Assisi im Horizont der Geschichte

Pfarrer Erich Maria Fink blickt auf das Friedenstreffen am 27. Oktober 2011 in Assisi zurück und stellt es in den Horizont der Geschichte. Er sieht in der Begegnung des Papstes mit den Religionsführern weniger ein „Gebet für den Frieden“ als vielmehr einen Areopag, den Benedikt XVI. genützt hat, um deutlich seine Stimme zu erheben und zur heutigen Christenverfolgung in aller Welt Stellung zu nehmen. Dem kirchenpolitisch hochbegabten Papst Pius XII. wird von der Nachwelt sein Schweigen vorgehalten. Dem heutigen Papst wird man diesen Vorwurf nicht machen können. Pfr. Fink stellt nicht nur Vergleiche an, sondern beleuchtet historische Wurzeln und Entwicklungslinien im Zeugnis der Kirche.

Von Erich Maria Fink

„25 Jahre sind vergangen, seitdem der selige Papst Johannes Paul II. erstmals Vertreter der Religionen der Welt nach Assisi zu einem Gebet für den Frieden geladen hat.“ Mit diesen Worten begann Papst Benedikt XVI. seine Rede beim Weltfriedenstreffen am Donnerstag, den 27. Oktober 2011, in Assisi. Etwa 300 hochrangige Vertreter von 31 christlichen Kirchen bzw. Konfessionen und von 12 Weltreligionen hatten sich zunächst in der Basilika „Santa Maria degli Angeli“ vor der historischen Portiuncula-Kapelle des hl. Franziskus versammelt. Am selben Ort hatten auch die beiden Weltgebetstreffen 1986 und 2002 unter Johannes Paul II. begonnen.

Neue Akzente

Auch dieses Mal war es der Papst, der zu einer interreligiösen Begegnung eingeladen hatte. Sehr deutlich wurde an das erste Treffen dieser Art im Jahr 1986 erinnert, so dass die Veranstaltung durchaus den Eindruck einer Jubiläumsfeier machte. Über Video-Bildschirme wurden zahlreiche Aufnahmen vom 29. Oktober 1986 gezeigt und die euphorische Atmosphäre von damals in die Gegenwart geholt. Doch Benedikt XVI. setzte auch neue Akzente. Dies zeigte sich schon an der Bezeichnung des Treffens. Er nannte es nicht einfach nur „Gebet für den Frieden“, sondern „Tag der Reflexion, des Dialogs und des Gebets für Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt“. Einerseits wollte er damit von vornherein klarstellen, dass es nicht um eine synkretistische religiöse Handlung geht, sondern um ein gemeinsames Zeugnis für den festen Willen, dem Frieden unter allen Menschen zu dienen. Andererseits bewegte Benedikt XVI. ganz offensichtlich die zunehmende Bedrängnis von Christen in zahlreichen Ländern. Ja, es darf geradezu von einer konzertierten Hetzjagd gesprochen werden, die den Papst mit größter Sorge erfüllt. Zwar bringt er immer wieder den tiefen Glauben zum Ausdruck, dass das Opfer der Märtyrer letztlich der Wahrheit den Weg bereiten und gnadenhaft eine neue Missionsbewegung einleiten wird. Das verleiht dem Papst bei aller Bedrohlichkeit der gegenwärtigen Entwicklungen eine grundsätzliche Gefasstheit und übernatürliche Ruhe. Doch möchte er es auf keinen Fall versäumen, sich als „Vater der Christenheit“ unüberhörbar an die Seite der Verfolgten zu stellen und unmissverständlich für ihren Schutz zu kämpfen. Dafür hat er die Führer der Religionen nach Assisi eingeladen, also nicht nur, um seinem Vorgänger ein ehrendes Andenken zu widmen. Denn für Benedikt XVI. ist eindeutig klar: Die größte Gefahr droht den Christen von Seiten der religiös motivierten Gewalt. Auch wenn er zugleich die zunehmende Beschwerlichkeit durch den aggressiven Säkularismus in Politik und Gesellschaft westlicher Prägung vor Augen hat.

Das Zeugnis Benedikts XVI.

In Assisi ergriff Benedikt XVI. in der Rolle des einladenden Gastgebers als letzter Redner das Wort. Den Anfang hatte Bartholomaios I., der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, gemacht. Er lieferte dem Papst gleich zu Beginn eine Steilvorlage; denn ohne Umschweife kam er als höchster Vertreter der Ostkirchen sofort auf die prekäre Situation der Christen in den von Muslimen beherrschten Gebieten zu sprechen. Und so stellte Benedikt XVI. schon im zweiten Satz, nachdem er an das erste Friedenstreffen 1986 erinnert hatte, die Frage: „Was ist seitdem geschehen? Wie steht es um die Sache des Friedens heute?“

Zunächst würdigte er mit einer sehr eindeutigen Interpretation noch einmal das erste Friedenstreffen. Als Grund für die Einladung vor 25 Jahren gab Benedikt XVI. an: „Damals kam die große Bedrohung des Friedens in der Welt von der Teilung der Erde in zwei einander entgegengesetzte Blöcke. Augenfälliges Sinnbild dieser Teilung war die Mauer in Berlin, die mitten durch die Stadt die Grenze zweier Welten zog.“ Und dann fügte er hinzu: „1989 – drei Jahre nach Assisi – ist die Mauer gefallen – ohne Blutvergießen.“ Es war nicht zu überhören, was er damit sagen wollte. Die Überwindung der kommunistischen Bedrohung ist nicht zuletzt auch diesem Gebet zuzuschreiben.

Das zweite Friedenstreffen am 24. Januar 2002 hatte bekanntlich die verheerenden Terrorakte vom 11. September 2001 als Hintergrund. Und daran knüpfte nun auch Papst Benedikt XVI. an. Er beschrieb den „Terrorismus“ als Vorgehensweise, bei der „anstelle des großen Krieges gezielte Anschläge den Gegner an wichtigen Punkten zerstörend treffen sollen, wobei keinerlei Rücksicht auf unschuldige Menschenleben genommen wird, die dabei auf grausame Weise getötet oder verletzt werden. Die große Sache der Schädigung des Feindes rechtfertigt in den Augen der Täter jede Art von Grausamkeit.“ Und das Verhängnisvolle daran: „Alles, was im Völkerrecht als Grenze der Gewalt gemeinsam anerkannt und sanktioniert worden war, ist außer Kraft gesetzt.“ Unmittelbar an diese ungeschminkte Charakterisierung fügte nun Benedikt XVI. an: „Wir wissen, dass der Terrorismus häufig religiös motiviert wird und dass gerade der religiöse Charakter der Anschläge als Rechtfertigung der rücksichtslosen Grausamkeit dient, die die Regeln des Rechts um des angezielten ‚Gutes‘ willen beiseite schieben zu dürfen glaubt. Religion dient da nicht dem Frieden, sondern der Rechtfertigung für Gewalt.“ Eine so gezielte Anklage in Anwesenheit höchster Repräsentanten des Islam oder auch des Hinduismus, denen das Wort über religiös motivierte Gewalt an erster Stelle galt, hatte nicht einmal Johannes Paul II. gewagt. Hier haben wir es mit einer neuen Qualität des kirchlichen Zeugnisses zu tun, selbst wenn der Papst noch einmal auf das Treffen 1986 zurückgreifen konnte: „Die 1986 in Assisi versammelten Religionsvertreter wollten sagen, und wir wiederholen es mit Nachdruck und aller Entschiedenheit: Dies ist nicht das wahre Wesen der Religion. Es ist ihre Entstellung und trägt zu ihrer Zerstörung bei.“

Benedikt XVI. verzichtet auf jede diplomatische Verschlüsselung. Es geht ihm schlichtweg um die Wahrheit. Und geradezu flehend ruft er den betroffenen Religionsführern von Angesicht zu Angesicht zu: „Dass hier Religion in der Tat Gewalt motiviert, muss uns als religiöse Menschen tief beunruhigen.“ Auf derselben Ebene glasklarer und ehrlicher Auseinandersetzung mit dem Thema religiös motivierter Gewalt bewegt sich schließlich auch das Schuldbekenntnis, das Benedikt XVI. in diesem Augenblick ablegte. Er fühlte sich geradezu verpflichtet, um der Sache willen einzugestehen: „Als Christ möchte ich an dieser Stelle sagen: Ja, auch im Namen des christlichen Glaubens ist in der Geschichte Gewalt ausgeübt worden. Wir bekennen es voller Scham. Aber es ist vollkommen klar, dass dies ein Missbrauch des christlichen Glaubens war, der seinem wahren Wesen offenkundig entgegensteht.“ Umso glaubwürdiger stand am Ende sein Zeugnis für den christlichen Glauben da, das in den Worten gipfelte: „Das Kreuz Christi ist für uns das Zeichen des Gottes, der an die Stelle der Gewalt das Mitleiden und das Mitlieben setzt. Sein Name ist ‚Gott der Liebe und des Friedens‘ (2 Kor 13,11).“ Umso berechtigter erschien aber auch sein kompromissloses Wort an die Verantwortlichen von Religionen, die in unseren Tagen zur Gewalt tendieren.

Von der Neutralität zum offenen Protest

Im Verlauf der letzten hundert Jahre, näherhin seit der klaren Beschreibung des Petrusamtes durch das I. Vatikanische Konzil unter Papst Pius IX. im Jahr 1870, hat das Zeugnis der Kirche in diesen Fragen eine große Entwicklung durchgemacht. Dabei sind zwei Grundlinien zu erkennen. Die erste Linie lässt sich mit den Worten zusammenfassen: von der politischen Neutralität zum offenen Protest.

Der Nachfolger Pius‘ IX. war der ausgesprochen politisch agierende Papst Leo XIII. (1878-1903). Doch wie sah sein politisches Handeln aus? Er hatte kein wirkliches Verständnis für die revolutionären Entwicklungen in Europa, die in parlamentarische Mitsprache und Demokratie einmündeten. Ihm schwebte eher die mittelalterliche Konzeption im Verhältnis von Staat und Kirche vor Augen, die dem Papst einen universalen Führungsanspruch einräumte. Natürlich hatte für Leo XIII. ein solcher nur noch geistlichen Charakter. Das zeigte sich in seinem großartigen Engagement für die Arbeiter (vgl. die Sozialenzyklika Rerum Novarum, 1891), das anthropologisch grundgelegt war und bis heute Gültigkeit besitzt. Doch um der Kirche zu einer solchen Stellung innerhalb der Staatengemeinschaft zu verhelfen, versuchte er mit allen Regierungen einvernehmliche Beziehungen herzustellen. In vielen Fällen gelang es ihm, die bestehenden Schwierigkeiten beizulegen, wie z.B. mit Deutschland. Durch Konzessionen an Bismarck konnte er den Kulturkampf beenden. Doch nicht einmal die Zentrumspartei wollte ihm auf dem Weg des politischen Kalküls folgen.

Damit aber waren die Weichen für das kirchenpolitische Handeln seiner Nachfolger gestellt. Benedikt XV. (1914-1922) musste den Ersten Weltkrieg erleben. Er gilt zu Recht als großer Friedenspapst; denn er hatte sich von Anfang an gegen den Krieg ausgesprochen und mit schärfsten Worten das unwürdige Gemetzel zwischen katholischen Völkern und Staaten verurteilt (z.B. im Ersten Rundschreiben Ubi primum vom 8. September 1914 und in seiner Exhortatio gegen den Krieg vom 28. Juli 1915). Gleichzeitig setzte er sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten ein, um Not zu lindern. Doch war seine wichtigste Devise: strikte Neutralität gegenüber den Kriegsteilnehmern in allen politischen und militärischen Fragen, die diese Auseinandersetzungen betreffen. So wurde er tatsächlich von allen Seiten anerkannt und in seinen Bemühungen um Vermittlung geachtet, wenn auch ohne sichtbaren politischen Erfolg. Nach dem Krieg rief er in seiner Enzyklika Pacem, Dei munus pulcherrimum – Frieden, das schönste Geschenk Gottes (23. Mai 1920) die Völker zur Versöhnung auf und sprach sich, als es keine Kampfhandlungen mehr gab, doch sehr konkret gegen zu harte Maßnahmen der Sieger im Friedensvertrag von Versailles aus.

