jude käme und sagte: „Ich möchte getauft werden, weil ich Jesus liebe“, dann würde ich das auch tun. Meine Antwort wäre also nicht: „Fahre zu meinem Kollegen Benjamin Berger, dem messianischen Juden, nach Israel! Der kann dich taufen.“ Wenn also ein Jude die Bitte um die Taufe an mich herantragen würde, könnte ich ihm die Spendung um seiner Seele Seligkeit willen nicht verweigern.

Aber ich erinnere mich an eine Geschichte meines alten Freundes Karl-Heinrich Rengstorf in Münster. Er war ein konservativer Protestant, wie er im Buche steht. Wegen der Linkstendenzen der protestantischen Kirche wurde er Altlutheraner. Eines Tages erzählte er, ein Jude sei zu ihm gekommen und habe ihm erklärt, er möchte Christ werden, was er ihm rate. Rengstorf hat geantwortet: „Bleiben Sie Jude und lieben Sie Jesus! Wenn Sie die jüdische Gemeinschaft verlassen und in die Westfälische Landeskirche eintreten, werden Sie sich nur zu Tode ärgern. Deshalb bleiben Sie messianischer Jude!“ Und da hatte Karl-Heinrich Rengstorf meine Sympathien auf seiner Seite. Man kann sich ja taufen lassen und Jude bleiben. Genau das wollen die messianischen Juden und so erfüllen sie aus meiner Sicht eine weltgeschichtlich einmalige Aufgabe. Wie lange deren Aufgabe dauern und ob sie überhaupt dauerhaften Erfolg haben wird, das liegt in Gottes Hand. Es gibt mittlerweile ungefähr 200.000 messianische Juden. Sie sind ein Zeichen dafür, dass sich etwas ändert. Und ich finde es auf jeden Fall bedenkenswert, dass sich da überhaupt etwas tut. Wir christlichen Kirchen könnten, so denke ich, unserer Verpflichtung zur Ausbreitung des Evangeliums nachkommen, indem wir die messianischen Juden durch unsere Kollekten unterstützen. Das tat Paulus auch. Er sammelte unter seinen heidenchristlichen Gemeinden Gelder, um sie, wie er sagt, an die Armen der Heiligen von Jerusalem zu überweisen. Ohne eine positive Beziehung zu den messianischen Juden fehlt der Kirche das entscheidende Mittelglied, die entscheidende Verbindung zu Israel. Eine solche Verbindung aber ist notwendig; denn wir bekommen das Heil nicht ohne Israel. Auch Paulus, der zur Heidenmission berufen wird, betont immer wieder: Alles Heil, von dem ihr träumt, könnt ihr nur wegen Abraham erlangen. Ich könnte es zugespitzt so formulieren: Es gibt keine direkte Verbindung zwischen Vatikan und Himmel. Die Verbindung läuft vielmehr über Abraham. Denn Abraham wurde gesegnet und ihm wurden alle Verheißungen überhaupt gegeben. Deshalb müssen wir so oder so irgendwie Kinder Abrahams werden. Es geht nicht um die Beschneidung, sondern unser Glaube ist wie der Glaube Abrahams. Für Paulus glaubt eben Abraham an den Gott, der Tote erwecken kann. Wenn unser Glaube auf den Gott geht, der Tote lebendig macht, dann ist er ein Glaube, wie auch Abraham ihn hatte, sagt Paulus in Römer 4. Und so dürfen wir uns auch Kinder Abrahams nennen. Aber das ist auch nötig, weil ihm die Verheißungen gelten und nicht uns. Am schönsten verdeutlicht es Paulus in Römer 12,1-3: In dir werden gesegnet (oder: sollen sich segnen) alle Heidenvölker. „In Abraham“ bedeutet „auf dem Weg über ihn“. Für Paulus ist das nicht nur eine bloße Idee, sondern in der Kollekte für die messianischen Juden in Jerusalem eine sehr reale kirchenpolitische Anbindung. Paulus schreckt nicht davor zurück, hier zu sagen: Euer Glaube ist nicht glaubwürdig, wenn ihr nicht die messianischen Juden in Jerusalem unterstützt. Vermutlich hat sein Bemühen am Ende nicht geklappt. Die Gemeinde wies seine Unterstützung zurück, als sie um ihr Leben fürchtete. Manchmal geht es den messianischen Juden heute ebenso. Den Juden gelten sie als Verräter und der übrigen Christenheit als Leute, die in keiner Kirche sein wollen. Sie gehören also nicht dazu und sind Menschen, die zwischen allen Stühlen sitzen. Aber ich glaube, um solche Menschen hat sich Jesus immer besonders bemüht.

