Drei Stufen zu einer besseren Welt

Drei Stufen führen empor zu einem neuen Denkmal, das sich auf dem Territorium der Zisterzienserabtei Stift Heiligenkreuz bei Wien befindet. Es heißt „Denkmal zur Glaubens-, Religions- und Gewissensfreiheit“ und geht auf die Initiative von Weihbischof Dr. Andreas Laun, Salzburg, zurück. Er hat nun auch die Einweihung zusammen mit Abt P. Maximilian Heim und Altabt Gregor Henckel-Donnersmark vorgenommen. In dem Kunstwerk findet eine der wichtigsten Erfahrungen Launs als Moraltheologe ihren Ausdruck: das zentrale Menschenrecht, das allein Frieden zu garantieren vermag, ist neben dem fundamentalen Recht auf Leben das Recht auf Gewissensfreiheit. Aus ihr leitet sich auch die Glaubens- und Religionsfreiheit ab. Laun sieht diese Freiheit durch den Anstieg weltweiter Christenverfolgungen bedroht, aber auch durch den gesellschaftspolitischen Druck, der zum Teil totalitäre Züge annimmt. Die Stufen „Menschenwürde“, „Freiheit“ und „Wahrheit“ bilden das Programm, dem sich Laun verschrieben hat.

Von Weihbischof Andreas Laun

Ich kann nicht mehr das Jahr nennen, als mir der Gedanke kam, den Bau eines Denkmals in und für Wien anzuregen! Ich weiß aber noch, wie es dazu kam: Ich schwamm im so genannten „Entlastungsgerinne“, von dem aus man die erste Wiener Moschee sehr gut sehen kann. Der Bau ist sehr schön, und so kam mir der Gedanke: „Warum tragen heute die Christen nicht mehr bei zur Gestaltung der Stadt, ausgerechnet jetzt, wo viele Städte sich selbst verschandeln durch moderne „Kunstwerke“, die sehr oft in absurden Eisentrümmern und anderen Sinnlosigkeiten bestehen, ohne auch nur ein kleines „sursum corda“, ein „Schau nach oben!“? Natürlich war mir klar, dass man nicht noch einen weiteren Nepomuk oder einen anderen alten Heiligen irgendwo auf einen Sockel stellen kann. Solche „Denkmäler“ gibt es genug! Außerdem muss man die politischen Gegebenheiten mitdenken: Ein Beitrag der Kirche muss etwas ins Bewusstsein holen, dem alle Menschen, auch Atheisten und sogar Kirchenfeinde, mit ein wenig gutem Willen vermutlich zustimmen könnten! So kam ich auf den Gedanken: Warum nicht ein Denkmal zum Thema Gewissens-, Religions- und Glaubensfreiheit! Freiheit, das sollte doch annehmbar sein für alle, vor allem eine Generation von Menschen, in denen die Erinnerung an die großen Tyranneien noch lebendig ist: die Tyrannei zuerst auch im eigenen Land, dann, viel länger noch, unmittelbar hinter den Grenzbalken zu unseren lieben Nachbarn, mit denen wir hunderte Jahre friedlich zusammenlebten und die unsere Kultur mitgeprägt haben!

Die nähere Präzisierung des Gedankens fand ich in dem Dokument des Konzils über die „menschliche Würde“, die die genannte Freiheit mit Argumenten erklärt und begründet: Freiheit, die eine Folge der Menschenwürde ist, und deren Bestimmung es ist, die Wahrheit über Gott zu entdecken!

So hat es angefangen, und nun begann der Weg durch die Behörden, die, das lässt sich im Rückblick sagen, uns zuerst Hoffnung machten, dann aber hinhielten und, wie wir heute wissen, diese Gedenkstätte auf keinen Fall wollten – unabhängig von der Gestaltung! Noch während diese Bemühungen liefen, veranstalteten wir einen Wettbewerb und wählten schließlich das Bild eines französischen Malers aus, das dieser als Glasmosaik konzipierte! Als es dann endgültig klar war, dass die Stadt Wien niemals zustimmen und uns keinen Platz geben würde, waren wir alle ein wenig niedergeschlagen; ich selbst dachte bereits daran, ob es nicht vernünftig wäre aufzugeben! Als ich aber darüber mit Abt Gregor Henckel-Donnersmark, meinem Freund, sprach, sagte dieser: „Komm, ich habe einen Platz für euch, der geeignet wäre, machen wir es doch hier neben dem Stift!“ Und das war es dann auch. Und als das Projekt nochmals ins Stocken geriet auf Grund fehlender Mittel, ergriff Prinz Gundakar von Liechtenstein die Initiative, übernahm das Risiko und ließ das Denkmal fertig stellen! Und jetzt ist es eben fertig! Wenn es vorher noch Zweifler und Kritiker gab, jetzt wird es gelobt und für schön befunden! Mit Hilfe einiger Schrifttafeln werden wir noch dafür sorgen, dass die Botschaft gut verstanden werden kann! Am 9. September 2012 durfte ich es einweihen, zusammen mit Altabt P. Gregor und mit dem neuen Abt Maximilian! Der Tag ist, ganz abgesehen von dem Denkmal, ein besonderer Tag für das Stift:  Am 9. September 2012 jährte sich zum fünften Mal der Besuch Papst Benedikts XVI. im Stift Heiligenkreuz! Vielleicht wird es einmal gelingen, dem Papst ein Bild zu zeigen, und es wird ihm Freude bereiten. Denn das Denkmal steht nicht nur in der Tradition des Konzils, sondern auch ganz in der seiner „Regensburger Rede“ (2006), in der der Papst jeder Gewalt in Fragen der Religion eine klare Absage erteilt hatte!

Auch Kunst und Architektur sollen im Dienst der Verkündigung stehen! Beim Denkmal selbst führen drei Stufen zum Bild: Menschenwürde, Freiheit, Wahrheit! Es sind, wenn die Welt sie hinaufsteigt, „drei Stufen nach oben zu einer besseren Welt“!

Von der Manipulation der Sprache

Mit aufmerksamem Blick hat Weihbischof Dr. Andreas Laun über Jahrzehnte hinweg die Entwicklung des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens verfolgt. Wie kaum ein anderer, erhebt er mahnend die Stimme, wenn er Verirrungen oder Abweichungen von den geoffenbarten und der Kirche gelehrten göttlichen Idealen wahrnimmt. Als Mahner ist er zu einem „Licht für die Welt“ geworden, an dem sich unzählige Gläubige orientieren. Er versteht es, die Dinge nicht nur genau zu prüfen, sondern seine Einsichten auch mit einer allgemein verständlichen Sprache ins Wort zu fassen. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die nachfolgende Analyse der sprachlichen Manipulation.

Von Weihbischof Andreas Laun

Köder mit Würmern benützt man zum Angeln von Fischen, Giftköder zur Vertilgung von Ungeziefer. Sprachköder setzt man in die Welt, um Menschen dazu zu bringen, Unrecht für Recht zu halten, um in der Folge ihre Gedanken und ihr Handeln in die falsche Richtung zu lenken. Wie man das macht, haben die großen Demagogen aller Zeiten gewusst, und die heutigen wissen es auch. Das, was den Menschen-Köder so schmackhaft erscheinen lässt, pflegt der Anspruch zu sein, es ginge nicht nur um Wahrheit, sondern um Gerechtigkeit oder gar Barmherzigkeit. Was dazu führt, dass derjenige, der den Köder Köder nennt, moralisch abgestraft wird: als Lügner und vor allem als Feind der Gerechtigkeit, als einer, der keine Barmherzigkeit kennt! Beispiele aus unserer Zeit bieten sich vor allem im Umfeld der so genannten „heißen Eisen“ an:

In der Abtreibungsdebatte: „Wollt ihr Frauen bestrafen?“, sagt man, und der so Befragte erschrickt und schämt sich, dass man ihn für einen Menschen hält, der „Frauen bestrafen will“! Aber er merkt dabei nicht: Die Frage lügt, weil sie suggeriert, es ginge um die Bestrafung von Frauen, weil sie Frauen sind! Wahr ist vielmehr: Strafe kann niemals Frauen, Männern, Schwarzen, Brillenträgern oder Autofahrern gelten, sondern immer nur Tätern oder Täterinnen, unabhängig davon, was sie sonst noch sein mögen! Der Slogan lenkt den Blick in die absolut falsche Richtung, weg vom Verbrechen, hin zu einem Menschen, dessen böses Tun damit ausgeblendet wird.

„Mein Bauch gehört mir“: Wiederum, man appelliert an die selbstverständliche, richtige Eigenliebe, die den eigenen Leib gegen jeden Anspruch Anderer verteidigt! Raffiniert verdrängt wird dabei: Es geht um ein Kind, einen anderen Menschen und dessen Leben, nicht um irgendeinen Bauch! Dasselbe Recht, das den eigenen Bauch und Leib schützt, schützt auch das Leben jenes noch Ungeborenen, der noch nicht rufen kann: „Behalte deinen Bauch, aber bring mich nicht um!“ Auch hier: Das Gefühl für Gerechtigkeit wird benützt, um Unrecht unsichtbar und damit möglich zu machen.

Derselbe Betrug steckt sehr oft in der Rede von der „Gleichberechtigung für Homosexuelle“, die, so sagt man, das Recht haben müssen, „zu heiraten und Kinder zu adoptieren“. Der Köder liegt in der klagenden Behauptung, die nicht besprochen, sondern als gegeben suggeriert wird: Den armen Homosexuellen wird ein Recht vorenthalten, das sie als Menschen haben müssten, denn zu einem Rechtsstaat gehört doch wesentlich die Gleichberechtigung aller! Die Redeweise appelliert auch in diesem Fall an das Gerechtigkeits-Empfinden der anderen Menschen! Und es ist ja wahr: Grundsätzlich haben alle Menschen die gleichen Menschenrechte, eben weil sie Mensch sind, und in einem Rechtsstaat bemüht man sich, Unrecht, das einem Bürger widerfährt, abzuschaffen. So weit, so gut und so richtig. Aber bei der genannten Redeweise geht die entscheidende Frage verloren: Sind Homosexuelle wirklich benachteiligt? Haben sie nicht ohnehin alle Bürgerrechte? Sie sind nicht benachteiligt, wenn sie sind und sein dürfen, was sie sind: Bürger mit einer gleichgeschlechtlichen Neigung! Denn die besonderen Rechte von Eheleuten sind Rechte, die nicht „eigentlich alle Menschen“ haben müssen und willkürlich nur den Verheirateten zuerkannt werden, sondern Rechte, die in einer „Leistung“ für die Allgemeinheit begründet sind! Der entscheidende Denkfehler, mit der man sich Rechte erkämpfen will, liegt in der Suggestion, dass Ehepaare Sonderrechte hätten wegen ihrer sexuellen Akte und Homosexuelle nicht, obwohl doch auch sie Orgasmen erleben? Aber so ist es nicht, denn Ehepaare haben „Privilegien“ nicht wegen körperlicher Abläufe, sondern weil sie das Leben weitergeben und aufrecht erhalten! Und weil sie die Zukunft sichern, Arbeitsplätze erhalten, dem Land Arbeitskräfte zuführen und es vor dem demografischen Kollaps bewahren! Das alles aber tun Homosexuelle nicht! „Gleichberechtigung für Homosexuelle“ fordern ist, als ob ein Bürger einen Dienstwagen und Immunität wie ein Minister verlangen würde, weil er doch „genauso wie der Minister“ reisen müsse und vor Anklagen geschützt werden wolle!

Die Beispiele zeigen, worüber man reden müsste: Natürlich wäre es ungerecht, Homosexuellen das Wahlrecht vorzuenthalten oder sie nicht studieren zu lassen, ihnen Rechte zu verwehren, die alle anderen Bürger besitzen. Aber: Wenn Ehe die Verbindung von Mann und Frau ist, kann niemand, der zu dieser Verbindung nicht in der Lage ist oder sie nicht will, jene Rechte beanspruchen, die der Staat aus guten Gründen den Familien zuerkennt! Es gibt ja auch kein Recht auf einen Doktortitel für jene Mitbürger, die die notwendige intellektuelle Leistung nicht erbringen können. Und was die Adoption betrifft: Übergibt der Staat elternlose Kinder anderen Menschen, damit diese eine „Freude haben“ oder nicht doch um des „Kindeswohles“ willen? Zu behaupten, Homosexuelle könnten „genauso gute Eltern“ sein wie Mann und Frau, missachtet nicht nur die Ergebnisse der Kinderpsychologie, sondern auch die Frauen, deren besondere, mütterliche Begabungen geleugnet werden! Wieso schweigen die Feministinnen? Weil sie, paradoxerweise, auch in dieser Frage frauenfeindlich denken und handeln und die Frauen in ihrer besonderen Begabung nicht wirklich ernst nehmen! Wer, politisch korrekt, von einer abzubauenden „Bevorzugung der Ehe“ gegenüber homosexuellen Lebenspartnerschaften spricht, wie es das Deutsche Bundesverfassungsgericht tut, oder davon, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften „benachteiligt“ seien, hat den Köder schon geschluckt und wird den politischen Kampf verlieren! Denn eine illegitime, weil nicht begründbare, „Bevorzugung“ kann und darf der Rechtsstaat tatsächlich nicht dulden. Aber wenn er gut begründete Privilegien vergibt, darf er nicht zulassen, dieses sein gerechtes Handeln als „Benachteiligung“ zu diffamieren. Wenn man die falsche Sprechweise duldet oder selbst benützt, bereitet man unweigerlich den Weg für das Unrecht eines Gesetzes, das Ungleiches gleich behandelt und dadurch wirklich „Benachteiligungen“ hervorruft! Wenn man diese Logik missachtet, wird man eines Tages auch den Dienstwagen für alle und den Doktortitel für Analphabeten als Menschenrecht durchsetzen wollen!