Dieses Erbe nun trat Papst Pius XII. an, der die Kirche durch den Zweiten Weltkrieg führen musste. Nur auf diesem Hintergrund ist sein heute heftig kritisiertes Schweigen nachzuvollziehen. Und dabei geht es nicht nur um den Holocaust, der immer in den Vordergrund gestellt wird: Der Papst habe sich gleichsam mit schuldig gemacht, weil er sich nicht explizit und in aller Öffentlichkeit gegen die Vernichtung der Juden ausgesprochen habe. Tatsächlich hat Pius XII. nur zwei Mal den Holocaust indirekt erwähnt. Das eine Mal geschah dies bei seiner Weihnachtsbotschaft 1942, bei der er sagte: „Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben sind.“ Das zweite Mal bei einer Rede an die Kardinäle am 2. Juni 1943: „Seid nicht erstaunt, Ehrwürdige Brüder und liebe Söhne, wenn Wir mit besonders eiliger Fürsorge auf die Bitten derjenigen antworten, die sich an Uns wenden, die Augen voll von ängstlichem Flehen, diejenigen, die aufgrund ihrer Nationalität oder ihrer Rasse zur Zielscheibe für noch größere Katastrophen und noch heftigere Schmerzen geworden sind, und die manchmal sogar, ohne eigenes Verschulden, zur Ausrottung bestimmt sind“ (nach einer Übersetzung des Jesuitenpaters Pierre Blet).

Noch viel unverständlicher jedoch ist das vollkommene Schweigen Pius‘ XII. über das Wüten der Nationalsozialisten gegen die katholische Kirche in Polen. Aber auch hier fühlte sich der Papst dem Grundsatz der Neutralität verpflichtet, den er wie ein heiliges Prinzip zum Schutz der Kirche bis zum Ende seines Lebens hütete. Denn für das Schweigen gegenüber der Judenverfolgung gibt es das Argument, dass ein Protest die Situation nur noch verschlimmert hätte. Nun wäre es Pius XII. aber durchaus möglich gewesen, sich nach dem Krieg zu erklären und das grauenvolle Geschehen wenigstens im Nachhinein zu bewerten. Aber auch das ist bekanntlich nicht geschehen.

Letztlich wurde diese Mauer des Schweigens erst durch Johannes Paul II. durchbrochen. Es musste offensichtlich jemand Papst werden, der selbst unter der deutschen Nazi-Herrschaft gelitten hat. Er war als junger Erwachsener zu harter Arbeit in einem Steinbruch und in einer Chemiefabrik gezwungen und konnte seiner Priesterberufung nur im Geheimen und unter größten Gefahren nachgehen. Gleichzeitig erlebte er den Übergang von einem totalitären System zum anderen. Ohne je ein negatives Wort über Pius XII. auszusprechen, stand ihm doch immer vor Augen, dass die katholische Kirche in Polen schon damals ein unterstützendes Wort des Papstes erwartet hätte. Und so wurde er ein umso entschiedenerer Kämpfer für die Freiheit der Kirche und jedes Einzelnen. Ohne Rücksicht auf politische Beziehungsgeflechte begann er, seine Stimme mit prophetischer Unerschütterlichkeit zu erheben. Es fing mit seinen Reisen in sein Heimatland Polen an, die sich zu politischen Massenkundgebungen entwickelten, dem das kommunistische System nicht mehr gewachsen war. Sein deutliches Zeugnis brachte politische Mauern zum Einsturz. Und der Protest des Papstes begleitete sein Pontifikat bis zu seinen unermüdlichen Interventionen gegen Militäraktionen wie z.B. die Irak-Kriege. 

Auf dieser Basis kann Benedikt XVI. heute fortfahren. Und es scheint, als ob er durch die gewissenhafte Verwurzelung in seinen geistigen Werten sowie geistlichen Idealen noch unabhängiger und durchsichtiger vorgeht als der Überraschungspapst aus Polen. Was ihm oft als politischer Fehler ausgelegt wird, ist im Grunde genommen die furchtlose Ausübung einer Verantwortung, die er vor Gott und der Menschheit, aber auch der Geschichte gegenüber verspürt. Die heftig angegriffene „Regensburger Rede“ vom 12. September 2006 liegt auf einer Linie mit dem jüngsten Appell an die Religionsführer in Assisi. Seine vielfach als enttäuschend kritisierten Ansprachen in Auschwitz am 28. Mai 2006 oder im Heiligen Land vom 11. bis 15. Mai 2009 bilden eine Einheit mit seiner mutigen Zustimmung zu den Seligsprechungen deutschsprachiger Märtyrer aus der Nazi-Zeit wie z.B. von Dr. Carl Lampert am 13. November 2011. Denselben Geist des offenen kirchlichen Zeugnisses atmeten im Übrigen auch seine Ansprachen auf dem Deutschland-Besuch vom 22. bis 25. September 2011.  

Das kirchliche Zeugnis und die Menschenrechte

Die zweite Grundlinie betrifft das Verhältnis der Kirche zu den sog. „Menschenrechten“. Auch hier ist eine gewaltige Entwicklung unübersehbar. Menschenrechte wurden vom kirchlichen Lehramt sehr konträr behandelt. Offensichtlich gab es eine vorsichtige bis ängstliche Annäherung. Ein klassisches Beispiel stellt die Enzyklika Libertas praestantissimum donum – Die Freiheit ist das vorzüglichste unter den natürlichen Gütern von Leo XIII. (20. Juni 1888) dar. Einerseits tritt der Papst bereits klar für die Gewissensfreiheit des Menschen auch als Ausdruck seiner Personenwürde ein, andererseits aber formuliert er: „Die uneingeschränkte Freiheit des Denkens und die öffentliche Bekanntmachung der Gedanken eines Menschen gehören nicht zu den Rechten der Bürger.“

Die Kirche machte sich also durchaus Gedanken über die Rechte der Menschen außerhalb der Grenzen ihrer Pastoral. Dennoch dauerte es noch lange, bis es die Kirche als ihre ureigene Aufgabe betrachtete, die Menschenrechte zu verteidigen und Unrecht gleich welcher Art anzuprangern. Auch hier dürfen wir feststellen, dass letztlich Johannes Paul II. der erste Papst war, der sich diesem Auftrag in seiner ganzen Fülle verpflichtet fühlte. Erst durch ihn begann die Kirche, sich auf die Seite der gesellschaftlich und politisch Unterdrückten zu stellen und die Verletzung ihrer Menschenrechte anzuklagen.

Hintergrund ist die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 8. Dezember 1948 angesichts der schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs, die sich Johannes Paul II. zu Eigen machte. Er betrachtete sie als einzigartige Errungenschaft der Menschheit und versuchte ihnen mit der Autorität seines Amtes im Licht der christlichen Botschaft zu dienen. Damit nahm das Zeugnis der Kirche verständlicherweise eine völlig neue Gestalt und Weite an. Benedikt XVI. stellt dieses Zeugnis nun in den großen Rahmen der Wahrheit über den Menschen, zu der nach seiner Überzeugung jeder ehrlich suchende Mensch mit seiner Vernunft unterwegs ist. So hat er unter dem Motto „Pilger der Wahrheit – Pilger des Friedens“ auch Agnostiker nach Assisi eingeladen, denen, wie er sagte, „zwar das Geschenk des Glaubenkönnens nicht gegeben ist, die aber Ausschau halten nach der Wahrheit, die auf der Suche sind nach Gott“. Gemeinsam mit ihnen gehe es „um die Zusammengehörigkeit im Unterwegssein zur Wahrheit, um den entschiedenen Einsatz für die Würde des Menschen und um das gemeinsame Einstehen für den Frieden gegen jede Art von rechtszerstörender Gewalt“.

Ausblick

Benedikt XVI. hat am 19. Dezember 2009 per Dekret den heroischen Tugendgrad sowohl von Johannes Paul II. als auch von Pius XII. anerkannt. Mit diesem Schritt wird die Tür zur Seligsprechung geöffnet, die für seinen Vorgänger am 1. Mai dieses Jahres bereits stattgefunden hat. Wie aber wird es mit Pius XII. weitergehen? Dass er durch seine geheimen und stillen Interventionen unzähligen Juden das Leben gerettet hat, ist inzwischen unbestritten. Ebenso wird allgemein anerkannt, dass er der Nazi-Ideologie von Anfang an ablehnend gegenüberstand, die er bereits 1924 als „vielleicht gefährlichste Häresie unserer Zeit“ bezeichnet hatte. Sein Schweigen aber bleibt ein Faktum. Es schön zu reden, ist weder angemessen noch notwendig. Meiner Meinung nach ist es nun die Aufgabe der Kirche, aufzuzeigen: Pius XII. war von seiner Zeit geprägt. Er betrachtete es als seine Aufgabe, in der Verantwortung des Obersten Hirten die Institution Kirche durch die politischen Wirren hindurch zu retten, nicht aber außerhalb der Kirche Menschenrechte zu verteidigen. Seine strikte Neutralität ist aus heutiger Sicht eine Unvollkommenheit. Aber es wäre sowohl historisch unkorrekt als auch der Person Pius‘ XII. gegenüber ungerecht, würde man bei ihm ein Kirchenbild voraussetzen, wie es erst in den Dokumenten Lumen gentium und Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils seinen Ausdruck gefunden hat. Das Konzil, das vor allem ein neues Selbstverständnis der Kirche in der Welt entwickelt hat, ist eben erst einige Jahre nach dem Tod Pius‘ XII. eröffnet worden. So gesehen braucht sich die Kirche für eine Seligsprechung nicht künstlich zu rechtfertigen, sondern sie kann dankbar auf die tiefe Frömmigkeit und das heroische Tugendleben dieses hingebungsvollen Dieners der Kirche verweisen.

Und letztlich war es doch Pius XII., der die Völker durch die bewegende Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens zum Abschluss der 25-Jahrfeier der Erscheinungen von Fatima am 31. Oktober 1942 von der Geisel des Tausendjährigen Reichs befreit hat. Damit schenkte er der Menschheit mehr, als es alle politischen und militärischen Anstrengungen im Kampf gegen den Nationalsozialismus zusammen vermochten. Dass er das von Gott ausersehene Werkzeug für diesen weltpolitisch so entscheidenden Schritt war, darf man auch in der Tatsache erblicken, dass er am 13. Mai 1917, dem ersten Tag der Erscheinungen in Fatima, von Papst Benedikt XV. in Rom zum Bischof geweiht worden war. Die Kirche hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, das Weltgeschehen – ganz nach dem Vorbild des sel. Johannes Paul II. – im Licht der göttlichen Vorsehung zu deuten.

Sel. Carl Lampert – Ehre für Österreich

Nicht zufällig wurde der 13. November 2011 als Tag für die Seligsprechung des Märtyrers Dr. Carl Lampert aus Göfis im Vorarlberg ausgewählt. Es ist der Jahrestag seiner Hinrichtung 1944. Am 25. August 1940 hatte sein Leidensweg begonnen, der ihn durch die Hölle verschiedener Konzentrationslager, schreckliche Folterungen und Verhöre bis zum endgültigen Todesurteil führte. Mutig hatte er sich dem braunen Terror gegen die Kirche im österreichischen Tirol entgegengestellt. P. Notker Hiegl OSB betrachtet das leuchtende Zeugnis dieses gebildeten und engagierten Priesters als große Ehre für die Kirche, besonders aber für Österreich. Diesem Land möchte er einmal anders zurufen: „Tu felix Austria – juble!“

Von P. Notker Hiegl OSB

Wir haben es immer nötig, auf wertvolle Vorbilder hingewiesen zu werden. Es ist dies eine der wichtigsten Vernetzungen von Generation zu Generation. Darin besteht die Weitergabe des christlichen Glaubens im Licht des Karfreitags und des alles überstrahlenden Ostersonntags. Nur zu leicht übersieht man im gehetzten Dasein, im lauten Disput der vielen Meinungen und Verdrehungen, auch in den heutigen religiösen Gremien das Erstrangige und Wesentliche unserer Existenz: die Gottesverherrlichung mit unserer Ganzhingabe. Jede Sekunde unseres Lebens sollen wir Christen für Christus einsetzen. „Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist“, so singen wir im Psalm. Und wohl dem Volk, das solche Menschen hervorbringt, die mit Leib und Seele, mit ganzer Kraft, Gott, dem Herrn, ihr Leben darbieten. Dies zu sehen mit den Augen des Glaubens und zu hören mit den Ohren des Herzens ist Aufgabe unserer Zeit, die auch unter Christen von Verweltlichung geprägt ist. Sich wieder zu „entweltlichen“ (Papst Benedikt XVI.) ist das Gebot der Stunde. Was bedeutet „entweltlichen“? Ganz einfach: Es ist das Gegenteil von „verweltlichen“. Denn heute ist dazu der Wohlstandsmensch kaum noch fähig. Das Haschen nach „Immanenz“ ist unausgesprochen zum Level des Lebenssinns geworden, anstatt sich nach der „Transzendenz“ auszustrecken. Die einsetzende Beschäftigung mit den christlichen Märtyrern aus der noch nicht so lang zurückliegenden Nazi-Zeit ist Hoffnungszeichen für den in Glaubensfragen so stark gebeutelten deutschsprachigen Raum. Die seit wenigen Jahren ermöglichte „Seligsprechung“ vorbildlicher Menschen aus der Zeit nationalsozialistischer Bedrängnis ist für das Christenvolk von großer Bedeutung. Und wie zunächst in der Kirche nach den ersten drei Verfolgungsjahrhunderten die Märtyrer „groß“ gepriesen wurden, so setzt jetzt auch in unseren Diözesen die Märtyrerpreisung ein. Deo gratias! Das ist ein Jubel wert! Vorarlberg gibt mit der Seligsprechung des Märtyrers Dr. Carl Lampert ein leuchtendes Beispiel für ganz Österreich.