Und für mich ist das angesichts der Verhärtung der Kirchen gerade in Deutschland wieder etwas ganz Wunderbares, wenn man zwischen allen Stühlen sitzt.

Verliebtheit und wahre Liebe

In unserer Juni-Ausgabe 2010 druckten wir die Erfahrungen und Nöte der 15-jährigen Schülerin Isabell mit dem Religionsunterricht ab. Im Bericht war auch ein besonderes Zeugnis enthalten, in dem sie erklärt hatte, warum sie „keinen Sex vor der Ehe will und wie sie zu dieser Erkenntnis kam“. Wir hatten diesen Abschnitt als einen eigenen Beitrag für eine spätere Nummer angekündigt. Nachfolgend veröffent-lichen wir diese Gedanken zusammen mit einer kurzen Kommentierung durch Weihbischof Dr. Andreas Laun. Im Erfahrungs-bericht der Schülerin, der manchmal etwas erwachsen klingt, kommt zum Ausdruck, dass sie eine gute Begleitung erfährt. Sie selbst schreibt ehrlich davon, sie habe die Gedanken zur Sexualität auf einer Teenstar-Schulung mitbekommen. Dies wirft ein Licht darauf, wie wichtig solche Bewegungen sein können.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Eine der immer wiederkehrenden Fragen junger Menschen bezieht sich, es ist leicht zu erraten und leicht zu verstehen, auf die Frage, warum man vor der Ehe rein, enthaltsam, keusch leben sollte! Früher war die Antwort der Erwachsenen oder Priester in einer Hinsicht leichter, denn man konnte immer auf die unwiderlegbare „Gefahr“ eines unehelichen Kindes verweisen, und das war, bis zu einem gewissen Grad, eine gute, richtige und motivierende Antwort. Wirklich ausreichend war sie allerdings auch früher nicht, aber im Zeitalter der Kondome und der Pille genügt sich wirklich nicht mehr.

Außerdem, bei aller Argumentation sollte man es sich ohnehin so schwer als möglich machen, und das heißt: „Die Antwort muss überzeugend sein auch für die jungen Menschen, die sich wirklich lieben und nicht „nur den Spaß“ suchen, und sie muss halten, wenn junge Leute sagen könnten: Wir würden nach der Natürlichen Empfängnisregelung leben und keine Verhütungsmittel nehmen! Das heißt: Die Antwort ist nur wirklich gut, wenn sie von der Liebe her begründet ist! Ein 15jähriges Mädchen schrieb mir zu diesem Thema. Sie schreibt natürlich in ihrer Sprache, auf ihre Weise, aber – lesen Sie selbst:

ICH weiß, warum man keinen Sex vor der Ehe haben soll. Wenn Sie das, werter Leser, nicht verstehen, will ich Sie trösten, ich hab es am Anfang auch nie verstanden. Ich versuche kurz, meine Ansicht zu erklären:

Wenn Sie heute jemandem auf der Straße begegnen, werden Sie ihm nicht gleich hundert Euro schenken, oder tausend? Oder das wertvollste, was Sie besitzen? Zuerst muss man sich einmal kennen! Vielleicht, wenn man sich ein bisschen besser kennt, schenkt man sich eine Schokolade, als Zeichen der Freundschaft. Wenn man schon gut befreundet ist, leiht man sich auch einmal das Handy oder Geld. Aber wenn man jemandem hundert Euro leiht, muss man ihn schon ziemlich gut kennen und ihm vertrauen.

Stellen Sie sich jetzt vor, Sie kennen jemanden erst eine Stunde, und er bittet Sie um fünfzig Euro, die er ihnen sicher zurückzahlt. Sie vertrauen ihm und geben sie ihm. Aber, so wie es oft ist, haut dieser Mensch ab und kommt nicht wieder. Wie fühlen Sie sich? Hintergangen? Ausgenutzt? Ja, ausgenutzt.

