Einladung zur bayerischen Marienwallfahrtam 9. Mai 2015 nach Augsburg

Knotenlöserin für Ehepaare in der Krise

Auf dem Weg zum Fest „100 Jahre Patrona Bavariae“ (1917-2017) kommen die bayerischen Diözesen am 9. Mai 2015 in Augsburg zusammen. Seit 2011 findet ein „Reigen“ von Marienwallfahrten durch alle sieben Bistümer statt. Jedes Jahr treffen sich die bayerischen Bischöfe zusammen mit Tausenden von Gläubigen in einer der Diözesen und weihen als Vorbereitung auf das Jubiläum der Erhebung Marias als Schutzfrau Bayerns vor 100 Jahren das jeweilige Bistum der Gottesmutter. Die Diözese Augsburg hat als Ziel der diesjährigen Wallfahrt ein Marienheiligtum mitten in der Stadt Augsburg ausgewählt, nämlich das Gnadenbild „Maria Knotenlöserin“ in St. Peter am Perlach beim Rathausplatz. Gegenüber den bisherigen Wallfahrten ist dies etwas Neues. Es bietet die Möglichkeit, das Programm zu erweitern und Angebote auf verschiedene Orte der Stadt zu verteilen. Mit Katechesen, Konzerten, Führungen und kreativen Angeboten soll der Akzent auf die Evangelisierung gesetzt werden. Weihbischof Florian Wörner, seit 2012 Leiter des Augsburger Instituts für Neuevangelisierung und seit 2014 Beauftragter der Freisinger Bischofskonferenz für Jugendseelsorge und kirchliche Jugendverbände in Bayern, beleuchtet den Hintergrund der Wallfahrt zur Knotenlöserin und erklärt deren aktuelle Bedeutung für die Ehe- und Familienpastoral.

Von Weihbischof Florian Wörner, Augsburg

Auf dem Weg zwischen meiner Wohnung in der Nähe des Augsburger Doms und meinem Büro im Haus St. Ulrich komme ich zu Fuß oder mit dem Fahrrad an der Kirche St. Peter am Perlach vorbei, direkt neben dem Augsburger Rathaus. Immer wieder zieht es mich hinein in diese Kirche, die ein einzigartiges Gnadenbild beherbergt: Es ist die wunderschöne Darstellung von Maria als Knotenlöserin. Ich bin dort noch nie allein gewesen. Unzählige Menschen kamen und kommen dorthin, um wie ich zu beten und eine Kerze anzuzünden. Am 9. Mai wird das Gnadenbild der Knotenlöserin zusammen mit dem Augsburger Mariendom Ziel einer großen Wallfahrt sein. Die bayerischen Bistümer pilgern im Rahmen ihrer Vorbereitung auf das Jubiläum 100 Jahre Patrona Bavariae (1917-2017) nach Augsburg. Ein großes Familienglaubensfest, das am Vormittag beginnt, wird einmünden in einen feierlichen Pontifikalgottesdienst um 16 Uhr im Augsburger Mariendom mit den bayerischen Bischöfen und sich fortsetzen mit einer Prozession durch die Stadt zum Gnadenbild der Knotenlöserin, wo das Fest mit einer Andacht und einer feierlichen Marienweihe um 18 Uhr schließt.

Das Bild der Knotenlöserin

Was hat es auf sich mit diesem Bildnis der Knotenlöserin? Ein handfester Ehestreit und seine Beilegung sollen zur Schaffung dieser einzigartigen Mariendarstellung geführt haben. Nicht nur heute, auch schon vor 400 Jahren gab es zerrüttete Ehen, so z.B. im Hause Langenmantel. In seiner Sorge um seine Ehe wandte sich Wolfgang Langenmantel an den berühmten Pater Jakob Rehm in Ingolstadt, einem Mann, der bekannt war für seine Weisheit und Glaubenstiefe. Der rät ihm, zu Maria zu beten, und tut es auch zusammen mit ihm. Das Gebet wird erhört, die Langenmantels finden wieder zueinander, und bald wird ihnen ein weiteres Kind geboren. Bis zum Ende ihres Lebens führen sie ein glückliches Ehe- und Familienleben. So wird es erzählt. Zum Dank lässt ein Nachkomme der Langenmantels, der Kanoniker Hieronymus Ambrosius Langenmantel, um 1700 das Bild der Knotenlöserin malen.