Kurzbiografie des Provikars Dr. Carl Lampert

Carl Augustin Lampert stammt aus Göfis bei Feldkirch in Vorarlberg. Er wurde am 9. Januar 1894 als jüngstes von sieben Geschwistern geboren, die Eltern waren bei seiner Geburt bereits über 40 Jahre alt. Obwohl die Familie in einfachen Verhältnissen lebte, konnte es Carl ermöglicht werden, nach dem Abschluss der sechsjährigen Volksschule 1906 zum Staatsgymnasium nach Feldkirch zu wechseln. Natürlich legte die ganze Familie, so auch der geistliche Onkel Josef Anton Amann, für die Ausbildung ein Scherflein dazu. Nach der Matura folgte der Eintritt in das zuständige Fürsterzbischöfliche Priesterseminar in Brixen. Von den Mitstudenten wurde er „Carlobello“ genannt, ein Hinweis auf sein elegantes Auftreten, seine Freundlichkeit, sein feines, humorvolles Wesen. Am 12. Mai 1918 war dann der große Tag: die Priesterweihe durch Fürstbischof Franz Eger. Die Primiz fand zwei Wochen später, am 26. Mai, in seiner Heimatgemeinde statt. Als Kaplan war Dornbirn-Markt seine erste Dienststelle, wo ihm vor allem die Jugendbetreuung anvertraut war, was ihm ausgezeichnet gelang. Sein Bischof Dr. Sigismund Waitz, Salzburg, damals zuständig für Innsbruck-Feldkirch, sandte ihn aufgrund seiner Fähigkeiten 1930 zum Studium des Kirchenrechts nach Rom. Sein Wohnsitz war im Collegio Teutonico di S. Maria dell' Anima. Durch seine Praxis an der Sacra Rota Romana, dem Gerichtshof der römischen Kurie, gewann er Einblicke in das kirchliche Gerichtswesen. Mit dem Titel „Advokat der Sacra Romana Rota und Päpstlicher Geheimkämmerer“, der auch den Doktortitel und den Titel „Monsignore“ einschließt, beendete er seine Studienzeit, welche er als die glücklichste Zeit seines Lebens bezeichnete. Am 1. Oktober 1935 kehrte er nach Innsbruck zum Aufbau des dortigen kirchlich-diözesanen Gerichts zurück. Hier wurde er schon als möglicher künftiger Bischof dieser Diözese gehandelt. Ab 1936 wurde ihm zusätzlich die Leitung der Verlagsanstalt Tyrolia übertragen. Wenige Monate nach dem so genannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich wurde Innsbruck-Feldkirch am 15. Oktober 1938 zur Apostolischen Administratur erhoben. Paulus Rusch wurde ohne Absprache mit der braunen Gauleitung von Papst Pius XI. zum Apostolischen Administrator mit allen Rechten eines residierenden Bischofs ernannt. Der Kirchenkampf hatte begonnen.

Kampf gegen die NSDAP um die Freiheit der Kirche

Die lokale Gauleitung, besonders der kleriker- und kirchenfeindliche Gauleiter Franz Hofer, fühlte sich bei der Ernennung des Bischofs übergangen und verwehrte ihm jede Anerkennung als Verhandlungspartner. Am 15. Januar 1939 wurde Dr. Carl Lampert zum Provikar der neuen Administratur ernannt. Bischof Rusch war aufgrund eines „Führerbefehls“ nicht angreifbar, umso mehr dessen Stellvertreter. Carl Lampert trat mutig gegen kirchenfeindliche Handlungen der Gauleitung auf. Als die Theologische Fakultät und das Canisium geschlossen wurden, erwies sich der Provikar als stärkster Gegner des „braunen Höllenfeuers“. Nachdem sich im März 1940 die Schwestern „Zur Ewigen Anbetung“ geweigert hatten, ihre Klausur zu verlassen, wurden sie gewaltsam entfernt. Provikar Lampert aber wurde für das Verhalten der Schwestern zur Verantwortung gezogen. Dies führte zu seiner ersten Verhaftung und zur Inhaftierung im Polizeigefängnis „Sonne“. Erste Verhaftung. Obwohl er bald wieder entlassen wurde, ging der Kampf unvermindert weiter. Radio Vatikan brachte zehn Tage später zum Osterfest in deutscher Sprache einen Bericht über die prekäre kirchliche Lage in Tirol und wieder wurde Provikar Lampert verhaftet. Zweite Verhaftung. Carl Lampert scheute nach der erneuten Entlassung nicht den weiteren Kampf gegen dieses diabolische System. Pfarrer Otto Neururer von Götzens war nach Dachau eingeliefert worden. Dessen Gesundheitszustand verschlechterte sich überaus schnell. Provikar Lampert setzte sich für dessen Entlassung ein und ließ nach der Ermordung Neururers am 30. Mai 1940 im KZ Buchenwald eine Todesanzeige veröffentlichen, was ihn nun selbst „wegen Verstoßes gegen die NS-Geheimhaltungsvorschriften“ am 5. Juli 1940 über das Innsbrucker Polizeigefängnis ins KZ Dachau (Einlieferung am 25. August 1940) brachte. Dritte Verhaftung.

Karfreitag eines österreichischen Glaubenshelden

Schon sechs Tage später wurde er zur schweren körperlichen Arbeit ins KZ Sachsenhausen-Oranienburg überstellt – Häftling Nr. 31091. Dr. Carl Lampert war der höchste österreichische Kleriker in KZ-Haft. Am 15. Dezember 1940 erfolgte die Rückversetzung nach Dachau. Zu diesem Transport zählten 520 katholische Geistliche und sieben evangelische Pastoren. Am 1. August 1941 durfte Carl Lampert nach einem ausgeklügelten, hinterhältigen Plan mit vielen Auflagen das Lager vor den Toren Münchens vorläufig verlassen. Er erhielt unter anderem „Gauverbot“ und konnte somit nicht nach Tirol zurückkehren. Er musste sich fortan im norddeutschen Gau Pommern/Mecklenburg aufhalten. Dort sollte er im Carolusstift in Stettin durch einen Spitzel der Spionage überführt werden. So wurde sein Todesurteil vorbereitet. „Ing. Hagen“ (in Wirklichkeit SS-Bewerber Franz Pissaritsch) wurde auf ihn angesetzt. Die Aufzeichnungen dieses Spitzels führten schließlich zu Dr. Lamperts Verurteilung. Hagen protokollierte die Begegnungen Lamperts mit Fremdarbeitern. Auch versuchte er, Carl Lampert durch Vortäuschung eines Gewissenskonflikts staatsfeindliche Äußerungen zu entlocken, was ihm jedoch nicht gelang. Hagens Bericht führte dennoch am 4. Februar 1943 zu einer Verhaftungswelle im Carolusstift, 40 Personen wurden festgenommen mit der Begründung: Abhören fremder Sender, Zersetzung der Wehrkraft, Feindbegünstigung und Spionageversuch. Der Prozess gegen Dr. Lampert wurde Ende des Jahres 1943 an das Reichskriegsgericht Halle an der Saale übergeben. Am 20. Dezember wurde das erste Todesurteil gegen Dr. Lampert und zwei weitere Priester ausgesprochen. Wegen eines gerichtsinternen Streits wurde der Fall am 14. Januar 1944 an das Gericht nach Torgau übergeben. Hier erlebte Dr. Lampert eine monatelange, schreckliche Kerkerhaft, bis sein Prozess im Juli erneut aufgerollt wurde. Zweites Todesurteil. Generalstabsrichter Lueben beging jedoch in der Nacht vor der Unterzeichnung Selbstmord, weshalb der Prozess zum drittenmal aufgerollt wurde. Drittes Todesurteil am 8. September 1944. Carl Lampert schrieb noch bewegende Abschiedsbriefe in seine Heimat und an die Bischöfe Paulus Rusch in Innsbruck und Franziskus Tschann in Feldkirch. Er schrieb: „Das Menschenherz zappelt und blutet“, dennoch waren seine Zeilen, besonders auch an seinen Bruder Julius, voller Vertrauen, gefasst und aufrecht in der Christusfreude. Am 13. November 1944 um 16.00 Uhr wurde Carl Lampert zusammen mit den Priestern Friedrich Lorenz und Herbert Simoleit im Gefängnis „Roter Ochsen“ in Halle durch das Fallbeil hingerichtet. „Die Wolke der Zeugen“ (Hebr 12,1) für Jesus Christus und seine Kirche leuchtet durch all die Jahrhunderte.

Selig der Mann, der solch eine Stärke für Christus zeigt. Mit den Worten „Jesus – Maria!“ auf den Lippen starb dieser österreichische, katholische Glaubensheld. Carl Lampert hat ohne berechnende Vorsicht bzw. Rücksicht „Stopp“ gesagt, wo „Stopp“ gesagt werden musste. Solche Menschen braucht ein Volk, um vor sich selber bestehen zu können. Des Provikars Urne wurde in Halle an der Saale beigesetzt, nach dem Krieg 1948 aber in seine Heimatgemeinde Göfis übertragen. Die Seligsprechung in Dornbirn, St. Martin, am 13. November 2011, dem Jahrestag seiner Hinrichtung, ist bleibend ein österlicher Jubeltag – für Vorarlberg, für Tirol, für ganz Österreich.

Christoph Probst

Christoph Probst (1919–1943) gehörte zur sog. „Weißen Rose“, der bekannten Münchener Widerstandsgruppe während der Zeit des Nationalsozialismus. Barbara Probst-Polášek, eine seiner Schwiegertöchter, geht in ihrem Beitrag von einer Veröffentlichung aus, welche diesen Herbst in Berlin und München vorgestellt worden ist. Es handelt sich um eine Sammlung von Briefen, die ein eindrucksvolles Bild von der wunderbaren Herzenseinstellung dieses Blutzeugen vermitteln.

Von Barbara Probst-Polášek

Im Herbst dieses Jahres erschien das Buch „Alexander Schmorell – Christoph Probst. Gesammelte Briefe“. Die Herausgeberin, Christiane Moll, hatte lange Jahre recherchiert und ihre Kenntnisse durch viele Zeitzeugengespräche vertieft. Das 944 Seiten umfassende Ergebnis ihrer Arbeit kann als die erste Veröffentlichung zur „Weißen Rose“ ohne Kürzungen und Verfälschungen bezeichnet werden. Sie ist mit Unterstützung von Prof. Dr. Johannes Tuchel entstanden und gehört unter der Bezeichnung B 3 zur Schriftenreihe der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“. In der Reihe B werden „Quellen und Berichte“ veröffentlicht.

Alexander Schmorell und Christoph Probst sind zusammen mit den Namen von Prof. Dr. Kurt Huber, Willi Graf, Hans und Sophie Scholl sowie Hans Leipelt im Werk „Blutzeugen der Erzdiözese München und Freising“, herausgegeben von Peter Pfister 1999, veröffentlicht worden, ebenso in dem Buch „Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium“, hrsg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von Helmut Moll, 2010 bereits in 5. Auflage erschienen.

Ökumenischer Aspekt der „Weißen Rose“

Im Schreiben „Tertio Millennio Adveniente“ vom 10. November 1994 erinnerte Papst Johannes Paul II. an die Blutzeugen des 20. Jahrhunderts: „Soweit als möglich dürfen ihre Zeugnisse in der Kirche nicht verlorengehen.“ Und er weist ausdrücklich auf die ökumenische Dimension des neuzeitlichen Martyrologiums hin: „Das Zeugnis für Christus bis hin zum Blutvergießen ist zum gemeinsamen Erbe von Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten geworden, wie schon Paul VI. … betonte.“ (Nr. 37) Gerade diesen Aspekt weist die Gruppe „Weiße Rose“ auf:

Prof. Dr. Kurt Huber: römisch katholisch / Alexander Schmorell: russisch orthodox / Hans Scholl: evangelisch (wollte allerdings vor der Hinrichtung noch zur kath. Kirche konvertieren) / Sophie Scholl: evangelisch (wollte sich ihrem Bruder anschließen) / Willi Graf: römisch katholisch / Christoph Probst: römisch katholisch (direkt vor der Hinrichtung getauft und mit der hl. Kommunion gestärkt) / sowie Hans Leipelt: Sohn einer jüdischen Mutter, evangelisch getauft und während seiner Haftzeit zu vertieftem Glauben geführt.

Hans Leipelt wurde am 10.10.1943 verhaftet, weil er für die mittellos gewordene Witwe von Prof. Kurt Huber und ihre zwei Kinder in Hamburg eine Sammlung durchführte und deren Ertrag überbrachte. Auch er starb unter dem Fallbeil (29.1.1945).