Und jetzt, sehen wir uns die Sache aus einer anderen Perspektive an. Was ist das wertvollste, was Sie besitzen?  Geld? Haus? Auto? Nein! Das sind Sie selber! Ihr Körper und Ihre Seele! Die sind nämlich unbezahlbar!

Stellen Sie sich vor: Sie geben jemandem, den Sie nicht einmal richtig kennen, alles, was Sie haben – nämlich sich. Und was ist die Gegenleistung? Die Liebe natürlich! Die Liebe ist das kostbarste und wertvollste. Aber wie soll man sich, mit so kurzer Bekanntschaft, Liebe schenken können und sollen? Wahre Liebe ist nicht nur ein Gefühl – Liebe ist eine Entscheidung! Das, was heutzutage als Liebe bezeichnet wird, ist oft nur Verliebtheit. Aber bevor es zur wahren Liebe kommt, muss man sich erst richtig kennenlernen und verschiedene Stadien durchmachen. Die wären: Verliebtheit, Projektion, Enttäuschung, Ergänzung, Wahre Liebe! Das habe ich aus dem TeenSTAR-Kurs. Der ist nicht einmal katholisch, sondern allgemein menschlich, für jeden Menschen verstehbar.

So. Und warum dann nicht Sex vor der Ehe? Ich könnte ja jemanden wirklich sehr gut kennen, oder? In der Ehe gibt man sich das Versprechen, treu zu bleiben in guten und in schlechten Tagen. Erkennen Sie, was für ein Schutzzelt die Ehe ist? Wenn der eine dem anderen ganz vertrauen kann, dass man sich bemüht und sich immer treu bleiben will! Da muss man keine Angst haben, dass der eine sich mit einer anderen trifft oder sie sich einen anderen suchen könnte. Die Ehe ist ein wahres Zelt, unter das man sich bei der Hochzeit stellt. Und das beste, wertvollste und schönste, was man sich schenkt, ist man selbst!

Frage: Wenn man sich jetzt schon einem anderen geschenkt hat, was bleibt für deinen Ehepartner? Dann ist Deine Liebe kein einzigartiges Geschenk mehr! Wenn Ihr Freund Geburtstag hat, schenken Sie ihm doch auch nicht eine Tafel Schokolade, von der schon zehn andere heruntergebissen haben. Sie geben ihm eine neue, gut verpackte. Das ist meine Ansicht über Thema Liebe und Sex. –

Lieber Leser, ich habe den Text ein klein wenig gekürzt und dabei auch korrigiert. Etwa wenn die Verfasserin einmal schreibt, Verliebtheit sei nur von Hormonen gesteuert, tut sie mit dem Wörtchen „nur“ der Verliebtheit und ihrem Zauber Unrecht! Aber das sind Kleinigkeiten, und ich denke, alles in allem ist das, was das Mädchen schreibt, lesenswert. Vielleicht erreicht sie mit ihren Gedanken die jungen Leser viel, viel besser als ein Professor der Theologie oder auch ein Bischof?

Der „kleine Weg“ der hl. Therese von Lisieux

Am 1. Oktober feiert die Kirche das Fest der hl. Therese von Lisieux (1873-1897). Bereits 1923 wurde sie von Papst Pius XI. selig- und 1925 heiliggesprochen. Außerdem erhob er sie am 14. Dezember 1927 neben Franz Xaver zur Patronin der Weltmission. Auf dem XII. Weltjugendtag in Paris widmete ihr Papst Johannes Paul II. am 24. August 1997 die Ansprache beim abschließenden Angelus. Er kündigte an, dass er „am Weltmissionssonntag, dem 19. Oktober 1997, in der Petersbasilika zu Rom die hl. Therese vom Kinde Jesu und vom hl. Antlitz zur Kirchenlehrerin erklären werde“. Gleichzeitig stellte er sie den Jugendlichen als Leitfigur für den Aufbau einer neuen Zivilisation der Liebe vor: „In der Schule des Evangeliums öffnet sie euch den Weg zur christlichen Reife; sie ruft euch zu grenzenloser Großzügigkeit auf; sie lädt euch ein, im ‚Herzen‘ der Kirche Jünger und eifrige Zeugen der Liebe Christi zu sein.“