Auch in der Kirche ist es so: Man redet viel von der Frage derer, die nach einer Scheidung staatlich geheiratet haben und darum nach kirchlicher Lehre die hl. Kommunion nicht mehr empfangen können. Oft und oft hört man in dieser Diskussion: Die Kirche müsse endlich barmherziger werden! Aber auch da: Die Zulassung zu den Sakramenten ist nicht eine Frage der moralischen Güte des Bischofs oder Priesters, sondern eine Frage nach dem, was Ehe ist und was ihr gerecht wird, es ist auch eine Frage nach der Vollmacht der Kirche und deren Grenze! Indem man die Frage zu einer Frage der Moral macht, kann man sie nicht mehr wirklich beantworten, weil niemand „unbarmherzig“ sein will! Es ist letztlich hier so ähnlich, wie wenn manche Leute fordern, der Papst  möge „die Pille erlauben“! Das ist so, wie wenn die Regierung versuchen wollte, gesetzlich festzulegen, dass „Blitzschlag ungefährlich ist“ und dass man den Mond ab jetzt auch „Sonne“ nennen müsse, damit er nicht diskriminiert wird! Bei der Homosexuellen-Ehe oder Partnerschaft, die „der Ehe gleichgestellt werden müsse“, versucht man solche Unsinnigkeiten! Ein chinesischer Weiser, der gefragt wurde, was er vorrangig tun würde, wenn man ihm die Regierungsvollmacht übertrüge, antwortete: Ich würde den Worten wieder ihren Sinn geben! Das täte uns auch gut, in Österreich und auch in der Kirche! Man nenne den Mond Mond und die Sonne Sonne, die Ehe Ehe und die homosexuelle Verbindung eben so oder mit einem noch zu erfindenden Begriff! Man hüte sich, Rechte durch Umbenennungen begründen zu wollen!

Streiter gegen das NS-Regime

Am 13. September 2012 jährte sich zum 70. Mal der Todestag des früheren Landauer Stadtpfarrers Johann Baptist Huber, der als Widerstandskämpfer gegen die Naziherrschaft und unerschrockener Zeuge für den katholischen Glauben in die Geschichte eingegangen ist. Ein Beitrag von Werner Schiederer, unseres langjährigen Schriftleiters.

Von Werner Schiederer

Mit Stadtpfarrer Johann Baptist Huber verbinden mich persönliche Erinnerungen an Erzählungen meiner Familie. Ich selbst bin in Landau a. d. Isar aufgewachsen, wo Huber von 1931 bis 1942 als Stadtpfarrer gewirkt hat. Am 14. April 1942 war er aus dem Religionsunterricht heraus verhaftet und ins Landgerichtsgefängnis Landshut gebracht worden. Am 5. Juni überführten ihn die Nazis ins KZ Dachau. Dort brachte er nur drei Monate zu; denn bereits am 8. September wurde er todkrank ins Schwabinger Krankenhaus eingeliefert, wo er am 13. September starb.

Zum 70. Todestag erfuhr Huber dieses Jahr ein überaus lebendiges Gedenken mit verschiedenen Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Sie alle beweisen eine bis heute weitverbreitete tiefe Verehrung für diesen außergewöhnlichen Hirten.

Huber wurde am 2. April 1892 in Alzgern bei Altötting geboren und begann 1912 nach dem Abitur sein Studium an der philosophisch-theologischen Hochschule in Passau. Überraschend ist sein außergewöhnliches militärisches Engagement, das man angesichts seiner Verfolgung im Dritten Reich gar nicht vermuten würde. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, wurde Oberleutnant und erhielt für seinen Einsatz zahlreiche Verdienstorden. Nach dem Krieg trat er einem der berüchtigten national gesinnten Freicorps bei und beteiligte sich sogar an Feuergefechten. Schon bald aber kam der große Augenblick der Priesterweihe, die ihn im Jahr 1921 zum pastoralen Dienst in die Bischofsstadt Passau führte.

Vielleicht konnte er gerade aufgrund dieser Erfahrung die nationalsozialistische Bewegung so treffsicher einschätzen. Hatte sie sich doch aus den Freicorps heraus entwickelt. Von Anfang an stellte er sich gegen die Nazis und ihr Programm. Als Soldat hatte er zu kämpfen gelernt. Nun geschah dies auf einer anderen Ebene und mit anderen Mitteln. Schon lange vor der Machtübernahme der NSDAP bekämpfte er die Partei mit einer breit angelegten Öffentlichkeitsarbeit in Wort und Schrift. Er setzte sich mit aller Kraft für die katholischen Vereinigungen und deren Recht ein, öffentlich Zeugnis abzulegen. Schließlich wurde ihm eine Grabrede 1940 zum Verhängnis. Nach einer ersten Inhaftierung kümmerte er sich auf besondere Weise um die Soldaten. Grund für seine Verhaftung 1942 war sein Feldpost-Engagement. Er habe trotz Verwarnung religiöse Literatur an Wehrangehörige verschickt. Nach seinem Tod wurde der Leichnam nicht freigegeben, sondern verbrannt. Die Urne wurde in Kastl, Kreis Altötting, im Grab von Angehörigen beigesetzt, um jegliches Aufsehen zu vermeiden.

Interessanterweise hatte Stadtpfarrer Huber die marianische Mädchenvereinigung, die er Anfang der 30er Jahre gründete, „Weiße Rose“ genannt. Zwei meiner Großtanten, die Mitglied waren, erinnerten sich lebhaft an den Eifer und das pädagogische Geschick ihres Pfarrers.

Plädoyer für einen substantiellen Glauben

„Christ, werde wesentlich!“

Im Blick auf das bevorstehende „Jahr des Glaubens“ ermutigt P. Dr. Karl Josef Wallner OCist, der an der Hochschule Heiligenkreuz bei Wien doziert, an die konkreten Glaubensinhalte heranzugehen. Auf dem Hintergrund seiner akademischen wie pastoralen Erfahrung wagt er, sieben entscheidende Themen zu benennen und kurz auszuführen. Mit diesen „Basics“, wie er sie bezeichnet, versucht er, ein Fundament zu bieten, welches den christlichen Glauben über die konfessionellen Grenzen hinweg als überzeugende Lebensentscheidung aufzuzeigen vermag. Es geht ihm zunächst um den dreifaltigen Gott und sein gnadenhaftes Zugehen auf den Menschen. Themen wie Maria, Priestertum oder die sieben Sakramente werden dabei noch nicht berührt.

Von P. Karl Josef Wallner OCist

Christsein ist nicht mehr selbstverständlich

Über unser europäisches Christentum hat sich eine trübe Stimmung der Resignation und der Frustration gebreitet. Die Ursachen dafür liegen tiefer als in den medial hochgespielten innerkirchlichen Skandalen und Querelen. Seit Jahrzehnten schrumpft die Zahl der „nominellen“ Kirchenmitglieder; noch dramatischer ist die Zahl der praktizierenden Gläubigen zurückgegangen. Der christliche Glaube hat in den letzten Jahrzehnten mit enormer Geschwindigkeit an Einfluss und Relevanz verloren; die gesellschaftliche Akzeptanz für evangeliumsgemäße Werte ist weitgehend geschwunden. Der christliche Glaube mit seinen religiösen und moralischen Überzeugungen scheint nicht mehr in die Zeit zu passen.

Unsere westliche Welt ist im christlichen Glauben müde geworden. Der christliche Glaube ist auch in unserem Land nicht mehr, wie Papst Benedikt XVI. feststellt, jenes „einheitliche kulturelle Gewebe“, in dem die Inhalte des Glaubens bekannt waren und gleichsam ein Bezugssystem für das Denken und die Werthaltungen der Menschen dargestellt haben.[1] Es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, ein Christ zu sein, oder genauer gesagt: ein gläubiger und aus dem Glauben lebender Christ. Man könnte die Situation so beschreiben, dass das Christentum zwar da ist und auch für viele Menschen einen kulturellen, ja religiösen Wert darstellt. Aber die wirkliche Glaubensüberzeugung der Kirche kennen und teilen immer weniger Menschen in unserem Land.

Konkurrierende Ansätze zur Krisenbewältigung

Die Folge ist, dass sich jene, die noch Christen sein wollen, in zwei Lager gespalten haben: die Gruppe derer, die an den überlieferten Glaubensinhalten festhalten; sie ist infolge ihrer Zeitgeistresistenz klein, ihr Kennzeichen ist die Treue zum kirchlichen Lehramt und die Verbundenheit mit dem Papst. Und dann gibt es die vielen, die dem Christentum emotional sympathisierend gegenüberstehen und eben deshalb meinen, es durch „Modernisierungen“ in die Zukunft hinüberretten zu müssen. Aus dieser Richtung kommen in regelmäßigen Abständen Forderungen nach der Abschaffung des Zölibats, der Priesterweihe von Frauen, der Zulassung von Gläubigen, deren Ehe staatlich geschieden wurde und die dann wieder geheiratet haben, zu den Sakramenten. Insgesamt ein schmales Spektrum von Themen. Da „Rom“ hier als unnachgiebig erscheint, fordert diese Richtung freilich auch vehement die Demokratisierung der Kirche, etwa bei Bischofsernennungen, um zu erreichen, dass Vertreter ihrer Richtung die Ortskirchen leiten. Dazu kommt, dass der rechte Rand, der alle Veränderung, wie sie mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gekommen ist, in Bausch und Bogen ablehnt, in den letzten Jahren medial immer „lauter“ geworden ist. Bei dieser innerkirchlichen Situation von Spannungen und Desorientierung ist es für den Gläubigen nicht leicht, Freude und Zuversicht auszustrahlen! Und so kommt es, dass wir auch nach außen hin als immer weniger attraktiv erscheinen. Die Menschen suchen Licht und wir vermitteln nur Resignation und Frustration. Die Kirche ist für die steigende Zahl der religiös suchenden Menschen immer weniger attraktiv, wenn sie nur Resignation und Frustration ausstrahlt.

Ich kann den kirchlichen Frust zwar verstehen, aber Gott-sei-Dank geht es mir ganz anders. Ich danke Gott für die Gnade, dass mein Kloster Heiligenkreuz so lebendig ist und ich eine boomende Hochschule mit vielen Priesteramtskandidaten und Ordensleuten leiten darf. Unser Problem in Heiligenkreuz ist nicht der Schwund von Gläubigen oder Berufungen, sondern wie wir den Andrang bewältigen. Und das gilt auch von der Jugendseelsorge, denn die jungen Menschen kommen, und sie kommen gerne, wenn ihnen vermittelt wird, dass sie im Glauben Glück und Freude finden können. Doch abseits der gnadenhaften Situation unseres Klosters und unserer Hochschule nehme ich bedrückt wahr, wie ein grauer Schleier die Seelen der Gläubigen, vor allem der kirchlichen Mitarbeiter, übertüncht.

Der entscheidende Schritt in den christlichen Glauben

Warum werden die Sonnenstrahlen des christlichen Glaubens von einer Nebeldecke absorbiert? Nach meiner Einschätzung ist diese Winterdepression, an der unsere Kirche in Europa leidet, zu einem Gutteil hausgemacht. Sie rührt vor allem von der Art und Weise, wie wir unseren Glauben selbst wahrnehmen, wie wir oberflächlich und substanzlos geworden sind. Immer wieder habe ich die Freude, junge Erwachsene zur Taufe führen zu dürfen oder Neubekehrten zu begegnen. Besonders eindrucksvoll sind etwa Menschen, die aus dem Islam zum Christentum gefunden haben. Unter anderen kenne ich einen jungen Deutschen, der vor einigen Jahren noch Satanist gewesen ist. Der entscheidende Grund für den Schritt hinein in den christlichen Glauben ist immer die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes, die zugleich verbunden ist mit der Erkenntnis, dass die Kirche Instrument in der Hand Gottes ist. Niemand wird gläubig, weil er die Kirche als „Ideologie“, als „Lehr- oder Wertesystem“ begreift, sondern weil er den lebendigen Gott durch die Kirche erkennt und ihm in ihr begegnet. Gott ist immer sowohl die erste Ursache des Gläubigwerdens als auch der Ersterkannte im Glauben.

Von mir persönlich kann ich sagen, dass mir mit 17 Jahren so ziemlich alles suspekt war, was ich heute als katholischer Dogmatiker mit Verstand und Willen bejahe, weil ich es als Wahrheit erkenne. Der Schlüssel zu meinem entschiedenen Ja war die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes, wobei der Begriff „Wirklichkeit“ wörtlich zu nehmen ist. Gott ist eine Wirklichkeit, weil er wirkt, weil er gnadenhaft in unser Leben eingreift, wenn wir ihn lassen. Darum bedrückt es mich, dass wir in der Kirche so wenig von Gott und seiner Wirklichkeit reden. Es sind nicht nur die Medien, die in inszenierten Kirchendiskussionen die immergleichen Themen ausbreiten: Zölibat, Frauenpriestertum, Sexualmoral, wiederverheiratete Geschiedene, Bischofsernennungen usw. Wir selbst reden und diskutieren dauernd darüber und blockieren uns damit selbst. Die Kirche gleicht durch diese Fixierung auf Sekundärthemen einem „blockierten Riese“, wie der Psychiater Manfred Lütz schon vor einigen Jahren treffend diagnostiziert hat. Wir haben uns in ein schmales thematisches Korsett zwängen lassen und jetzt geht uns die Luft aus, um auf die großen und eigentlichen Themen hin durchzuatmen.