Lebensweg von Christoph Probst

Christoph Probst wurde am 6. November 1919 in Murnau am Staffelsee (Oberbayern) geboren. Seine Eltern stammten aus katholischen Elternhäusern (Kaufbeuren i. Allgäu und Aachen), doch ließen sie ihn und seine Schwester Angelika (geb. am 7. April 1918) nicht taufen. Was den Glauben betrifft, wollten sie ihren Kindern eine freie eigene Entscheidung überlassen. Schließlich trennten sich die Eltern, Mutter und Vater heirateten wieder und so wuchsen die Kinder mit mehreren „Elternhäusern“ auf. Früh kamen die beiden in ein Internat. Zwischen allen aber war immer eine liebevolle Verbindung vorhanden und Christoph Probst hatte ein besonders inniges Verhältnis zu seiner Stiefmutter. Als sein Vater schon 1936 starb, versuchte er, seiner Stiefmutter Trost zu spenden, obwohl er erst 16 Jahre alt war und selbst entsetzlich unter dem Verlust litt.

Seine Stiefmutter war Jüdin. So war sie nach den nationalsozialistischen „Rassegesetzen“ ungeschützt. Allerdings konnte sie im Ort Ruhpolding (Oberbayern) auf Grund der guten Gesinnung und Tapferkeit ihres Umfeldes überleben. Nach dem Krieg ließ sie sich katholisch taufen. Die Vertrautheit mit diesen Umständen sowie ein Erlebnis als Kind, wo er bei einem Verwandtenbesuch zufällig in den „Reichsparteitag“ in Nürnberg hineingeriet, ließen ihn früh den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus erkennen. In einem Brief beklagt er, dass er seinen neuen „guten“ Anzug wegen der Massen auf den Straßen gar nicht tragen könne. Gerne hätte er ein Konzert besucht.

Zeugnis seiner Schwester Angelika

Angelika schilderte ihren Bruder Christoph in einem Artikel für die Zeitschrift Der Fährmann (siehe Quellenangaben)[1] u.a. mit folgenden Erinnerungen:

„… Je älter er wurde, desto mehr zeigte sich, wie außerordentlich liebefähig und mitfühlend sein Herz war. Seit er einmal beobachtet hatte, wie ein sich sträubendes Kälbchen zum Schlachten geführt wurde, aß er jahrelang keinen Bissen Fleisch mehr, und über Menschen, mit denen er aus irgendeinem Grunde Mitleid hatte, konnte er weinen. Besonders die Bettler, die damals noch vor die Haustüren kamen und um Brot oder Geld baten, hatten es ihm angetan, und er bemitleidete sie so innig, dass er beschloss, selber Bettler zu werden. Jeden Abend spielte er sein selbsterfundenes Lieblingsspiel: ,Ich bin ein blindes Bettelmännchen‘, und ließ sich von uns durchs Haus und schließlich ins Bett führen.

Dabei war er, und das ist das Erstaunliche, trotz aller Zartheit, die sich immer mehr vertiefte, alles andere als ein Schwächling. Er hatte im Gegenteil schon von Kindheit an etwas Großartiges und Bestimmendes und traute sich gewaltige Kräfte zu. Als wir einmal mit den Eltern nach München gefahren waren und vor den beiden mächtigen ehernen Löwen der Feldherrnhalle standen, frug er allen Ernstes: ,Papa, darf ich einen davon mitnehmen?‘ Auf einem Spaziergang im Winter blieb er vor der riesigsten Tanne stehen, die sicherlich ihre dreißig Meter maß, und sagte: ,Die holen wir als Weihnachtsbaum‘; und in dem gewaltigen Dom von Brixen meinte er: ,Das wäre ein schönes Zimmer!‘ …

Ein Beispiel für viele: Wir besuchten damals das Landerziehungsheim in Marquartstein. Dort führt über die Ache – das ist ein ziemlich breiter Fluss – eine steinerne Brücke, deren Geländer sich halbkreisförmig in haushohem Bogen über die Straße schwingen. Und auf der Außenseite eines jeden Geländers geht es noch viel tiefer zum Wasser hinab. Einmal nach der Schule wetteten wir, ob es wohl jemanden gebe, der sich getraue, über diese Bögen – sie waren etwa einen halben Meter breit – zu laufen. Plötzlich sehe ich, wie unser Christl sich die Schuhe auszieht und schon mit ausgebreiteten Armen das hohe steile Steinband hinaufläuft. Das Wort blieb uns im Munde stecken, vorübergehende Frauen hielten aufschreiend an, er aber glitt weiter, vogelleicht und sicher wie ein Akrobat, erreichte die äußerste Höhe, blieb einen Augenblick stehen und lief auf der anderen Seite wieder hinunter. …

Wie tief und andauernd gerade er unter der Tyrannis und Verlogenheit des Dritten Reiches litt, kann ich nicht beschreiben. Vom ersten Tag an, und er war 1933 noch fast ein Kind, wehrte sich alles in ihm gegen diese Vermessenheit, und er durchschaute den Trug, die geheimen Kriegsabsichten, die hohlen Versprechungen, die unverzeihliche Herabwürdigung des geistigen Menschen schärfer als die meisten. Mit jedem Jahr prägte sich seine Gegnerschaft klarer und überzeugender aus, und er hatte die Gabe, in Worte zu fassen, worum es ging. Ich habe manchem Gespräch zugehört, das er mit geistreichen Männern führte, die dreimal so alt waren als er, aber niemand war dieser erzengelhaften Lichtheit des Geistes gewachsen. Besonders lebhaft erinnere ich mich an die heilige Erregung, mit der er sich gegen die Tötung der Irren und rettungslos Kranken aussprach, wie er mir, die ich damals nichts ganz so Entsetzliches darin sah, klar machte, dass es den Menschen in keinem Fall zustände, in den Willen Gottes einzugreifen, denn niemand könne doch wissen, was in den Seelen dieser Irren vorgehe und zu welch geheimer Reifung das Leid über sie verhängt sei. …“

Inniges Verhältnis zu seinen Kindern

Als Medizinstudent gehörte Christoph zu einer „Studentenkompanie“. Er war bei der Luftwaffe und wurde zum Studium jeweils „abkommandiert“. So studierte er in Strassburg, München und Innsbruck. Deswegen war er stets rastlos unterwegs, falls er Urlaub bekam, um Familie, Freunde und vor allem seine Frau und die Kinder zu besuchen. Wie sehr er seine kleine Familie liebte und wie innig er sich seinen Kindern zugetan fühlte, kann man aus einem Brief an seine Stiefmutter vom 28.12.1942 erkennen:

„… Ich komme mir ja so unsagbar reich vor durch die unversiegliche Freude, die mir die Kinderlein bereiten. Wie goldig waren sie diesmal beim Fest und sind es jetzt noch! … Du kannst Dir denken, wie die Augen der Kinder glänzten, wie ihre heißen Bäckchen glühten, als sie den Glanz und die Lichter sahen, die bescheidenen Geschenke in Empfang nahmen! Die Vaterfreude übersteigt in solchen Momenten jedes Maass…“

Christoph Probst freute sich auch auf die Geburt seines dritten Kindes.

Vollendung im unerschütterlichen Glauben

Doch bei all diesen Lichtpunkten vergaß er nie die tragische Situation des Krieges. Dies brachte ihn letztlich wohl auch dazu, ein eigenes Flugblatt zu entwerfen. Diese Aufzeichnung wurde ihm, als man sie bei Hans Scholl gefunden hatte, zum Verhängnis.

Lange hatte er sich auf die Taufe vorbereitet – seine Söhne waren schon getauft –, aber er wollte sie als ernsthaften Akt erleben. Doch die Ereignisse überstürzten sich und so hatte er die große Gnade, noch vor der Hinrichtung getauft zu werden.

In einem Weihnachtsbrief an seinen Halbbruder schreibt er:

„Es ist schwer, besonders schwer, solange man noch jung ist, auf die einmalige große Freude des schönsten Festes zu verzichten. Wenn man es aber muss, so ist es das Schönste und Stärkste, was man tun kann, die innere Bedeutung dieser Tage zu erleben und zu feiern. Es soll auch so ein Freudenfest sein, an dem man voll Dankbarkeit der Güte des Schöpfers dankt, dass er uns Christus gesandt hat, durch den wir wissen, dass unser Leiden, unser Leben einen Sinn hat, der uns ein Leben vorgelitten hat aus reinster Güte, der das Leid verständlich gemacht hat und geheiligt hat, der uns auf das Leben nach dem Tod gewiesen hat, der die Liebe predigte, die wahre Verbrüderung der Menschen, der uns das Brot des Lebens gebracht hat und an dem es keinen Zweifel gibt. Es kommt auf das Leben jedes Einzelnen an, jeder Mensch ist Gott lieb, er will aber auch von jedem geliebt werden, denn die Liebe ist die Kraft der Welt, die alles Leben erzeugt, behütet und zur Seeligkeit führt, die Kraft, die Welten geschaffen hat. Du siehst ja, wie weit man es durch den Hass bringt und gebracht hat: Zerstörung, Blut und Tod, auch wird nicht Bleibendes und Gutes daraus. Was hat die Liebe dagegen geschaffen? Auf ihr ruhen Kulturen, Dome wuchsen aus ihrem Schoß, sie ist das Band von Mensch zu Mensch, das alle Freude des Lebens erst möglich macht, denn was wäre der Mensch allein? Die Liebe war von Anbeginn der Welt an da, denn ein Gott hat ja die Welt erschaffen. Denke auch du, lieber Dieter, an die Liebe, an die Verbrüderung der Menschen, an den Frieden. Schau, dass in Deinem Herzen Frieden sei an diesem Friedensfest und hoffe mit uns aus aller Kraft auf Frieden, wahres Leben, echte Freuden!“

Den letzten Brief an seine Mutter, durfte diese nur lesen. Danach wurde er ihr wieder abgenommen. Sie hielt ihn jedoch als Erinnerungsnotiz fest. Darin steht:

„Liebes Mütterchen, ich danke Dir, dass Du mir das Leben geschenkt hast. Wenn ich es recht überblicke, war es ein einziger Weg zu Gott. Da ich ihn aber nicht weit gehen konnte, springe ich über das letzte Stück hinweg. Mein einziger Kummer ist, dass ich Euch Schmerz bereiten muss … Eben erfahre ich, dass ich nur noch eine Stunde Zeit habe. Ich werde jetzt die heilige Taufe und die heilige Kommunion empfangen. Wenn ich keinen Brief mehr schreiben kann, grüße alle Lieben von mir. Sag Ihnen, dass mein Sterben leicht und freudig war …“


[1] 1. Familienberichte. – 2. Faksimile der Briefe Christoph Probst’s. – 3. „… damit Deutschland weiterlebt.“ Christoph Probst. 1919-1943, Hg. Christoph-Probst-Gymnasium Gilching, 2000. – 4. Alexander Schmorell – Christoph Probst. Gesammelte Briefe, hrsg. von Christiane Moll, Lukas Verlag, Berlin 2011. – 5. „Der Fährmann“, Zeitschrift der katholischen Jungmänner-Gemeinschaft im Bund der katholischen Jugend, Heft 3/1947.

Einsatz wider den Zeitgeist gewürdigt

Der neu errichtete Förderpreis der „Christlichen Bildungsstiftung“, der der „Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis“ in Bayern nahesteht, wurde heuer zum ersten Mal verliehen und ging an die evang. Ärztin Christl Ruth Vonholdt und den Diplom-Sozialarbeiter Markus Hoffmann. Weihbischof Laun ist mit großer Freude zu dieser Preisverleihung gefahren. Nicht nur, um einige jener evangelischen Freunde wieder zu treffen, die ihm näher stehen im Glauben als mancher „katholische“ Christ, der sich jeder neuen Oppositionsbewegung anschließt, sondern vor allem auch, um ein Zeichen zu setzen.

Von Weihbischof A. Laun

Auch ich schließe mich von ganzem Herzen dieser Ehrung an! Warum, wer sind die Geehrten und worin besteht ihr Verdienst?