Jorge Mario Bergoglio und die Knotenlöserin

Das Bild erfreut sich seither, wie gesagt, großer Beliebtheit und wird sehr verehrt. Auch Papst Franziskus hat es kennen und schätzen gelernt. 1986 entdeckte es der Jesuitenpater Jorge Mario Bergoglio bei einem Besuch in Augsburg und brachte eine Anzahl von Karten mit der Darstellung in seine Heimat nach Argentinien. Von dort verbreitete sich das Bild in ganz Lateinamerika. Das Bild spricht die Menschen an, und es zieht sie an. Jeder von uns hat wohl irgendwelche Knoten, mit denen er sich abmüht und unter denen er leidet, seien es Beziehungsschwierigkeiten, Krankheiten oder Sorgen in Familie und Beruf. Manches ist verheddert in unserem Leben. Da ist es tröstlich zu wissen, dass es eine Helferin gibt, die sich darauf versteht, Knoten zu lösen. Gott stellt uns Maria als Knotenlöserin an die Seite.

Der Knoten des Ungehorsams und der Gehorsam Mariens

Maria nimmt auf diesem besagten Bild ein verknotetes Band in die Hände und löst sorgsam und sacht nacheinander alle Knoten. Wie viele Verletzungen können in einer Beziehung entstehen: Unachtsamkeit, grobe Worte, keine Zeit füreinander, oder was auch immer vorkommen kann, wenn Menschen miteinander leben und arbeiten. So häuft sich ein Knoten der Sünde auf den anderen und bildet zuletzt ein undurchschaubares Knäuel, das nur noch der Himmel aufbringt. Gott hat Maria im Blick auf die Erlösungstat ihres Sohnes die mühsame Arbeit des Knotenlösens übertragen. Der Kirchenvater Irenäus von Lyon sagt: „So wurde der Knoten des Ungehorsams der Eva durch den Gehorsam Marias gelöst; denn was die Jungfrau Eva durch ihren Unglauben gebunden hatte, das löste die Jungfrau Maria durch ihren Glauben“ (Adversus haereses III, 22, 4).

Maria – Mutter des Glaubens und Stern der Neuevangelisierung

Worauf es hier ankommt, ist der Glaube! Der Glaube Marias ist stark. Maria traut Gott alles zu. Mit ihm kann sie alles, „denn der Mächtige hat Großes an mir getan“ (Lk 1,49). Ihr großer Glaube lässt sie im entscheidenden Moment der Menschheitsgeschichte richtig Antwort geben auf Gottes Initiative: „Ich bin die Magd des Herrn“, sagt sie zum Engel, „mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38). Mit ihrem Ja-Wort macht sie Gott eine Tür auf, zu uns zu kommen, unter uns Menschen zu wohnen und Immanuel, ein „Gott mit uns“ zu sein in Jesus Christus. Wenn die Päpste der jüngeren Vergangenheit sie „Stern der Neuevangelisierung“ nennen, dann deswegen, weil sie durch ihren Glauben Menschen zum Glauben an ihren Sohn hinführen kann. Maria führt immer zu Jesus. Sie geht ihm voraus, so wie bei der Hochzeit in Kana. Noch bevor gesagt wird, dass Jesus und seine Jünger eingeladen waren (Joh 2,2), heißt es: „Die Mutter Jesu war dabei“ (V 1). So ist ihr Wesen: Wie eine gute Mutter ist sie im rechten Augenblick da. Denn der Wein geht aus, und damit wäre die Hochzeit wohl ziemlich schnell beendet gewesen. Doch Maria schaltet sich ein: „Was er euch sagt, das tut“ (V 5). Sie ist die Frau, die sich schon damals, wenn man so will, als „Knotenlöserin“ betätigte. Sie rettet die unlösbare Situation, indem sie die Diener auf Jesus verweist. Mit Feingefühl, Takt und niemanden, der für die missliche Lage hätte verantwortlich sein können, bloßstellend, sagt sie genau das Richtige in dem Moment. Sie glaubt, dass Jesus hier etwas tun kann, und fordert dadurch die Diener heraus, ihren Worten zu folgen, unaufdringlich und doch unmissverständlich. Das Wunder geschieht: Das Wasser wird zu Wein.