Der „blockierte Riese“ an einem Beispiel aus der Jugendarbeit

Mir selbst ist diese krankhafte Fixierung in einer kleinen Episode in der Jugendarbeit bewusst geworden: Während des Firmunterrichtes starb die Großmutter eines interessierten Jugendlichen an Krebs. Wir hatten vorher für sie gebetet, nach ihrem Tod kam es zu mehreren Gesprächen mit dem Firmling. Es ging um Fragen, die ihn zutiefst bewegten: Warum haben die Gebete nicht geholfen? Hört uns Gott? Warum lässt Gott Leiden zu? Was kommt nach dem Tod? Wie kann man über den Tod hinaus verbunden bleiben? Warum leben wir überhaupt, wenn wir doch sterben müssen? Die Themen waren nicht nur existentiell, sie waren auch substantiell. Schließlich kam es unmittelbar vor der Firmung zu einer Begegnung mit dem Herrn Abt, der die Firmung spenden sollte. Der Abt forderte die Firmgruppe auf: „Stellt mir Fragen zum Glauben!“ Sofort ging die Hand des besagten jungen Mannes in die Höhe und ich erwartete, dass er die Glaubensfragen, die er so lange und bewegt mit mir besprochen hatte, nun auch in die Diskussion einbringen wird. Doch es kam ganz anders, denn es kam eben keine Frage nach Gott, Gebet, ewigem Leben und Sinn des Lebens, sondern der Jugendliche fragte: „Warum dürfen Priester nicht heiraten?!“ Ich kann bezeugen, dass das mit Sicherheit keine Frage war, die ihn umtrieb. Doch scheinbar ist es so, dass überall, wo im öffentlichen Raum das Thema auf „Glaube“ und „Christentum“ kommt, unsere Assoziationen schon ganz automatisch und unabänderlich bei den genannten Themen hängenbleiben. Wie ein Zahnrad, das eingerostet ist.

Dazu kommt eine unvorstellbare Dekadenz des Glaubenswissens. Auch für den durchschnittlichen Kirchenchristen sind Themen wie Dreifaltigkeit, Gottessohnschaft Christi, heiligmachende Gnade, christliche Jenseitserwartung, Sakramente usw. unbekanntes Territorium. Man mache die Probe aufs Exempel und frage einen Kirchenbesucher, ob er die zehn Gebote oder die sieben Sakramente oder die vier Evangelien usw. weiß. Das Wesen des Christentums ist aber der Glaube an einen Gott, der sich geoffenbart hat: ein Gott, der deshalb geliebt werden kann, weil er sich uns zu erkennen gegeben hat. Die Muslime, die Christen geworden sind, geben einmütig als Grund für ihren Schritt an: Weil der Gott der Christen ein Gott der Liebe ist. Je weniger wir um die wesentlichen Fundamente unseres Glaubens Bescheid wissen, desto schlechter wird auch der Dialog mit anderen Religionen gelingen. In Wien musste eine von einer pfarrlichen Aktivistengruppe ausgerufene „Dialogveranstaltung“ mit den Muslimen abgebrochen werden, weil die Muslimen über die Gottessohnschaft Jesu Christi – inklusive Konzil von Nizäa – reden wollten, die Katholiken aber noch nie davon gehört hatten.

Sieben substantielle Punkte des Glaubens

Das sind alles punktuelle und subjektive Wahrnehmungen, die mich aber doch zutiefst beunruhigen. Aus meiner persönlichen Wahrnehmung kann ich die Analyse von Papst Benedikt XVI. hundertprozentig bestätigen, wonach der christliche Glaube in unseren Ländern nicht mehr jenes „einheitliche kulturelle Gewebe“ ist, in dem die Inhalte des Glaubens bekannt waren und gleichsam ein Bezugssystem für das Denken und die Werthaltungen der Menschen dargestellt haben.[2] Der Papst fordert darum immer wieder, dass wir eine substantielle Erneuerung des Glaubens brauchen. Er sagt: „Die eigentliche Krise der Kirche in der westlichen Welt ist eine Krise des Glaubens. Wenn wir nicht zu einer wirklichen Erneuerung des Glaubens finden, werden alle strukturellen Reformen wirkungslos bleiben.“[3] Mitten im Dreißigjährigen Krieg hat Angelus Silesius gedichtet: „Mensch, werde wesentlich; denn wann die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“ Was ohne Wesen ist, das wird auch verwesen. Papst Benedikt XVI. hat nicht ohne Absicht ein „Jahr des Glaubens“ ausgerufen, und ich vermute, dass er uns aus diesem Anlass nach seinen beiden Enzykliken über Liebe (Deus Caritas est) und Hoffnung (Spe Salvi) auch eine Enzyklika über den Glauben schenken wird. Ich möchte anregen, über sieben substantielle Punkte des Glaubens tiefer nachzudenken, die unmittelbar mit der Wesensoffenbarung Gottes zu tun haben, die er uns in Jesus Christus durch den Heiligen Geist geschenkt hat. Denn das Wesentliche des Christentums entspringt unmittelbar dem Wesen Gottes. Es wäre schon viel, wenn wir zumindest wieder nach dem Substantiellen fragen, wenn wir darüber nachdenken, uns darüber theologisch informieren, uns die eigentlichen Themen unter den Nägeln brennen. Ich möchte nachfolgend Themen nennen, mit denen wir uns beschäftigen könnten und sollten. Ich möchte mit diesen Fragmenten nur ein wenig Appetit machen, das anbrechende Jahr des Glaubens für ein durchatmendes Nachdenken der „Basics“ des christlichen Glaubens zu nützen.

1. GOTT. Wir glauben an einen Gott, der dreifaltig die Liebe ist. Zunächst müssen wir unmittelbar auf das Wesen Gottes schauen, der ein Einziger ist, zugleich aber in dieser Einheit und Einzigkeit dreifaltig ist. Der Glaube an „einen Gott in drei Personen“ ist nicht ein mathematisches Rätsel, sondern er besagt, dass Gott in sich eine Lebendigkeit der Liebe besitzt: ewiger göttlicher Geist, der unermessliches Schenken (Vater), Empfangen (Sohn) und Vereinigen (Geist) ist. Gott ist der Eine, das Andere und dessen Einheit. Die Dreifaltigkeit ist der Grund, warum der unendliche Gott eine endliche Welt liebevoll und frei „außer“ sich sein lassen kann. Sie ist der Grund, warum er – im Sohn – persönlich und wahrhaftig in dieser Welt anwesend sein kann, ohne aufzuhören, der Ganz-Andere zu sein. Nur weil Gott sich von sich aus geoffenbart hat, ist uns diese Innenschau in sein ewiges Sein geschenkt. Wir müssen auch das Spezifisch Christliche tiefer erfassen, denn andere Religionen stellen sich Gott sehr anders vor: man denke nur an den nur-weltjenseitigen Allah des Islam oder an das pantheistische Nirwana der östlichen Religiosität…

2. SCHÖPFUNG. Wir glauben an einen Gott, der unermesslich kreativ ist. Wir bekennen Gott – übrigens mit fast allen anderen Religionen – als den „Schöpfer des Himmels und der Erde“. Aber was heißt das angesichts der Erkenntnisse, die uns erst in den letzten Jahrzehnten geschenkt worden sind. Vor 350 Jahren hat man noch im Galileo-Galilei-Prozess darum gestritten, ob die Erde oder die Sonne im Mittelpunkt stehe. Mittlerweile wissen wir, dass zwar die Sonne der Fixpunkt unseres Sonnensystems ist, selbst aber nur einer von Milliarden Sternen in einer Galaxie namens Milchstraße, die wieder eine von weiteren Milliarden Galaxien ist. Wie ist es um die Größe des Schöpfers und der Schöpfung, wenn es außer unserem Sonnensystem noch mehr Sonnen gibt als es Sandkörner auf diesem winzigen Planeten gibt? Wie viel bedeuten wir dem Schöpfer, dass er uns hervorgebracht hat und diesen Planeten namens Erde anvertraut hat?

3. OFFENBARUNG. Wir glauben an einen kommunikationsfreudigen Gott. Dass es etwa Göttliches gibt, darauf stößt der Mensch durch das bloße Denken. Es muss einen letzten Grund geben, der nicht wieder durch etwas anderes begründet ist. Auf den Begriff des „Letzten“ und „Größten“ und „Alleshervorbringenden“ stößt die menschliche Logik, dazu bedarf es keiner Religion. Die Religionen entstehen dort, wo sie dieses „Letzte“, das der Mensch denkerisch erahnt oder sogar logisch erschließt, veranschaulichen. Doch bei uns ist es anders: Nicht wir erbilden uns einen Gottesbegriff, sondern das Christentum steht unter der Voraussetzung der Offenbarung. Wir glauben an einen Gott, der sich von sich aus uns Menschen mitteilen wollte, der Kommunikation und Dialog mit uns Menschen aufgenommen hat. Die Geschichte dieses Vorganges beginnt im Alten Testament, wo das Unendliche Geheimnis sich Abraham, Isaak, Jakob, Mose, Jesaja, Jeremia und den vielen anderen Vätern und Propheten offenbart. Unser Gott versteckt sich nicht in seiner Jenseitigkeit, sondern er teilt sich uns mit. Im Alten Testament gibt er uns seinen Willen durch das Gesetz kund, im Neuen Testament gibt er sich uns selbst. 

4. CHRISTUS. Wir glauben, dass Gott sich „ganz anders“ offenbart hat, als religiöses Denken es erwarten kann. Das menschliche Denken kann gar nicht anders: Wenn es auf das Letzte hin denkt, dann kommt es zu einem Begriff von „Gott“ oder dem „Göttlichen“, der groß ist. Der hl. Anselm sagt, dass der Mensch sich Gott immerdar als das denken muss, „worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.“ Philosophisches und religiöses Denken steht aber immer unter der Bewegung des „hinaus“ und „hinauf“. Wir Christen stehen jedoch vor dem Phänomen eines Gottes, der von sich aus in die Welt hinein wollte. Nach Karl Barth ist Religion „Mensch-zu-Gott“, Christentum jedoch ist „Gott-zum-Menschen“. Indem der unendliche Gott, richtiger gesagt: indem der Sohn Gottes (die zweite göttliche Person) Mensch wird, hört Gott nicht auf, der größte, unendlichste, unvorstellbarste zu sein. In Jesus Christus erscheint Gott, wie Martin Luther es richtig formuliert hat, „im Gegenteil seiner selbst“ („sub contrario“). Das ist die Dialektik Gottes, dass er gerade darin am größten ist, dass er am kleinsten sein kann. Was bedeutet es auch für unser Bild vom Menschen, dass Gott in Jesus Christus einer von uns geworden ist, ja, dass er sich sogar in die tiefste Tiefe des Menschseins, in Leiden und Tod verfügen hat lassen?

5. KREUZ. Wir glauben, dass Gott töricht ist in seiner Wertschätzung des Menschen. „Töricht“ ist nicht „dumm“, im Gegenteil. Paulus schreibt, dass die Torheit Gottes weiser ist als die Weisheit der Menschen (1 Kor 1,23). Er bezieht diese dialektische Formulierung auf die Verkündigung des Kreuzes, das Zentrum der christlichen Mysterien ist. Papst Benedikt XVI. hat den deutschsprachigen Katholiken einen dringend notwendigen Impuls gegeben, über das Geheimnis des Kreuzes neu und tiefer nachzudenken, als er die Bischöfe gebeten hat, dass das „pro multis“ bei den Wandlungsworten getreu dem griechischen Urtext mit „für viele“ wiederzugeben sei.[4] Das Kreuz ist deshalb das zentrale Symbol des Christentums, weil wir eine Erlösungsreligion sind. Paulus, der geschulte Rabbiner, hat es zutiefst erkannt, dass hier nicht der Mensch durch Werke (oder Meditationen) sich selbst vor Gott in der rechten Weise positionieren muss, sondern dass Gott es recht macht. Christus rechtfertigt und er tut es durch den Tod am Kreuz. Ist uns die Torheit einer solchen Behauptung noch bewusst: Wir glauben an einen gekreuzigten Gott? Gekreuzigt „für uns“, „für die vielen“! Sollten wir nicht erschaudern vor dem Geheimnis, das das Exsultet der Osternacht mit den Worten besingt: „O unfassbare Liebe des Vaters: Um den Knecht zu erlösen, gabst du den Sohn dahin!“

6. GNADE. Wir glauben an einen Gott, der in unsere Endlichkeit eingebrochen ist durch seine Menschwerdung. Wir glauben weiters, dass er durch den Heiligen Geist weiter in uns wirken möchte. In Jesus Christus hat er uns gezeigt, dass das Endliche fähig ist, das Unendliche aufzunehmen. Im Heiligen Geist macht er den Menschen zu einem Gefäß seiner selbst, zu einem Tempel des Heiligen Geistes. Der Mensch muss daher das Leben nicht selbst bewältigen, sondern er ist in eine kooperative Wirkgemeinschaft hineingenommen mit Gott: Gott wirkt in uns. Wir sollten darüber nachdenken, was es bedeutet, dass Gott selbst in uns wirken möchte. Wir nennen diese Wirkmacht „Gnade“. Und wir sollten überlegen, wie wir diese göttliche Handlungspräsenz besser zur Geltung kommen lassen. Denn es ist doch offensichtlich, dass unsere Welt der „Macher“, wo man auf die Hilfe von oben vergisst, bereits jetzt sowohl ökologisch als auch ökonomisch gefährlich ins Trudeln geraten ist. Aber auch innerkirchlich sollten wir uns Gedanken machen, wie wir Gottes lebenstärkende und weltverändernde Gnadenmacht besser „ausnützen“. Wie substantiell wäre es etwa, die Wirkkraft der Sakramente, des Gebetes, der persönlichen Hingabe tiefer zu reflektieren!