Von Notker Hiegl OSB

Das Geheimnis des Kindseins

Es ist schon länger her, als mich einmal meine Schwester Gertrud mit ihren drei Kleinen besuchte. Gleich beim Betreten des Klosters fragte die 4-jährige Katharina nach der Bedeutung des großen Bildes im Pforten-Foyer. Sofort erklärte der 5-jährige Nikolaus etwas belehrend: „Das ist doch der Erzengel Gabriel, der Maria sagt, dass der Heiland auf die Welt kommt.“ Die umstehenden Klostergäste staunten nicht schlecht. Inzwischen drückte der kleine 2-jährige Michael seine Nase an die Fensterscheibe und war in sich verspielt. Später fuhren wir nach St. Maurus zu unserm Klostergut an der Donau. Dort haben wir einen Kahn namens „Emil“. Mein Schwager ruderte, während Gertrud mit Nikolaus am Heck saß. Katharina und Michael versuchten, mit ihren Händen die Fischlein zu fangen, die nahe der Wasseroberfläche schwammen, um sich zu sonnen. Jedes Mal, wenn die beiden nach ihnen langten, stoben die Fischlein auseinander. Und als ob sie selbst an diesem Spiel ihre Freude hätten, kamen sie wieder zurück. Ich hielt Nina und Micha, so ihre Kosenamen, jeweils an einem Ärmchen fest umschlungen, während sie bäuchlings über dem Bootsrand lagen. Erstaunlicherweise wehrten sie sich nicht gegen diese „Bindung“. Im Gegenteil, dadurch war ihnen erst Sicherheit gegeben, so dass sie mit dem anderen Ärmchen die Donau pflügen konnten. Ihre Kleider waren bald ganz durchnässt, aber es war einfach herrlich, „Kinder im Himmel“.

Jesus und die Kinder

Die ganze Situation erinnerte mich an die tiefe Wahrheit: Erst die Bindung an Gott gibt uns die notwendige Sicherheit, damit wir uns der wahren Freiheit erfreuen können, der Freiheit der Kinder Gottes. Kinder und das Vertrauen, welch wunderbares Kapitel! Ein Kind erwartet von seinen Eltern, von Vater und Mutter, alles Gute und nur Gutes. Im Markus-Evangelium (10,13-16) wird die Innigkeit des Herrn zu kindlichen Herzen geschildert: „Man brachte Kinder zu Jesus, damit er sie mit der Hand berührte. Die Jünger aber wiesen die Leute ab. Als Jesus das sah, wurde er unwillig und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt, als wäre er ein Kind, wird nicht hinein- kommen. Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie.“ Das Bild einer kindlichen Seele, voll Vertrauen, besonders im Leiden der Christus-Nachfolge, leuchtet auch für uns Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts exemplarisch in einer Heiligen auf, die schon Ende des 19. Jahrhunderts gelebt hat und bereits mit 24 Jahren gestorben ist: Therese von Lisieux, Therese vom Kinde Jesu.

„Mein Gott, ich liebe Dich!“

Mit diesen Worten auf ihren Lippen verstarb die „Kleine Therese“. Wir fragen uns: Was hat diese junge Klosterfrau, die nie über die Klostermauern hinauskam, uns modernen Menschen mit Fernseher, Handy, E-Mail, Fax und Navigationssystem im eigenen Auto, mit der Sehnsucht, alt zu werden und lange eine hohe Rente zu beziehen, zu sagen. Und noch dazu mit ihrem für den heutigen Geschmack etwas süßlichen Namen: „Therese vom Kinde Jesu“. Wie viel „Bürgerlichkeit, Kitsch und Überholtheit“ scheint da doch mitzuschwingen? Therese zeigt uns existentiell, was Jesus mit dem „Kindsein vor Gott“ eigentlich meint. Mit 15 Jahren trat sie ins Kloster ein, nicht in irgendeines, sondern in den strengen Karmel. In ihrer Selbstbiographie, der „Geschichte einer Seele“, aufgeschrieben im Gehorsam gegenüber zwei ihrer Priorinnen, schreibt sie, sie habe Gott um viel Sühneleiden gebeten. Keine Spur von „Fingerlecken“. Gott gewährte ihr diese Kreuzweg-Bitte: „Es gab keinen Tag, an dem ich nicht verwundet worden wäre.“ „Ich habe alles gesagt“, flüstert Therese, „alles ist vollbracht, nur die Liebe zählt. O Mutter, ich versichere Ihnen, dass der Kelch randvoll ist.“ Gegen drei Uhr breitet sie die Arme kreuzförmig aus. „Ist das der Todeskampf?“, fragt die Leidende die Frau Priorin. „Ja, mein Kind“, antwortet sie und gibt ihr das Sterbekreuz in die Hände. „Ja, ja, ich möchte gar nicht weniger leiden.“ Sie blickt auf das Kreuz und spricht: „Oh, ich liebe ihn. Mein Gott, … ich … liebe … Dich!“ Nach diesen Worten fällt ihr Haupt nach rechts.

