Die Argumente sind längst bekannt

Das Memorandum, das Anfang Februar 2011 zunächst von 144 und später von weiteren Theologen des deutschen Sprachraums unterzeichnet worden ist, versteht sich als Beitrag zum allseits beschworenen Dialogprozess. Auch Weihbischof Dr. Andreas Laun verlangt einen Dialog, bevor es zu einer formell erklärten Kirchenspaltung kommt. Doch muss ein solcher aufrichtig geführt werden. Laun bedauert zutiefst, dass die Theologen gegen besseres Wissen auch viele unerfüllbare Forderungen erheben. Der Kirche wird dadurch ein unglaublicher Schaden zugefügt. Nun sind in erster Linie die Bischöfe gefordert, die offenbar gewordenen Wunden der Kirche zu behandeln und einen Heilungsprozess einzuleiten. Die aufgetretenen Spannungen sind nicht nur eine Zerreißprobe, sondern auch die Chance für eine längst überfällige Reinigung.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Es tut mir weh!

Mit Wehmut habe ich die Liste jener Theologen gelesen, die das unsägliche „Memorandum“ unterschrieben haben. Denn dabei habe ich Namen von Männern gefunden, die ich mindestens früher gekannt und auch geschätzt habe. Es tut mir weh, dass sie und so viele andere Kollegen diesen Text für so gut zu halten scheinen, dass sie ihren Namen dafür hergegeben haben! Ich will niemanden beleidigen, aber auch – im Sinne des freimütigen Dialoges, den das Memorandum fordert – offen sagen: Ich halte den Text für der Unterzeichner unwürdig!

Auflistung aller alten Schlagwörter

Natürlich, alle seit Jahren in Umlauf gesetzte Schlagwörter werden einmal mehr genannt, wie etwa: Frauenordination, Abschaffung des Zölibats, Mitbestimmung der Laien bei Bischofsernennungen, aber auch Mitbestimmung bezüglich der kirchlichen Lehre zur Sexualität. Dass man über andere theologische Fragen der Lehre nicht mitreden zu wollen scheint, hätte man sich wohl eher von Jugendlichen erwartet und nicht von zum Teil schon emeritierten Theologie-Professoren, genauso, wie man sich von älteren Herren nicht recht vorstellen kann, dass sie sich von der Abschaffung des Zölibats allen Ernstes eine „Erneuerung“ der Kirche versprechen! Auch „Moral ohne Barmherzigkeit“ darf nicht fehlen, ebenso wenig wie die Akzeptanz derer, die nach Scheidung wieder geheiratet haben, und natürlich auch die Anerkennung homosexueller Partnerschaften. Viel geredet wird dann auch von der Freiheit, die in der Kirche mit ihren „verknöcherten“ Strukturen angeblich fehlt.

Ehrliche Suche nach Lösungen?

Die Unterzeichner reden viel von Dialog und Suche nach Lösungen, aber davon, dass die Kirche die Antworten auf ihre Fragen im Wesentlichen längst gegeben hat, davon reden sie nicht. Im Gegenzug vermitteln sie den Eindruck, sie selbst bräuchten die Lösungen nicht suchen, weil sie sie bereits in ihrer Schublade hätten und es nur noch darum ginge, sie der Weltkirche bekannt zu geben! 

Man könnte nun einerseits auf all das spöttisch reagieren, wie dies der Spiegel tut, oder sie einladen nachzudenken und zu antworten auf das, was Manfred Lütz ihnen empfohlen hat, nämlich evangelisch zu werden, weil dort, in dieser Gemeinschaft, doch praktisch alles vorhanden ist, was sie sich wünschen?

Was ist der „Kern“ der Botschaft?

Man kann auch anders an den Text herangehen und zwar mit der Frage, was der „Kern“ der Botschaft sei? Mein Eindruck ist: Eigentlich geht es nur um eine einzige Forderung: „Wir, die Unterzeichner und alle, die sich uns hoffentlich anschließen werden, wollen in der Kirche mehr Macht, weil wir die Kirche umbauen wollen und zwar überall dort, wo uns die Kirche, so wie sie ist, einfach nicht mehr passt. Die einzelnen Fragen sind eigentlich zweitrangig, es geht jetzt zuerst und eigentlich nur um die Kompetenz, die Kirche zu ändern nach unseren Vorstellungen und Wünschen.

Die Stunde der Bischöfe

Die große Frage ist: Wie werden die Bischöfe auf diese Zielsetzung des Memorandums reagieren, welche Botschaft den Unterzeichnern geben? Man könnte auch fragen: Wie kann man darauf so reagieren, dass aus der schon seit langem – wie ein nicht erklärter Krieg – unausgesprochen schwelenden Kirchenspaltung nicht eine neue, formell erklärte und rechtlich strukturierte Kirchenspaltung entsteht? Denn eines haben die Diskussionen der letzten Jahre, angefangen mit dem „Kirchenvolksbegehren“ bis zu den verschiedenen „Initiativen“ von Laien und Priestern, gezeigt: Die Argumente zu den genannten Themen sind längst bekannt, allen zugänglich und jeder kann sie wissen, der sie wissen will. Die Diskussionen der letzten Jahre waren oft nur noch der Austausch der bekannten Stehsätze wie so oft bei Politikern. Aber ein wirkliches Hören und Abwägen dessen, was die Kirche sagt, fand oft und oft nicht einmal ansatzweise statt!

Der tatsächliche „Reformstau“

Bei bestimmten Tagungen will man die Stimme eines anders Denkenden nicht hören, nicht zulassen, man bedient nur das eigene Stammpublikum, das im neuen Glauben samt den entsprechenden Forderungen eingeschult wird. Darum haben wir tatsächlich einen „Reformstau“, aber nicht, wie ihn bestimmte Leute verstehen, sondern „in einer anderen Richtung“: Wir müssen wieder anfangen, ernsthaft miteinander zu reden und dabei vor allem anderen die Frage miteinander besprechen, was als Argument gilt und welche Berufung auf welche Autorität anerkannt wird oder auch nicht. Aber eines wird dabei auch notwendig sein: Die Bischöfe dürfen sich nicht jede Unverfrorenheit gefallen lassen, sondern sollten sie ebenso geduldig wie entschieden zurückweisen, im äußersten Fall auch mit Entscheidungen. Zu allen Zeiten haben große Frauen wie Katharina von Siena und Männer wie Gregor der Große gemahnt: Nicht nur das Reden, auch das Schweigen der Bischöfe kann Sünde sein! Zu unterscheiden, was in welcher Situation das Richtige ist, ist eine Frage der Klugheit und dann auch des Mutes!

„Was nicht wichtig ist, wird nicht hinterfragt“

In seiner Predigt am 2. Februar 2011, dem Tag des gottgeweihten Lebens, verteidigte Kardinal Meisner mit flammenden Worten den Zölibat und hob hervor, dass wir hier in Deutschland nicht so sehr von „Priestermangel“ als vielmehr immer zuerst von „Christenmangel“ sprechen sollten. Ein Auszug.

Von Joachim Kardinal Meisner, Köln

Die fragwürdigste Einrichtung in der katholischen Kirche, so hat man gegenwärtig den Eindruck, sei der Zölibat. Und er ist es in der Tat! Aber nicht aus den Gründen, die man heute zu seiner Abschaffung ins Feld führt. Diese Fragwürdigkeit zeigt gerade die Wichtigkeit und hohe Aktualität dieses Lebensstils. Was nicht wichtig ist, wird nicht hinterfragt. Nach dem, was keine Bedeutung hat, fragt niemand. Die Gegner des Zölibats ahnen gar nicht, dass sie damit eigentlich die Unverzichtbarkeit und hohe Bedeutung dieser Einrichtung des katholischen Priestertums unterschreiben. Dieses Fragezeichen hinter der zölibatären Lebensform der Priester ist in allen Jahrhunderten der Kirchengeschichte sichtbar geworden, mit besonders propagandistischer Kraft in der Reformation, in der Säkularisation und vielleicht auch heute. Aber auch in den frühesten Zeiten wurde immer wieder nach dem „Warum“ gefragt. Und das ist auch gut so! Darum gibt es auch in jedem Jahrhundert großartige und bewegende positive schriftliche und existentielle Beschreibungen dieser Lebensform, die ja auch die Lebensform Jesu Christi in dieser Welt war.

Um es kurz auf einen Nenner zu bringen: Vor dem Zölibat gibt es nur eine Alternative: Entweder es gibt Gott, oder der zölibatär lebende Mensch ist verrückt. … Der Feuerbrand der Liebe, nämlich Gott, kann einen Menschen mit diesem Feuer anstecken und entzünden, sodass er – um es überspitzt zu sagen – das Heiraten vergisst. Gott und sein Reich sind für ihn so sehr zur Priorität geworden, dass er die hohen Werte von Ehe und Familie nicht zu verwirklichen vermag. Das gibt seinem priesterlichen Dienst aber eine Überzeugungskraft, weil er ja mit seinem Lebensstil das beweist, was er in der Kirche predigt. Darum ist es hoch angemessen, dass die Kirche den Zölibat mit dem Priestertum verknüpft: Die Priester sollen nicht nur reden, sondern das mit ihrem Leben bezeugen, was sie anderen sagen. So ist und war der Zölibat immer gemeint.

Was kann die Kirche erneuern?

Das „Theologen-Memorandum Kirche 2011“ blickt auf die Krise der Kirche, auf die leeren Kirchenbänke, auf den Mangel an Priesterberufen, auf Vertrauensverlust und Frustration. Wie soll die Kirche darauf reagieren? Wodurch kann die Kirche erneuert werden? An dieser Frage und ihrer Antwort scheiden sich die Geister. Das Memorandum plädiert für radikale Veränderungen im Sinn von Liberalisierung und Demokratisierung. Aber wäre dies wirklich die Grundlage für einen neuen Aufbruch der Kirche oder nicht doch eine Kapitulation vor dem Zeitgeist, die das Glaubensleben und die Bindung an die Kirche noch vollends zum Erliegen bringen würde? Weihbischof Dr. Andreas Laun gibt einen Denkanstoß, um die Richtung zu entdecken, in die jedes Bemühen um eine wahre Erneuerung der Kirche gehen muss.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Macht euch keine Sorgen, wie ihr die Menschen anlocken könnt: Wenn ihr Jesus folgt, werden die Leute euch folgen.“ So schreibt einer, der es wusste: Francis Thuan verbrachte 13 Jahre in einem vietnamesisch-kommunistischen Gefängnis und durchlebte dabei Unvorstellbares! Und doch, es gelang ihm, sich sogar seine Wärter zu Freunden zu machen und manche von ihnen zu bekehren!

Anspruch an pastorale Programme und Projekte

Wir in Mitteleuropa veranstalten Pastoraltagungen, besitzen Lehrstühle für Pastoraltheologie an der Universität, diskutieren über die besten pastoralen Mittel und Wege, um die Menschen zu gewinnen – aber alle unsere Versuche scheinen nicht wirklich zu greifen! Ist das Zitat von Thuan nur dazu da, allen, die in der Pastoral der Kirche arbeiten, ein schlechtes Gewissen zu machen, und im Übrigen alle bisherigen Bemühungen einzustellen? Sicherlich, manches könnte und sollte man auslaufen lassen! Denn jeder, der den kirchlichen „Betrieb“ kennt, weiß, wie viele Leerläufe es dabei gibt und Veranstaltungen, die sogar kontraproduktiv sind! Wahr ist auch, dass viele Menschen an den „pastoralen Fangnetzen“ der Kirche vorbei zum Glauben kommen, auf Grund eines besonderen Erlebnisses, einer Begegnung, eines Buches! Pastorale Planung und Arbeit also unnötig und stattdessen nur Frömmigkeit? Sicher nicht, auch Kardinal Thuan plante und arbeitete, er wollte pastorale Planung und Projekte nicht „schlecht reden“!

Nein, das nicht, aber im zitierten Satz steckt ohne Zweifel eine tiefe Wahrheit: Pastorale Programme, die nicht wirklich erfüllt sind vom Geist der Nachfolge, der Liebe und des Gehorsams gegenüber Kirche und Papst werden unfruchtbar bleiben! Wenn das wahr ist, stellt das Wort des Kardinals an das Gewissen jedes Menschen, der in der Pastoral tätig ist, eine schwerwiegende Frage!

Natürlich richtet sich die gleiche Frage an Ordensgemeinschaften, die keinen Nachwuchs mehr gewinnen, oder die Betreiber verschiedener „Initiativen“ und „Memoranden“ in der Kirche – oder muss man nicht manchmal sagen „gegen die Kirche“?

Der Hintergrund des Mangels an Berufungen

Ja, und doch enthalten diese Gedanken nicht die ganze Wahrheit. Denn: Priester- und Ordensnachwuchs-Mangel zum Beispiel hängen nicht nur mit fehlender Bereitschaft zur Nachfolge Jesu zusammen, sondern auch mit dem dramatischen Geburtenmangel: Menschen, die nicht geboren wurden, kann auch der Allmächtige Gott nicht berufen! Mehr noch und das gilt für alle, nicht nur Kleriker oder Ordenschristen: Es gibt eine Verweigerung des Hörens, eine Verhärtung der Herzen, die nicht auf fehlende Frömmigkeit der Boten Gottes zurückgeführt werden kann! Darum gibt es auch das Jesuswort (Mt 10,14): „Wenn man euch aber in einem Haus oder in einer Stadt nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann geht weg und schüttelt den Staub von euren Füßen. Amen, das sage ich euch: Dem Gebiet von Sodom und Gomorra wird es am Tag des Gerichts nicht so schlimm ergehen wie dieser Stadt.“ Einen Vorwurf an die Adresse der Jünger verbindet Jesus mit diesem harten Wort nicht! Gäbe es eine solche „Verhärtung der Zielgruppe“ ohne Verschulden der Boten nicht, wäre Jesus nicht gekreuzigt worden! Denn man wird kaum behaupten wollen, Jesus war nicht „fromm genug“ gewesen oder pastoral ungeschickt und wäre nur deswegen gescheitert!