7. HIMMEL. Wir glauben an einen Gott, der uns über den Tod hinaus rettet in ein unermesslich beglückendes Leben. Das Urchristentum hat seine Kraft aus der Erwartung der Wiederkunft Christi, aus dem Hinhoffen auf die selige Vollendung geschöpft. Es ist kein Zufall, dass das letzte Wort der Bibel lautet: „Maranatha, komm bald, Herr (Jesus)!“ (Offb 22,20). Schon Papst Johannes Paul II. hat beklagt, dass wir in unserem heutigen Glaubensbewusstsein die „eschatologische“, endzeitliche Dimension vergessen und verdrängen. Dabei handelt es sich doch um das Existentiellste, um das, was am meisten den Sinn und den „Profit“ des christlichen Glaubens aufleuchten lässt. Bei einer Erwachsenentaufe lautet die Frage an den Katechumenen: „Was erbittest du von der Kirche Gottes? – Den Glauben! – Und was gewährt dir der Glauben? – Das ewige Leben.“ Wir müssen uns mit den Glaubensinhalten über das ewige Leben auch deshalb beschäftigen, weil sich nicht nur eine platte nihilistische Mentalität des „Mit-dem-Tod-ist-alles-aus“ zusehends verbreitet, sondern auch irr- und abergläubische Vorstellungen wie etwa der Glaube an Seelenwanderung und Wiedergeburt durch die Esoterik bei uns ausgebreitet haben.

Auftrag der „Neuevangelisierung“

Und wie geht es weiter? Die Frustrationsblockade der Kirche beschränkt sich – Gott-sei-Dank – im Wesentlichen auf unser altes Europa. In der 2. und 3. Welt blüht der Glaube wie nie zuvor, die Kirche ist quantitativ nie mehr gewachsen als im letzten Jahrhundert! Papst Benedikt XVI. möchte für die lau gewordenen Stammregionen des Christentums eine machtvolle „Neuevangelisierung“. Viele Menschen um uns herum sind heute bereits völlig entchristlicht. Jugendliche sind regelrecht dem Christlichen „exkulturiert“; sie kommen mir oft vor wie „Treibgut“ auf dem Ozean von religiösen Weltanschauungen. Vor kurzem meldete sich bei mir ein junger Schweizer, der durch die Begegnung mit den traditionalistischen Piusbrüdern für das Christentum begeistert war. Ein Monat später war er Moslem geworden. Wieder einige Zeit später hat er sich dann „normal“ katholisch taufen lassen… In dieser Situation ist es kontraproduktiv, sich auf innerkirchliche Randthemen zu fixieren. Unsere Herausforderung ist die Dunkelheit des Unglaubens, die sich zusehends ausbreitet. Darum meine ich, dass man sich durch innerkirchliche Fraktionskämpfe nicht allzu sehr blockieren lassen sollte. Ich plädiere dafür, dass wir in unserem Glaubenswissen und folglich auch in unserer Frömmigkeit wachsen. Lernen wir die Substanz des christlichen Glaubens besser kennen. Der innerkirchliche Frust kann uns nichts anhaben, wenn wir fest auf dem Fundament der Einheit und der Unzerstörbarkeit der Kirche stehen, das der Papst ist. Und wenn das Licht eines substantiellen Glaubens in uns selber kräftiger brennt, wird es auch um uns herum heller werden.


[1] Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben Porta Fidei, Nr. 2, vom 11. Oktober 2011.
[2] Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben Porta Fidei,  Nr. 2, vom 11. Oktober 2011.
[3] Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, vom 24. September 2011 in Erfurt.
[4] Benedikt XVI., Schreiben an Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, vom 14. April 2012.

„Pussy Riot“ und das Armutszeugnis des Westens

Pfarrer Erich Maria Fink, der seit über zwölf Jahren im Ural tätig ist, beschreibt den Wirbel um die Punkband „Pussy Riot“ aus russischer Sicht. Ein provokanter Auftritt der Gruppe in der Moskauer Erlöser-Kathedrale im Februar dieses Jahres hatte zu einem heftig umstrittenen Gerichtsverfahren geführt. Während die drei Aktivistinnen in Russland fast keine wirkliche Unterstützung finden, überbieten sich exponierte Persönlichkeiten aus dem Westen mit Solidaritätsbekundungen. Die Mehrheit der russischen Gesellschaft kann diese Reaktionen nicht nachvollziehen. Sie ist der Überzeugung, dass die Aktion selbst sowie die Aufmerksamkeit, die ihr vom Westen entgegengebracht wird, dem Land großen Schaden zufügen. Pfarrer Fink bewertet die Auswirkungen der Vorgänge um „Pussy Riot“ sowohl auf das gesellschaftliche als auch auf das kirchliche Leben in Russland.

Von Erich Maria Fink

Wenn ich versuche, die Ereignisse um die Punkband „Pussy Riot“ in den vergangenen Monaten zu kommentieren, geht es mir nicht um Politik. Vor allem möchte ich keine Stellung zu Putin beziehen, ihn also weder verteidigen noch verurteilen. Vielmehr bin ich überzeugt, dass die Kirche ihre Stimme erheben sollte, wo fundamentale Werte des Menschen aufs Spiel gesetzt und in unzulässiger Weise verhandelt werden.

Schaden für die Demokratie-Bewegung in Russland

Der internationale Einsatz für die inzwischen verurteilten Aktivistinnen ist mehr als bedenklich. Mir kommen die Vorgänge wie ein absurdes Theater vor. Die Länder des Westens scheinen in ihrer Anti-Putin-Haltung nach allem zu greifen, was nur irgendwie gegen Putin und sein Machtgebaren verwendet werden kann. Aber sind sich die westlichen Vertreter aus Kultur und Politik eigentlich bewusst, wofür und für wen sie sich da einsetzen? In Russland jedenfalls werden die Anbiederungen aus dem Westen geradezu als peinlich empfunden. Sogar die großen Oppositionsgruppen, die gegen Putin auf die Straße gehen, distanzieren sich. Ausdrücklich wehren sie sich dagegen, dass ihre Bewegung in diesen Aktivistinnen ein „Gesicht“ gefunden hätte, wie es bestimmte Kräfte und vor allem ausländische Medien der Öffentlichkeit einzureden versuchen. Im Gegenteil fühlen sie sich durch „Pussy Riot“ kompromittiert und in ihrem ureigenen Anliegen gestört.

Aber es geht noch um mehr. Seit Monaten werden aus dem Westen Appelle an die russische Regierung gerichtet, als müssten beim Fall „Pussy Riot“ in einem von der Diktatur bedrohten Land die Menschenrechte verteidigt werden. Es wird so getan, als entscheide sich am toleranten Umgang mit den jungen Frauen, welche sich als „Aktionskünstlerinnen“ ausgeben, die Demokratie in Russland. Damit erweist der Westen dem russischen Volk einen Bärendienst. Denn die „normale“ Bevölkerung in Russland ist von dem sittenlosen und primitiven Verhalten der Punkband angewidert. Wird nun diese Geschichte als Errungenschaft der westlichen Demokratie verkauft, wendet sich der hiesige Bürger dankend von ihr ab. Den Schaden hat also nicht nur die Opposition, sondern auf viel breiterer Ebene das ernsthafte Bemühen um die Entwicklung einer verantwortungsbewussten demokratischen Gesellschaft.

Moritz Gathmann: Ähnlichkeiten mit der ersten RAF-Generation

Ich bin dankbar, dass wenigstens der bekannte Russland-Korrespondent Moritz Gathmann mit seinem Artikel „Lady Suppenhuhn“ vom 25. August 2012 in der FAZ Hintergründe der Punkband aufgezeigt hat. Endlich haben auch einmal solche Fakten, die in Russland weithin bekannt sind, in deutschsprachige Medien Eingang gefunden. Sein Beitrag beginnt mit der Feststellung: „Böser Staat contra unschuldige Mädchen: Das war das Bild, das von Pussy Riot gezeichnet wurde. Dabei erinnern die Aktionskünstler mit ihren vulgären Provokationen viel mehr an die erste RAF-Generation.“

Es fängt schon beim Namen „Pussy Riot“ an. Man braucht nicht zu glauben, die Russen wüssten nicht, was diese englische Bezeichnung bedeutet. „Pussy“ wird in deutschen Medien meist mit „Muschi“ wiedergegeben. Doch hier ist allen bekannt, dass es sich bei dem Ausdruck um eine vulgäre Bezeichnung der Vagina handelt. Und „Riot“ kann jede Art von Ausschreitungen bedeuten, vom Rebellieren und Randalieren bis zum Feiern von Orgien. Genau dieses Programm erfüllt die Gruppe auf der ganzen Linie.

Ich halte mich an Moritz Gathmann, einen in unserem Anliegen völlig unverdächtigen Gewährsmann. Zunächst erinnert er an einen Skandal, der den meisten Russen noch vor Augen steht: „Die 22 Jahre alte ehemalige Philosophiestudentin Nadeschda Tolokonnikowa, die als Ikone der Russischen Revolution, als Heldin gezeichnet wird, ist seit Jahren Mitglied der russischen Aktionskunstszene. Mit der Gruppe ‚Woina‘ veranstalteten sie, ihr Mann Pjotr Wersilow und einige andere im Frühjahr 2008 eine Gruppensex-Orgie im Moskauer Museum für Biologie. Tolokonnikowa war damals im neunten Monat schwanger – der Gruppensex machte sie und die anderen auf einen Schlag in ganz Russland bekannt.“

Zu dieser öffentlichen Veranstaltung wurden zahlreiche Journalisten eingeladen. Die Szenen sollten bewusst gefilmt werden. Bis heute stehen Aufnahmen im Internet. Wenige Tage nach der Aktion gebar Nadeschda Tolokonnikowa ihre Tochter Gera. Um diese kümmerte sie sich wenig, sondern fuhr mit ihren demonstrativen Promiskuitätsaktionen fort.

Gathmann berichtet: „Im Herbst 2009 hatte ein ukrainischer Blogger Geschlechtsverkehr mit einer Frau vor dem Parlament in Kiew. Ein Nachahmer von ‚Woina‘. Die russischen Aktivisten waren mit von der Partie, sie kümmerten sich um die Organisation und um die mediale Vermarktung des Events.“ Unter ihnen engagierten sich vor allem Nadeschda und ihr Mann Pjotr. Der Blogger wurde von der ukrainischen Polizei verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Gehilfen aus Russland konnten sich dem Zugriff entziehen.

Wie es nach der Geburt des Kindes bei Nadeschda weiterging, beschreibt Gathmann mit den Worten: „Nach Streitigkeiten mit ihren Eltern, die ihren Lebensstil missbilligten, musste Tolokonnikowa die von ihnen zur Verfügung gestellte Wohnung verlassen. Die junge Familie zog daraufhin von Wohnung zu Wohnung, bis sich die wenige Monate alte Gera bei einem nächtlichen Sturz von einem Computertisch schwer verletzte. Als Wersilow und Tolokonnikowa in Kiew den Blogger beim öffentlichen Geschlechtsverkehr unterstützten, befand sich die inzwischen anderthalb Jahre alte Tochter schon seit längerem in der Obhut von Wersilows Eltern.“

Schamlose Provokationen der selbsternannten „Aktionskünstler“

Aus den zahlreichen anderen Aktionen sollen zur Veranschaulichung einige erwähnt werden. Es ist eigentlich nicht angemessen, diese Dinge im Einzelnen zu beschreiben. Doch die Lobeshymnen und Verteidigungsreden unserer Volksvertreter, Kulturschaffenden und Medien fordern dazu heraus, Widerspruch einzulegen und die Gründe dafür anzugeben.

Gathmann bringt als erstes Beispiel folgende Szene: „Im September 2008 erhängte die Gruppe symbolisch fünf Menschen in einem Moskauer Supermarkt: Zwei Homosexuelle ließen sich freiwillig ‚hängen‘, drei Gastarbeiter bekamen Geld. Mit Stricken um den Hals, allerdings ohne Gefahr für ihr Leben, baumelten sie an der Decke, bis Mitarbeiter des Supermarktes sie abnahmen.“

Ein zweites Beispiel: „Am ersten Tag des Prozesses gegen den Kunstkuratoren Andrej Jerofejew im Mai 2009 packten Tolokonnikowa und andere ‚Woina‘-Mitglieder im Gerichtssaal E-Gitarren aus und sangen das Lied ‚Vergiss nicht, dass alle Bullen Missgeburten sind‘. Die Aktion trug den Namen ‚Schwanz in den Arsch‘.“ „Woina“ bedeutet im Übrigen „Krieg“. Die Gruppe versteht ihn als Krieg gegen das Establishment, den Staat und die Polizei.