Die heiligmäßige Familie Martin

Wir leben heute in einer „Leistungsgesellschaft“, wo nur äußere Arbeit und Erfolg zählen. Dies ist eine tödliche Gefahr für unser seelisches Leben, für unsere Ewigkeits-Ausrichtung. Vor Gott gelten ganz andere Maßstäbe als Besitz und Titel, Stellung und Karriere. Das war Vater und Mutter Martin wohl bewusst. Übrigens sind diese beiden hehren Seelen ebenfalls schon selig gesprochen worden. Beide waren in ihrer Jugendzeit in ein Kloster eingetreten, beide mussten wegen mangelnder Gesundheit wieder „in die Welt“ zurückkehren. Sie fanden sich und entschlossen sich zu einem heiligmäßigen Eheleben. Von Anfang an opferten und beteten sie um einen Missionsberuf aus ihrer Kinderschar. Zwei Buben wurden geboren, starben aber bald nach der Geburt. Auch zwei Mädchen überlebten nicht. Die Kindersterblichkeit war Ende des 19. Jahrhunderts noch sehr hoch. Als letztes von neun Kindern wurde am 2. Januar 1873 Therese geboren. Gleichzeitig erkannten die Eltern, dass ihnen Gott kein weiteres Kind mehr schenken kann. Also beteten sie um einen Missionar aus der Verwandtschaft. Doch Gott fügte es erstaunlich anders: Die fünf lebenden Mädchen gingen alle ins Kloster und Therese wurde Jahre nach ihrem Hinscheiden von Papst Pius XI. zur Patronin aller Missionare erhoben. Denn ihr verborgenes Karmel-Leben hatte sie ganz für die Arbeit der Missionare aufgeopfert. Aber auch im unmittelbaren Sinn war sie selbst Missionarin. Denn mit ihrer vollkommenen Hingabe brachte sie wohl mehr Menschen in den Himmel als viele andere mit all ihrer Tätigkeit.

Das „Kleinsein“ als Ideal der christlichen Vollkommenheit

„O, bleiben wir recht fern von allem, was glänzt, lieben wir unsere Kleinheit, lieben wir es, nichts zu fühlen! Und Jesus wird kommen und uns holen, wie fern wir auch sein mögen, und er wird uns in Flammen der Liebe umgestalten“, so lehrt sie als Gehilfin der Novizenmeisterin die Neulinge im Kloster. An ihre Cousine Marie Guerin, welche auch noch in denselben Karmel eintreten wird, schreibt sie: „Jetzt habe ich mich hineinbegeben, mich immer unvollkommen zu sehen und darin sogar meine Freude zu finden; es ist wohl wahr, dass ich nicht immer treu bin, aber deshalb verliere ich nicht den Mut; ich werfe mich in die Arme des Herrn, der mich lehrt, aus allem Nutzen zu ziehen. Es ist so süß, sich klein und schwach zu fühlen.“ Dieses Wort darf nicht als unterbietende Sentimentalität missverstanden werden: Seit ihrem dritten Lebensjahr hatte die Frühentwickelte versucht, dem Herrn keinen Wunsch abzuschlagen. „Arme, Kleine überschüttet er mit Gütern, Reiche, Große lässt er leer ausgehen. Aber man muss ernst machen mit dem Armsein.“ Auf zahlreichen Fotos ist ihr liebliches Mädchengesicht festgehalten, umhüllt vom Schleier der Karmel-Schwestern. Mir kommt es vor, als würde aus ihrem Angesicht die heilige, apostolische Kirche selbst, das Antlitz der einen, ewig jungen römisch-katholischen Kirche hervorleuchten. Aus ihren Augen strahlt ihr Kindsein und Kindbleiben, die vorbildliche Verwirklichung des Jesus-Wortes.