Frau Dr. Christl Ruth Vonholdt ist Leiterin des Deutschen Instituts für Jugend und Gesellschaft, einer Einrichtung der „Offensive Junger Christen“. Sie bekam den Preis für ihre Grundlagenarbeit über die Zusammenhänge von Identität, Entwicklung und Homosexualität. Und ich füge hinzu: Nach meiner Einschätzung gibt es zumindest im deutschsprachigen Raum niemanden, der so fachkundig ist bezüglich der verschiedenen sexuellen Störungen, die in der Entwicklung von Menschen auftreten können. Frau Dr. Vonholdt forscht und hilft betroffenen Menschen und sie tut dies erstens auf Grund ihres christlichen Glaubens, zweitens mit Hilfe ihrer Kompetenz und drittens tut sie ihre Arbeit ruhig und sachlich. Sie sucht nicht den Streit, aber sie weicht der heute unvermeidlichen Auseinandersetzung auch nicht aus. Anders gesagt: Sie ist Christin, Ärztin, Wissenschaftlerin und sie ist – mutig! Jeder, der weiß, wie aggressiv und mächtig die ideologisch „andere Seite“ ist, weiß: Wir leben schon wieder in einer Zeit, in der es sehr großen Mutes bedarf, bestimmte, politisch unkorrekte Wahrheiten ohne Wenn und Aber auszusprechen! Dr. Vonholdt hat und lebt diesen Mut! Diesen braucht sie auch gegenüber nicht wenigen Vertretern der evangelischen Christenheit, aber auch gegenüber der Ignoranz vieler katholischer Kreise, die am Problem entweder vorübergehen oder sich kritiklos dem Zeitgeist angepasst haben. Christl Vonholdt haben wir zu danken für ihre kostbare Arbeit und für ihren Mut! Evangelische Christen und Katholiken, alle denkenden Menschen sollten sagen: Gott sei Dank, dass es sie gibt!

In ihrer Laudatio würdigte die Philosophin Edith Düsing Christl Vonholdt: Sie sucht unbestechlich nach Wahrheit und Erkenntnis, auch im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft. Mit ihren Forschungen hat sie eine Welt des Irrtums zum Einstürzen gebracht und hat „Wölfen im Schafspelz“ wie sogar dem kriminellen Sexualforscher Alfred Kinsey (1894-1956) die Maske vom Gesicht gerissen: Viele seiner Daten bauten auf Antworten von Kinderschändern auf! Auch würde das Dogma von der Unumkehrbarkeit homosexueller Orientierung für viele Menschen zu einem ausweglosen Käfig der ‚political correctness‘, wenn es nicht Menschen wie Christl Vonholdt gäbe, die alle Menschen ernst nehmen und sich auf ihre Probleme einlassen!

Markus Hoffmann, der die Lebensberatung „Wüstenstrom“ leitet, engagiert sich nach eigenen Angaben für homosexuelle Menschen, die unter seelischen Konflikten leiden und einen Ausweg aus ihrer inneren Zerrissenheit suchen. Nach den Worten des Stiftungsvorsitzenden Andreas Späth gibt es in Kirche und Gesellschaft kaum Hilfen für Menschen, die ihre gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung ändern wollen. Hier stehe die Christenheit in einer Bringschuld. Und Weihbischof Laun fügt hinzu: A. Späth hat ganz recht, und auch die kath. Kirche hat diese Bringschuld bisher nicht wirklich erbracht! Die Laudatio für M. Hoffmann hielt Albrecht Fürst zu Castell-Castell unter dem Titel: „Kirche hat Wächteramt verloren“. Fürst Castell verband seinen Dank für die Arbeit von „Wüstenstrom“ mit Kritik an den Landeskirchen: Dass Kirchenleitungen Pfarrern erlauben können, gleichgeschlechtliche Beziehungen auch im Pfarrhaus zu leben, zeige, dass ihr Handeln nicht mehr allein von bibelgetreuer Theologie bestimmt werde. Zeitbedingte Gesellschaftsentwicklung und medizinisch-psychologische Lehrmeinungen beeinflussten die Glaubenslehre. „Unsere evangelische Kirche ist zu einer gesellschaftlichen Gruppe geworden, die keine eigenen Maßstäbe mehr setzt und ihr Wächteramt verloren hat“, so Fürst Castell. Dagegen biete „Wüstenstrom“ Orientierung und Wegweisung, Hilfe für Konfliktlösungen im eigenen Ich und Seelsorge für Menschen, die dem Bibelwort vertrauen.

Gegen die Auswahl der Preisträger protestierten erwartungsgemäß der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD). Nicht nur kein Grund einzuknicken, sondern eine Bestätigung für die Richtigkeit der Ehrung von Christl Ruth Vonholdt und Markus Hoffmann!

Die Hasenscharte – tödliche Behinderung?

Weihbischof Dr. Andreas Laun legt ein starkes Zeugnis ab. Offen spricht er von seinem persönlichen Schicksal: Er wurde mit einer sog. „Hasenscharte“ geboren. Wie wirken auf einen solchen Menschen die Diskussionen über Gründe, aus denen Kinder abgetrieben oder ausselektiert werden sollen? Denn inzwischen gilt auch die Hasenscharte als hinreichender Grund zur Tötung eines Kindes noch während der Geburt. Umso mehr steht es einem Betroffenen zu, die Dinge beim Namen zu nennen und Fragen zu stellen, die vielleicht als gesellschaftspolitisch unkorrekt gelten.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Vor Jahren nahm ich an einer Tagung teil, auf der über Pränatale Diagnostik (PND) und Präimplantations-Diagnostik (PID) gesprochen wurde und in logischer Folge auch über die Frage, ob behinderte Kinder abgetrieben werden sollen. Wenn ja, ergab sich daraus die nächste Frage: Welche Behinderung „gilt“ als hinreichender Grund und wer entscheidet darüber, ob eine Behinderung zur Begründung einer Abtreibung als „genug schwer“ einzustufen wäre oder eben nicht? In einer Pause stellte ich einer Ärztin die Frage, ob eine Hasenscharte für sie Grund genug wäre, das Kind abzutreiben? Sie erkannte, dass ein Betroffener vor ihr stand, und gab sich entsetzt: „Natürlich nicht, wo denken Sie hin!“ Ich erwiderte, in einem Fachbuch stünde es bereits anders, aber dies ließ sie nicht gelten: „Wegen Hasenscharte abtreiben? Niemals!“

Seit dieser Debatte sind mindestens 20 Jahre vergangen. Seit der fast ausnahmslosen und weltweiten Einführung der verschieden gestuften „Fristenlösungen“ ist die Entwicklung nach unten nicht stehen geblieben. Wenn es am Anfang noch so klang, als wolle man Abtreibung wirklich nur in „tragischen Situationen“, nur als „seltene Ausnahme“ erlauben und man halte Abtreibung nach wie vor für ein schweres Unrecht: Diese Zeiten mit ihren ‚Alibis‘ und ihrer Heuchelei sind längst vorbei! Die Lobby der Abtreiber hat nicht geruht, die öffentliche Meinung und die ihr ergebenen Politiker sind ihr gefolgt und immer tiefer gesunken. Erst kürzlich forderte ein österreichischer SPÖ-Politiker, Abtreibungsangebote in allen Landeskliniken anzubieten, flächendeckend im Sinn der „Gleichberechtigung“, sozusagen als „Menschenrecht!“ Aber gibt es das: „Recht auf Unrecht?“! Sogar einer seiner politischen Gegner (ein Vertreter einer angeblich „freiheitlichen“ Kleinpartei) gab ihm umgehend recht mit der Begründung, die Menschen sollten „ihr Leben selbst bestimmen dürfen“ und der Staat solle sich nicht einmischen! Als ob das Töten eines Anderen „Selbst-Bestimmung“ wäre und nicht „Fremd-Bestimmung“ und es „Einmischung“ wäre, wenn der Staat seine Aufgabe erfüllte, Leben zu schützen!

Begreifen diese Damen und Herrn noch immer nicht, dass die Freiheit zum Töten kein Fortschritt ist, sondern ein moralischer Kollaps, Rückfall in schlimmste Barbarei? Und dass sich Abtreibung nicht nur gegen die Kinder richtet, sondern auch gegen die Frauen und Mütter und mit jedem abgetriebenen Kind auch ein Stück Zukunft Europas abgetrieben wird? Wie treffend hat Kardinal Schönborn die Abtreibung ein „Nein Europas gegen seine eigene Zukunft“ genannt. Ein „Geheimnis des Glaubens“ oder doch einsichtig und verständlich für jeden Sonderschüler? Dennoch sprechen die meisten Politiker nur verschämt vom „demographischen Wandel“, nicht aber von seinen Ursachen und nicht von seinen dramatischen Folgen! Es ist, als ob ein Strandwächter von „Wasser-Schwankungen“ redete, während die Schaumkronen eines Tsunamis schon sichtbar sind, und später behaupten wollte, er hätte die Leute „gewarnt“! Wo wird diese Fahrt nach unten enden? Abtreibung in tragischen Fällen nicht bestrafen, hieß es am Anfang, dann: Abtreibung erlaubt, Abtreibung ein Menschenrecht, Abtreibung Entscheidung allein der Frau! Und heute: Täter sind nicht mehr die Abtreibenden, sondern jene, die sich dagegenstellen, dagegen reden, sogar jene, die Frauen Hilfe anbieten! Früher oder später wird man sagen, sich gegen Abtreibung zu stellen sei strafbar, weil es Frauen „diskriminiere“, „Schuldgefühle ohne Schuld“ erzeuge, Frauen „belästige“, während sie doch nur „ihr gutes, vom Gesetz garantiertes, wohl erworbenes Recht“ auf professionell durchgeführte, hygienisch saubere Tötung ihres Kindes in Anspruch nähmen! Ein ursprünglich islamischer Taxifahrer aus Persien sagte mir: „Abtreibung? Abtreibung ist Mord und sollte bestraft werden!“

Besonders korrekt erscheint vielen Menschen „Abtreibung wegen Behinderung“! Zwar sollten alle Gebäude und Einrichtungen „Behinderten-gerecht“ gebaut werden, aber die Gesellschaft selbst will das nicht sein, sondern „Behinderten-frei“!

Freilich, dass Nicht-Christen angesichts einer schweren Behinderung an Abtreibung denken, ist nicht nur unverständlich! Aber dann stellt sich die Frage: Warum dürfen auch ganz gesunde Kinder abgetrieben werden? Und wie schwer muss die Behinderung sein, um das Kind töten zu dürfen? In der Frankfurter Allgemeinen schrieb vor kurzem Kardinal Meisner: „In Deutschland gilt eine Hasenscharte als ausreichender Grund, ein Kind mit medizinischer Indikation im Geburtskanal mit einer Kaliumspritze ins Herz zu töten. Dieser Eingriff ist Kassenleistung.“ Das heißt: Man tötet in diesem Europa, das so gerne andere über Menschenrechte belehrt, Menschen wegen einer kleinen, gut therapierbaren Behinderung auch noch unmittelbar vor der Geburt! Als ich 1942 mit Hasenscharte geboren wurde, meinte der Arzt zu meinem Vater, ich würde manche Berufe nicht ausüben können, und nannte zur Veranschaulichung den des „Priesters“!

Aber die Operations-Technik war schon damals viel weiter, als der Arzt es wusste, heute sind „Hasenscharte und Wolfsrachen“ fast eine „Kleinigkeit“. Aber: Laut offizieller Statistik über Abtreibung wegen Behinderung gab es in England im Jahr 2010 „nur“ acht Hasenscharten-Kinder. „Nur?“ Frage: Wäre es nicht folgerichtig, auch Unfallopfer, die eine lange, teure Therapie brauchen oder nur noch als kostenintensiver Pflegefall überleben können, ebenfalls zu töten – vernünftiger als Hasenscharten-Kinder mit ihren vergleichsweise kleinen Operationen (mit denen man sogar noch Bischof werden kann)? Wer wagt weiter zu fragen: Wäre Hitler mit diesen unseren Selektionsprogrammen bezüglich „Behinderter“ nicht hochzufrieden gewesen? Liegen sie nicht genau in der Logik seines Denkens, nur in der Praxis dem medizinischen Fortschritt angepasst? Wenn irgendein Betrunkener „Heil Hitler“ brüllt, ruft man nach Polizei und Gericht wegen „Wiederbetätigung“. Zu Recht, aber wenn lebensfähige Kinder „medizinisch sauber“ getötet werden „dürfen“, soll das keine „Wiederbetätigung“ sein, sondern „Wahrung eines Menschenrechtes“? Was wird die heutige Generation auf die Fragen ihrer Kinder einmal sagen? „Wir haben das nicht gewusst“?

Ich höre den Einwand: Entspricht nicht gerade das Verbot der Abtreibung dem Geist Hitlers? Nein, denn die Nazis haben nur die Abtreibung der Arier verboten, die Abtreibung slawischer Kinder haben sie gewollt, gefördert, empfohlen und gesetzlich freigegeben!