Tatsächlich wird man wohl auch sagen dürfen: Europa hatte, trotz dunkler Schatten, die große Gnade einer christlichen Tradition mit großen Heiligen. Gerade in letzter Zeit waren diesem Europa große Päpste und Heilige geschenkt, aber es hat sich nicht bekehrt, sondern im Gegenteil: Trotz dieses Lichtes und trotz der Erfahrung der Hölle des Nationalsozialismus und Kommunismus wendet es sich weiter und weiter von Gott ab! Und zudem: Europa hat, wie es Kardinal Schönborn von Wien einmal treffend ausgedrückt hat, dreimal Nein gesagt zum Leben: mit seiner Entscheidung für Abtreibung, für Verhütung, für Homosexualität. Und so geht dieses große, wunderbare Europa unbeirrt den Weg weiter Richtung Selbstmord!

Aufgabe der „Stabsstelle“ für die Neuevangelisierung Europas

Papst Benedikt XVI. hat zwar eine eigene „Stabsstelle“ für die Neuevangelisierung Europas eingerichtet, deren Aufgabe es vor allem auch sein muss, über die Mission an den Muslimen nachzudenken. Aber dennoch kann niemand sagen und auch der Papst weiß es nicht, wie die Geschichte weitergehen wird. Die einzige Folgerung, die übrig bleibt, ist wohl die: Wenn es, sei es durch äußere Ereignisse, sei es auf Grund von missionarischen Aktivitäten, zu einer Umkehr kommt, dann nur, wenn die Christen, alle Christen und nicht nur der Klerus, sich an das Wort Kardinal Thuans halten. Die Verhärtung der Herzen kann nur die Gnade auflösen und hören werden nur die Menschen, die den „Gottesdurst“ in ihrer Seele nicht durch die Drogen der heutigen Zivilisation betäuben! Diejenigen, die pastoral und missionarisch tätig sind, müssen ständig Ausschau halten nach den Menschen, von denen die Psalmen sagen: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott (Ps 42,2). Vielleicht sollten die Menschen das Verhalten der Tiere nicht nur beobachten und filmen, sondern auch verstehen als Hilfe, um die Regungen ihrer eigenen Seele besser zu verstehen: Ihre Seele dürstet nach dem lebendigen Gott, der auf sie wartet und ihr den Weg zeigen will – den Weg zum Leben!

Fruchtbarkeit allein in Christus

Bischof Felix Genn von Münster hat in Form eines Interviews zum Theologen-Memorandum Stellung genommen, zumal dessen Initiatoren in seiner Diözese wirken. Nachfolgend einige treffende Aussagen des Bischofs.

Von Bischof Felix Genn, Münster

Ich selbst halte den Dialogprozess für richtig und wichtig… Durch Initiativen wie das Memorandum der Hochschullehrer wird der Dialogprozess eher erschwert… Mit den Unterzeichnern des Memorandums weiß ich mich verbunden in der Sorge um die Situation der Kirche… Allerdings sehe ich in dem, was die Professorinnen und Professoren vorschlagen, nicht den Weg, der die Bewältigung dieser Krise leistet.

Zwischen meiner Verantwortung als Bischof in der Kirche und der Verantwortung, die der Bischof von Münster den Lehrenden übertragen hat, sehe ich einen starken Dissens.

Die Autoren sprechen von einer „vielleicht letzten Chance zu einem Aufbruch“ und benennen als Alternative „Grabesruhe, weil die letzten Hoffnungen zunichte gemacht wurden“… Ich kann die Meinung der Hochschullehrer nicht teilen, die letzte Chance sei vertan, wenn ihre Überlegungen nicht verwirklicht würden. Ich setze vielmehr auf den, der uns „Fruchtbarkeit“ verheißen hat, wenn wir in ihm bleiben, wie es im Evangelium nach Johannes (Joh 15) heißt… Das dort beschriebene Kirchenbild ist falsch. Denn es trennt die institutionelle Seite der Kirche, die notwendig zu ihr gehört, von der Innenseite, in der der Einzelne seinen Glauben lebt.

Auch in Zukunft wird die Leitung einer Pfarrei mit dem priesterlichen Dienst verbunden bleiben… Von der Verbindung zwischen priesterlichem Amt und eheloser Lebensform bin ich überzeugt. Ich könnte mich niemals zu einer anderen Form entscheiden – persönlich und kirchlich. Deshalb kann ich mich für das Thema der „viri probati“ nicht erwärmen.

Papst Johannes Paul II. hat im Jahr 1994 lehramtlich festgehalten, dass die katholische Kirche vom Auftrag und der Weisung Jesu her nicht ermächtigt ist, das Sakrament der Weihe Frauen zu spenden. Dies ist für die kirchliche Lehrverkündigung und die damit Beauftragten verbindlich.

Wir müssen lernen, den Menschen zu helfen, mit ihrer Sexualität keusch umzugehen… Gerade weil es um die Wertschätzung der Ehe geht, ist es aber höchst gefährlich, wenn das Memorandum die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in einer Reihung mit den geschiedenen Wiederverheirateten, mit der Ehe und der christlichen Ehelosigkeit aufnimmt. Hier wird einer Auflösung des Ehebegriffs zugearbeitet.

Überwindung der gegenwärtigen Wertekrise

Im Jahr 2005 wurde eine Schrift von Joseph Kardinal Ratzinger über die Wertekrise in unserer Zeit veröffentlicht.[1] Im Internet findet sich dazu eine sehr kritische Rezension, die auf der Website „gavagai“ mitgeteilt wird, und zwar in der von Herbert Huber geleiteten Rubrik „Rezensionen“.[2] Im Folgenden nimmt Prof. Dr. Horst Seidl (Rom) zu dieser Kritik Stellung, da sie seines Erachtens der Schrift des Kardinals keineswegs gerecht wird. Gleichzeitig geht es ihm um einen grundsätzlichen Beitrag zur Überwindung der Wertekrise heute.

Von Horst Seidl

Kritik an fünf Hauptthesen des Kardinals

Der Rezensent der Schrift „Werte in Zeiten des Umbruchs“ von Joseph Kardinal Ratzinger fasst aus ihr folgende fünf Hauptthesen zusammen, um dann an ihnen Kritik zu üben: „1. Vernunft und religiöser Glaube müssen Hand in Hand gehen; beide sind konstitutiv für ein freiheitliches Europa. 2. Der religiöse Glaube zeigte und zeigt pathologische Züge; ebenso aber die Vernunft. Sie bedingen sich also gegenseitig zur jeweiligen Grenzsetzung. 3.a) In einer freiheitlichen Demokratie muss es einen Kern von Werten geben, der sich dem Relativismus, dem Zugriff der Staatsmacht und jeder Einschränkung entzieht. b) Diesen Wertekern gibt es. 4. Zu alledem ist der Glaube an Gott als den Schöpfer unerlässlich. 5. Niemand darf entgegen seinem Gewissen handeln.“

Der Rezensent (Rez.) führt zur „Pathologie der Vernunft“ aus, dass Ratzinger drei „mythisch vereinseitigte Werte“ nennt: Fortschritt, Wissenschaft und Freiheit (S. 23-24), ohne auf die zahlreichen in den politischen und wissenschaftlichen Institutionen eingebauten Kontrollmechanismen einzugehen. „Die von Ratzinger geforderten, einschränkenden Maßstäbe gibt es also auf Seiten der Vernunft. Bei den Religionen gibt es die Terror-Eindämmung nicht oder sie ist wirkungslos. Moralische Steuerung bedarf außerdem (eine der stillen Unterstellungen Ratzingers) nicht des religiösen Glaubens. Damit sind die Thesen 1 und 2 stark angeknackst. Vollends unklar ist, warum eine fehlgesteuerte Vernunft der ebenfalls pathologischen Religiosität bedarf, um in die rechten Bahnen zu kommen. Um im christlichen Jargon zu bleiben: warum soll man den Teufel mit Beelzebub bekämpfen?“

Stellungnahme: Pathologien in Religion und Vernunft

Diese Kritik geht an der klaren Intention des Kardinals in mehrfacher Hinsicht vorbei: Erstens ist nach ihm nicht die Religion an sich pathologisch, sondern er sagt nur, „dass es Pathologien in der Religion gibt“ (38). Ebenso spricht er nicht von der Vernunft an sich als pathologisch, sondern nur in Hinsicht auf Exzesse in Fortschritt, Wissenschaft und Freiheit, die er im Übrigen nicht nur äußerlich beobachtet, sondern auf die ihnen zugrundeliegenden psychisch-geistigen Ursachen zurückführt, auch auf eine führungslose, krank gewordene Vernunft. Es ist klar, dass diese nicht durch äußere Kontrollmechanismen geheilt werden kann, sondern nur durch eine innere Wandlung in ihrer ganzen Gesinnung.

Was religiöse Pathologien betrifft, so sagt der Kardinal nicht, dass sie durch die Vernunft als solche geheilt würden, sondern durch eine „vom göttlichen Licht“ erleuchtete Vernunft, d. h. wenn sie sich wieder der Führung der Offenbarung Gottes in Christus anvertraut. Wenn es um Pathologien der säkularisierten Vernunft (in Politik und Gesellschaft) geht, könnten sie eine heilende Wirkung von der religiös inspirierten Vernunft erfahren, aber selbstverständlich nicht von einer religiös-pathologischen, sondern einer religiös gesunden, von Gott erleuchteten und geführten Vernunft. Vom Terror der Religionen zu sprechen, ist abwegig. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, dass erst durch die unselige Verquickung von Religion und Politik jener religiöse Fanatismus aufkommt, der ebenso ein politischer ist und Terror ausübt.

Gewissen und Naturrecht

Hinsichtlich der in Ratzingers Schrift aufgeführten Werte – Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Gleichheit der Menschen, gleiche Würde der Geschlechter, Freiheit des Denkens und Glaubens, Unantastbarkeit des menschlichen Lebens – kritisiert der Rez., dass der Text (S. 25) sie als „allgemein anerkannte“ hinstelle, ohne sie näher zu begründen, es sei denn mit dem Naturrecht, das aber heute unter starkem argumentativen Beschuss steht (wie weiter unten ausgeführt). Ferner stellt der Rez. fest: „Zudem verfällt Ratzinger gerade bei der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in eine Verabsolutierung, vor der er bei anderen Werten (Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit) nicht müde wird zu warnen.“

Hierzu lässt sich m. E. Folgendes klarstellen: In der traditionellen Ethik werden solche ersten Prinzipien, weil nicht mehr beweisbare, als evidente aufgewiesen und gerechtfertigt. Sie stützt sich dabei auf das natürliche Selbstbewusstsein bzw. Gewissen des Menschen, mit dem die praktische Vernunft bei sich selber ist und von dem Guten in ihr weiß. Schon ihr schlichtes Dasein bzw. Leben und ihre Vorrangstellung über Leib und Trieb – worin ihre Würde und Auszeichnung gegenüber den Tieren beruht – ist ihr als hohes Gut bewusst, ja als absolutes, das unvergleichbar ist mit allen anderen Gütern oder Werten. Welchen Wert könnten für uns Menschen noch Friede, Freiheit und Gerechtigkeit haben, wenn uns das Leben selbst genommen wird, die Grundlage für alle anderen Werte?!

Der Rez. stellt dann einen Widerspruch fest, dass „sonderbarerweise“ der Kardinal die Absolutheit des Menschenlebens wieder einschränke, wenn es um den gerechten Krieg gehe. Ich sehe dies nicht so, da der Kriegsfall gerade jene extreme Situation betrifft, wo das Menschenleben in der eigenen Heimat bedroht wird und verteidigt werden muss. Und bei der Verteidigung ist nicht das Töten des Feindes an sich beabsichtigt, sondern seine Abwehr, mit der Folge des Tötens, wenn dies unvermeidlich ist. Die Theorie vom gerechten Krieg anerkennt auch eine Moral im Kriegsfall, was sehr wichtig ist.

Weiter bemängelt der Rez. an Ratzingers Position: „Das Recht des ungeborenen Lebens wird über das geborene Leben gestellt.“ Im Hintergrund steht offenbar die Alternative, zur Heilung von Patienten durch Stammzellen Embryonen zu töten. Dagegen spricht jedoch, dass jedes menschliche Leben unverfügbar ist, so dass man auch nicht dem geborenen Menschen den Vorrang vor dem Menschen im Mutterschoß geben darf (wobei man sogar dem kranken Leben des Patienten vor dem gesunden Leben den Vorrang gäbe).

Vermutlich ist für den Rez. der Embryo noch kein Mensch. Aber der Gesetzgeber tut gut daran, nicht mit einem Datum festzulegen, wann menschliches Leben beginnt, sondern lässt es mit der Empfängnis beginnen. Aus der traditionellen Lehre vom Menschen ist dies dadurch begründbar, dass die Eltern in der Zeugung nicht nur ein Genmaterial dem Nachkommen mitteilen, sondern auch ein seelisches Lebensprinzip. Durch beide Prinzipien konstituiert sich ein neues Lebewesen der Menschengattung, erzeugt von menschlichen Eltern.