Der „kleine Weg“ anstelle großer Taten

Unbeschadet bleibt das Verdienst der heiligen Therese vom Kinde Jesu, wenn wir darauf hinweisen, dass „der kleine Weg“ weder neu noch originell ist, sondern in der abendländisch-christlichen Geistigkeit durch all die Jahrhunderte immer wieder neue Blüten hervorgebracht hat. Ein klassisches Beispiel dieser Spiritualität ist die Regel des Ordensvaters Benedikt aus dem Jahr 520. Das 7. Kapitel seiner Regula überschreibt er mit „De humilitate“ („Über die Niedrigkeit bzw. Demut“) und greift damit das Wort Mariens auf, welche den Herrn preist, weil er auf die „Niedrigkeit seiner Magd“ geschaut hat. Niedrigkeit und Demut, Magd und Knecht, alles Worte, welche wir heute nur noch schwer mit unserem Streben nach Selbstverwirklichung in Einklang bringen können. „Kleiner Weg“, Gehorsam oder Kindsein klingen wie das Echo aus einer längst vergangenen Zeit. „Klein sein heißt: sein Nichts erkennen, alles von Gott erwarten, sich nicht zu sehr über seine eigenen Fehler bekümmern. Den kleinen Weg gehen, heißt, sich nicht selbst die Tugenden zuschreiben, wo wir für etwas ‚tauglich‘ sind, sondern anerkennen, dass Gott diesen Schatz in die Hand seines kleinen Kindes legt.“ Teresa von Avila, die „Große“ genannt, zeigt in den sieben Wohnungen der Seelenburg genau dasselbe Prinzip über die absteigende Bewegung der Selbstentäußerung. Nicht die selbstauferlegten Opfer sind „Juwelen“ in der Lebenskrone, sondern das Annehmen der kleinen, reibenden Alltäglichkeiten aus Liebe zum Seelenbräutigam Jesus Christus.

Die verwandelnde Macht des Gebets

Therese befand sich noch im geborgenen Kreis ihrer Eltern und Geschwister, umhegt und als letztes der neun Kinder vielleicht auch ein wenig verhätschelt. Der Vater las die Tageszeitung, wollte jedoch die Kinder von den Nachrichten der „schlechten“ Welt fernhalten. Therese erblickte dennoch einmal in einer herumliegenden Zeitung die plakative Überschrift-Zeile über einen der größten Mörder der damaligen Zeit namens Pranzini. Die Journale berichteten von seiner Unbußfertigkeit. Da flehte das Kind Therese mit brennender Sehnsucht um die Bekehrung des Mörders Pranzini und sagte: „Ich weiß, dass er gerettet wird, weil ich den Tod Jesu für ihn aufopfere. Aber zeige mir doch durch ein äußeres Zeichen, dass er sich bekehrt hat!“ Und tatsächlich riss der Mörder im letzten Augenblick vor seinem Erhängtwerden dem bei ihm stehenden Priester das Kruzifix aus den Händen und küsste es vor allen Leuten – die Macht des Gebets. Was machen Nonnen und Mönche ein ganzes Leben lang in einem geschlossenen Kloster? „Ora et labora“ – beten und arbeiten. Aber das Hauptgewicht liegt eindeutig auf dem „Beten“, das auch ihre Arbeit speist. Durch ihr Gebet hinterlegen sie ein Lösegeld für viele Seelen „außerhalb der Klostermauern“, welche ihren Kontakt zu Gott vernachlässigen, vielfach sogar verloren haben. Stellvertretung, Sühne und auch Buße sind  ebenfalls vielfach vergessene „Dinge“, welche für das „seelische Gleichgewicht der Menschheit“ dringend von Nöten sind.