Die Verwerfung des jüdisch-christlichen Gebotes, niemals und aus keinem Grund einen Unschuldigen zu töten, hat noch immer in eine irdische Hölle geführt! Welchen Grund gibt es zu meinen, in unserer Zeit führe sie in ein Paradies? Die große österreichische Schriftstellerin Erika Mitterer schrieb einmal: „Ich möchte schweigen, doch wer Angst hat schreit! Ich habe Angst, dass dieser ganze Fortschritt uns in die Hölle führt, an die ich glaube wie an den Himmel. Denn wir sehen die Zeichen!“

Die katholische Kirche bringt es auf den Punkt: „Das Leben eines Unschuldigen ist von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod unantastbar!“ Das ist katholische Lehre, das ist Naturrecht und jeder Mensch findet diesen Satz in seinem Herzen niedergeschrieben. Nur „lesen“ muss man ihn können und lesen wollen! Niemand kann so behindert sein, dass Andere das Recht hätten, ihn zu töten, genauso wenig wie man einen Sterbenden oder Schwerkranken nicht töten darf, nur weil er „ohnehin stirbt“, zumal das früher oder später alle Menschen auch einmal tun!

Der große Jurist Wolfgang Waldstein hat schon zur Zeit der Einführung der Fristenlösung gesagt: „Ein Staat, der das Töten Unschuldiger erlaubt, hört auf, ein Rechtsstaat im Vollsinn des Wortes zu sein!“ Armes Europa, wann wird es wieder zu einem Rechtsstaat, wie wir ihn alle ersehnen!

Gewaltsam gezeugt und doch geliebt!


Von Rebecca Kiessling

Tief beeindruckt von dem Vortrag und der Persönlichkeit der Referentin Rebecca Kiessling bei einer Veranstaltung der Lebensrechtsbewegung Alpha in Deutschland erzählte ich im kleinen Kreis von zwei Priestern und einer jungen Frau, was ich erlebt und gehört hatte. Aber dann traute ich meinen Ohren nicht: Man nannte die Entscheidung für oder gegen Abtreibung ein „emotionales Problem“ und meinte, die Entscheidung müsse auf der „Beziehungsebene“ fallen. Nicht möglich war es mir, das schlechthin ausnahmslose Tötungsverbot eines unschuldigen Menschen verständlich zu machen, nicht einmal den Priestern! Einer distanzierte sich noch ausdrücklich von Todesstrafe, was die Sache noch absurder machte: Die Tötung eines Mörders müsse also verboten, die Tötung eines Kindes mit Behinderung oder gezeugt durch Vergewaltigung erlaubt werden? 

Jeder, der nicht nur mit überzeugten Lebensschützern spricht, weiß: Viele, viele Menschen, leider auch Katholiken, reden und denken so! Aber gerade darin besteht die Botschaft von R. Kiessling: Wie Papst Johannes Paul II. in „Evangelium vitae“ das 5. Gebot Gottes lehrt und in Gottes Namen einfordert, verteidigt sie mit besten Argumenten die absolute Ausnahmslosigkeit des Neins zur Tötung eines anderen Menschen wegen Behinderung oder – wie in ihrem Fall – wegen den Umständen seiner Zeugung, auch wenn diese Umstände in einer Vergewaltigung bestanden!

Nach ihrem Vortrag sprach ich sie an und erzählte ihr: Kardinal Meisner berichtete erst kürzlich in einem Artikel in der F.A.Z., dass man in Deutschland auf den Wunsch der Mutter hin ein Kind mit Hasenscharte noch während der Geburt töten kann! Sicher auch wegen anderer Behinderungen, auch wegen solchen, die heute leicht behebbar sind! Aber im Grund sind wir schon „viel weiter“: Es bedarf gar keiner Behinderung, wie schwer oder leicht sie sein mag, es genügt der Wunsch, den „mütterlich“ zu nennen eine Verhöhnung aller wirklichen Mütter wäre!

Aber wenn Rebecca Kiessling etwas bewiesen hat, dann dies: Wer mit einer einzigen Ausnahme das 5. Gebot Gottes nach dem Motto „Ich bin auch gegen Abtreibung, aber bei Vergewaltigung oder bei schwerer Behinderung muss es erlaubt sein“, hat die Büchse der Pandora geöffnet und alle anderen „Motive“ strömen nach. Und nach einiger Zeit braucht es überhaupt keine Begründung mehr: Töten eines Kindes ist Privatsache, da sollte sich niemand anderer mehr einmischen! Mutter Teresa hatte recht: Die Abtreibung ist die größte Bedrohung des Weltfriedens! Wie lange noch wird die Welt die Warnungen Gottes vor den Folgen der Sünde in den Wind schlagen?

P.S.: Ich entschuldige mich bei unseren Lesern: „Schon wieder das Thema Abtreibung!“ Sie haben recht und auch ich würde viel lieber zu anderen Themen schreiben und werde es auch tun. Nur: Das Morden geht weiter, wir Christen müssen weiter reden, nein schreien!

(Weihbischof Andreas Laun)

 

Die Brunnenvision des hl. Bruder Klaus

Am 25. September 2011, dem Fest des hl. Bruder Klaus, fand in Zürich-Liebfrauen eine Missio-Feier statt. Der Diözesanbischof von Chur, Dr. theol. habil. Vitus Huonder, übertrug zwei Pastoralassistentinnen und einem Pastoralassistenten die Missio Canonica, d.h. die bischöfliche Beauftragung für ihren Dienst in der Seelsorge. Dabei erinnerte er an die sog. „Brunnenvision“ des hl. Bruder Klaus und deutete sie auf die pastorale Situation in unserer Zeit. Nachfolgend seine interessanten und wertvollen Überlegungen, für KIRCHE heute leicht bearbeitet.

Von Bischof Vitus Huonder, Chur/Schweiz

Beschaulichkeit und Apostolat

Der hl. Bruder Klaus, der Landespatron der Schweiz, lebte von 1417-1487 im Flüeli bei Sachseln (Obwalden). 50-jährig zog er von seiner Familie weg in die Einsamkeit. Er ging in den Ranft, wie der Ort nahe beim Flüeli heißt, um in der Beschauung ganz für Gott zu leben. Er hatte den Ruf in sich verspürt, alles zu verlassen und als Jünger Christus nachzufolgen (Mt 19,27-29). Aber er blieb auch in der Einsamkeit nicht untätig. Er stand insbesondere den Menschen bei, welche bei ihm Rat auf dem Weg des Glaubens suchten, Rat in den Sorgen und Nöten des Alltags brauchten. Sein Wort bewirkte beispielsweise, dass die Alte Eidgenossenschaft 1481 vor einem Bürgerkrieg bewahrt blieb.   

Die Brunnenvision

Bruder Klaus hatte eines Tages eine Vision. Im Geiste sah er eine große Menge von Personen, die arbeiteten unermüdlich und hart, doch blieben die Menschen trotzdem arm. Wir würden sagen: Sie kamen auf keinen grünen Zweig. In der Nähe dieser Menschenmenge sah er ein kleines Gebäude, das in der Vision Tabernakel heißt. Er trat ein und fand im Inneren einen Brunnen, aus dem Wein, Öl und Honig flossen, und dies so reichlich, dass viele Menschen daraus hätten schöpfen können. Aber es waren nur ein paar Leute anwesend, die sich um die Kostbarkeiten bemühten. Da fragte sich Bruder Klaus, warum die Menschen, welche draußen so hart und pausenlos arbeiteten und dennoch arm blieben, nicht zum Brunnen kämen, wo sie doch alles im Überfluss haben könnten. Die Antwort wurde ihm denn auch bald gegeben. Er sah nämlich, wie gewisse Personen durch bestimmte Maßnahmen die Menschen daran hinderten, den Weg weiterzugehen, um sich dem Tabernakel zu nähern. Abschließend erfährt Bruder Klaus, was für eine Bewandtnis es mit dem Brunnen hat, der in reichem Maß Wein, Öl und Honig spendet. Er sieht seine Kapelle und seine Zelle. Von hier her, vom Ort des Einsiedlers her fließen Wein, Öl und Honig, fließen in reichem Maß die Gaben Gottes. Der Einsiedler selber, sein Leben in Gott, seine Hingabe an den Herrn, ist eine Quelle des geistigen Reichtums, der Gnade. Das ist die sog. Brunnenvision des hl. Bruder Klaus.

Das Entscheidende und Bleibende

Bruder Klaus wird zur Quelle des geistigen Reichtums, der Gnade Gottes. Er wird zu einem Mittler reicher Gaben, der Gaben des Glaubens. Durch Bruder Klaus können die Menschen die Gaben Gottes entdecken und aus ihnen schöpfen. Sie können sich aus ihrer Armut befreien und in ihrem Herzen, in ihrer Seele reich werden. Sie dürfen zum eigentlichen Reichtum finden. Der hl. Paulus sagt uns ja: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17). Wir sollen nicht in Streit geraten wegen äußeren, belanglosen Dingen, will der Apostel sagen, wir sollen das Wesentliche sehen, das Eigentliche, das was uns hineinführt in die Ruhe Gottes, in die Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Herrn, mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, und uns in der Gnade erhält. Denn die Gnade, die heiligmachende Gnade, das Erlösungswerk Christi, ist das Entscheidende und das Bleibende.

Auftrag der kirchlichen Mitarbeiter

Die kirchlichen Mitarbeiter am Dienst der Priester nehmen Teil am „Aufbau der Gemeinde“ (Röm 14,19), wie sich Paulus ausdrückt. Der Völkerapostel spricht einfach vom „Aufbau“, der Übersetzer hat „Gemeinde“ beigefügt. Der Ausdruck „Aufbau“ ist sehr weit. Wir können darunter die persönliche Erbauung eines Menschen verstehen. Der Mensch wird in seinem Glauben „aufgebaut“. Das ist eine ganz wichtige pastorale Aufgabe: nämlich den Menschen den Glauben zu vermitteln, selber ein Vorbild des Glaubens zu sein, aber den gelebten Glauben auch in die Sprache umzusetzen und so den Funken des Glaubens in die Herzen vieler Menschen hineinzutragen. Der Ausdruck „Aufbau“ kann sich aber auch auf die Gemeinschaft beziehen, auf die Glaubensgemeinschaft, auf die Kirche. Die kirchlichen Mitarbeiter sollen dazu beitragen, dass durch ihr Wirken diese Gemeinschaft aufgebaut wird, nicht auseinandergerissen, nicht zerstreut, sondern gesammelt und geeint, geeint vor Ort, in der Pfarrei, geeint im Bistum, geeint in der Weltkirche. So können auch sie das werden, was der hl. Bruder Klaus geworden ist: eine Quelle, ein Brunnen, aus welchem die göttlichen Gaben fließen: Wein, Öl und Honig. Das erinnert uns an die göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Das erinnert uns aber auch ans Heilige Land, ans Land Gottes, wo Gott für sein Volk den Reichtum seiner Gaben bereit hält.

Überwindung der Hindernisse

Beachten wir aber auch das Negative an der Vision des Heiligen, dass er sah, wie gewisse Personen durch bestimmte Maßnahmen die Menschen daran hinderten, den Weg zum Brunnen zu finden. Das ist die Realität der Seelsorge. Es geschieht im Alltag einer Pfarrei, eines Dekanats, eines Bistums, im Alltag der Kirche ganz allgemein so viel, was die Menschen hindert, auf dem Weg zu den Gaben Gottes voranzukommen. Manchmal sind die Menschen sich selber ein Hindernis, manchmal ist es ihre Arbeit, die Beschäftigung, das Vergnügen. Denken wir an diese Realitäten. Wir werden dem nur dadurch entgegenwirken können, dass wir selber glaubhaft sind, Vorbilder sind und unseren Glaubensweg vorbildlich gehen und vorbildlich für den Glauben der Kirche einstehen. In diesem Sinn gelten besonders für kirchliche Mitarbeiter die Worte aus dem Buch Levitikus – Worte, die natürlich an alle Gläubigen gerichtet sind: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,1). Letztlich heißt das nichts anderes, als dass wir uns Gott angleichen müssen, wenn wir uns Gott nähern wollen – und auch, wenn wir das Wort Gottes zu den Menschen tragen wollen. Ohne diese Angleichung geht es nicht, sind wir nicht glaubwürdig und für eine Sendung – eine Missio – nicht geeignet. Bitten wir daher den Herrn immer wieder, jeden Tag, dass er an uns das verwirkliche, was er von uns erwartet: die Gottähnlichkeit. „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig!“

600 Jahre Wunder von Ludbreg


Von Erich Maria Fink

Am 4. September 2011 feierte die katholische Kirche in Kroatien das 600-jährige Jubiläum des Eucharistischen Wunders von Ludbreg (vgl. KIRCHE heute 8+9/11, S. 21). Papst Benedikt XVI. sandte den ehemaligen Präfekten der Kongregation für die Evangelisierung der Völker, Jozef Kardinal Tomko, als Päpstlichen Delegaten zu den Feierlichkeiten in das nationale Heiligtum von Ludbreg, an denen mehr als 80.000 Gläubige, unter ihnen auch der kroatische Präsident Ivo Josipović, teilnahmen.