An sich geltende, evidente Werte

Der Rez. stellt in Frage, dass es „in sich stehende Werte“ gebe. Ratzinger bleibe den Beweis dafür schuldig. Hierzu möchte ich bemerken, dass in keiner Wissenschaft die ersten Prinzipien, aus denen sie Beweis über bestimmte Sachverhalte führt, wiederum beweisbar wären. Die allgemeinen oben genannten Werte sind aber Prinzipien oder Normen der Ethik und können nicht mehr beweisbar sein, sondern nur als evidente aufgewiesen werden.

Die natürliche Evidenz jener Werte, auf die sich auch die philosophische Begründung stützt, kann freilich durch falsche philosophische Theorien relativistischer Art verunsichert und verdunkelt werden. Eine Tatsache, welcher der Kardinal Rechnung trägt, wenn er anschließend sagt, dass sie heute nicht mehr überall anerkannt sind. Weiter unten stellt er dasselbe auch für die Evidenz des Naturrechts fest und bemerkt, dass die Begründung dieses Rechts wiedergefunden werden muss.

Hierzu kommentiert der Rez.: „Nach Ratzinger muss dieses Recht nur gefunden werden (es scheint also nicht so evident, wie er an anderer Stelle annimmt) … Nun sucht mal schön, könnte man sagen.“ Ratzingers Aufforderung der Suche nach dem Naturrecht drückt nicht eine Skepsis an ihm aus, sondern gilt der philosophischen Begründung. Tatsächlich hat ja der heutige Papst zu einer solchen Neubegründung die Päpstlichen Universitäten aufgefordert, die sich damit dann auch erfolgreich beschäftigt haben. Ich halte es für einen Vorteil der Schrift, dass der Kardinal in ihr nicht philosophische Argumentation ausbreitet, sondern sich ein Stück weit auf die gegenwärtige, von skeptischem Denken geprägte Einstellung einlässt und mit ihr z. B. sagt, „dass es diese Evidenz (der Werte) als in sich ruhende und zuverlässige Grundlage aller Freiheit nicht gibt“ (45) (nach dem Kontext zu verstehen: heute nicht mehr gibt), was der Rez., als Vertreter dieser heutigen Einstellung, sehr positiv mit „da stimme ich zu“ notiert. Und er fügt hinzu: „Ebenso gibt es auch keine anderen evidenten Werte“, nämlich für eine „empirische Vernunft“, wie der Papst sie treffend nennt. Sie ist die „schwache Vernunft“ (vgl. Vattimo: ragione debole), an welcher der Zeitgeist kränkelt.

Verantwortung der Philosophie für die Moral

Was die moralischen Grundlagen betrifft, ignoriert der Rez. nicht, dass für ihre Rechtfertigung Ratzinger auch die „Verantwortung der Philosophie“ ins Spiel bringt (29), und kommentiert hierzu: „Richtig, das ist ein möglicher Gegenkandidat zum Gottesglauben.“ Hierzu ist jedoch klarzustellen: Wenn auch Ratzingers Schrift von den zwei heute bestehenden Weltanschauungen ausgeht, der laizistischen ohne Gott und der christgläubigen mit Gott, und durch diese dann Vernunft und Glaube in Gegensatz treten, so stehen für den Autor selbst die philosophische Vernunft und der christliche Glaube nicht in Gegensatz, sondern ergänzen sich.

Ferner hat der christliche Glaube seine eigene religiöse Rationalität. So ist der Dekalog kein „Zwang“, vergleichbar dem staatlichen, wie der Rez. meint, sondern von rationaler Weisheit, mit der Gott das menschliche Leben zu seiner Vollkommenheit führen will. Auch scheint der Rez. fälschlich die religiös-gläubige Vernunft als an sich pathologisch disponiert zu sehen und urteilt daher, mit Kritik gegen Ratzinger: „Dieser Glaube ist daher ein denkbar schlechtes Regulativ.“

Zur These des Kardinals, dass niemand gegen sein Gewissen handeln darf, stellt der Rez. ein Dilemma fest: „(1) Das Gewissen ist unfehlbar (deshalb muss man ihm folgen). (2) Gewissensurteile widersprechen sich. (3) Andererseits vertritt Ratzinger aber die Position, es gibt eine moralische Wahrheit; den moralischen Relativismus lehnt er ab.“ Wenn bei der Vielheit verschiedener, auch sich widersprechender Gewissensurteile jedes unfehlbar ist, kann es nicht mehr eine einzige moralische Wahrheit geben. Also wird Ratzingers Position unhaltbar und muss der Position der relativen Wahrheiten weichen, welche die des Rez. ist.

Dieser Kritik entgeht jedoch, dass das betreffende Kapitel selbst im ersten Teil die Auffassung, das Gewissen sei unfehlbar, als falsch erweist. Zwar nimmt es die traditionelle Lehre wieder auf, dass jeder seinem Gewissen folgen muss, dies bedeutet aber nicht, dass es immer wahr sei. Es gibt auch das irrige Gewissen, dem jeder gleichwohl folgen muss, da er sonst nicht nach seiner Überzeugung handeln würde. Aber seine subjektive Überzeugung mit dem Gewissensurteil muss sich immer wieder an der objektiven Wahrheit korrigieren lassen. Diese leugnet jedoch der Rez. aus seinem empiristischen, relativistischen Standpunkt.

Abschließend möchte ich noch auf das strittige Naturrecht eingehen. Da hier der Kardinal der skeptischen Einstellung der Zeitgenossen entgegenkommen möchte, verzichtet er für einen Augenblick auf philosophische Argumentation, auch auf die traditionelle der recta ratio, und bemerkt: „Aber heute scheint diese recta ratio nicht mehr zu antworten, und Naturrecht wird nicht mehr als das allen Einsichtige, sondern eher als eine katholische Sonderlehre betrachtet. Dies bedeutet eine Krise der politischen Vernunft, die eine Krise der Politik als solcher ist“ (25).

Dem widerspricht der Rez.: Die Ratio ist nicht stumm geworden, sondern spricht noch in ihm, und zwar gegen das traditionelle Naturrecht. Das Hauptargument gegen ein solches ist: „Vernünftige Menschen können in der Natur keine Moral erkennen.“ Aus der Triebnatur des Menschen kann man kein moralisches Sollen ableiten. Auch der Kardinal räumt ein: Wenn das Naturrecht nach dem bekannten Satz beim antiken Juristen Ulpian: Ius naturae est, quod natura omnia animalia docet („Das Naturrecht ist das, was die Natur alle Lebewesen lehrt“) naturalistisch verstanden wird, lässt es sich heute kaum noch vertreten.

Neubegründung des Naturrechts

Angesichts dieser Schwierigkeit, die sich den Zeitgenossen heute stellt, lädt der Kardinal zu einer Lösung aus dem Glauben an den Schöpfergott ein, die jedoch der Rez. als Anwalt nichtgläubiger Leser ablehnt, um stattdessen für einen philosophischen Relativismus zu plädieren. Dagegen lässt sich m. E. von der traditionellen Philosophie aus Stellung nehmen und das Naturrecht neu begründen.

1. Zunächst ist, zur Entlastung des Kardinals, festzustellen, dass die Lehre vom Naturrecht keine Sonderlehre der Katholischen Kirche ist, sondern der traditionellen philosophischen Ethik und Rechtslehre angehört, die dem Magisterium zur natürlichen Grundlage dient.

2. Der Relativismus wird von der Philosophierichtung des Empirismus vertreten, der seit der Antike immer wieder gründlich widerlegt worden ist, wovon aber seine Vertreter keine Kenntnis nehmen. Die Position des modernen Empirismus, die alle Werte in Zweifel zieht und relativiert, ist vor allem von D. Hume ausgebildet und von K. Popper weitergeführt worden. Sie beschränkt die menschliche Erkenntnis auf die sinnesabhängigen Erfahrungen und betrachtet dann auch das Naturrecht naturalistisch. Dagegen ist zu sagen, dass die Vernunft von allen Dingen und auch von sich selbst als substantieller Realität ein unmittelbares Bewusstsein hat, nicht bloß abstrakte Begriffe von Phänomenen.

3. Die Begriffe: recta ratio, „rechter Verstand“ (griech. orthos logos) und „Naturrecht“ (griech. physei dikaion),[3] waren in der Antike keine alltäglichen, sondern wohldefinierte philosophische Ausdrücke, die Platon und Aristoteles eingeführt haben, mit stringenten Argumenten, hinsichtlich der grundlegenden Tugend der Klugheit (phronesis, prudentia) und der Gerechtigkeit, die bis heute nichts von ihrer Kraft verloren haben.

Im Empirismus[4] steht der Verstand bzw. die Vernunft ganz im Dienste der von der Sinneserfahrung bestimmten Erkenntnis und hängt von ihr ständig ab. Die antiken Philosophen haben jedoch logos/ratio bzw. nous/intellectus – denen in unserer Sprache Verstand bzw. Vernunft entspricht – als vom Sinnesvermögen verschiedenes, eigenständiges Vermögen der Seele eingeführt, aufgrund der zwingenden, realistischen Tatsache, dass wir von den Dingen nicht nur sinnliche Phänomene erfassen, sondern (im Zuge des Erkenntnisfortschrittes) auch Wesentliches einsehen, und zwar nicht mehr mit den Sinnen, sondern mit einem anderen Vermögen, nämlich mit Verstand bzw. Vernunft. Ohne dieses philosophische Erbe würden wir heute gar nicht über diese Begriffe verfügen. Wenn der Empirist heute mit seiner Ratio feststellt, dass es nichts Wesentliches in den Dingen gebe, und alles Erkennbare immer letztlich von sinnlichen Phänomenen abhänge, ist er sich nicht mehr bewusst, in welchen Selbstwiderspruch sich da seine Ratio begibt.

4. Hinsichtlich der Lehre des Naturrechts ist es lehrreich zu sehen, wie schon Platon und Aristoteles dieses in Auseinandersetzung mit den Sophisten begründet haben, welche als erste Vertreter des abendländischen Empirismus die menschliche Erkenntnis auf die sinnliche Erfahrung reduzierten. Dies bedeutete auf ethisch-rechtlichem Gebiet, dass es nur positives Recht gab, das immer wieder geändert werden könne nach den empirischen Bedürfnissen der sinnlich-triebhaften Natur des Menschen. Das einzig natürliche Recht war dann das Recht des physisch Stärkeren. Hiergegen haben Platon ebenso wie Aristoteles und die ihnen folg. abendländische Tradition klargestellt, dass zur Natur des Menschen nicht nur das Sinnesvermögen, sondern auch (ja noch mehr) sein Verstand (griech. logos, lat. ratio) gehört, so dass das von Natur Gerechte gerade in jenem allgemeinen Guten liegt, auf das der Verstand und der Wille natürlicherweise gerichtet sind. Dies bedeutet für das positive Recht, dass es als sittlich gut oder schlecht beurteilt werden kann, je nachdem, ob es dem Guten aufgrund der rationalen Natur des Menschen entspricht oder nicht.

5. Zu Ulpians Lehre: dass „das Naturrecht das ist, was die Natur alle Lebewesen lehrt“, möchte ich Folgendes bemerken: Der klassische Naturbegriff ist von analoger Bedeutung: Er bedeutet beim Menschen auf niederer Stufe die animalisch-triebhafte Natur und auf höherer Stufe die Vernunftnatur. Beide haben etwas analog Gemeinsames, nämlich jeweils auf ihrer Stufe Zweckursache zu sein. Wie die Triebnatur auf ihren Zweck gerichtet ist, z. B. der Sexualtrieb auf Erzeugung eines neuen Lebewesens, so analog die Vernunftnatur auf ihren Zweck, das moralische Gute in den Tugenden und letztlich im vollkommenen Leben.

Aus der (anthropologisch gesehen, wichtigen) komplexen Wesensnatur des Menschen, der sinnlich-triebhaften und der vernünftigen, ergibt sich z. B. in der Ehe die Aufgabe, den natürlichen Zweck der Kindererzeugung unter den höheren Zweck der personalen Liebe und moralischen Vollkommenheit zu integrieren. Dieser hohe Wert der Ehe wäre ohne die klassische Lehre vom analogen Naturbegriff nicht erklärbar und wird mit ihm zwingend einsichtig.

Mehr noch, auch auf der triebhaft-natürlichen Ebene selbst waltet die Analogie; denn der menschliche Leib und Trieb haben mit dem der Tiere nur etwas analog gemeinsam (!), bei wesentlicher Verschiedenheit. Und das spezifisch Menschliche des menschlichen Triebes liegt gerade in seiner Offenheit hin zum höheren Vernunftprinzip, von dem er überformt wird.

Die Aussage bei Ulpian erklärt das Naturrecht aus der Hauptbedeutung der Natur, wonach diese die Zweckursache ist, welche „alle Lebewesen lehrt“, zu ihrem je spezifischen Zweck zu gelangen. Der Blick auf alle Lebewesen, der Tiere und Menschen umfasst, ist von analoger Bedeutung und daher überaus wichtig, da nur so der Mensch in die gesamte Natur (biblisch: die Schöpfung) eingeordnet wird. Ohne diesen Gesamtblick würde der Mensch isoliert und verlöre seinen Bezug zur Natur, was heute tatsächlich geschieht: Die Umweltprobleme und viele Krankheiten offenbaren doch ein gestörtes Verhältnis des Menschen zur Natur, zur äußeren und zu seiner eigenen, leiblichen Natur. Ferner ist bei Ulpian auch der schöne Gesichtspunkt der Natur als zweckvoll anordnender Lehrerin von analoger Bedeutung und umfasst sowohl die vernunftlose Natur als auch die vernünftige des Menschen.