Erschütterungen der zarten Kinderseele

Wer mehr als den „Kleinen Weg“ in der Vita der Therese Martin sucht, etwa überwältigende Erlebnisse, Wunder und Visionen, der wird enttäuscht. Als kränkliches Kind in eine aus dem Glauben lebende Bürgerfamilie hineingeboren, blieb sie nur dank der aufopfernden Pflege durch die Mutter am Leben. Diese aber starb viel zu früh für das Kind, die Geschwister und natürlich auch für den geliebten Gemahl. Dem Vater war das Nesthäkchen nun das teuerste Vermächtnis der Heimgegangenen. Seine vornehme, fleißige Pflichterfüllung in Beruf und Familie, in Öffentlichkeit und Politik prägten das kleine Kind. Es liebte die ländlich unberührte Natur, die Blumen, das Korn, die Schmetterlinge und am Nachthimmel die Sterne. Sie war ein Teil der „gläubigen, romtreuen, kämpfenden französischen Kirche“, aber auch der „teilweise etwas über dem Boden schwebenden Gefühlswelt“ der damaligen wohlhabenden, frommen Bürgerschicht. Die Einzelheiten sind ausführlich und blumenreich in ihrer Selbstbiographie beschrieben. Erst als nach dem Tod ihrer Mutter auch ihre Lieblingsschwester Pauline von ihr ging, nicht im Sterben, sondern durch den Eintritt in den Karmel, da versagte ihre Willenskraft, die sie bis dahin ihrem Vater zuliebe immer noch gepflegt hatte. Fieber brachte sie an den Rand des Grabes, bis sie durch die Anrufung der Gottesmutter plötzlich genas und im Empfang der ersten Hl. Kommunion einen unaussprechlichen Trost fand. „Ich habe den gefunden, den meine Seele liebt.“

Begegnung mit Papst Leo XIII.

Schon hatte die zweite Schwester den Schleier der Ordensfrauen empfangen. Da berührte am Weihnachtsabend 1886 die göttliche Gnade auch endgültig ihr Herz, indem sie durch eine Tat der Selbstüberwindung die sühnende Kraft des Opfers erfuhr. Erst am Pfingstfest des folgenden Jahres bringt sie ihren eigenen Wunsch nach dem Karmel über die Lippen, so sehr schmerzte sie der Kummer des kranken Vaters. Dieser aber lässt sich an Edelmut von seiner Tochter nicht übertreffen. Verweigern zwar der Superior des Klosters und der Bischof von Bayeux dem körperlich schwachen 14-jährigen Jungmädchen die Aufnahme in den strengen Karmel, so wenden sich beide, der Vater die Tochter unterstützend, bei einer Audienz in Rom einfach direkt an den Papst. Leo XIII. legt Therese segnend die Hand auf und schenkt ihr einige liebe väterliche Worte. Doch auch er verweist sie auf den Entscheid des zuständigen Bischofs. Sie kehrt nach Lisieux zurück, scheinbar ohne Erfolg. Dennoch bestürmt sie weiter den Himmel, damit sich ihr die Pforte des Karmel öffne. Und wiederum bewahrheitet sich: Das Gebet der Kinder dringt durch die Wolken. Schon ein halbes Jahr später schlingt Therese, nunmehr eine kleine, ernst-frohe Gottesbraut, zum letzten Mal ihre Arme um den Hals des Vaters und geht dann schluchzend, aber aufrecht durch das Tor, das sie auf immer von den Menschen „draußen“ trennen sollte.

Das seelische Leiden der jungen Gottesbraut

Die Schwestern hatten ihre Gesichtsschleier zurückgeschlagen und empfingen das junge Kind mit großer Herzlichkeit. Zwei leibliche Schwestern befanden sich ja bereits unter der kleinen Schar, sie war nun die „dritte“ Martin, eine vierte sollte ihr folgen und schließlich noch eine Base. Und doch war es nicht mehr wie zuhause. Das wollte sie auch nicht, dafür war sie nicht hierher gekommen. Sie wollte mit allen Fasern ihres Seins, Tag für Tag, Nacht für Nacht, durch stellvertretende Genugtuung die Barmherzigkeit Gottes auf unbußfertige Menschen herabrufen, wie damals bei Pranzini, damit diese nicht für die Ewige Seligkeit verloren gingen. Das kurze „Martyrium“ der Pensionatszeit, wo sie sich als Einzelgängerin in einer Mädchengruppe eingeengt fühlte, war ein Kinderspiel gegen das, was sie nun erwartete. Die gegen den Eintritt des jungen Mädchens eingestellte Oberin zeigte ihr ständig auf, wie schwer die Karmel-Regel zu halten sei, überschüttete sie täglich mit einem eisigen Hagel von Vorwürfen, Demütigungen und Kränkungen. Die unangenehmsten Arbeiten wurden ihr zugewiesen. Dass sie, das seither bürgerlich-verzärtelte Mädchen, nun Magd spielte und von niemandem ernst genommen wurde, trug sie nicht schwer. Gegen die täglichen Ungerechtigkeiten aber wollte sich zunächst ihr hochentwickeltes Ehrgefühl empören. Auch durchkostete sie die Glaubensnot, wie sie Millionen von Menschen erleben. Dennoch wurde Therese Sieger. Die lächelnde Preisgabe des eigenen Willens und die frohe Überwindung aller Regungen des eigenen Ichs führten sie zum „Du in der über alles liebenden Brautschaft mit Jesus“.