Desweiteren: „Im Juli 2010 entwendete eine Aktivistin von ‚Woina‘ ein Suppenhuhn aus einem Petersburger Supermarkt. Mit einigen Männern und kleinen Kindern im Schlepptau wanderte sie im Markt umher, schließlich stopfte sie sich das Suppenhuhn so tief wie möglich in ihr Geschlechtsorgan und verließ den Laden. Die Gruppe filmte die Aktion und stellte den Clip ins Netz; alles, was sie tun, dokumentieren sie. Pornographie als Kunst. Das Video ist mittlerweile schwer zu finden, manche Plattformen haben es gelöscht, andere Versionen sind großflächig verpixelt.“

An anderer Stelle schildert Gathmann: „Beim Sturm einer Modenschau in Moskau zündeten sie Brandpulver und riefen ‚Fickt die Sexisten, die verfickten Putinisten‘. Über die Reaktion des Publikums sagten sie stolz: ‚Die Idioten in ihren Pelzmäntelchen blieben einfach sitzen wie dumme Kühe. Sie sind so debil, dass sie gar nicht wussten, was sie tun sollen.‘“

Skandalöser Auftritt in der Moskauer Erlöser-Kathedrale

Und so kam es schließlich am 21. Februar 2012 zum Auftritt in der Moskauer Erlöser-Kathedrale. Drei Aktivistinnen, die bereits namentlich genannte 22-jährige Nadeschda Tolokonnikowa, die 24-jährige Maria Aljochina und die 30-jährige Jekaterina Samuzewitsch, stürmten in ihren bekannten grellen Kleidern mit bunten Sturmhauben zur Ikonostase, betraten also den Ambo vor dem Altar, was ohne ausdrückliche priesterliche Erlaubnis eigentlich nicht gestattet ist, begannen zu tanzen und mit Schimpfworten um sich zu schmeißen. Unter anderem riefen sie „Fuck, Fuck, Fuck“ und „Die Kirche ist die Scheiße Gottes!“ Doch zitiert werden meistens nur die Worte: „Gottesmutter, vertreibe Putin!“, die auch gefallen sein sollen. So läuft nun die ganze Aktion in den Medien als sog. „Punkgebet“. Was im Internet abrufbar ist, stellt bereits eine bearbeitete Version mit zusätzlichen Bild- und Tonelementen dar.

Die Erlöser-Kathedrale ist zum wichtigsten Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche geworden. Aus ihr werden alle großen Festgottesdienste mit dem Patriarchen in Anwesenheit der politischen Prominenz im Fernsehen live übertragen. Vergleichbar ist die Kathedrale in ihrer Bedeutung für Russland mit dem Petersdom in Rom für die katholische Kirche. Was sich die Aktivistinnen geleistet haben, ist für den größten Teil der russischen Bevölkerung eine äußerste Provokation, die nach allgemeinem Empfinden die Heiligkeit dieses Ortes aufs Tiefste verletzt hat. Und diese Gefühle teilen auch viele religiös Fernstehende mit den gläubigen Christen. Sie verstehen die Aktion nicht nur als Angriff auf die Religion, sondern auch auf die russische Kultur, auf das, was Russland als Nation ausmacht und ihr eine Identität verleiht.

Ich frage mich: Wer gibt uns das Recht, vom russischen Staat und vom russischen Volk zu verlangen, sich die Provokationen und Entgleisungen der Punkgruppe „Pussy Riot“ gefallen zu lassen? Nach einer Umfrage des Forschungsinstituts Romir brachten im März 2012 weniger als 1 Prozent der russischen Bevölkerung ihre Unterstützung für „Pussy Riot“ zum Ausdruck. Wenn jemand die Aktionen der Gruppe als „Kunst“ betrachtet, ist dies seine persönliche Angelegenheit. Doch er kann nicht von der Allgemeinheit einfordern, dass sie seinem Urteil folgt und den Auftritten von „Pussy Riot“ die Freiheit der Kunst einräumt. Ich persönlich kann in den Vorgängen nichts anderes als ein Verhalten erkennen, das jeglichen Anstands und kulturellen Werts entbehrt. Meiner Ansicht nach gibt sich eine Gesellschaft selbst auf, wenn sie der Kunst im wahrsten Sinn des Wortes „Narrenfreiheit“ gewährt. Der Kunst keinerlei Grenzen zu setzen, bedeutet nichts anderes, als vor der Wertefrage zu kapitulieren und einzugestehen, dass die Gesellschaft letztlich keine Werte mehr besitzt, die sie formulieren, begründen und verteidigen kann. Damit verliert auch die Würde des Menschen ihre Unantastbarkeit.

Unredliche Instrumentalisierung für politische Zwecke

Die Unredlichkeit in der ganzen Diskussion um „Pussy Riot“ besteht nun darin, dass man der Rechtsprechung in Russland von vornherein unterstellt, es gehe ihr gar nicht um den Schutz von religiösen Gefühlen oder Werten, sondern allein um Machtpolitik. Putin hätte ein Exempel statuiert, um seine Gegner einzuschüchtern. Auch Moritz Gathmann stellt fest, dass diese Interpretation nicht der Wahrheit entspricht. Er bekräftigt: „Nicht etwa wegen der Worte ‚Gottesmutter, vertreibe Putin‘, sondern wegen der Tänze vor der Ikonostase, der Schimpfworte an einem religiösen Ort, wegen der erschrocken umherlaufenden älteren Frauen. Hätten die jungen Frauen, so wie bei früheren Aktionen – darunter der Auftritt ‚Putin hat sich in die Hosen gemacht‘ auf dem Roten Platz – einen weniger ‚heiligen‘ Ort gewählt, sie säßen nicht im Gefängnis.“

Es ist vor allem der Westen, der aus der Verurteilung einer primitiven und vulgären Provokation ein Politikum macht. Amnesty International, die angesehenste Menschenrechtsorganisation, sprach von einem „erschütternden, politisch motivierten Unrecht“, es sei „ein harter Schlag gegen die Meinungsfreiheit in Russland“. Allenthalben werden die Aktivistinnen nun als „politische Gefangene“ anerkannt. Ist es nicht verhängnisvoll, wenn sich so wichtige Organisationen wie Amnesty International in den Augen des russischen Volkes diskreditieren? Auch Gathmann gibt zu, dass man die Aktivistinnen schwerlich als „Dissidenten“ einordnen kann.

Muss es einen verwundern, wenn Russland angesichts solcher Trommelfeuer politische Vorgaben aus dem Westen immer deutlicher abweist und auf eine Außenpolitik setzt, die bewusst eigene Wege geht? Der europäischen Sache ist damit wenig gedient. Der Westen sollte meiner Meinung nach viel mehr auf eine engere Kooperation mit Russland hinarbeiten. Es handelt sich um einen wirtschaftlich wie politisch und kulturell so wichtigen Partner, der an Europa angebunden werden sollte. Können wir es uns heutzutage leisten, Russland aufgrund einer „Pussy Riot“-Affäre monatelang politisch zu kriminalisieren?

Das umstrittene Gerichtsurteil

Beim Gerichtsverfahren trug Nadeschda Tolokonnikowa, wie es bei den Aktivistinnen von „Pussy Riot“ häufig der Fall ist, ein T-Shirt mit der Darstellung einer geballten Faust und der Aufschrift „¡No pasarán!“ – „Sie werden nicht durchkommen!“. Dabei handelt es sich um den Schlachtruf der Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) gegen General Francisco Franco. Bei der Verhandlung waren die jungen Frauen ausdrücklich zu keiner Reue bereit, was das Strafmaß nach offizieller Erklärung negativ beeinflusste. Und als das Urteil verkündet wurde, begannen sie nur zu lachen. Schuldig befunden wurden sie wegen „religiös motivierten Rowdytums“ bzw. wegen „Anstiftung zum religiösen Hass“. Am 17. August 2012 verurteilte sie die Richterin Maria Syrowa zu zwei Jahren Straflager, wobei ihnen die Untersuchungshaft von gut fünf Monaten angerechnet wird.

Was mich persönlich etwas enttäuscht hat, war die Begründung des Urteils. Es wurde lediglich festgestellt, durch die Protestaktion der drei jungen Frauen sei „moralischer Schaden für die anwesenden Gläubigen“ entstanden. Über zehn von ihnen bestätigten dies mit ihren Zeugenaussagen vor Gericht. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch letztlich bedeutet diese Begründung: Auch das russische Gericht wagte es nicht, sich auf eine Wertediskussion einzulassen und allgemein von der Verletzung religiöser Gefühle oder einem Angriff auf religiöse Werte zu sprechen. Über das Strafmaß kann man tatsächlich geteilter Meinung sein. Ich bin überzeugt, dass die primitive Ebene, auf der die Aktivistinnen agieren, eine solche Aufmerksamkeit und eine so hoch gehängte Auseinandersetzung gar nicht verdient hat. Besser wäre es wohl gewesen, sie sofort nach ihrer Tat in eine soziale Einrichtung zu schicken und sie dort eine gehörige Anzahl von Arbeitsstunden absolvieren zu lassen. Ministerpräsident Medwedew hat irgendwie Recht, wenn er die Entscheidung für „unproduktiv“ hält. Am 12. September erklärte er, das Verhalten der jungen Frauen sei zwar – so wörtlich – „zum Kotzen“, doch spreche er sich für eine Aussetzung der Haft zugunsten einer Bewährungsstrafe aus.

Negative Auswirkungen auf Kirche und Gesellschaft

In vielen Dingen schätze ich unsere Bundeskanzlerin Merkel. Aber für ihre Stellungnahme zu „Pussy Riot“ schäme ich mich. „Das unverhältnismäßig harte Urteil“, so die Kanzlerin, stehe „nicht im Einklang mit den europäischen Werten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.“ Und gleichsam mit erhobenem Zeigefinger erinnerte sie daran, „Moskau“ habe die jungen Frauen verurteilt, obwohl es sich als Mitglied des Europarats zu diesen Werten bekannt habe. Schon von der juristischen Lage her ist diese Aussage nicht sachgerecht. Aber noch prekärer wird es, wenn sie hinzufügt: „Eine lebendige Zivilgesellschaft und politisch aktive Bürger sind eine notwendige Voraussetzung und keine Bedrohung für Russlands Modernisierung.“ Sind die Aktivistinnen von „Pussy Riot“ Beispiele für „politisch aktive Bürger“, für eine „lebendige Zivilgesellschaft“? Bilden sie die „notwendige Voraussetzung für die Modernisierung Russlands“? Dies jedenfalls behauptet Merkel wörtlich mir ihrer Aussage im Zusammenhang mit dem Gerichtsurteil. Meines Erachtens besteht die Schande eben darin, dass sie sich als Regierungschefin derart exponiert und sich gegen ein anderes Land ausspricht, sich jedoch mit keinem Wort vom unannehmbaren Charakter der „Pussy Riot“-Aktivitäten distanziert oder Verständnis für eine ablehnende Haltung zum Ausdruck bringt.

Ob es ein Außenminister Westerwelle ist, der sich für die Freiheit der drei „Musikerinnen“ einsetzt, ob es der Sprecher von José Manuel Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, ist, der behauptet, der Auftritt der Band in der Erlöser-Kathedrale habe im Gegensatz zum Film „Innocence of Muslims“ (Die Unschuld der Muslime) „nicht Hass, Intoleranz oder Vorurteile verbreitet“, sondern sei „ein Ausdruck von Kultur und von Gesang“ gewesen, oder ob es die 121 Bundestagsabgeordnete sind, die Anfang August in einem Brief an Russlands Botschafter in Deutschland, Wladimir Grinin, das Verfahren als „unverhältnismäßig und drakonisch“ bezeichnet haben, all diese Stimmen summieren sich und wirken natürlich auf die russische Gesellschaft ein. Wozu führt dies?

Einerseits fühlen sich die Gegner von „Pussy Riot“ unverstanden und verraten. In der Konsequenz sehen sie viele Persönlichkeiten sowohl im Parlament als auch in der Russisch-Orthodoxen Kirche dazu gezwungen, deutlicher aufzutreten und ihren Widerstand massiver zu artikulieren. Es formiert sich eine Art von extremem bis fundamentalistischem Pendelausschlag in die Gegenrichtung. Andererseits fühlen sich die Sympathisanten bestätigt. Am Tag der Urteilsverkündung sägte eine halbnackte Aktivistin der Gruppe „Femen“ aus Solidarität mit „Pussy Riot“ in Kiew mit einer Motorsäge ein großes Kreuz um. Daraufhin folgte eine ganze Reihe weiterer Zerstörungen von Kreuzen in Russland. Die Folge also ist eine immer tiefer werdende Spaltung der russischen Gesellschaft, die durch das Verhalten des Westens zu einem großen Teil mit verursacht wird.

Was gesagt werden muss!