Das Naturrecht ist dann jene natürliche Norm, wonach das Willens- und Vernunftvermögen „von Natur“ auf das sittliche Gute hingeordnet sind, welches in der rationalen Wesensnatur des Menschen begründet liegt. In der Tradition besagt das Naturrecht ethisch für den Menschen gerade dies, immer so zu handeln und zu leben, dass er damit seiner Wesensnatur entspricht, und hierdurch der Vorrang der Vernunft vor dem Trieb und dem Leib gewahrt bleibt, also nicht verletzt wird.


[1] Joseph Kardinal Ratzinger: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i. Br. (Herder spektrum) 2005.
[2] www.gavagai.de/philrezi/th/HHPRZTH03.htm: Joseph Ratzinger: Werte in Zeiten usw.
[3] Siehe Aristoteles: Ethica Nicom., VI, cap. 1-2 und V 10.
[4] Für den modernen Empirismus sind die grundlegenden Schriften die von John Locke und David Hume. Karl Popper hat sich auf sie berufen.

Wer vergiftet hier wen mit was?

Bei seiner Neujahrsansprache an die Vatikanbotschafter am 10. Januar 2011 ging Papst Benedikt auf den vom Staat verordneten Sexualkundeunterricht ein. Dabei warnte er die staatlichen Einrichtungen vor der Überschreitung ihrer Grenzen. Die weltbekannte Psychotherapeutin Christa Meves betrachtet die Äußerung des Papstes als beachtliches Ereignis, das vom Mainstream nicht totgeschwiegen werden dürfe.

Von Christa Meves

Wie sensibel reagiert die Öffentlichkeit!

Die Bewohner Niedersachsens sind medial alarmiert worden: Erst schienen allein die Eier, bald darauf das geliebte Hähnchenfleisch vergiftet, nun auch das vom Schwein. Der Verkauf bricht ein. Wie wach, wie reagibel ist doch der Bundesbürger beim Auftauchen solcher Missstände!

Aber merkwürdig, es gibt in unserer Republik mindestens ebenso schwere, ja vermutlich noch viel nachhaltigere Missstände, über die sich seit Jahrzehnten die Öffentlichkeit nicht aufregt, ja die noch nicht einmal ins Bewusstsein der Gruppierungen geraten, die das besonders angeht, z. B. bei dem Skandalon, das ich anführen möchte: die Familien mit Kindern.

Absurde Missachtung der psychotherapeutischen Erfahrung

Seit mindestens einem halben Jahrhundert gehört es zum Erfahrungsgut der Psychotherapie, dass Kleinkinder und solche im Grundschulalter durch unangemessene, zu drastische Konfrontation mit der Erwachsenensexualität für ihr ganzes Leben seelisch zuschaden kommen können. Es kann sich ein Trauma einstellen, das verdrängt wird, unbewusst bleibt, aber spätere Unausgeglichenheiten heraufbeschwören kann: eine mit Ekel gemischte Tabuierung des gesamten Bereiches Sexualität – oder das andere Extrem: eine wie blinde, geradezu versessene Fixiertheit daran, die Sexualsucht und Perversionen zur Folge haben können.

Aber in unserer zur Sexualität befreiten Republik hat das keineswegs zu der daraus zu folgernden sorgsamen pädagogischen Behutsamkeit geführt. Nein, die Tendenz ist in absurder Weise seit Jahrzehnten in die Gegenrichtung gedriftet: Hierzulande gibt es seit ca. 40 Jahren einen obligatorischen Sexualkundeunterricht, der schließlich auch das Grundschulalter einschließt, ja sich sogar zunehmend auch auf das Kindergartenalter auszudehnen sucht.

Kümmert das niemanden? Gehen Vergiftungen solcher Art keinen etwas an?

Der Papst legt seinen Finger in die Wunde

Seit 14 Tagen gibt es eine außerordentlich wichtige Verlautbarung durch Papst Benedikt XVI. Er erklärte, dass staatlich geforderte Schulsexualkunde ein Beispiel für Bedrohungen gegen die kulturellen Wurzeln der Völker sei. Das sei ein unzulässiger Übergriff des Staates, es sei eine Art „staatliches Monopol in Schulangelegenheiten“ (Erklärung während der traditionellen Neujahrsansprache an die Vatikan-Botschafter vom 10. Januar 2011).

Was für ein Ereignis: Der Papst legt seinen Finger in die Wunde eines skandalösen Missstandes und klagt den Staat einer Grenzüberschreitung seiner Kompetenzen an!

Damit ist er allerdings nicht gänzlich allein. Einzelne Warner vor einer solchen fragwürdigen Vereinnahmung der Kinder hat es hierzulande seit der Einführung zu ihrer verpflichtenden Teilnahme am Aufklärungsunterricht der Schule immer gegeben. Manche Eltern haben immer einmal wieder versucht, sich gegen diesen obligatorischen Rigorismus zur Wehr zu setzen, aber immer vergeblich, in jüngster Zeit in einem Fall sogar durch Inhaftierung der renitenten Erziehungsberechtigten. Es gibt aber ein deutschsprachiges Land – die Schweiz –, in der es nicht nachlassenden Widerstand gegen staatlichen Kindsmissbrauch gegeben hat: Da gibt es unter vielem anderen z. B. den Verein „Sorgfalt“, dessen Flyer mir kürzlich in die Hände fiel. Dort ist der Sachverhalt so kurz und bündig dargelegt, dass ich ihn zitieren möchte.

Warnung vor Anregung früher sexueller Aktivität

„Was Sie als Eltern unbedingt wissen sollten“, beginnt er und fährt fort:

„Eine gute Aufklärung soll jungen Menschen dabei helfen, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen, um ihre Gesundheit zu schützen und sorgsam mit ihrer Sexualität umzugehen.

Auf keinen Fall darf der Sexualkundeunterricht zu früher sexueller Aktivität anregen.

Europaweit weist der Sexualunterricht massive Defizite auf und beruht auf einer Ideologie, deren Kette an Folgen unüberschaubar geworden ist.

• Die Sexualexperten arbeiten an der Auflösung der traditionellen Familie (Vater, Mutter, Kinder)

• Das Recht und die Freiheit der Eltern, ihre Kinder nach eigenen Überzeugungen und Werten zu erziehen, wird ihnen schleichend entzogen.

• Schon sehr bald soll Sexualerziehung ab 4 Jahren obligatorisch werden.

• Der Sexualkundeunterricht ist einseitig und konzentriert sich vorwiegend auf Schwangerschaftsverhütung und Prävention von Krankheiten.

• Es fehlen Informationen über die Folgen der Frühsexualität auf die körperliche, seelische und psychische Gesundheit.

• Die negativen Folgen von Pille, Pille danach und Abtreibung werden verschwiegen oder verharmlost.

• Unterrichtsmaterial überfordert viele Schüler. Es entspricht oft nicht den ethischen, religiösen Werten vieler Eltern.

• Die Intimsphäre vieler Kinder, Jugendlicher und Eltern wird verletzt.

Den Eltern als Erziehenden darf nicht in den Rücken gefallen werden.

Die Sexualerziehung ermutigt Kinder und Jugendliche zu früher Sexualpraxis. Wechselnde Partner in jugendlichen Beziehungen werden als ‚natürlich‘ dargestellt. Bei Geschlechtsverkehr in jungen Jahren ist aber das Gewebe am Gebärmutterhals besonders empfänglich für eine Infektion. Bei häufigem Partnerwechsel steigt auch das Risiko für Gebärmutterhalskrebs. Daraus resultiert die umstrittene Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs in so früher Jugend“ (vgl. www.sorg-falt.ch).

Kultusministerien in der Pflicht

Wie notwendig wäre es, der Einsicht in diese Wahrheit auch hierzulande Taten folgen zu lassen! Der verfrühte Aufklärungsunterricht der Kleinen ist besonders verwerflich, zumal die neue Hormonforschung das niedrige Level der Geschlechtshormone vom Kleinkindalter bis zur Vorpubertät festgeschrieben hat. Aber darüber hinaus sollten die Kultusministerien die Aufklärungskapitel der Schulbücher auch für Jugendliche unter die Lupe nehmen und sich anhand der verheerend negativen Entwicklung auf diesem Feld ihrer pädagogischen Verantwortung bewusst werden. Es ist dringend erforderlich, dass die Jugendlichen in diesem Unterricht darüber informiert werden, dass – laut WHO – langfristige Pilleneinnahme sogar das Brustkrebsrisiko erhöht und am Boom der Unfruchtbarkeit der jungen Frauen auch eine durch die Pille hervorgerufene Minderung der Gebärmutterschleimhaut beteiligt ist.

Es ist in den letzten 40 Jahren mehr als genug Kindsmissbrauch geschehen. Es muss endlich mit einer durchgreifenden, den Erfahrungswerten entsprechenden Prävention gehandelt werden.

Zuspruch in der Beichte als Ort der Ehepastoral

Bischofsvikar Msgr. Christoph Casetti von Chur ist für sein Engagement in der Ehepastoral weit über die Grenzen seines Bistums hinaus bekannt. Zu diesem Thema hielt er bei der III. Pastoralen Fortbildung für Beichtväter in der Gebetsstätte Wigratzbad vom 17. bis 20. Januar 2011 einen eindrucksvollen Vortrag. Zwar ging es in erster Linie um die Frage, wie der Beichtzuspruch für die Ehepastoral genützt werden kann. Aber bei dieser Gelegenheit entfaltete er ein umfassendes Konzept für die seelsorgliche Betreuung von Eheleuten. Ein ausgesprochen wertvoller Beitrag für alle, die in der Pastoral tätig sind. Nachfolgend die praktischen Überlegungen aus dem zweiten Teil seines Referats.

Von Christoph Casetti

Bedeutung der Ehepastoral

Es ist eine bekannte Tatsache, dass Ehe und Familie in den vergangenen Jahrzehnten in eine tiefe Krise geraten sind. Marxistische Ideologien wollen die Familien gezielt destabilisieren, weil die Menschen so manipulierbarer werden. Die Abwertung der Mutterschaft zugunsten der Berufstätigkeit der Frau fördert die Familie erwiesenermaßen nicht. Die Banalisierung der Sexualität zu einem Genussmittel, ihre totale Entkoppelung von der Verantwortung für die Weitergabe des Lebens hat ebenfalls die Ehen und Familien geschwächt. Die Scheidungszahlen sind stark angestiegen auch bei Katholiken. Die Zahl der Geburten dagegen ist gesunken, so dass wir in Europa sterbende Völker geworden sind.

Gerade die tiefe Krise von Ehe und Familie verlangt, dass die Ehepastoral eine Priorität unter allen seelsorglichen Bemühungen bekommt. Weil es seit dem Erscheinen der Enzyklika Humanae vitae so etwas wie eine Tabuisierung der kirchlichen Ehelehre in der Verkündigung gibt, haben die meisten Gläubigen nur eine rudimentäre Kenntnis der katholischen Ehelehre. Ihre durch Papst Johannes Paul II. vertiefte Begründung ist weitgehend unbekannt. Es ist dringend notwendig, dass in der Verkündigung die Lehre der Kirche zu Ehe und Familie vermehrt aufgegriffen und vertieft wird. Die Schätze, die uns Papst Johannes Paul II. hinterlassen hat, gilt es endlich zu heben. Die seit 1968 einsetzende Tabuisierung dieser Thematik muss überwunden werden.

Die Zukunft der Gesellschaft und der Kirche geht über die Familie. Deshalb ist es unerlässlich, dass wir in der Seelsorge den Ehen und Familien die größte Aufmerksamkeit schenken.

Chance des Zuspruchs in der Beichte

Ein wichtiger Ort für die Ehepastoral ist der Zuspruch im Beichtsakrament. Ihn gilt es als Chance zu nutzen. Das Vademekum für Beichtväter sagt es so: „Für das Annehmen sowohl der Forderungen authentischer Liebe als auch des Planes Gottes im täglichen Leben der Eheleute stellt der Moment, in dem diese das Sakrament der Versöhnung erbitten und empfangen, ein heilbringendes Ereignis von größter Bedeutung dar; es bietet Gelegenheit zur erhellenden Vertiefung des Glaubens und hilft in konkreter Weise, Gottes Plan im eigenen Leben zu verwirklichen“ (Einleitung, Ziel des Dokumentes).