Die zunehmende körperliche Not

Die kleinsten Obliegenheiten des Alltags wurden ihr nun zu Liebenszeichen für Jesus. Die peinlich genaue Erfüllung der Gehorsamspflicht mit dem Verzicht auf alle Sonderwünsche und Erleichterungen aus Liebe zu Jesus wurde bleibender Kern und Stern ihres Tugendstrebens. Eigene körperliche Abtötungen, wie sie im Karmel gepflegt wurden, gab sie allmählich auf, als sie bemerkte, dass ihre körperliche Widerstandfähigkeit sichtlich zu Ende ging. Eine tuberkulöse Veranlagung, die sie wohl schon beim Eintritt in den Karmel hatte, musste in den feuchten, während des Winters ungeheizten Zellen rasch zur Todeskrankheit werden. Zusätzlich wurden die Körperkräfte durch das viele Fasten und Nachtwachen geschwächt. Müde, fiebernd, von Husten geschüttelt, an den großen Waschtagen mit kaltem Schweiß auf der Stirn tat sie doch scherzend ihren Dienst. Jetzt, da sie durch die Tuberkulose, die Krankheit der armen Volksmassen, der unteren Menschheitsschicht, für die Erde verloren war, fiel alle Scheu von ihr ab. Den unerschöpflichen Reichtum ihrer Gedanken, ihr mystisches Gnadenleben breitete sie auf Befehl ihrer neuen Oberin, ihrer leiblichen Schwester Pauline, vor ihren Mitschwestern aus, als sei dies die einfachste und natürlichste Sache von der Welt. Ihr „Kindsein“, ihren „Kleinen Weg“ beschreibt sie nun zitternd, fiebergeschüttelt, in ihrem „Lebensbuch“ auf meisterhafte und reife Weise, natürlich in der „blumigen Sprache des ausgehenden 19. Jahrhunderts“, dennoch in der Seelentiefe einer „Kirchenlehrerin“. Blutgetränkter Auswurf „schmückt“ mehr und mehr ihr daneben liegendes grobes Karmel-Taschentuch.

Die kirchliche Verehrung der Kleinen Therese

Der Gedenktag der hl. Therese vom Kinde Jesu, gestorben am 30. September 1897, wird heute am 1. Oktober gefeiert. Früher war es der 3. Oktober, der Tag, an dem ich als Benediktinerbruder eingekleidet wurde. Diese Heilige Frankreichs, ja die exemplarische Heilige für unzählige Ordensfrauen und Ordensmänner macht bis zum heutigen Tag wahr, was sie einst versprochen hatte: Rosen der Gnade vom Himmel regnen zu lassen. Die Kleine Therese brachte die Alltagstugenden wieder zu Ehren: Demut, Gehorsam, Armut, Reinheit, Opfergeist, Herzenseinfalt, Gottinnigkeit. Die Kirche hat sie dafür heiliggesprochen und ihre kindestiefen Äußerungen in die Reihe des Kirchenlehrer-Schrifttums aufgenommen. Das gläubige Volk insgesamt aber, das wie sie ein Leben lang ohne Öffentlichkeits-Rummel arbeitet, betet und auch leidet, hat unter den Heiligen kaum jemand anderen, dem es so gern seine Liebe schenkt wie der kleinen Karmelitin – die mit ihrer kindlich-spielenden Hand die Wasser der Liebe pflügt.


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