Als katholische Kirche brauchen wir uns in unserer kritischen Stellungnahme nicht auf das beschränken, was gesetzlich aus dem Rahmen fällt. Im Gegenteil: Wir sind es den Menschen schuldig, über das weltliche Verständnis von Gesetzesübertretung hinaus die Dinge im Licht unseres Glaubens zu beurteilen. Ich möchte stichpunktartig einige Themen ansprechen, die im Fall von „Pussy Riot“ zur Diskussion stehen, und sie aus der Sicht der christlichen Botschaft bewerten:

Jede Art von Ausdruckform kann als „Kunst“ bezeichnet werden, wenn sich hinter ihr das Bemühen verbirgt, etwas Wesentliches oder Wahres über den Menschen und die Wirklichkeit zu vermitteln, oder wenn sie zumindest dazu anregt, sich danach auf die Suche zu machen. Dies gilt auch für die Darstellung des menschlichen Körpers. Exhibitionistische Handlungen und obszöne Pornographie dagegen sind keine Kunst, sondern Vergehen gegenüber den Mitmenschen. Einen solchen Charakter haben die Aktionen von „Pussy Riot“. Sie sind kein Kulturprodukt, sondern stellen eine Belästigung der Umwelt bis hin zur Verführung und zum Missbrauch von Minderjährigen dar. Außerdem begehen die Aktivisten mit ihrer öffentlich zur Schau gestellten Unzucht eine schwere Sünde. Wir müssen ihre vulgären Äußerungen und Aktionen verurteilen, weil nach unserer Überzeugung die Sexualität eine heilige Gabe Gottes darstellt, die als Ausdruck hingebender und treuer Liebe gelebt werden muss.

Die Aktivisten von „Pussy Riot“ als Kreml-Kritiker zu bezeichnen ist eine Verharmlosung und Irreführung. Vielmehr lehnen sie sich gegen jede Art von Autorität auf, sowohl gegen die menschliche als auch gegen die göttliche. Die Unfähigkeit, in der Autorität der Eltern, der Verantwortlichen des Staates oder der Kirche etwas Positives und für das Gelingen des menschlichen Lebens Konstitutives zu erkennen, bildet eine gefährliche Grundlage für Verbrechen aller Art. Außerdem ist sie an sich bereits eine sündhafte Haltung, da sie Gott als Ursprung und Ziel des Lebens ablehnt. Die Nominierung der drei verurteilten Frauen für den Sacharow-Preis, den Preis des Europäischen Parlaments für den Einsatz zur Verteidigung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit, durch den Grünen-Politiker Werner Schulz und weitere 45 Abgeordnete halte ich nicht nur für abwegig, sondern für eine Beleidigung all derjenigen, die wirklich für diese Werte kämpfen.

Als Christen müssen wir klarstellen, dass die Aktion in der Erlöser-Kirche kein Gebet im eigentlichen Sinn war. Die Aktivistinnen bekennen sich nicht zu einer persönlichen Gottesbeziehung und lehnen die christlichen Wertvorstellungen ab. Unabhängig davon, wen sie in der Kathedrale gestört haben, stellt ihre Aktion eine ungeheure Ehrfurchtslosigkeit Gott gegenüber dar. Verständlicherweise sprechen Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche von Blasphemie und Gotteslästerung. Eine solche Sünde wird nur vergeben, wenn der Sünder Gott demütig und ehrlich um Verzeihung bittet. Zu einer solchen Reue und Umkehr sollten wir die Frauen in ernst gemeinter Sorge um ihr Seelenheil auffordern.

Welche erhabenen Werte sind Gewissens- und Religionsfreiheit, Liebe zwischen Mann und Frau, Familie und Gebet! Sie werden durch die „Pussy Riot“-Affäre in den Schmutz gezogen. Mit den antichristlichen und antihumanistischen Werten, welche die Punkband bislang verkörpert und verkündet, hat Europa keine Zukunft. Das ist es, was gesagt werden muss. Wenn Moritz Gathmann am Tag vor der Urteilsverkündung im „Spiegel“ zum Ausdruck brachte, der Prozess habe „Russlands Gesellschaft wie kein anderer gespalten und Russlands Bild im Ausland nachhaltig geschadet“, so füge ich hinzu: Der Westen hat mit seiner Haltung zu den Ereignissen um „Pussy Riot“ seinem eigenen Bild in der Welt und seinem berechtigten demokratischen Anliegen „nachhaltig geschadet“.

Neuevangelisierung – Gebot der Stunde

Thomas Maria Rimmel hielt Anfang September 2012 auf dem 23. Internationalen Mariologischen Kongress in Rom einen Vortrag, in dem er schwerpunktmäßig auf die Bedeutung der Neuevangelisierung einging. Seit dem II. Vatikanischen Konzil spielt die Thematik in der Lehrverkündigung der Päpste eine immer größere Rolle. Rimmel stellt das drängende Problem vor und beleuchtet die Impulse, welche die Kirche als Antwort auf die dramatische Entwicklung in den traditionell katholischen Ländern anbietet. Nachfolgend die entscheidenden Auszüge aus seinem Referat.

Von Thomas Maria Rimmel

Gebot der Stunde

In seiner Enzyklika „Redemptoris missio“ über die fortdauernde Gültigkeit des missionarischen Auftrages beklagt Papst Johannes Paul II. 1990, 25 Jahre nach Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), nicht nur, „die eigentliche Sendung ad gentes scheint nachzulassen, was gewiss nicht den Weisungen des Konzils und den damit zusammenhängenden Aussagen des Lehramts entspricht. Innere und äußere Schwierigkeiten haben den missionarischen Schwung im Hinblick auf die Nicht-Christen erlahmen lassen.“[1] Er warnt offen vor einer „Situation“ „vor allem in Ländern mit alter christlicher Tradition, aber manchmal auch in jüngeren Kirchen, wo ganze Gruppen von Getauften den lebendigen Sinn des Glaubens verloren haben oder sich gar nicht mehr als Mitglieder der Kirche erkennen, da sie sich in ihrem Leben von Christus und vom Evangelium entfernt haben. In diesem Fall braucht es eine ‚neue Evangelisierung‘ [‚nova evangelizatio‘] oder eine ‚Wieder-Evangelisierung‘ [‚iterata evangelizatio‘].“[2] Er prägt den Begriff der „Neuevangelisierung“, die für ihn ein Gebot der Stunde ist.[3] Die Mission ad gentes als Erstevangelisierung richtet sich an Nicht-Christen, den bereits Getauften gilt die Neuevangelisierung. Doch sind für Johannes Paul II. „die Grenzen zwischen der Seelsorge der Gläubigen, der Neu-Evangelisierung und der ausgesprochen missionarischen Tätigkeit nicht eindeutig bestimmbar, und es ist undenkbar, zwischen ihnen Barrieren oder scharfe Trennungen zu machen“.[4] 

Papst Paul VI. hatte bereits 1975, zehn Jahre nach Konzilsende, das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi veröffentlicht. Darin bezeichnet er die Evangelisierung als das Hauptanliegen des ganzen Konzils. „In einem Wort“ ausgedrückt gehe es darum, „die Kirche des 20. Jahrhunderts besser zu befähigen, das Evangelium der Menschheit des 20. Jahrhunderts zu verkünden.“[5] Vorausgegangen war vom 27. September bis 26. Oktober 1974 in Rom die 3. Vollversammlung der Bischofssynode zum Thema „Die Evangelisierung in der Welt von heute“. Paul VI. unterschied bei den Adressaten der Evangelisierung bereits damals zwischen einer Erstverkündigung an jene, „die von der Frohbotschaft Jesu noch nichts gehört haben“, und „angesichts der heute häufig zu beobachtenden Entchristlichung“ von der Notwendigkeit einer erneuten Verkündigung und von Glaubenshilfen „für sehr viele, die zwar getauft sind, aber gänzlich außerhalb eines christlichen Lebensraumes stehen“.[6] Evangelii nuntiandi handelt erstmals „von neue[n] Zeiten der Evangelisierung“.[7] Doch lautet der lateinische Text „feliciora evangelizationis tempora“. Da „feliciora“ „fruchtbarere“, „erfolgreichere“, „glücklichere“ oder „glückbringendere“ bedeuten kann, wäre die Rede von „fruchtbareren“ bzw. „erfolgreicheren Zeiten der Evangelisierung“ treffender. Zwischenzeitlich ist das „Phänomen der Abkehr vom Glauben“[8] und die Dringlichkeit zur „Neuevangelisierung“ so offenkundig, dass Papst Benedikt XVI. zum Abschluss des Paulusjahres am 28. Juni 2010 in der Basilika St. Paul vor den Mauern die Errichtung des  Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung angekündigt und diesen am 21. September 2010 errichtet hat. Um dieses Anliegen noch mehr zu unterstreichen, stellt er die 13. Vollversammlung der römischen Bischofssynode zum 50. Jahrtag der Konzilseröffnung (11. Oktober 1962) vom 7. bis 28. Oktober 2012 unter das Thema: „Die Neuevangelisierung zur Weitergabe des christlichen Glaubens“. Denn für Benedikt XVI. ist „heute ein überzeugterer kirchlicher Einsatz für eine neue Evangelisierung notwendig, um wieder die Freude am Glauben zu entdecken und die Begeisterung in der Weitergabe des Glaubens wiederzufinden.“[9] Überhaupt brauche es „ein ständiges Fortschreiten von der evangelisierten hin zur evangelisierenden Kirche.“[10] 

Evangelium Gottes

Der Ursprung der Evangelisierung ist Jesus Christus: „er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14-15). Gleichzeitig ist er „der Angelpunkt der gesamten Evangelisierung“.[11] Christus überträgt seine Sendung den Aposteln: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20,21). „Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk 16,15-16). Das Neue Testament und insbesondere die Apostelgeschichte berichten dann von den „erfolgreichen Zeiten der Evangelisierung“ am Anfang der Kirche. Grundlage ist das vom Geist Gottes erfüllte Glaubenszeugnis der Apostel. „Diesen Jesus hat Gott auferweckt“, bekennt Petrus in seiner Pfingstpredigt in Jerusalem, „dafür sind wir alle Zeugen“ (Apg 2,32). Als Beweis folgt die Heilung eines Gelähmten (vgl. Apg 3). „Durch die Hände der Apostel geschahen viele Zeichen und Wunder im Volk“ (Apg 5,12), die belegen, Gott existiert, er ist am Werk. „Immer mehr wurden im Glauben zum Herrn geführt, Scharen von Männern und Frauen“ (Apg 5,14). Sie kehren um und lassen sich zur Vergebung ihrer Sünden taufen, in der Hoffnung ewiglich gerettet zu werden. Für Johannes Paul II. findet „die Verkündigung der frühen Kirche ihre Mitte“ in der Verbindung der „Verkündigung über das Reich Gottes (Inhalt des ‚Kerygmas‘ Jesu)“ mit der „Verkündigung des Ereignisses Jesus Christus (‚Kerygma‘ der Apostel)“.[12] Ihre Überzeugungskraft schöpft diese Verkündigung nicht zuletzt aus dem Leben der ersten Christen: „Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte. Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. Sie lobten Gott und waren beim ganzen Volk beliebt“ (Apg 2,44-47). Gleichzeitig wird die Urgemeinde nicht müde zu flehen: „Streck deine Hand aus, damit Heilungen und Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus“ (Apg 4,30). Alle Heilungen, Zeichen, Wunder, Visionen und Prophetien[13] in der Apostelgeschichte verfolgen letztlich das eine Ziel: Die Menschen sollen erkennen, dass der Erlöser da ist. Bezeichnenderweise steht am Beginn der Evangelisierung Europas eine Vision des Paulus in Troas: „Ein Mazedonier stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Auf diese Vision hin wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, dass uns Gott dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden“ (Apg 16,9-10).

Jesus Christus ist der Herr!

Nichts anderes bedeutet Neuevangelisierung, nämlich die Menschen von heute, die nicht mehr selbstverständlich annehmen können, dass Gott Mensch geworden ist, „unter geschichtlichen Bedingungen, die sich von denen der Vergangenheit unterscheiden“,[14] zu einer „lebendige[n] Erkenntnis Jesu, des Herrn, der in unserem Leben und in der Geschichte gegenwärtig ist“,[15] zu führen. Neuevangelisierung bedeutet, der Mensch des 21. Jahrhunderts bekennt: „Jesus Christus ist der Herr“ (Phil 2,11). Jesus ist Gott! In Zeiten einer Massenapostasie (Benedikt XVI. spricht von „einer tiefen Glaubenskrise“, die „in großen Teilen der Gesellschaft … viele Menschen befallen hat“[16]) muss der Glaube, der zu einem solchen Bekenntnis befähigt, vollkommen neu geboren werden. Dazu bedarf es ganz neuer Anknüpfungspunkte, die verständlich machen, wie das Evangelium heute wirkt, wie es heute das Herz der Menschen entflammen kann. Neuevangelisierung muss zeigen, dass der Erlöser da ist, dass Gott existiert, dass er am Werk ist und heute hilft, die aktuellen Probleme zu meistern bzw. zu lösen. Wie in den Anfängen der Kirche wird der Glaube auch heute dort geboren, wo es Menschen bzw. Gemeinschaften gibt, die das Evangelium mit Begeisterung angenommen haben und in Übereinstimmung mit ihrem Leben verkünden. Jeder Getaufte ist gefragt. „Darauf bedacht, die Zeichen der Zeit im Heute der Geschichte zu erkennen“, so Benedikt XVI., „verpflichtet der Glaube jeden von uns, ein lebendiges Zeichen der Gegenwart des Auferstandenen in der Welt zu werden. Das, was die Welt von heute besonders braucht, ist das glaubhafte Zeugnis derer, die, vom Wort des Herrn im Geist und im Herzen erleuchtet, fähig sind, den Geist und das Herz vieler zu öffnen für die Sehnsucht nach Gott und nach dem ewigen Leben, das kein Ende kennt.“[17] Überzeugend allein ist, „den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist“ (Gal 5,6). Zu den glaubwürdigen Kennzeichen zählen heute die Fähigkeit, das gegenseitige Verurteilen und die Streitigkeiten hinter sich zu lassen, „die Kraft zur Vergebung angesichts der erlittenen Beleidigung“,[18] die Überwindung des Egoismus in allen Formen wie der des Rassismus und auf allen Ebenen wie z. B. im Rahmen der Globalisierung, die „Option für die Armen“ und vor allem der Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Es muss sichtbar werden, wozu die Liebe Gottes fähig ist. Ohne Liebe ist die Verwandlung der Welt nicht möglich. In dem Maß, wie die Menschen ihr Herz für die Liebe öffnen, in die Schule der Liebe gehen, die Liebe einüben und lieben, wird die Welt besser und das Reich Gottes wächst. „Das Reich ist darauf angelegt“, so Johannes Paul II., „die Beziehungen unter den Menschen zu verändern und verwirklicht sich schrittweise, insofern sie lernen, einander zu lieben, einander zu vergeben und einander zu dienen.“[19] In dem Maß, wie die Menschen sich auf diese „Zivilisation der Liebe“ einlassen, werden sie auch an der Liebe Gottes in der Herrlichkeit teilhaben. „Zivilisation der Liebe“ und Neuevangelisierung bedingen sich gegenseitig.