Dazu gehört auch, dass das Sakrament der Beichte so verkündet wird, dass die Menschen es neu für sich als Hilfe im geistlichen Leben entdecken können. Viele Menschen leiden heute darunter, dass sie nicht ausgesöhnt sind mit den acht Grundgestalten des Lebens: mit dem Vater und der Mutter, mit dem Sohn und der Tochter, mit dem Mann und der Frau, mit dem Bruder und der Schwester. Das Vergeben-Können und Vergebung-annehmen-Können ist für sehr viele Menschen ein wichtiges Thema geworden. Hier hätte die Erneuerung der Bußpastoral einen guten Anknüpfungspunkt.

a) Vom Zuspruch zum seelsorglichen Gespräch

Bei manchen Beichten können wir heraushören, dass es in der Ehe bzw. der Familie Schwierigkeiten gibt. Wo ein Pönitent über seinen Lebensstand nichts sagt, dürfen wir ihn ruhig fragen, ob er verheiratet ist und eine Familie hat. Manchmal stoßen wir erst nach dem Sündenbekenntnis durch eine solche Frage auf viele Probleme und Nöte. Hier wird es darauf ankommen, dass wir sehr gut zuhören. Rasche Rezepte werden einer komplexen Situation meistens nicht gerecht. Je nach den Umständen werden wir uns für einen solchen Beichtenden im Zuspruch mehr Zeit nehmen müssen. In einem solchen Fall kann es angezeigt sein, ihm ein seelsorgliches Gespräch nach der Beichte zu einem für beide günstigeren Termin anzubieten. Die Richtung eines solchen Gespräches kann ihm jedoch bereits kurz erklärt werden.

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass weder der Zuspruch noch das seelsorgliche Gespräch eine Psychotherapie ersetzen können, wo eine solche angezeigt ist. In der Regel haben Beichtväter keine therapeutische Ausbildung. Sie sollten deshalb hier Grenzüberschreitungen vermeiden. Die Seelsorge hat jedoch eine heilende Dimension nicht nur durch das Gebet und die Sakramente, sondern auch durch die Beziehung zwischen dem Beichtvater und dem Pönitenten, wenn diese gelingt.

b) Der Plan Gottes für Ehe und Familie

Wenn der Beichtende seine familiäre Situation anspricht, ohne dass eine besondere Problematik vorliegt, nehme ich manchmal die Gelegenheit wahr, die besondere Berufung von Ehe und Familie in Erinnerung zu rufen. Ich weise hin auf den Plan Gottes für Ehe und Familie, wie er zum Beispiel in Familiaris consortio entfaltet ist. Die Familie hat die besondere Berufung, Hauskirche zu sein: ein wichtiger Ort der Verkündigung, des Gebetes und der gelebten Liebe. Wenn etwa ein Mann beichtet, dass die Familie wegen seines Berufes zu kurz kommt, weise ich ihn auf die Erfahrung hin, dass im Blick auf die gesamte Lebensperspektive gute zwischenmenschliche Beziehungen wichtiger sind, als beruflicher Erfolg. Solche Hinweise sollen eine Ermutigung sein, den guten Weg weiterzugehen.

c) Die Unauflöslichkeit der Ehe

Wenn sich in einem Bekenntnis zeigt, dass die eheliche Treue gefährdet ist, dann frage ich in der Regel zunächst nach den Gründen. Meistens gibt es tieferliegende Gründe im Verhältnis zwischen den Ehegatten, die zur Versuchung des Ehebruchs führen. Dann aber spreche ich von den Gründen für die Unauflöslichkeit der Ehe. Sie ist ein Ort, wo die treue Liebe Gottes zu uns Menschen in besonderer Weise erfahrbar ist. In der ganzen Bibel wird das Verhältnis Gottes zum Menschen verglichen mit der Liebe zwischen Mann und Frau. Im Neuen Bund wird die Ehe zum Abbild der Liebe von Christus zur Kirche. Er hat sein Jawort gegeben ein für allemal bis zum Tod am Kreuz. Deshalb geben auch die Eheleute ihr Jawort ein für allemal, wenn sie – wie Paulus sagt – im Herrn heiraten. Liebe, wenn sie echt und ganzheitlich ist, sagt zum Andern: du, nur du und du für immer. Deshalb hat der leibliche Ausdruck der Liebe seinen rechten Ort nur innerhalb der Ehe. Auch hier geht es weniger um ein Moralisieren als um eine bessere Motivierung der ehelichen Treue.

d) Die Weitergabe des Lebens

Im Sinne der Regel von Alfons von Liguori ist es heikel, die Beichtenden direkt zu fragen, wie sie mit der Frage der Familienplanung in ihrer Ehe umgehen. Das Vademekum für Beichtväter weist mit folgenden Worten darauf hin: „Die Problematik der verantwortlichen Zeugung von Nachkommenschaft stellt innerhalb der katholischen Morallehre über das Eheleben einen Themenbereich dar, dessen Behandlung einer besonderen Feinfühligkeit bedarf; dies umso mehr im Zusammenhang mit der Spendung des Sakraments der Versöhnung, in dem die kirchliche Lehre den konkreten Umständen und dem geistlichen Wachstum der einzelnen Gläubigen gegenübergestellt wird“ (Einleitung, Ziel des Dokumentes).

Andererseits haben wir mit der natürlichen Empfängnisregelung einen Weg der verantworteten Elternschaft, der durchaus lebbar ist, keine Nebenwirkungen hat, kostengünstig ist und erst noch die Ehen stabilisiert. Leider ist die natürliche Empfängnisregelung noch viel zu wenig bekannt. Aus dem Gespräch mit Frauen weiß ich, dass sie aus verschiedenen Gründen oft mit der Verhütung nicht zufrieden sind. Viele sagen oder denken: Es macht mir zwar keinen Spaß, jeden Tag künstliche Hormone zu schlucken. Aber Knaus-Ogino ist mir viel zu unsicher.

Es ist durchaus möglich, im Zuspruch der Beichte auf ein paar Fakten hinzuweisen:

• Die Methode Knaus-Ogino bzw. die Kalendermethode ist tatsächlich ziemlich unsicher. Aber sie ist heute überholt.

• Es gibt heute Methoden der Selbstbeobachtung, die mindestens so sicher sind wie alle Verhütungsmittel. Die Frauen können lernen, den eigenen Zyklus so zu beobachten, dass sie die fruchtbaren und unfruchtbaren Phasen klar unterscheiden können.

• Diese Kenntnis dient dem Ehepaar, sowohl um eine Geburt anzustreben als auch um aus ernsthaften Gründen eine Geburt zu vermeiden.

• Natürliche Empfängnisregelung ist mehr als eine Methode. Sie ist ein Lebensstil, der – wie internationale Studien gezeigt haben – die Beziehung unter den Ehepaaren verbessert und die Ehen stabilisiert. Die Scheidungsrate bei solchen Paaren ist viel geringer als bei Paaren, welche verhüten.

• Die hormonellen Verhütungsmittel sowie die Spirale können frühstabtreibend wirken, indem sie die Einnistung des Embryos verhindern.

• Bei der Verhütung wird die Fruchtbarkeit unterdrückt. Bei der Empfängnisregelung wird sie respektiert. Die Verhütung ist keine ganzheitliche Liebe. Sie sagt durch das Verhalten dem Andern: Ich liebe dich. Aber ich liebe dich nicht ganz. Deine Fruchtbarkeit lehne ich zurzeit ab. Deshalb will ich sie ausschalten. Bei der natürlichen Empfängnisregelung sagt die Liebe durch das Verhalten: Ich liebe dich so, wie du bist. Da wir zurzeit die Weitergabe des Lebens nicht verantworten können, verzichten wir auf die leibliche Vereinigung und zeigen uns unsere Liebe auf andere Weise. Hier wird die Fruchtbarkeit respektiert, wie sie vom Schöpfer mit dem Zyklus der Frau eingerichtet wurde.

• Deshalb lehnt die Kirche die Verhütung ab und empfiehlt die natürliche Empfängnisregelung.

• Es gibt bewährte Einrichtungen und auch Bücher, welche den Frauen das notwendige Wissen vermitteln können.

Ein Beichtvater muss nicht selber einen Kurs in NER erteilen können. Aber er muss das Grundprinzip kennen sowie hilfreiche Adressen bereithalten.

Was die Lossprechung bei dieser Thematik betrifft, sagt das Vademekum für Beichtväter: „Hinsichtlich der objektiv schweren Sünden ist der Beichtvater gehalten, die Beichtenden zu ermahnen und darauf hinzuwirken, dass sie beim Verlangen nach Lossprechung und Vergebung seitens des Herrn den Vorsatz fassen, ihr Verhalten zu überdenken und zu korrigieren. Die Rückfälligkeit in die Sünden der Empfängnisverhütung ist an sich kein Grund, die Absolution zu verweigern; diese kann jedoch nicht erteilt werden, wenn es an ausreichender Reue oder am Vorsatz, nicht erneut zu sündigen, fehlt“ (3.5).

e) Sexuelle Fehlformen

In die Ehepastoral hinein gehören sexuelle Fehlformen, mit denen Ehegatten manchmal zu kämpfen haben. Ich denke hier zum Beispiel an die Selbstbefriedigung, an Pornosucht sowie an das Ausleben von gleichgeschlechtlichen Tendenzen.

In diesem Bereich ist die Unterscheidung besonders wichtig zwischen objektiv schweren Sünden und subjektiven Faktoren, welche die moralische Schuld vermindern oder sogar aufheben können. Einerseits dürfen wir solche Verfehlungen keinesfalls bagatellisieren. Wir würden so nicht ernst nehmen, dass es sich um eine schwerwiegende Materie handelt. Andererseits dürfen wir nicht übersehen, dass es hier nicht selten an der vollen Erkenntnis und an der vollen Zustimmung fehlt, welche eine Todsünde charakterisieren.

Im Zuspruch betone ich jeweils, dass die Geschlechtskraft etwas Gutes und vom Schöpfer Gegebenes ist. Sie hat zwei Sinngehalte: Einmal soll sie die eheliche Liebe leiblich ausdrücken und dann hat sie den Sinn, das Leben weiterzugeben. Gerade in einer übersexualisierten Gesellschaft ist es zwar schwierig, aber umso notwendiger, im Bereich der Geschlechtskraft die rechte Ordnung zu wahren. Wer sich auf eine künftige Ehe und Familie vorbereitet, muss auch die Selbstbeherrschung lernen. Der Einsatz lohnt sich.

Weil wir so vielen stimulierenden Bildern begegnen, die uns in Versuchung führen, empfehle ich in Bezug auf den Fernseh- und Internetkonsum ein entsprechendes Fasten der Augen. Oft sind solche Süchte eine Kompensation für Frustrationen in anderen Lebensbereichen. Diese Zusammenhänge aufzudecken, kann hilfreich sein.

Bei der Selbstbefriedigung leuchtet den Beichtenden durchaus ein, dass es sich hier um einen egoistischen Gebrauch der Sexualität handelt, die doch eigentlich dazu gegeben ist, personal und ganzheitlich mit einem Du verbunden zu sein.

Das Gleiche gilt auch von der Pornosucht. Hier gebe ich jeweils auch zu bedenken, dass diese Bilder den Menschen, in der Regel die Frau in ihrer Würde verletzen. Sie Sexualität ist hier nicht mehr Sprache personaler Liebe, sondern eine Droge. Weil sie entpersonalisiert ist, braucht sie für die Befriedigung immer stärkere Reize. Beichtende, welche mit solchen Problemen zu kämpfen haben, werden wohl auch an professionelle Hilfen denken müssen. Es gibt Therapeuten und Selbsthilfegruppen, welche den Kampf gegen solche Süchte unterstützen können.

Obwohl dies nur indirekt zur Ehepastoral gehört, möchte ich etwas sagen zur Homosexualität. Denn dieses Thema kann uns durchaus auch in der Beichte begegnen. Zunächst einmal ist die Unterscheidung wichtig zwischen den mehr oder weniger tief sitzenden gleichgeschlechtlichen Neigungen und dem Ausleben dieser Neigungen. Sündhaft ist nur die praktizierte Homosexualität.

Gerade in der Beichte begegnen uns Gläubige, welche unter ihren gleichgeschlechtlichen Tendenzen eher leiden. Sonst würden sie diese in ihrem Bekenntnis wohl auch nicht erwähnen. Hier scheint es mir nicht zu genügen, wenn wir diese Personen einfach nur ermutigen, ihre Homosexualität als Kreuz anzunehmen und gegen die Versuchung zu gleichgeschlechtlichen Tätigkeiten anzukämpfen.

Es scheint mir vielmehr wichtig zu sein, das Dogma von der Unveränderbarkeit der Homosexualität in Frage zu stellen. Was die Ursachen für das Entstehen gleichgeschlechtlicher Tendenzen betrifft, gibt es keine Antworten aus dem geoffenbarten Glaubensgut. Doch die Wissenschaft ist hier zu Ergebnissen gekommen, die hilfreich sein können. Entgegen der Propaganda der Schwulen-Bewegung können gleichgeschlechtliche Tendenzen sehr komplexe Ursachen haben. Der Mensch ist hier viel weniger festgelegt, als manche glauben möchten. Es gibt starke Indizien, dass die Homosexualität weniger eine Frage der Sexualität ist als eine Frage der Identität. Gleichgeschlechtliche Tendenzen können darauf hinweisen, dass es der betroffenen Person noch nicht gelungen ist, ihre Identität als Mann oder als Frau zu finden. Homosexualität wäre in dieser Betrachtungsweise der Versuch einer Identitätsbildung am falschen Objekt. Bestätigt werden solche Theorien durch den Erfolg von entsprechenden therapeutischen Ansätzen. Die Unveränderbarkeit der Homosexualität ist bereits vielfach widerlegt worden.