In seinem Schreiben vom 2. Juli 2011, dem Fest des Unbefleckten Herzens Mariens, rief der Papst in Erinnerung, dass die Reliquie des Kostbaren Blutes Christi, die in Ludbreg verehrt werde, aus der Verwandlung reinen Weines hervorgegangen sei, und zwar, als der zelebrierende Priester an der Realpräsenz Unseres Erlösers gezweifelt habe.

Als Sondergesandter des Papstes solle der Kardinal, ein Sohn des slowakischen Volkes, die Feierlichkeiten in seinem Namen leiten und die Gläubigen dazu ermahnen, „das Eucharistische Opfer als ,Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens‘ (Lumen gentium, 11) zu verehren: ohne Eucharistie können wir weder wahre Christen sein noch kann die Kirche selbst zum Heil der Menschen auferbaut werden“.

Der Papst brachte den Wunsch zum Ausdruck, dass die Worte des Herrn in den Herzen aller Teilnehmer ein Echo fänden: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben… Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm“ (Joh 6,51.56), und dass alle danach strebten, die Eucharistie mehr und mehr zu empfangen, zu verehren und anzubeten, um sich aufs Innigste mit Christus zu vereinigen und so zu leben und zu lieben, wie er gelebt und geliebt hat.

Unser Erfahrungswissen über den Tod

Auf dem Hintergrund der heutigen Praxis der Organtransplantation stellt sich Anton Graf von Wengersky die Frage, was wir eigentlich über den Tod wissen. Um sich einer adäquaten Vorstellung über den tatsächlichen Tod des Menschen anzunähern, geht er in drei Schritten vor. Zunächst wertet er das Erfahrungswissen aus, das der Menschheit „aus dem Umgang mit Sterben, Tod und den Toten zugewachsen“ ist. Anschließend beschäftigt er sich mit den „Todeserklärungen, Todesdefinitionen und Todesfiktionen“, die heute von der Wissenschaft, insbesondere von den Ärzten vorgelegt werden. Durch eine Synthese beider Ergebnisse versucht er schließlich, Licht in die Thematik des menschlichen Todes zu bringen und eine verantwortungsvolle Antwort auf die brennende Frage der Organtransplantation zu geben.

Ohne bereits auf diese Problematik einzugehen, die Graf von Wengersky seit langem umtreibt, stellen wir im nachfolgenden Beitrag seinen ersten Schritt vor, nämlich das empirische Wissen über Sterben und Tod.

Von Anton Graf von Wengersky

Die Naturwissenschaft gewinnt ihre Erkenntnis aus der Beobachtung der Fakten. Daraus leitet sie die Naturgesetze ab. Unser Wissen vom Tod des Menschen lässt sich streng naturwissenschaftlich nur unzureichend beschreiben. Dennoch müssen wir uns auch hier, wenn wir wissen wollen, was ist, als erstes der Empirie zuwenden, also dem uns Menschen aus dem Umgang mit Sterben und Tod zugewachsenen Erfahrungswissen.

Alle Menschen sterben. Seit es den Menschen gibt. Unser Erfahrungswissen um Sterben und Tod des Menschen basiert also auf einer ungeheuren Faktenfülle und ist darin empirisch bestens abgesichert. Im Folgenden möchte ich versuchen, unser Faktenwissen, wie es uns viele Menschen nach ihren Erfahrungen mit Sterbenden und dem eigenen Sterben berichtet haben, unter drei Gesichtspunkten zusammenzufassen: das Todesereignis (Außenansicht), das Todeserlebnis (Innenansicht), die Todesgrenze.

1. Das Todesereignis – Außenansicht des Zuschauers

Es gibt unzählige unterschiedliche Arten des Sterbens, des Todes. Einige Merkmale lassen sich dennoch als allgemein herausdestillieren: Der Leib verliert seinen Halt, der unabgestützte Kopf fällt zur Seite („und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf“ – Joh 19,30), der Atem des Sterbenden erlischt, eine Kommunikation mit dem, der vielleicht gerade noch gesprochen hat, ist nicht mehr möglich. Wo eben noch Zeichen des Lebens[1] waren, sind jetzt keine mehr: Der Tod ist eingetreten.

Wichtigste Erfahrung aus der Begleitung Sterbender bis zum Tod ist, dass letztendlich der Schlusspunkt, der Eintritt des Todes des Menschen ein Augenblicksereignis ist, ein Punkt auf der Zeitachse. Wir vermögen für den Tod eine genaue Uhrzeit anzugeben: „Meine liebe Mutter ist in ihrem Lehnstuhl um 15 Uhr 15 gestorben“, so konnte ich es dem Arzt sagen. „Papst Johannes Paul II. ist am 02.04.2005 genau um 21 Uhr 37 gestorben.“ Also: Unser Sterben ist meist ein Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, unser Tod ist im Gegensatz dazu ein Kurzzeitereignis. Dieser Charakter des Todes als nach der Erfahrung der Menschheit zeitlich auf einen Moment komprimiertes Todesereignis ist entscheidend für den korrekten Umgang mit Noch-Lebenden bzw. Schon-Toten und die richtige Einordnung von Aussagen wie: „nach dem Tode“. 

2. Das Todeserlebnis – Innenansicht des Sterbenden

Wir verfügen heute über eine Fülle von ärztlich dokumentierten Berichten Sterbender, die schildern, was sie im Tod erlebt haben. Eine der Ursachen dafür ist die Tatsache, dass in den zurückliegenden Jahrzehnten die ärztliche Technik der Wiederbelebung (Reanimation) große Fortschritte gemacht hat. „Wiederbelebung“ bedeutet, das Leben wieder in Gang zu bringen, das Leben in den Körper zurückzubringen. Was berichten uns die von einem solchen Erlebnis Betroffenen?

2.1. „Nahtod-Erfahrungen“ (Near Death Experiences = NDE)

Die so genannten „Nahtod-Erfahrungen“ (Near Death Experiences = NDE) sind Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen. Gegenwärtig läuft bei der britischen Universität Southhampton die bisher größte internationale Untersuchung zu diesem Thema. Mit ersten Ergebnissen wird für 2012 gerechnet.

Zwei typische Beispiele für Nahtod-Erfahrungen:

• Pamela Reynolds war 35 Jahre alt, als die Ärzte bei ihr ein großes Aneurysma tief im Gehirn entdeckten. Für die notwendige Operation wurde ihr Körper heruntergekühlt, bis das Herz zu schlagen aufhörte und das Gehirn blutleer war. Nach der Operation ins Leben zurückgekehrt konnte sie zutreffend Einzelheiten der Operation und zum Aussehen der zur Schädelöffnung verwendeten Säge („wie eine elektrische Zahnbürste“) sowie Gespräche des Operationsteams wiedergeben. Sie habe auf der Schulter des Chirurgen sitzend der Operation an ihrem leblosen Körper zugeschaut.[2] 

• Stefan von Jankovich saß als Beifahrer im Alfa eines Freundes. Beim Zusammenstoß mit einem LKW wurde er auf die Straße geschleudert: „Ich schwebte über der Unfallstelle und sah dort meinen eigenen Körper liegen. Ich konnte genau hören, was die Leute untereinander sprachen. Und dann hörte ich den Arzt sagen, dass ich tot sei. Plötzlich kam ein Mann in Badehose mit einer kleinen Tasche. Er sprach schriftdeutsch im Gegensatz zum Berner Dialekt des ersten Arztes. Ich konnte mir sein Gesicht sehr gut einprägen. Als er einige Wochen später im normalen Straßenanzug in mein Krankenzimmer kam, habe ich ihn sofort wiedererkannt.“ Sein Tod störte Stefan von Jankovich überhaupt nicht: „Im Gegenteil, ich fand das eher komisch, wie sich aufgeregte Menschen um mich bemühten. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand trägt, ruft, tröstet, leitet, immer höher, in die andere Welt, ich war restlos glücklich.“ Aber später wollte niemand seinen Erzählungen so recht glauben: „Ich glaube, dass sogar meine Frau insgeheim dachte, ich sei nicht mehr normal.“ Aber: „Das haben schon viele Menschen vor mir erlebt, die minutenlang klinisch tot waren, dann aber mit allen Mitteln der neuen Medizin wieder ins Leben zurückgeholt wurden.“ Und der wichtigste Satz von Stefan von Jankovich: „Seit meinem Tod bin ich ein anderer Mensch!“[3]

Unabhängig von der Fülle des Materials zu Nahtod-Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten wissen wir, dass es solche Nahtod-Erfahrungen schon in der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben hat. Allerdings sind die Berichte aus früheren Zeiten selten. Dies liegt nicht nur am Fehlen der heutigen Reanimationstechnik. Das Menschenherz vermag auch spontan (also ohne Außeneinwirkung) nach mehrminütigem Stillstand wieder anzuspringen. Nahtod-Erfahrungen hat es also schon immer gegeben, sie wurden aber kaum kommuniziert und publiziert. In der Sache stimmen die Berichte aus früherer Zeit mit den heute dokumentierten Nahtod-Erfahrungen überein.

Ein Beleg dafür ist ein Bild von Hieronymus Bosch (1450-1516) über des Menschen Tod, in dem viele überraschende Einzelheiten (das Verlassen des eigenen Körpers, der Tunnel, die Lichtgestalt an dessen Ende) mit dem völlig übereinstimmen, was die Nahtod-Forschung heute aus den Berichten Wiederbelebter als immer wiederkehrende Elemente solcher Nahtod-Erfahrungen zusammengestellt hat. Auch Bosch muss also schon mit Menschen gesprochen haben, die ihm über ihre Nahtod-Erlebnisse so berichtet haben, wie unsere Mitmenschen mit Nahtod-Erlebnissen darüber mit den heutigen Erfahrungs-Wissenschaftlern reden.

Den von verschiedenen Wissenschaftlern aufgezeichneten Berichten von ins Leben zurückgekehrten Menschen über ihre Nahtod-Erlebnisse sind einige sich immer wiederholende Punkte gemeinsam: Der Mensch (sein „Ich-Subjekt“) verlässt den eigenen Körper und sieht diesen daliegen, häufig von oben; der aus dem Körper Herausgetretene vermag mit den Lebenden nicht mehr zu kommunizieren; er sieht und hört jedoch die Vorgänge rings um seine Leiche im Detail, kann sie später bis ins Einzelne schildern und erkennt später auch ihm bis dahin unbekannte Personen wieder, die sich um seinen corpus bemüht hatten; besonders erstaunlich: Blinde sehen in diesem extracorporalen Zustand wieder, Ertaubte hören wieder (Nahtod-„Sinneswahrnehmungen“ bedürfen also keiner physiologischen Abstützung durch den Körper); es gibt keine körperlichen Schmerzen mehr; das aus dem Körper herausgetretene Ich-Subjekt unterliegt nicht mehr den Naturgesetzen, etwa der Schwerkraft; mit der plötzlichen Rückkehr in den Körper bei Erfolg der Wiederbelebung enden die extracorporalen Wahrnehmungen abrupt. Der Blinde ist wieder blind, der Taube wieder gehörlos. Die Schmerzen kehren zurück. Der Mensch ist durch seinen Körper wieder den Naturgesetzen unterworfen.

Diese bei Nahtod-Erlebnissen immer wiederkehrenden Fakten sind es, die beim Ringen um das Verständnis der beim Tod ablaufenden Vorgänge einer Erklärung zugeführt werden müssen. Ein deutscher Arzt und Professor hat mir gesagt, es erstaune ihn doch sehr, dass er selbst und seine Kollegen sich mit dieser Faktenlage nicht wissenschaftlich auseinandergesetzt und bisher keine Deutungstheorien vorgelegt hätten, die mit den oben genannten, durch die Erfahrungswissenschaft dokumentierten Fakten in Deckung zu bringen seien.

2.2. Reaktionen auf das Nahtod-Erlebnis bei den Betroffenen

Ein Süchtiger (Rauchen, Alkohol, Drogen, Sex) tut sich nach unserer Erfahrung auch bei klarer verstandesmäßiger Einsicht der Notwendigkeit, gegen seine Sucht anzugehen, schwer damit, sein Leben in diesem Punkt zu ändern. Umso erstaunlicher ist die Reaktion der durch ein Nahtod-Erlebnis Gegangenen auf ihre Erfahrung: Das Nahtod-Erlebnis führt vielfach zu einer sofortigen und grundsätzlichen Änderung des Lebensstils. Der Titel des Berichts über das Nahtod-Erlebnis des Stefan von Jankovich bringt das gut zum Ausdruck: „Seit meinem Tod bin ich ein anderer Mensch!“

Dieses entschlossene Herumwerfen des Ruders für den weiteren Lebensweg scheint aber weniger bei ganz kurzzeitigen Nahtod-Erlebnissen aufzutreten als vielmehr bei etwas länger andauernden, bei denen zu den oben geschilderten, sich immer wiederholenden Erfahrungen noch weitere hinzutreten, die, obwohl sie höchst unterschiedlich, ja einander diametral entgegengesetzt sein können, doch beide die gleiche Auswirkung haben: Man will nicht mehr weiterleben wie vor dem Nahtod-Erlebnis und setzt diesen Willensentschluss auch sogleich in die Tat um. Welcher Unterschied besteht zwischen positiven und extrem negativen Nahtod-Erlebnissen?