Zeit und Ewigkeit

In seiner Sozialenzyklika Centesimus annus erteilt Johannes Paul II. deshalb eine deutliche Absage an „eine zweifache Tendenz“ früherer Zeiten, „die eine, ausgerichtet auf diese Welt und dieses Leben, das mit dem Glauben nichts zu tun hatte; die andere, einseitig dem jenseitigen Heil zugewandt, das jedoch für das Erdenleben bedeutungslos blieb.“[20] Jene, die nach einer besseren Welt trachteten, dürften nicht als Weltverbesserer verurteilt werden, welche die Ewigkeit von vornherein ausklammerten. Gleichzeitig sei die höchste Form der Nächstenliebe die Weitergabe des Glaubens. Doch niemandem könne der Glaube aus echter Liebe verkündet werden, so der Apostel Jakobus, wenn ihm in seiner Not nicht auch tatkräftig geholfen werde.[21] Johannes Paul II. forderte deshalb: „Die ‚Neuevangelisierung‘, die die moderne Welt dringend nötig hat und auf der ich wiederholt insistiert habe, muss zu ihren wesentlichen Bestandteilen die Verkündigung der Soziallehre der Kirche zählen.“[22] Die Sorge um die Welt und das sich Kümmern um das ewige Heil sind nicht Zweierlei. Bei denjenigen, die sich nicht zugleich für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden einsetzen, führt die Weitergabe des Glaubens oft nur zu einer unfruchtbaren Besserwisserei, aber nicht zur Neuevangelisierung. Neuevangelisierung ist weder eine soziale Masche, noch ein Vertrösten auf die Ewigkeit. Neuevangelisierung ist das, was Zeit und Ewigkeit zusammenbringt.

„Christlicher Frühling“

Johannes Paul II. vermittelt eine Haltung der Zuversicht, von der alle Bemühungen um die Neuevangelisierung getragen sein müssen. Gegen Ende seiner Enzyklika Redemptoris missio erteilt er jeglichem Pessimismus bei der Verbreitung des Evangeliums eine Absage: „Unmittelbar vor Anbruch des dritten Jahrtausends der Erlösung ist Gott dabei, einen großen christlichen Frühling zu bereiten, dessen Morgenröte man schon ahnend erkennen kann.“[23] Diese „Vision der Hoffnung“ verankert er im weltweiten Aufleben der „Ideale und Werte des Evangeliums“ und nennt unter anderem „die Absage an Gewalt und Krieg; die Achtung der menschlichen Person und ihrer Rechte; der Wunsch nach Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit; die Überwindung von Rassismen und Nationalismen; die Bejahung der Würde und Aufwertung der Frau.“[24] Damit sind wichtige Anknüpfungspunkte für die heutige Neuevangelisierung genannt. Nicht weniger Mut macht der Schluss der Enzyklika: „Noch nie hatte die Kirche so wie heute die Möglichkeit, das Evangelium durch das Zeugnis und das Wort allen Menschen und allen Völkern zukommen zu lassen. Ich sehe ein neues Missionszeitalter heraufdämmern, das zu einem hellen Tag, reich an Früchten, werden wird, wenn alle Christen, besonders die Missionare und die jungen Kirchen, mit Hochherzigkeit und Heiligkeit auf die Appelle und Herausforderungen unserer Zeit antworten.“[25] Die Kirche steht erst am Anfang, die vielen technischen Möglichkeiten (TV, Internet, soziale Netzwerke) als Orte der Neuevangelisierung zu entdecken und zu nutzen.

Doch gilt für die Neuevangelisierung dasselbe wie für die Mission ad gentes: „Es genügt weder die pastoralen Methoden zu erneuern noch die kirchlichen Kräfte besser zu organisieren bzw. zu koordinieren oder etwa die biblischen und theologischen Glaubensgrundlagen mit größerer Klugheit zu erforschen: es gilt, ein neues ‚glühendes Verlangen nach Heiligkeit‘ (…) zu wecken.“[26] Es werden in dem Maß „fruchtbarere“ bzw. „erfolgreichere Zeiten der Evangelisierung“ anbrechen, wie jeder Getaufte bereit ist, zuerst sich selbst zu evangelisieren bzw. zu heiligen.


[1] Johannes Paul II., Redemptoris missio, 2. [fortan zit. als: RM].
[2] RM 33.
[3] Johannes Paul II., Christifideles laici, 34.
[4] RM 34.
[5] Paul VI., Evangelii nuntiandi, 2. [fortan zit. als: EN].
[6] Vgl. EN 52.
[7] EN 2.
[8] Benedikt XVI, Ubicumque et semper (21.9.2010).
[9] Benedikt XVI, Porta fidei, 7.
[10] Benedikt XVI, Ubicumque et semper.
[11] RM 44.
[12] Vgl. RM 16.
[13] Z.B. die Vision des Hauptmanns Kornelius in Cäsarea und die Vision des Petrus in Joppe (vgl. Apg 10).
[14] Benedikt XVI, Porta fidei, 4.
[15] Ebd., 14.
[16] Ebd., 2.
[17] Ebd., 15.
[18] Ebd., 13.
[19] RM 15.
[20] Johannes Paul II., Centesimus annus, 2. [fortan zit. als: CA].
[21] Vgl. Jak 2,14-18.
[22] CA 5.
[23] RM 86.
[24] RM 86.
[25] RM 92.
[26] RM 90.

Bringt das Kreuz Christi nicht um seine Kraft!

Trotz der angespannten Lage ließ es sich Benedikt XVI. nicht nehmen, vom 14. bis 16. September 2012 in den Libanon zu reisen und dort das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Ecclesia in Medio Oriente über „die Kirche im Nahen Osten“ zu unterzeichnen und feierlich zu übergeben. Die arabisch-muslimische Welt bewunderte den Mut des Papstes und nahm ihn mit großer Ehrerbietung auf. Die Christen aber nützten die Gelegenheit, um ein begeistertes Zeugnis abzulegen. Es war zu spüren, dass sie nicht nur kamen, um dem Papst einen Gefallen zu tun. Es ging um ihre Sache! Es war ihr Stolz, Christus nicht zu verstecken, sondern auf den Thron zu heben. Der Papst aber betonte ihre Berufung, auf das Böse und die Gewalt anders zu reagieren als die übrige Welt, ja, ein Charisma zu leben, das auch der Islam und das Judentum nicht vertreten: durch das Verzeihen das Böse in Liebe verwandeln – durch die Kraft des Kreuzes Christi. Auch wenn Benedikt XVI. auf das Wort des hl. Paulus (1 Kor 1,17) nicht Bezug genommen hat, lässt sich seine Botschaft mit dem Ruf zusammenfassen: „Bringt das Kreuz Christi nicht um seine Kraft!“

Von Papst Benedikt XVI.

Prophetisches Zeichen des Friedens

Bei der Generalaudienz am 19. September 2012 blickte Benedikt XVI. „tief bewegt“ auf seine Reise in den Libanon zurück und fasste die Bedeutung der einzelnen Stationen mit hoffnungsvollen Worten zusammen (offizielle Kurzform in deutscher Sprache):

Heute möchte ich kurz mit meinen Gedanken zu den bewegenden Tagen meines Apostolischen Besuchs im Libanon zurückkehren. Trotz der schwierigen Umstände war es mir wichtig, diese Reise zu unternehmen. Ich hatte das Bedürfnis, den Menschen im Libanon den Frieden des auferstandenen Herrn zu verkünden, und ich wollte das Nachsynodale Apostolische Schreiben Ecclesia in Medio Oriente den Verantwortlichen der katholischen Gemeinschaften im Nahen Osten, aber auch den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und den muslimischen Führern übergeben.

In diesen Tagen bin ich auch besonders mit den katholischen Gläubigen des Libanon und des Nahen Ostens zusammengekommen. Zu Tausenden waren sie zugegen, und ich muss sagen, ich bin voller Dankbarkeit und tief bewegt von der herzlichen Aufnahme, dem glühendem Gebet und dem Glaubenszeugnis dieser Menschen. Gerade die Jugendlichen haben mit ihrer Begeisterung gezeigt, dass die Kirche im Nahen Osten jung und lebendig ist.

Zugleich war es mir ein tiefes Anliegen, mit den Verantwortlichen der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sowie insbesondere auch mit Vertretern der muslimischen Gemeinschaften und den Autoritäten der Politik zusammenzutreffen. Im gemeinsamen Gespräch und Kennenlernen konnte gegenseitige Wertschätzung wachsen.

So wurden diese Begegnungen zu einem Zeichen der Brüderlichkeit und der Hoffnung für die ganze Region. Nicht Gewalt schafft Frieden, sondern der Dialog, die Achtung der Menschenwürde und vor allem Versöhnung. Der Herr mache uns alle zu Boten seines Friedens.

Die Bedeutung des Festes „Kreuzerhöhung“

Am Freitag, 14. September 2012, dem Fest Kreuzerhöhung, besuchte der Papst die Basilika St. Paul der „geschätzten melkitischen Gemeinschaft“ in Harissa und unterzeichnete das Nachsynodale Apostolische Schreiben über die Kirche im Nahen Osten:

Es ist von der Vorsehung gewollt, dass dieser Akt am Fest Kreuzerhöhung stattfindet, das im Jahr 335 im Osten entstanden ist – und zwar am Tag nach der Weihe der Auferstehungskirche, die Kaiser Konstantin der Große, den ihr als Heiligen verehrt, auf Golgota und über dem Grab des Herrn errichtet hat. Nächsten Monat wird der 1700. Jahrestag der Erscheinung gefeiert, die ihn in der symbolischen Nacht seines Unglaubens das flammende Christusmonogramm hat sehen lassen, als eine Stimme zu ihm sagte: „Durch dieses Zeichen wirst du siegen!“ Später unterschrieb Konstantin die Vereinbarung von Mailand zur Religionsfreiheit und gab der Stadt Konstantinopel seinen Namen. Ich denke, das Nachsynodale Schreiben kann im Licht des Festes Kreuzerhöhung gelesen und interpretiert werden, und insbesondere im Licht des Christusmonogramms X (Chi) und P (Rho), der ersten beiden Buchstaben des Wortes Χριστός. Eine solche Lesart führt zu einer echten Wiederentdeckung der Identität des Getauften und der Kirche. Gleichzeitig bildet sie einen Aufruf zum Zeugnis in der und durch die Gemeinschaft. Sind die Gemeinschaft und das christliche Zeugnis nicht auf das Ostergeheimnis, auf die Kreuzigung, den Tod und die Auferstehung Christi gegründet? Finden sie nicht dort ihre volle Erfüllung? Es besteht ein unlösliches Band zwischen Kreuz und Auferstehung, was der Christ nicht vergessen darf. Ohne dieses Band würde „das Kreuz erhöhen“ bedeuten, das Leiden und den Tod zu rechtfertigen und in ihnen nichts als ein fatales Ende zu sehen. Für den Christen heißt „das Kreuz erhöhen“, an der Ganzheit der bedingungslosen Liebe Gottes zum Menschen teilzuhaben. Dies bedeutet, einen Akt des Glaubens zu setzen! „Das Kreuz erhöhen“ heißt im Licht der Auferstehung, die Ganzheit dieser Liebe leben und bezeugen zu wollen! Dies bedeutet, einen Akt der Liebe zu setzen! „Das Kreuz erhöhen“ führt dazu, sich als Boten der brüderlichen und kirchlichen Gemeinschaft einzusetzen, die Quelle echten christlichen Zeugnisses ist. Dies bedeutet, einen Akt der Hoffnung zu setzen!