Das heißt für den Zuspruch in der Beichte: Ich kann einem Gläubigen, der unter seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen leidet und motiviert ist, den Ursachen auf den Grund zu gehen, Hoffnung auf eine Veränderung machen. Er muss allerdings selber sehr motiviert und bereit sein, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Erfolgsraten sind vergleichbar mit anderen Therapien: 1/3 kann eine Veränderung erfahren, 1/3 kann die Situation verbessern und zum Beispiel einen promiskuitiven Lebensstil aufgeben, 1/3 bleibt unverändert. Es geht hier selbstverständlich nicht darum – wie die gegnerische Propaganda behauptet –, jemanden gegen seinen Willen „umzubeten“. Sondern es geht um das Recht auf Hilfe für Menschen, die unter ihren gleichgeschlechtlichen Tendenzen leiden.

f) Hinweis auf kirchenrechtliche Hilfen

Kehren wir wieder zur Ehepastoral im engeren Sinn zurück. In den Zuspruch der Beichte hinein gehört bei Eheschwierigkeiten für mich auch der Hinweis, dass jeder Ehegatte das Recht hat, seine Ehe auf ihre kirchenrechtliche Gültigkeit hin zu überprüfen.

g) Getrennt, geschieden und wiederverheiratet

Getrennte, Geschiedene und Wiederverheiratete sollen im Sinn von Papst Johannes Paul II. eine besondere Seelsorge erhalten – eine Seelsorge nach dem Herzen Jesu. Die meisten Menschen, die heiraten, möchten eine dauerhafte und liebevolle Lebensgemeinschaft begründen. Erhebliche Schwierigkeiten in der Ehe, die Trennung und Scheidung sind im Allgemeinen sehr belastende Erfahrungen für alle Betroffenen. Sie sind mit Schuld und vielen Schuldgefühlen verbunden.

Getrennten und Geschiedenen pflege ich zu sagen: Sie leben die Treue auf Distanz. Damit geben Sie ein wichtiges Zeugnis für die Unauflöslichkeit der Ehe. Die Kirche ist für dieses oft unter schwierigsten Umständen gelebte Zeugnis sehr dankbar. Ich zeige auch Verständnis für die Not des Alleinseins und die Schwierigkeiten im Verhältnis zu den Kindern. Ich lade sie ein, sich mit Jesus am Ölberg zu verbinden, der auch von seinen Jüngern allein gelassen wurde. Geschiedene meinen gelegentlich, sie seien von der Kommunion ausgeschlossen. Diesen kann man sagen, dass sie zur Kommunion gehen dürfen, wenn sie entsprechend disponiert sind. Gerade in dieser schwierigen Situation möchte Jesus ihnen nahe sein. Aus der Erfahrung von Betroffenen weiß ich, dass Trennung und Scheidung eine Chance sein können, die Beziehung zu Jesus zu vertiefen.

Selten kommen Geschiedene, die wieder in einer neuen Beziehung leben, zur Beichte. Ihnen müssen wir erklären, was es bedeutet, in einer irregulären Situation zu sein. In seinem Schreiben Familiaris consortio spricht Johannes Paul II. ja nicht mehr von einem „Leben im Zustand schwerer Sünde“, sondern von irregulären Situationen. Damit trägt er der Verschiedenheit der persönlichen Lebensgeschichten und Verantwortlichkeiten Rechnung und vermeidet ein Urteil über die subjektive Schuld der betroffenen Personen. Wir müssen betonen, dass auch die Wiederverheirateten zur Kirche gehören. Sie haben Rechte und Pflichten, vor allem auch das Recht auf eine besondere Seelsorge. Weil sie in einem ganz wichtigen Punkt den Willen Jesu nicht mehr oder besser: noch nicht erfüllen, können sie zurzeit die Sakramente nicht empfangen. Durch ihre Lebensweise geben sie ein Gegenzeugnis in Bezug auf die Treue Jesu bis zum Tod am Kreuz. Die Eucharistie ist selbst ein hochzeitliches Geheimnis zwischen dem Bräutigam Christus und seiner Braut, der Kirche. Das Ein-für-alle-Mal dieses Jawortes wird im Leben der wiederverheirateten Geschiedenen geleugnet. Wir werden aber auch sagen, dass Gott immer Wege findet in die Herzen der Gläubigen, die ihn suchen, auch wenn sie nicht sichtbar die Sakramente empfangen können. In einem solchen Gespräch kann allenfalls auch eine deprekative, sorgfältig formulierte Vergebungsbitte gesprochen oder gemeinsam das Vaterunser gebetet werden.

Der Zeitrahmen einer Beichte ermöglicht nur wenige Hinweise. Diese werden der Komplexität solcher Lebens- und Ehegeschichten in der Regel nicht gerecht. Deshalb weise ich auf seelsorgliche Angebote für Getrennte, Geschiedene und Wiederverheiratete hin, wie sie z. B. in den letzten Jahren hier im Dreiländereck entstanden sind:

• auf die Oase der Barmherzigkeit bisher im Kloster Mariastern in Gwiggen und jetzt im Kloster St. Josef in Lauterach in Vorarlberg,

• auf die Gruppe Magnificat, die sich regelmäßig hier in Wigratzbad, aber auch in Augsburg und im Kloster Brandenburg trifft.

Diese Gruppen helfen, den Betroffenen, den eigenen Glauben zu vertiefen und die Lehre der Kirche in Bezug auf Ehe und Familie besser zu verstehen. Sie werden ermutigt, ihren Platz in der Kirche, ja ihre eigene Berufung zu entdecken. Die Pflege von guten Freundschaften soll das menschliche Alleinsein lindern. Ein wichtiges Thema ist die Verarbeitung des Scheiterns der eigenen Ehe. Damit verbunden sind wichtige Prozesse des Vergebens und wenn möglich der Versöhnung. Manche der wiederverheirateten Geschiedenen können nach einem längeren Glaubensweg ihre Situation ändern, indem sie sich trennen oder wie Bruder und Schwester zusammenleben. Dann ist der Weg zu den Sakramenten wieder offen. Wichtig für die Betroffenen ist das Angebot zum seelsorglichen Gespräch außerhalb des Beichtsakramentes.

Zusammenfassung

Der Zuspruch bei der Beichte ist ein wichtiger Ort für die Ehepastoral. Er soll so gut als möglich genutzt werden, gerade weil die Ehepastoral in den Pfarreien noch ungenügend entfaltet ist. Er soll genutzt werden, auch wenn es nur relativ wenige sind, die den Weg zum Sakrament der Versöhnung finden. Die Verkündigung in Predigt und Katechese richtet sich immer an alle Anwesenden. Der Zuspruch in der Beichte kann sich ganz einstellen auf die persönliche Situation des Pönitenten und dessen konkrete Fragen beantworten.

Es gibt gewisse Schwierigkeiten für den Zuspruch: die relativ knappe Zeit, die in der Regel zur Verfügung steht, die Schwierigkeit, intime Dinge anzusprechen und die Uneinigkeit unter den Seelsorgern in Fragen der Ehemoral.

Dennoch ist der Zuspruch eine Chance. Er gibt die Möglichkeit, an die Schönheit der kirchlichen Lehre und der Berufung von Ehe und Familie zu erinnern. Wertvolle Hinweise und Erfahrungen können weitergegeben werden. Immer wird es darum gehen, die Eheleute zu ermutigen, aus dem Sakrament der Ehe zu leben, auch wenn es ein schwieriger Weg ist. Ein Weg, der nicht am Kreuz vorbeigeht. Ein Weg aber, der aus der tiefen Freundschaft mit Jesus Kraft schöpft. Die christliche Ehe ist sehr anspruchsvoll, aber sie hält auch außergewöhnliche Hilfen bereit in den verschiedenen Gnadenmitteln. Mit Recht betont das Vademekum für Beichtväter, dass auch die Vaterschaft und die Mutterschaft, gelebt unter den persönlichen und sozialen Umständen, ein Weg zur Heiligkeit sind (1. Heiligkeit in der Ehe, vgl. auch 3.6).

Wichtig ist, dass wir das Gesetz der Gradualität beachten. Dieses besagt nicht, dass wir den Anspruch Jesu in Bezug auf die Ehe relativieren. Nein, der Anspruch bleibt bestehen. Aber wir stellen uns darauf ein, dass die Gläubigen diesem Anspruch nicht auf Anhieb Genüge leisten können. Wir müssen uns auf einen längeren Weg der Begleitung einstellen, wo es Fortschritte und Rückschritte geben kann. Die Umkehr geschieht meistens nicht in einem einzigen Moment. Oft ist eine Ehe ja auch belastet durch viele Verletzungen, die Zeit brauchen für die Heilung. Das Vademekum für Beichtväter sagt, es gehe darum, „alle Menschen schrittweise auf dem Weg zur Heiligkeit vorankommen zu lassen“. (3.1) Der Zuspruch in der Beichte findet seine Vollendung im Zuspruch der vergebenden und heilenden Liebe unseres Herrn Jesus Christus.

Die geistliche Begleitung

Dr. Carlos Encina Commentz betrachtet die geistliche Begleitung als einen äußerst wertvollen Dienst an den Menschen in unserer schnelllebigen Zeit. Die Gläubigen brauchen Orientierung und nehmen sie gerade im Rahmen des persönlichen Gesprächs dankbar an. Früher wurde es Seelenführung genannt, heute spricht man von „geistlicher Begleitung“. Sie stellt an den Priester bzw. Seelsorger hohe Anforderungen. Don Carlos, der an der Apostolischen Pönitentiarie in Rom tätig ist, stellt in seinem Beitrag die entscheidenden Merkmale einer guten geistlichen Begleitung heraus. Es handelt sich um den Auszug aus einem Vortrag auf der III. Pastoralen Fortbildung für Beichtväter in Wigratzbad am 19. Januar 2011.

Von Carlos Encina Commentz, Rom

Das Zweite Vatikanische Konzil hat eine Tatsache hervorgehoben, die bisher kaum rezipiert worden ist. Das fünfte Kapitel der dogmatischen Konstitution über die Kirche ist überschrieben mit: „Die allgemeine Berufung zur Heiligkeit in der Kirche“. Gerade in unserer Zeit fehlen Heilige und das letzte Konzil ermahnt uns, an dieses Ziel unseres Lebens, die Heiligkeit, zu denken. So heißt es in Nummer 39: „Daher sind in der Kirche alle, mögen sie zur Hierarchie gehören oder von ihr geleitet werden, zur Heiligkeit berufen gemäß dem Apostelwort: Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung (1 Thess 4,3; vgl. Eph 1,4). Diese Heiligkeit der Kirche tut sich aber in den Gnadenfrüchten, die der Heilige Geist in den Gläubigen hervorbringt, unaufhörlich kund und muss das tun“ (LG, 39).

Die Geistliche Begleitung – oder früher auch Seelenführung genannt –, ist jenes Mittel, das uns hilft, die Geister zu unterscheiden, um auf dem Weg zur Heiligkeit vorangehen zu können. Niemand ist sich selbst ein guter Richter, schon allein deswegen nicht, weil wir nur eine begrenzte Wahrnehmung haben. Auch ein Arzt kann sich – wenigstens bei schwerwiegenderen Problemen – nicht selber helfen, er braucht einen anderen Arzt. Dies wird im geistlichen Bereich umso notwendiger, wenn man bedenkt, dass man es mit einer geistigen Realität zu tun hat. Daher ist eine geistliche Begleitung nicht nur wichtig, sondern dringend angeraten.

Funktionen von geistlicher Begleitung

Dem geistlichen Begleiter kommt in gewissem Sinn die Aufgabe des Beraters zu, seine Aufgabe ist pastoral. Er orientiert jemanden, damit er auf dem Weg des Evangeliums voranschreitet. Früher verlangte man absoluten Gehorsam von seinen „geistlichen Kindern“, von diesem Prinzip ist die Kirche abgerückt. Jeder ist für sein eigenes Leben verantwortlich und muss es leben. Dem geistlichen Begleiter kommt daher eine beratende Funktion zu, die sich auf die Lehre der Kirche stützen muss und voraussetzt, dass er die Geister zu unterscheiden weiß.

1. Unterscheidung und Entscheidungsfindung

Eine erste Funktion ist die Entscheidungsfindung/Unterscheidung. Der geistliche Begleiter entscheidet nicht für den Begleiteten, aber er hilft ihm durch seine Erfahrung, die richtige Entscheidung zu treffen. Er betrachtet und bewertet die Qualitäten und Eigenschaften des Begleiteten und er versucht, es nach dem Willen Gottes zu orientieren. Es ist nicht immer leicht, den Willen Gottes zu erkennen, gerade weil der Teufel der Vater der Lüge und Verwirrung ist. Ein Begleiteter kann sich beispielsweise vor verschiedenen Alternativen befinden, und nicht wissen, welche Option die richtige ist. Manche Menschen sind völlig davon überzeugt, dass sie einen bestimmten Weg einschlagen müssen, und doch kann es sein, dass dieser Weg nicht der Weg Gottes ist. Es gibt Menschen, die 200% davon überzeugt sind, dass sie zum Priestertum berufen sind und das Priestertum wie ein Recht betrachten, was ihnen nun zustünde. Diese Menschen sind normalerweise nicht zum Priestertum berufen, sie unterliegen einer Täuschung. Deswegen ist die Hilfe eines geistlichen Begleiters gerade für eine solche Entscheidung von großer Wichtigkeit. Wenn der geistliche Begleiter merkt, dass der ihm Anvertraute für das Priestertum nicht geeignet ist, sollte er es ihm ehrlich sagen. Es gilt die Wahrheit zu tun und diese Wahrheit ist das Licht Christi, die jede Dunkelheit erleuchtet.