Positive Nahtod-Erlebnisse

Ein Teil der Nahtod-Zeugnisse berichtet zusätzlich zu den oben schon angeführten Erlebnissen am Todesort von einer anschließenden Versetzung in eine andere Welt. Häufig wird eine rasende Reise erlebt, oft durch einen Tunnel. Dann kommt es zur Begegnung mit einem „Lichtwesen“ und dabei oft zu einer wie im Film ablaufenden Rückschau auf das eigene Leben. Gelegentlich wird von der Begegnung mit verstorbenen Verwandten berichtet. Auch hier, wie etwa bei dem im Tod wieder sehend gewordenen Blinden, eine Merkwürdigkeit: Einige Menschen sind in ihrem Nahtod-Erlebnis verstorbenen Verwandten begegnet, von deren Tod sie erst nach der eigenen Rückkehr ins Leben erfahren haben.

Diese ganze Phase ist mit einem ungeheuren Wohlbefinden verknüpft, wird als etwas nie erlebt Schönes, Harmonisches berichtet.

Personen, die ein solches positives Nahtod-Erlebnis durchgemacht haben, leben häufig danach ohne jede Todesangst, ja nach einem positiven Nahtod-Erlebnis bedauert der Betroffene oft, dass er ins irdische Leben zurückkehren musste.

Negative Nahtod-Erlebnisse

Bei diesen ergibt sich aus der veröffentlichten Literatur keine ähnlich einheitliche Struktur wie bei den positiven Nahtod-Erlebnissen. Ich zitiere deshalb zur Veranschaulichung aus einem Bericht des US-amerikanischen Arztes Maurice S. Rawlings über die Wiederbelebung des Landbriefträgers Charlie McKaig im Jahr 1977. Charlie war wegen Herzschmerzen im Krankenhaus. Während eines Belastungs-EKGs kam es zu Schweißausbrüchen, Atemnot und dann zu einer Tachykardie mit anschließendem Herzstillstand. Die sofortigen Maßnahmen zur Wiederbelebung mit Herzmassage und Beatmung waren zunächst erfolglos. Ein über die Hauptvene unter dem Schlüsselbein eingeführter Draht eines Herzschrittmachers hatte nur vorübergehenden Erfolg. Immer wieder musste der Arzt erneut mit der Herzmassage beginnen. Rawlings schreibt:

„Ich musste schleunigst mit bloßen Händen hinüberlangen und von neuem drücken. Doch diesmal hörte ich ihn schreien: ,Nicht aufhören! Ich bin in der Hölle! Ich bin in der Hölle!‘ Er halluziniert, dachte ich. Gewöhnlich sagen die Patienten: ,Nehmen Sie gefälligst Ihre Pranken von meinem Brustkorb, Sie brechen mir ja alle Rippen!‘ Doch dieser Mann rief genau das Gegenteil: ,Um Gottes willen, nicht aufhören! Verstehen Sie denn nicht? Jedesmal, wenn Sie aufhören, bin ich wieder in der Hölle!“

Der Briefträger Charlie, der sein schreckliches Erleben als „Hölle“ bezeichnete, war wohl ein Christ, was seine Wortwahl beeinflusst haben mag. Unabhängig von der Bezeichnung sind aber die berichteten negativen Nahtod-Erlebnisse für den Betroffenen offenbar von solcher Schrecklichkeit, dass sich hier ein entscheidender Unterschied zu den positiven Nahtod-Erlebnissen einstellt: Während nach positiven Nahtod-Erlebnissen die Betroffenen häufig bedauern, dass sie aus dem erlebten Zustand ins irdische Leben zurückkehren mussten, zeigen die durch Wiederbelebung nach negativen Nahtod-Erlebnissen Rückkehrenden ausnahmslos allergrößte Erleichterung: Nie wieder wollen sie dahin zurück, wo sie kurzzeitig waren. Auch Selbstmörder mit Nahtod-Erlebnissen sind nach eigener Aussage meist heilfroh, dass sie gerettet wurden und es mit dem Selbstmord nicht geklappt hatte.

Es gibt auch eine auffällige Übereinstimmung zwischen den beiden Gruppen von Menschen mit positiven bzw. mit negativen Nahtod-Erlebnissen: Bei beiden Gruppen ändert das Erlebte ihre Wertvorstellungen und Lebensziele zum Positiven. So verabschiedet sich etwa ein Süchtiger hier wie dort sofort und ohne jede Entziehungskur von seiner Sucht.

3. Beidseits der Todesgrenze

Vom Todesereignis wissen wir um dessen Augenblicks-Charakter im Unterschied zu dem meist über einen längeren Zeitraum ausgedehnten Sterbevorgang. Der Tod ist insoweit einem Grenzstein vergleichbar, der das Ende eines Besitzes angibt: Die von Grenzstein zu Grenzstein gezogene Linie ohne geometrische Breite trennt zwei Ländereien oder Länder voneinander, die in der Grenzlinie bruchlos aneinander anschließen. Ebenso gibt es die Todesgrenze, die wir als Lebende nur von ihrer einen Seite kennen, der Seite des Lebens. Aber gibt es überhaupt jenseits der Todesgrenze noch etwas? Gibt es ein „Totenreich“, ein Jenseits und ein Leben im Jenseits? Hat die Menschheit damit Erfahrungen, die wir zur Empirie über den Tod einordnen müssen?

Tatsächlich gehört die Existenz von Geistern zu den uralten Menschheitserfahrungen. Als Geist wird ein Teil eines vordem irdisch existierenden Menschen angesehen, der dessen Tod überdauert hat. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Kontaktaufnahmen von Geistern mit lebenden Menschen ohne deren Dazutun und der von lebenden Menschen ausgehenden Totenbeschwörung, die meist der individuellen Kontaktaufnahme mit einem bestimmten Toten dienen soll.

3.1. Kontaktierung Toter durch Lebende (Totenbeschwörung)

Die Beschwörung oder das Herbeirufen Verstorbener durch noch Lebende ist in der Menschheitsgeschichte bis zur Gegenwart weit verbreitet. Wie der Totenkult beruht auch die Totenbeschwörung auf der Annahme einer Post-Existenz der Toten, einer unvergänglichen Seinsweise der Verstorbenen als Schatten oder Seelen. Über den bloßen Totenkult, also die erinnernde Verehrung der Verstorbenen hinaus, will die Totenbeschwörung die Toten etwa zur Beantwortung von Fragen oder zur Erteilung von Ratschlägen (Totenorakel) herbeirufen.

Ein berühmtes Beispiel für eine Totenbeschwörung findet sich im elften Gesang von Homer’s Odyssee. Odysseus ruft dort den Seher Teiresias herbei und spricht auch mit seiner seit seinem Aufbruch von Ithaka verstorbenen Mutter, die ihm über das Schicksal der Sterblichen sagt:

„Denn dann hält sich nimmer das Fleisch und Gerüst in den Sehnen, – Von der gewaltigen Kraft des brennenden Feuers verzehret, – Wenn das Leben zuerst die bleichen Gebeine verlassen; – aber die Seele entflattert und schwebt und schwankt wie ein Traumbild.“

Hatte diese in vorchristlicher Zeit von Homer niedergeschriebene Vorstellung ihren Grund in der Empirie, in dem also, was die Menschen seiner Zeit schon aus Erfahrung im Umgang mit den Toten wussten?

Ein anderes Beispiel einer Totenbeschwörung finden wir in der Bibel im Ersten Buch Samuel. Dort wird im 28. Kapitel die Beschwörung des verstorbenen Königs Samuel durch Saul geschildert. Der durch die Beschwörung herbeigerufene Samuel erscheint und sagt Saul sein bevorstehendes Ende voraus.

Ohne eine Bewertung aus christlicher Sicht vornehmen zu wollen, kann festgestellt werden: In Nekromantie, Spiritismus, Okkultismus, Voodoo etc. wird bis heute die Totenbeschwörung von vielen Menschen praktiziert, die behaupten, mit durch Beschwörung herbeigerufenen Toten in Kontakt gekommen zu sein, als ob diese lebten.

3.2. Kontaktierung Lebender durch Tote

Für unser Wissen um den Tod weit aufschlussreicher sind freilich Ereignisse, die nicht von einem lebenden Menschen ausgehen, sondern von Toten. Anders als bei der Totenbeschwörung, wo der Lebende etwas von einem Verstorbenen will, gilt nämlich für die von Toten ausgehende Kontaktierung von Lebenden nach vielen uns vorliegenden Berichten eher das Gegenteil: Tote haben ein Anliegen an die Lebenden. Das ist die Grundlage der meisten Geist-Erscheinungen.

Berichte über Geist-Erscheinungen sind Legion. Man wird sie deshalb nicht als Einbildung oder Halluzination abtun können. Für den, der sie erlebt hat, sind derartige Geist-Begegnungen in aller Regel erschreckend, belastend, jedenfalls unerwünscht, aber ein Fakt.

Auch hier gibt es bei vielen Geist-Erscheinungen übereinstimmende Elemente.

So ist, wie bei der Totenbeschwörung, der Geist in der Regel vom Lebenden zunächst nicht zu identifizieren. Wir sind es gewohnt, einen Menschen an seiner uns, zumindest bei Nahestehenden, vertrauten Körperlichkeit wiederzuerkennen, an Gesicht, Körperhaltung oder an der Stimme. Dies ist bei einem von seinem Körper getrennten Geist so nicht möglich. Der Geist wird vom lebenden Menschen in der Regel an dem identifiziert, was er kommuniziert, nicht optisch, also nicht am Gesicht, sondern an irgendwelchen für ihn typischen Kennzeichen.

Lebenden Menschen erscheinende Geister haben meist ein Anliegen, häufig ein Hilfsanliegen. Wird der vom Geist kommunizierten (oder durch sein bloßes Erscheinen geäußerten) Hilfsbitte nicht entsprochen, so erscheint der Geist neuerlich. Andererseits wird dann, wenn die Bitte erfüllt wurde, der Geist in der Regel nicht mehr erscheinen, so die vielfache Erfahrung.

Eine nur im religiösen Kontext verständliche Sonderform der Geist-Erscheinungen sind die sog. „Armen Seelen“. Für an vertieftem Verständnis dieses schwer zugänglichen Bereiches Interessierte sind zwei gedruckt vorliegende Quellen zu nennen: Eugenie von der Leyen: „Meine Gespräche mit armen Seelen“.[4]

Diesen und anderen Geist-Erscheinungen (und auch den oben abgehandelten Geisterbeschwörungen) ist gemeinsam, dass der Geist nur mit für das Transzendente besonders sensiblen Menschen zu kommunizieren vermag, die gelegentlich als „Medien“ bezeichnet werden.

Solche Medien empfinden aber in der Regel ihre eigene Sensibilität nicht als Gabe, sondern als schwere Belastung, auf die sie gerne verzichten würden. Denn es werden, meist gegen ihren Willen, Lasten und Bitten an sie herangetragen, denen sie zumindest zunächst nicht entsprechen können oder wollen. Die Situation ist ähnlich, aber noch weit unangenehmer als die, die wir als Lebende umringt von aggressiven Bettlern erleben können.

Aber wer sind diese Bettler, die uns Lebende über die Todesgrenze hinweg um Hilfe anbetteln, weil sie sich offenbar selbst nicht aus ihrer unguten Situation heraushelfen können? Leben die Toten? Kann es sein, dass sie noch unsere Hilfe brauchen?

Zusammenfassung

Ich habe versucht, das Erfahrungswissen der Menschheit zum Ereignis „Der Tod des Menschen“ zu skizzieren. Es ist unzulässig, diese Erfahrungen, wie das heute oft geschieht, als Halluzination oder Humbug vom Tisch zu wischen. Das wäre zu einfach. Weiter bringt uns vielmehr das Bemühen, diese Fakten mit den naturwissenschaftlichen Aussagen der Ärzte über den Tod (den biologischen Tod, klinischen Tod, Hirntod) und den Aussagen von Bioethikern (der Individualtod oder Tod der Person) zur Deckung zu bringen.


[1] „Signs of Life“, Kongress über des Menschen Tod mit Mitgliedern der Päpstlichen Akademie für das Leben, Rom, Februar 2009.
[2] Michel Sabom: „Light and death: One doctor‘s fascinating account of near death experiencies“, Grand Rapids, Michigan, USA, Zondervan 1998.
[3] Ingeborg Lieret: „Seit meinem Tod bin ich ein anderer Mensch“, ADAC-Motorwelt 7/77, S. 8-11.
[4] Christiana Vlg., 1991, und Nikolaus Eltz: „Get Us Out Of Here!“, Credo Books, 2002.

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