Das ruhmreiche Kreuz – Sieg der Liebe über den Hass

Ecclesia in Medio Oriente erlaubt es, über die Gegenwart nachzudenken, um die Zukunft mit dem Blick Christi ins Auge zu fassen. Das Schreiben will … einen Weg skizzieren, um das Wesentliche wiederzufinden: die Nachfolge Christi, und zwar in einem schwierigen und manchmal schmerzlichen Kontext, der zu der Versuchung führen könnte, das ruhmreiche Kreuz zu übergehen und es zu vergessen. Gerade am heutigen Tag ist der Sieg der Liebe über den Hass zu feiern, jener der Vergebung über die Vergeltung, jener des Dienens über das Herrschen, jener der Demut über den Stolz, jener der Einheit über die Spaltung. Im Licht des heutigen Festes und im Blick auf eine fruchtbare Umsetzung des Schreibens lade ich euch alle ein, keine Angst zu haben, in der Wahrheit zu bleiben und die Reinheit des Glaubens zu pflegen. Das ist die Sprache des ruhmreichen Kreuzes! Das ist die Torheit des Kreuzes, die es versteht, unsere Schmerzen in einen Schrei der Liebe zu Gott und des Erbarmens für den Nächsten zu verwandeln; die es auch versteht, in ihrem Glauben und ihrer Identität angegriffene und verwundete Menschen in irdene Gefäße zu verwandeln, die bereit sind, sich vom Übermaß der göttlichen Gaben erfüllen zu lassen, die wertvoller als Gold sind (vgl. 2 Kor 4,7-18).

Der „arabische Frühling“ aus christlicher Sicht

Schon bei der Pressekonferenz auf dem Flug in den Libanon gab Benedikt XVI. eine überraschend positive Bewertung des so genannten „arabischen Frühlings“ ab:

An sich, würde ich sagen, ist der „arabische Frühling“ eine positive Sache: Es ist ein Wunsch nach mehr Demokratie, größerer Freiheit, größerer Zusammenarbeit, nach einer neuen arabischen Identität. Dieser Ruf nach Freiheit, der von einer jungen Generation kommt, die über eine größere kulturelle und berufliche Bildung verfügt und eine stärkere Teilnahme am politischen, am gesellschaftlichen Leben wünscht, ist ein Fortschritt, eine sehr positive Sache, die gerade auch von uns Christen begrüßt wird. Natürlich wissen wir aus der Geschichte der Revolutionen, dass der so wichtige und positive Ruf nach Freiheit immer in Gefahr ist, einen Aspekt zu vergessen, eine grundlegende Dimension der Freiheit, nämlich die Toleranz gegenüber dem anderen; die Tatsache, dass die menschliche Freiheit immer eine gemeinsame Freiheit ist, die nur in Teilhabe und Solidarität, im Miteinander und unter bestimmten Regeln wachsen kann. Dies ist stets die Gefahr, auch in der gegenwärtigen Situation. Wir alle müssen das Mögliche tun, damit der Begriff der Freiheit, der Wunsch nach Freiheit in die richtige Richtung geht und nicht die Toleranz, das Miteinander, die Versöhnung als grundlegende Elemente der Freiheit vergisst. So schließt – denke ich – auch die neue arabische Identität ebenso die Erneuerung des jahrhundertlangen und tausendjährigen Miteinanders von Christen und Arabern mit ein. Denn gerade gemeinsam, in der Toleranz von Mehrheit und Minderheit, haben sie diese Länder aufgebaut, und sie können nicht anders als zusammenleben. Daher denke ich, dass es wichtig ist, das positive Element in diesen Bewegungen zu sehen und unseren Teil zu leisten, damit die Freiheit richtig verstanden wird und einem größeren Dialog entspricht und nicht der Herrschaft eines gegen die anderen.

Die wahre Revolution der Liebe

Bei der Begegnung auf dem Platz vor dem Maronitischen Patriarchat von Bkerké am Samstag, 15. September 2012, rief der Papst den Jugendlichen zu:

Christus sagt euch: „Meinen Frieden gebe ich euch“. Das ist die wahre Revolution, die Christus gebracht hat, die Revolution der Liebe.

Die derzeitigen Frustrationen dürfen euch nicht dazu verleiten, in Parallelwelten zu flüchten wie etwa jene von Drogen jeder Art oder in die armselige Welt der Pornographie. Was die sozialen Netzwerke betrifft, so sind sie zwar interessant, können euch aber sehr leicht in eine Abhängigkeit und in die Verwechslung zwischen reell und virtuell hineinziehen.

Seid Träger der Liebe Christi! Wie? Indem ihr euch ohne Vorbehalt Gott, seinem Vater, zuwendet, der das Maß für das Rechte, Wahre und Gute ist. Betrachtet das Wort Gottes! Ihr werdet das Interesse für das Evangelium und seine Aktualität entdecken! Betet! Das Gebet und die Sakramente sind die sicheren und wirksamen Mittel, um Christ zu sein und „in Christus verwurzelt und auf ihn gegründet am Glauben festzuhalten“ (vgl. Kol 2,7).

Nun möchte ich die muslimischen Jugendlichen begrüßen, die heute abend bei uns sind. Ich danke euch für euer Kommen, das so bedeutsam ist. Ihr seid zusammen mit euren christlichen Altersgenossen die Zukunft dieses wunderbaren Landes und des gesamten Nahen Ostens. Sucht, ein Miteinander aufzubauen! Und wenn ihr erwachsen sein werdet, lebt einträchtig weiter in Einheit mit den Christen. Die Schönheit des Libanon besteht nämlich in dieser wunderbaren Symbiose. Der gesamte Nahe Osten muss mit Blick auf euch einsehen, dass Muslime und Christen, Islam und Christentum ohne Hass und in der Achtung des Glaubens eines jeden zusammenleben können, um gemeinsam eine freie und menschliche Gesellschaft aufzubauen.

Der Einsatz der katholischen Kirche im Dritten Reich (Teil II)

Rettungsversuche von Juden in Ungarn

Mit der Reihe „Die Kirche und die Juden“ dokumentiert Dr. Kurt Weiß den vielfältigen Einsatz der katholischen Kirche zur Rettung von Juden im Dritten Reich. In seinem zweiten Beitrag beschreibt er die Vorgänge in Ungarn gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Etwa 200.000 ungarische Juden verdankten den Interventionen des Vatikans und der Hilfe der katholischen Kirche vor Ort ihr Überleben. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Angelo Rotta, der damalige Päpstliche Nuntius und Doyen des Diplomatischen Korps in Budapest. Schon zuvor hatte er als Apostolischer Nuntius auf dem Balkan durch die Ausgabe von Taufzertifikaten und Reisegenehmigungen nach Palästina bulgarischen Juden das Leben gerettet. 1997 wurde er von Yad Vashem in die Liste der „Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen.

Von Kurt Weiß

Als im März 1944 deutsche Truppen in Ungarn einmarschierten, lebten dort 750.000 Juden. Im Auftrag des Papstes setzten sich der Apostolische Nuntius in Budapest, Angelo Rotta, und Kardinalprimas Jusztinián György Serédi immer wieder für die verfolgten Juden ein. Nach mehreren mündlichen Protesten überreichte der Nuntius der ungarischen Regierung am 15. Mai 1944 eine schriftliche Protestnote. Am 25. Juni 1944 schickte der Papst ein Telegramm an den Reichsverweser Miklós Horthy, in dem er ihn aufforderte, „alle seine Einflussmöglichkeiten aufzuwenden, damit so vielen Unglücklichen neues Elend und neue Schmerzen erspart blieben“.[9] Horthy zeigte Wirkung. Er befahl, alle Deportationen von Juden einzustellen. Die Deutschen erfuhren von diesen Vorgängen, da sie das Hauptpostamt von Budapest überwachten. Hitler scherte sich überhaupt nicht um die Intervention des Papstes. Auf Befehl Hitlers übermittelte Außenminister Ribbentrop über seinen Bevollmächtigten Veesenmayer eine Botschaft an Horthy, in der dieser aufgefordert wurde, die Wünsche von Pius XII. nicht zu erfüllen. Eichmann setzte die Deportationen fort.

Am 28. Oktober 1944 ermahnte der Papst in einem Telegramm den ungarischen Primas Serédi, sich intensiver für die ihrer Abstammung wegen Verfolgten einzusetzen. Serédi verlangte deshalb am 8. November 1944 in einer energischen Note an Ministerpräsident Döme Sztójay, die Gräuel und Deportationen zu stoppen.

In der Zeit zwischen den päpstlichen Telegrammen hatten sich die Ereignisse überstürzt. Während Horthy die Transporte einstellen ließ, befahl Eichmann immer wieder, Züge nach Auschwitz zu schicken. Am 20. Oktober 1944 ließ er 22.000 Juden zu einem Todesmarsch zur österreichischen Grenze treiben. Der päpstliche Nuntius Rotta ordnete an, dem Todeszug mit einem Lastwagenkonvoi und kirchlichen Schutzbriefen hinterherzufahren. So konnte er 2000 Juden retten. 20.000 kamen um.

Insgesamt gaben der Nuntius sowie Priester, Nonnen und Mönche ungefähr 150.000 päpstliche Schutzbriefe und 20.000 Pässe aus. In Klöstern und kirchlichen Anstalten wurden Tausende von Juden versteckt. Genaue Zahlen und Ortsangaben finden sich in dem Werk des ungarischen Historikers Jenö Levai, Geheime Kommandosache. Papst Pius XII. hat nicht geschwiegen.[10] 

Dass die Ungarn unter einem Trommelfeuer von Protesten gegen die Deportationen der Juden standen, berichtet Raul Hilberg. In seinem Werk The Destruction of European Jews[11] erwähnt er ein Gespräch vom 4. Juli 1944 zwischen Hitlers Gesandten in Ungarn, Veesenmayer, und dem ungarischen Reichsverweser Horthy. Dieser beklagte sich darüber, dass er täglich Protesttelegramme vom schwedischen König, vom Roten Kreuz, von der Schweiz und vom Vatikan erhalte.[12] Am 5. Juli 1944 wies der ungarische Ministerpräsident Sztójay den Gesandten Veesenmayer darauf hin, dass die ungarische Regierung von Telegrammen des Papstes und des Königs von Schweden überflutet werde und der päpstliche Nuntius täglich mehrmals vorspreche.[13] Am 21. August 1944 übergab der Nuntius der ungarischen Regierung eine Note, in der die Diplomaten der in Ungarn vertretenen Mächte gegen die bevorstehende Wiederaufnahme der Deportationen ungarischer Juden protestieren.[14] 

Horthy, der sich als Christ immer wieder für die Juden einsetzte und sein Land aus dem Krieg herauszuhalten versuchte, wurde am 15. Oktober 1944 von den Deutschen verhaftet. Szálasi, der Anführer der antisemitischen Pfeilkreuzler, wurde Ministerpräsident. Von ihm erhielt Nuntius Rotta am 21. Oktober 1944 nach langen Verhandlungen die Zusage, dass die Juden nicht deportiert oder getötet, sondern zur Zwangsarbeit in Ungarn eingesetzt würden. Diese Zusage wurde nicht eingehalten. Deshalb übergab der Nuntius erneut eine Protestnote der neutralen Mächte an die ungarische Regierung. Diese wies darauf die Pfeilkreuzler an, ausländische Schutzbriefe und Pässe zu respektieren.

In Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz gab der Nuntius im November 1944 zahlreiche Blanko-Schutzbriefe aus. Ein Angestellter des Roten Kreuzes fälschte auch Taufscheine und Ausweise. Zu ihm sagte Nuntius Rotta: „Was Sie machen, mein Sohn, das ist Gott und Jesus wohlgefällig, weil Sie unschuldige Menschen retten … Setzen Sie Ihre Arbeit zur Ehre Gottes fort.“[15] 

Als die Nuntiatur in Budapest durch sowjetische Bomben teilweise zerstört wurde, fragte Rotta den Papst, was er tun solle. Pius XII. antwortete, Rotta möge noch in Budapest bleiben, falls er in der Lage sei, dort noch den Juden zu helfen. Am 25. Dezember 1944 verfasste Rotta wieder zusammen mit den Botschaftern der neutralen Staaten eine Protestnote gegen die Verfolgung der Juden. Mutig weigerte sich Rotta, wegen des bevorstehenden Einmarschs der sowjetischen Truppen aus Budapest zu flüchten.

Insgesamt wurden 100.000 Budapester Juden, die zum Teil in kirchlichen Anstalten versteckt waren, gerettet und am 10. Februar 1945 befreit, als die Rote Armee gesiegt hatte. Weitere 100.000 Juden überlebten in ganz Ungarn dank der Hilfe des Vatikans.

Als der im April 1943 amtierende Ministerpräsident Nikolaus Kállay zu einer Audienz bei Pius XII. in den Vatikan kam, sagte ihm der Papst, dass es für ihn, den Papst, eine schmerzliche Überraschung sei, dass die Deutschen zu solchen Gräueltaten fähig seien. Während seiner Zeit als Nuntius habe er keine Spur von Antisemitismus im deutschen Volk festgestellt. Kállay berichtet dies in einem seiner Bücher.[16] 


[9] Jenö Levai, Geheime Reichssache, Köln 1966. Papst Pius XII. hat nicht geschwiegen, Köln 1966, 62f.
[10] Köln-Müngersdorf 1966.
[11] Chicago 1961.
[12] S. 548.
[13] S. 549.
[14] Jenö Levai, a.a.O., S. 12.
[15] Jenö Levai, a.a.O., S.54.
[16] Nicholas Kállay, Hungarian Premier, London 1954, S. 169-172.

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