2. Kontrolle

Eine zweite Funktion der geistlichen Begleitung ist eine gewisse Kontrolle. Dabei geht es natürlich nicht um eine Art „Alkoholkontrolle“, wie sie die Polizei vornimmt. Der geistliche Begleiter ist kein Polizist und erstellt keine Strafzettel. Um aber dem Begleiteten wirklich Orientierung bieten zu können, muss er wissen, wie treu er die abgesprochenen geistlichen Übungen erfüllt. So wie ein Arzt nur dann neue Medizin verschreiben kann, wenn er sicher ist, dass die bisherige keine Wirkung hatte, und deswegen wissen muss, ob der Patient die Medizin genommen hat, so auch der geistliche Begleiter. Dabei ist absolute Offenheit und Ehrlichkeit von allergrößter Bedeutung, sonst macht die geistliche Begleitung keinen Sinn. Wenn jemand, damit der geistliche Begleiter nicht schlecht von einem denkt, nur die Hälfte berichtet oder andere Dinge unterschlägt, wird das geistliche Gespräch nichts nützen, sondern sogar Schaden verursachen. Es ist die Menschenfurcht, die viel zerstören kann. Man ist ja ohnehin im Forum Internum, daher sollte man diesen „Schutz“ auch nutzen, um in großer Einfachheit und Ehrlichkeit die Dinge wirklich beim Namen zu nennen. Was nützt es, wenn jemand beispielsweise dem geistlichen Begleiter anvertraut, er habe ein Problem mit der Keuschheit, aber zugleich verschweigt, dass er regelmäßig „schlechte Filme“ per Internet anschaut? Da kann der geistliche Begleiter die besten Ratschläge erteilen, sie werden nichts nützen. Von daher wird verständlich, was ich zuvor mit „Kontrolle“ umschrieben habe. Diese Kontrolle kostet Überwindung, garantiert aber auch ein Vorankommen, wenn sie als solche angenommen wird.

Von Seiten des geistlichen Begleiters ist es klug, auch mal nachzufragen, ohne dass er dabei neugierig werden sollte. Die Begleiteten sind nicht immer Experten im geistlichen Leben, der geistliche Begleiter sollte es hingegen sein und wissen, wann er welches Thema anspricht.

Es wäre nutzlos und Zeitverschwendung, wenn man sich nur über das Wetter unterhalten würde. Wenn ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden besteht, dann empfiehlt es sich, zunächst die geistliche Begleitung zu haben und diese dann abzuschließen, dann erst über andere Dinge zu reden. Der Unterschied sollte eindeutig markiert werden. Wenn also von Kontrolle die Rede ist, dann setzt sie Klugheit und Taktgefühl voraus. Je größer aber die Offenheit von Seiten des Begleiteten, desto mehr kann der geistliche Vater hilfreich orientierend zur Seite stehen, ihn ggf. auch korrigieren. Wenn der Begleitete gewisse Fortschritte macht, ist es gut, ihn auf diesem Weg zu ermutigen. Ich sage ermutigen und nicht schmeicheln.

Der Heilige Geist kann sich auch durch den geistlichen Begleiter offenbaren, denn – wie bereits gesagt – niemand ist sich selbst ein guter Richter. Auf der anderen Seite darf man keineswegs die Stimme des Heiligen Geistes mit der des geistlichen Begleiters gleichsetzen.

3. Doktrinelle Orientierung

Eine dritte Funktion der geistlichen Begleitung ist die doktrinelle Orientierung. Es ist wichtig, dass der Begleitete wirklich auf Fels baut und nicht auf Sand. Im Hebräerbrief heißt es: „Ohne Glauben aber ist es unmöglich, (Gott) zu gefallen; denn wer zu Gott kommen will, muss glauben, dass er ist und dass er denen, die ihn suchen, ihren Lohn geben wird“ (Hebr 11,6). Wenn es doktrinelle Unklarheiten gibt, kann das große Probleme nach sich ziehen. Es gibt Menschen, die geneigt sind, ihr geistliches Leben nur auf Privatoffenbarungen aufzubauen. So wichtig diese auch sein können, so gefährlich können sie auch sein. Von daher ist es von großer Wichtigkeit, fest auf dem Boden der Lehre der Kirche zu stehen, um zu verhindern, vom rechten Weg abzudriften. Natürlich gibt es auf der anderen Seite auch die Gefahr des Subjektivismus. Man hat von diesem oder jenem Theologen diese oder jene Meinung gehört, usw. Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen. Dieser Glaube ist aber der Glaube der Kirche und danach muss ein geistlicher Begleiter sich richten. Er braucht nichts zu erfinden, er muss sich aber auf das stützen, was die Kirche sagt. Ein geistlicher Begleiter, der das geistliche Gespräch nutzt, um über das Lehramt Zweifel zu streuen und sich über den Papst und dessen lehramtliche Aussagen hinwegzusetzen, kann keine Orientierung bieten. Als grundlegendes Kriterium für die rechte Lehre hat der Papst zur Schließung des Priesterjahres den Katechismus der Katholischen Kirche oder das Compendium empfohlen.

Merkmale einer guten geistlichen Begleitung

• Der Dienst der geistlichen Begleitung sollte von einer Haltung der Demut getragen werden. Es ist wirklich ein Dienst.

• Der geistliche Begleiter soll mit ehrlicher Absicht den Herrn bitten, dass er dem Begleiteten wirklich helfen und dienen kann.

• Der Dienst der geistlichen Begleitung zielt nicht auf den eigenen Nutzen oder auf eigene Vorteile, darüber habe ich schon zuvor eine Bemerkung gemacht. Jede Seele gehört Gott, man selber ist Werkzeug, um sie näher zu Gott zu führen.

• Gewöhnlich besteht zwischen geistlichem Begleiter und Begleitetem eine gewisse Sympathie oder Freundschaft. Aber gleichzeitig muss man aufpassen, keine falschen Zugeständnisse zu machen, die der Objektivität abträglich wären und Schaden anrichten könnten.

• Wenn es angebracht ist, dann kann man dem Begleiteten auch per Telefon oder Brief etwas mitteilen. Mit E-Mail sollte man sehr vorsichtig umgehen, weil es nicht sehr zuverlässig geschützt ist.

Der geistliche Begleiter muss nicht unbedingt tugendhafter als die ihm anvertraute Person sein, denn es kommt auch nicht selten vor, dass der geistliche Begleiter vom Begleiteten etwas lernt. Der geistliche Begleiter sollte eine kluge und ausgewogene Persönlichkeit haben, ohne zu impulsiven Reaktionen zu neigen. Dazu gehört eine gewisse Objektivität. Daher muss er sich vor falscher Vertraulichkeit oder Nachgiebigkeit hüten, die abträglich wäre.

Es ist manchmal nicht leicht, einen geeigneten geistlichen Begleiter zu finden, der diese Voraussetzungen erfüllt. Unverzichtbar sollte auf jeden Fall seine Loyalität zur Lehre der Kirche sein, eine gewisse Erfahrung, so wie ein solides christliches Leben und eine psychologisch ausgeglichene Persönlichkeit.

Haltung des Begleiteten

Dafür sind zwei Dinge absolut notwendig: Vertrauen und Aufrichtigkeit. Wenn diese zwei Haltungen nicht vorhanden sind, wird die geistliche Begleitung unwirksam und auch schädlich. Warum? Weil man eine Situation schafft, die der Wahrheit nicht entspricht. Die Wahrheit zu verbergen, würde bedeuten mit dem Teufel zu spielen, der der Vater der Lüge ist. Wenn ein Begleiteter sein Vertrauen in seinen geistlichen Begleiter verliert, ist für ihn die Zeit gekommen, einen anderen zu suchen. Es hat keinen Sinn, bei ihm zu bleiben und eine geistliche Begleitung „zum Schein“ zu haben.

Themen, die zur geistlichen Begleitung gehören:

Manche Menschen wissen nicht, worüber sie in der geistlichen Begleitung sprechen sollen. Ich werde einige Themen nennen, die zur geistlichen Begleitung dazugehören:

o               Treue zur Betrachtung;

o               Treue zur vollständigen Verrichtung des Stundengebetes;

o               Treue in den geistlichen Übungen;

o               Tägliche Feier der Heiligen Messe, Vorbereitung und
                 Danksagung;

o               Rosenkranz, andere Gebete, Sakramente und Sakramentalien;

o               Häufigkeit der Beichte;

o               Lektüre, die uns geistlich bereichern kann;

o               Die Keuschheit;

o               Tugend des Glaubens, Glaubensvertiefung, usw.

o               Hoffnung;

o               Tagesablauf, Aufstehen, Schlafengehen, hinreichende Erholung;

o               Mäßigkeit beim Essen und Trinken; 

o               Gebrauch von Fernsehen, Internet;

o               Wie man mit den Einkommen und Auskommen umgeht;

o               Ordnung in der Verwaltung der Güter der Institution, die uns
                 anvertraut wird;

o               Pflege der Gesundheit: wie wir essen u. wie wir den
                Anweisungen des Arztes folgen;

o               Planung des Apostolats;

o               Caritative Beschäftigung, in Worten und Taten;

o               Hauptdefekt und Laster: Welchen Hauptdefekt haben wir?
                 Ist es die Trägheit, die Unpünktlichkeit, der Egoismus,
                 Aggressivität, Unfreundlichkeit, Mangel an Seeleneifer,
                 Bequemlichkeit, Mangel an Bereitschaft zum Dienen, Kritik
                 an den Oberen oder Mitbrüdern, klerikaler Neid, Affektivitäts-
                 probleme, schlechtes Beispiel, unmäßige Bevorzugung der
                 eigenen Familie oder Verwandtschaft, Suche nach Lob und
                 Anerkennung, Sorge um Vergütung unseres priesterlichen
                 Dienstes, Stolz, Eitelkeit, usw.?

Dies ist keine vollständige Auflistung jener Punkte, über die wir in der geistlichen Begleitung sprechen können und sollen. Es ist dabei wichtig, dass der geistliche Begleiter unseren Hauptdefekt und auch unsere Stärken kennt, um uns besser orientieren zu können.

Auch der geistliche Begleiter sollte sich regelmäßig einer Gewissenserforschung unterziehen, um zu sehen, in wie weit er wirklich Instrument der Gnade Gottes ist. Dazu können folgende Fragen dienen, mit denen ich auch diesen Vortrag schließen möchte:

• Respektiere ich die Freiheit der mir Anvertrauen, oder laufe ich Gefahr, meine Meinung an die Stelle des Willens Gottes zu setzen?

• Lasse ich mich von Sympathien oder Abneigungen den mir Anvertrauten gegenüber leiten?

• Helfe ich den mir Anvertrauten, zu entscheiden, oder neige ich dazu, meine Meinungen durchzusetzen?

• Lasse ich den mir Anvertrauten die Freiheit, bei anderen geistliche Beratung einzuholen?

• Wenn ich merke, dass ich jemandem nicht helfen kann, bin ich ehrlich genug, dies auch zu sagen?

• Bete ich oft für die mir anvertrauten Personen?

• Nehme ich Geschenke an, die in keiner Proportion stehen?

• Bin ich zu nachgiebig und oder pflege ich eine falsche Vertraulichkeit?

Wer sich nach diesen Anhaltspunkten richtet, der kann wirklich zum Segen für Andere werden und die Gnade Gottes fruchtbar werden lassen.

Dazu möchte ich noch einen weiteren Punkt anfügen, gerade im Hinblick auf die Missbrauchsdebatten. Sie sollten eine große Klugheit pflegen, wie schon oft erwähnt. Diese sollte sich auch in der Wahl des Ortes widerspiegeln. Wenn jemand beispielsweise einen Jugendlichen oder eine Frau geistlich begleitet, dann empfehlen sich Orte mit Glastür, die von außen einsehbar sind. In den USA ist das sogar die Vorschrift für Priester. Hier ist äußerste Vorsicht geboten, um ggf. sehr große Probleme zu vermeiden.

In schnelllebigen Zeiten wie den unsrigen brauchen viele Menschen Orientierung und Hilfe. Gerade uns Priestern ist die Sorge um die Herde Gottes anvertraut und die geistliche Begleitung ist ein Mittel, um Orientierung und Hilfe zu gewähren, dazu kann ich Sie nur ermutigen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Nachfolge Christi

Pater Notker Hiegl OSB ist mit dem Betrachtungsbuch „Die Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen aufgewachsen. Als er 1964 in das Benediktinerkloster Beuron eintrat, durfte er drei persönliche Bücher mitbringen. Er entschied sich damals für seine „Bibel“, für die „Geschichte einer Seele“ (Theresia vom Kinde Jesu) und eben für „Die Nachfolge Christi“. P. Hiegl sieht in dem Buch aus dem 15. Jahrhundert eine Goldgrube, die es gerade heute wieder für die Formung eines geistlichen Lebens zu entdecken gilt.

Von Notker Hiegl OSB

Ein Bestseller durch sieben Jahrhunderte

Die „Nachfolge Christi“ ist nach der Bibel das am häufigsten gedruckte und übersetzte christliche Werk, wohl der ganzen Welt-Literatur. Es gibt weit über 3000 Ausgaben dieses Buches, jedes mit vielen Auflagen, Hunderte von Übersetzungen, Dutzende auch in deutscher Sprache: im katholischen wie auch im protestantischen, besonders im pietistischen Glaubensbereich. Es gibt auch eine ganze Reihe von dichterischen Bearbeitungen dieses Buches. Die ältesten Ausgaben reichen in die Anfänge der Buchdruckerkunst. Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, Einzelbuchstaben, um 1397-1468, stammte aus dem Mainzer Patriziergeschlecht der Gensfleisch. Seine Erfindung überwand das mühsame Von-Hand-Abschreiben literarischer Werke und ermöglichte die serienmäßige Herstellung von Büchern in kürzester Zeit. Ein Vorteil auch für die rasche Verbreitung der Heiligen Schrift während der Reformationszeit. In dieselbe Zeit des Beginns der Buchdrucker-Kunst reichen auch die ersten Druck-Ausgaben der „Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen, ebenfalls serienmäßig verbreitet, nachdem bereits im Jahre 1434 deutsche Übersetzungen veröffentlicht worden waren, welche auch die Laien lesen konnten, die nicht des Lateins kundig waren wie die Priester und die Mönche.

Von großen Persönlichkeiten geschätzt

Zu allen Zeiten hat es begeisternde Lobredner gefunden. Der große franz. Dichter Pierre Corneille, 1606-1684, Herausgeber bekannter Dramen (Cicero, Horaz, Cinna u.a.) hat es in poetischer Fassung ediert und sagte von ihm: „Die Nachfolge Christi ist das schönste Buch, das je aus einer Menschenhand kam, denn das Evangelium kam nicht aus Menschenhänden (sondern durch Gottes Geist inspiriert).“ Nicht anders dachte Gottfried Wilhelm v. Leibniz, der universalste Geist des 17. Jahrhunderts, 1646-1716. Als gläubiger evangelischer Christ, sich für politischen und konfessionellen Frieden einsetzend, war sein Ziel eine Kirchenunion zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen. Zum Büchlein von Thomas v. Kempen sagte er: „Die Nachfolge Christi ist eines der vortrefflichsten Werke, die je verfasst worden sind. Selig, wer nach dem Inhalt dieses Buches lebt und sich nicht damit begnügt, das Buch nur zu bewundern.“ Der großartige Regensburger Bischof Johann Michael Sailer, 1751-1832, der die innere Erneuerung des deutschen Katholizismus gegen die Aufklärung und den Rationalismus förderte, schätzte „Die Nachfolge Christi“ so, dass er dies „Feuer- und Glut-Buch“ – jedem in seinem lieben deutschen Volke – zugänglich machen wollte. Darum hat dieser Vorbereiter der Romantik es selbst aus dem lateinischen Urtext ins Deutsche seiner Zeit übersetzt, damit es ja allen Gottsuchern zur reichen Frucht werden könne. Die großen Christen all dieser Jahrhunderte, bis hin zu Dag Hammarskjöld haben dieses Trost- und Betrachtungsbuch geschätzt.

Der Augustiner-Chorherr Thomas von Kempen

Um 1380 wurde er in Kempen geboren, sein bürgerlicher Name: Thomas Hemerken (Hämmerchen). Mit 19 Jahren fand er Aufnahme im augustinisch geprägten Haus der Brüder vom Gemeinsamen Leben. Im Jahr 1406 wurde er dort als Augustiner-Chorherr mit fester Bindung eingekleidet, sieben Jahre später erhielt er die Priesterweihe, 1425 und 1447 war er Subprior desselben Klosters, in dem er 72 Jahre lebte. Hier verfasste er auch die „Nachfolge Christi“ (De imitatione Christi). Sie sollte das nach der Bibel meistgelesene Buch des Spätmittelalters werden. Lange Zeit jedoch war seine Urheberschaft umstritten, heute allgemein anerkannt. Er schrieb auch andere Werke, die zeitweise große Bedeutung erlangten, wie die Vita Gerhard Grootes, eines niederländischen Bußpredigers und Mystikers, 1340-1384, der der Begründer der Fraterherren war, einer einflussreichen, religiösen Brudergemeinschaft ohne Gelübde, oder eine Chronik von seinem Kloster Agnetenberg. Daneben verfasste er zahlreiche historiografische, biografische und asketische Schriften. Er war also wirklich kein „unbedarfter, weltfremder Träumer“. Seine Tätigkeit als Komponist und Dichter von Liedern wird ähnlich wie bei einem Hermannus Contractus auf der Reichenau von Befürwortern angenommen, von Skeptikern bezweifelt. Am 25. Juli 1471 starb er im Kloster Agnetenberg bei Zwolle im Alter von 91 Jahren. Im Jahre 2006 wurden seine Reliquien in die Basilika U. L. Frau in Zwolle übertragen.

Die „Devotio moderna“, die Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts

Das Buch „De imitatione Christi“ ist das bedeutsamste Werk der „Devotio moderna“, der Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts. Eine Anleitung zur christlichen Nachfolge, die gesamte „Devotio moderna“ im je eigenen Alltag, geltend im katholischen wie reformatorischen Bereich der Gläubigen, nicht nur für Asketen oder für Mönche und Nonnen mit Gelübden, der Beginen und Begarden, der weiblichen wie männlichen Genossenschaften der damaligen Zeit ohne Profess-Ablegung, sondern auch für Männer und Frauen „draußen lebend in der Welt“, für Groß und Klein, für Arm und Reich, für Jung und Alt. Die Mystik der damaligen Zeit ruft auf zu Demut, Friedfertigkeit, Einfalt und Leidensbereitschaft, welches wiederum die christliche Seele auf dem Weg der Heiligung und zur Gemeinschaft mit Gott fördert. Es sind keine spekulativen Aussagen der Philosophie und der Theologie, viel tiefer und schöner: Erfahrungen der christlichen Seele in der Nachfolge des Herrn, der den Weg hinaufgeht nach Golgatha. Wie das Herz tiefer empfindet, als der Verstand durchleuchtet, so steht die Mystik über der Logik und dem nüchternen „Für-Wahr-Halten“. Tragender Gedanke aller inneren Versenkung ist der Rat der Selbstaufgabe, um eins zu sein mit Ihm. Das Leben in Jesus Christus ist das höchst mögliche Studium für den Christen. Christus ist mehr als alle Weisheit. In Seiner Umarmung ist Nähe und Freude, selbst in der Erfahrung von Ferne und Leere.

Das Wesen der christlichen Mystik

Die christliche Mystik ist die im rein Geistigen der Seele sich vollziehende bewusste Erfahrung der Gegenwart und Wirksamkeit Gottes. Man spricht von eingegossener Beschauung und geistlicher Vermählung. Der Mystiker ist der damit Begnadete. Die Seele verhält sich mehr passiv. Doch gibt es vorbereitende Stufen: den Weg der Reinigung vom Sündhaften und den Weg der Erleuchtung, dem Fortschritt in den Tugenden und im Gebet bis zur erhaltenen Beschauung. Nun: Privatoffenbarungen, Visionen (in denen natürlicherweise unsichtbare und unhörbare Objekte – Gott, Engel, Menschen in eschatologischen Zuständen, vergangene und zukünftige Ereignisse – auf übernatürliche Weise sinnenfällig und gegenwärtig erkannt werden), Ekstase (der körperlich-seelische Ausnahmezustand der Verzückung mit außerordentlichen Erlebnissen), Stigmatisation (das spontane Auftreten der Leidensmale Christi am Leib lebender Personen in außergewöhnlicher Passionsmystik; erster sicherer Fall von Stigmatisation ist der hl. Franz von Assisi) – all das kann mit Mystik verbunden sein, ist aber nicht wesentlicher Bestandteil der mystischen Brautschaft des Herzens mit dem Seelen-Bräutigam Jesus Christus. Die Unterscheidung zwischen echter und unechter Mystik ist äußerst schwierig. Darum ist die katholische Kirche bei dieser Thematik verständlicherweise bis zum heutigen Tag sehr zurückhaltend.

Wo Herz und Himmel sich berühren

Das gibt es! Es gibt viel mehr Dinge zwischen Erd und Himmel, wie wir es uns vorzustellen vermögen. In welcher Intensität und in welcher Form, das sei dahingestellt. Wo Natur und Übernatur sich überkreuzen, das ist für einen Außenstehenden kaum verifizierbar. Beispiele leuchtender Mystik sind das ältere Mönchtum (die ersten drei Jahrhunderte), Ephräm der Syrer (4. Jh.), Bischof Augustinus von Hippo (354-430), Bernhard von Clairvaux (1090-1153), Franziskus von Assisi (1181-1226), Mechthild von Magdeburg (1210-1282), Meister Eckehart von Hochheim (1260-1327), Heinrich Seuse von Konstanz (1295-1366), Gerhard Groote (1340-1384), Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591), Maria Margarethe Alacoque (1626-1690) – um nur einige aus der großen Zahl der Begnadeten im Lauf der Kirchengeschichte hervorzuheben. Auch im protestantischen Bereich und vor allem auch im orthodoxen Starzentum, dem ostkirchlichen Mönchtum, gibt es all die Jahrhunderte leuchtende Beispiele inniger, mystischer Herzensverbindung mit dem Herrn, welche die Loslösung von der „vergänglichen Welt“ hin zur alles übersteigenden Herzens-Liebe zu Christus lehrten und lebten. Von orthodoxer Seite möchte ich hier die Mönche auf dem Berg Athos erwähnen, von evangelischer Seite Paul Gerhardt („O Haupt voll Blut und Wunden“, 1607-1676) und Gerhard Tersteegen („Ich bete an die Macht der Liebe“, 1697-1769) und Sören Kierkegaard (1813-1855).

Die vier Bücher der „Nachfolge Christi“

Natürlich ist die „Nachfolge Christi“ ein einziges Werk, in sich aber in vier Bücher aufgeteilt. Buch „1“ leitet den Anfänger zum christlichen Leben an, Buch „2“ handelt von den Grundtugenden für ein Leben in der Nachfolge Christi. Buch „3“, das größte von allen, beleuchtet den Trost, den der Christ durch den Umgang mit Christus empfängt, und Buch „4“ lässt eucharistische Betrachtungen und Gebete aufblühen. Das Buch insgesamt gibt Ratschläge zur Lektüre der Bibel, zur Unterwerfung unter geistliche Obere, Warnungen gegen Versuchungen und wie man ihnen widerstehen kann, Reflexionen über den Tod und das Jüngste Gericht, Meditationen über die Hingabe an Christus und Ermunterungen, den Eitelkeiten der Welt zu entfliehen. Christus ist mehr als alles Andere, Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Was suchen doch heute viele Christen an vorder- und hinterasiatischen Quellen zu trinken, und übersehen diese europäische Quelle mit heilendem Wasser, entgegengesetzt der medialen Reizüberflutung durch Handys, Telefon, Fernsehen, E-Mails und Internet. Dieser stete Aktivismus, um zu zeigen, dass man jemand ist, dass man es zu etwas gebracht hat – hier bei dieser Quelle kehrt innere Ruhe ein. „Die Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen verhilft zur Besinnung für die wahren, ewigen Werte, die jede weltliche Freude weit übertrifft wie der Berggipfel das niedere Tal.

Ein Navigator für den Aufstieg ins Ewige Reich

Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, Gott zu lieben, ihm zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen. So begann die Antwort des früheren katholischen Katechismus auf die Frage eins: „Warum sind wir auf Erden?“ Die Nachfolge Christi gibt die navigatorischen Hinweise, wo wir nach rechts, wo wir nach links, wo wir nach vorne weiterfahren, wo wir besonders aufpassen müssen, damit es keinen „Crash“ gibt. Buch „1“ zunächst für Ordensleute konzipiert, geht im Herzens-Wurzel-Sinn alle Getauften an. Der Autor verneint das Leben nicht, er bejaht es und er lehrt uns, es zu meistern in der Liebe zu Gott und zum Mitmenschen. Der Weg der Nachfolge Christi ist der königliche Weg der Liebe und des Kreuzes (was wir heutige Menschen gar nicht so gerne hören). Die Sätze sind in Buch eins bis Buch vier oft schwer zu nehmen, weil auch hier ein Supranaturalist der Federführende war. Anfang von Buch „1“ sei hier erwähnt: „Wer mir nachfolgt, der wandelt nicht im Finstern, spricht der Herr“ (1 Joh 8,12). – Dies sind Worte aus dem Munde Christi, die uns auffordern, Seinem Leben treu nachzuleben. – Und hier das zusammenfassende Ende von Buch „4“: Alle menschliche Vernunft und alle vernünftige Forschung soll dem Glauben folgen, nicht ihm vorangehen, noch ihn lähmen, denn Glaube und Liebe… wirken auf geheimnisvolle Weise in diesem heiligsten und erhabensten Sakrament (der hl. Eucharistie).

Die Goldgrube muss selbst geschürft werden

Ich wollte nicht in die Einzelheiten gehen (Fliehe unnötiges Geschwätz – Von der demütigen Unterwerfung seiner selbst – Von der Einfalt und Lauterkeit – Vom Ertragen der Fehler anderer – Wie man Hilfe erbitten soll – Wider die eitle weltliche Wissenschaft – Vom andächtigen Empfang der hl. Kommunion), sondern die grandiose Einbettung des Werkes in die gesamte christliche Spiritualität schildern. Das Parfüm-Fläschchen aber muss jeder selbst öffnen, um den Wohlgeruch einzuatmen. Umso mehr gilt es, die Goldader in der Herzensgrube selbst zu schürfen, um den Schatz zu heben. Dieses Werk, das – wie mir scheint – in den letzten Jahren doch irgendwie untergegangen ist, kann in verschiedenen Neuauflagen erworben werden. Ich möchte allen – und mir selbst – zurufen: „Ab jetzt wieder täglich „Die Nachfolge Christi“! Möge auch in unserem Leben gelten: „Die Liebe wacht und schläft selbst im Schlafe nicht!“

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