„Wir erneuern unsere Hingabe an dich, du Mutter des Glaubens“ (Papst Franziskus)

Jesus nennt sie hier in Kana „Frau“, nicht „Mutter“, so wie er sie auch unter dem Kreuz „Frau“ nennt. Die Tradition deutet sie als die „Frau“ der Offenbarung des Johannes: „Eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt“ (Offb 12,1). So wird sie auf dem Bild der Knotenlöserin dargestellt. Sie ist das Zeichen des Heils am Himmel. Welche Knoten ihr die Menschen auch immer bringen in Beziehungen, in Familie und Beruf, in Krankheit oder sonstigen Nöten und Anliegen, sie hilft nicht nur einem Ehepaar Langenmantel, sondern allen, die sich mit ihren Bitten an sie wenden. Maria hilft uns, im Glauben zu wachsen, stärker zu werden in der Liebe sowie im Bemühen um Versöhnung und zuversichtlicher und froher zu sein. Sie tut dies in der Kraft des Geistes Gottes, der bei der Verkündigung über sie kam. In der Darstellung der Knotenlöserin schwebt er als Taube über ihr. Papst Franziskus sagte und betete einmal: „Maria hat mit ihrem ,Ja‘ Gott die Tür geöffnet, damit er die Knoten des … Ungehorsams löse. Sie ist die Mutter, die uns mit Geduld und Zärtlichkeit zu Gott führt, damit er die Knoten unserer Seele mit seiner väterlichen Barmherzigkeit löse … Heute, Mutter, danken wir dir für deinen Glauben als starke und demütige Frau; wir erneuern unsere Hingabe an dich, du Mutter unseres Glaubens“ (12. Oktober 2013).

Einladung zum Gebet um die Fürsprache der Knotenlöserin

Ja, bitten wir sie, die Mutter des Glaubens, dass sich die Knoten des Kleinglaubens, des Misstrauens und des Ungeliebt-Seins lösen und wir erfahren dürfen, dass der Glaube an Jesus Christus trägt und Kraft gibt, vertrauensvoll und liebend durchs Leben zu gehen.

Bitten wir sie, die Mutter der Kirche, dass sich die Knoten der Einsamkeit, der Entzweiung und des Zurückbleibens hinter der Gemeinschaft lösen und wir erfahren dürfen: Wer glaubt, ist nicht allein. Die Gemeinschaft mit Gott schenkt auch Gemeinschaft untereinander.

Bitten wir die unbefleckt empfangene Jungfrau, dass sich die Knoten der Gleichgültigkeit, der Sünde und Gottferne in unserm Leben lösen und wir durch das Wirken des Heiligen Geistes umkehren und heil und heilig werden.

Bitten wir Maria, die Quelle des Lichtes und des Trostes, dass sich die Knoten der Dunkelheit, der Trauer und Resignation lösen und wir selbst Licht auf dem Weg sein können für andere.

Bitten wir sie, die „Stern der Neuevangelisierung“ genannt wird, dass sich die Knoten der Mutlosigkeit, Selbstgenügsamkeit und Angst lösen. Dann werden wir die Freude spüren, zu Christus zu gehören und Zeugnis für ihn und sein Evangelium zu geben.

Der 9. Mai 2015 wird, wie gesagt, eine gute Gelegenheit dafür sein. Herzliche Einladung dazu!


Vergleich: Gültigkeit der Kindertaufe

Glaube und Ehesakrament

Dr. Andreas Schmidt hat in seinem Beitrag „Ein Ausweg aus dem ‚großen Dilemma‘? Perspektiven einer erneuerten Ehepastoral“ (Kirche heute 1/2015, S. 10-13) vorgeschlagen, die geltende kirchenrechtliche Regelung, dass nämlich jede Ehe unter Getauften ein Sakrament ist, zu überdenken. Professor José Granados,[1] Vizepräsident des „Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. für Studien über Ehe und Familie“ in Rom, antwortete auf diesen Vorstoß mit einem ausführlichen Artikel. Er kann sich eine nichtsakramentale Trauung unter Getauften, also die Möglichkeit, bei fehlendem Glauben lediglich eine „Naturehe“ einzugehen, nicht vorstellen. Ein wichtiges Argument für ihn ist die Gültigkeit der Kindertaufe.

Von José Granados

Welches Verhältnis besteht zwischen Glaube und Ehe? In unserer säkularisierten Gesellschaft ist diese Frage ein pastorales Problem. Viele, die eine kirchliche Trauung erbitten, geben offen zu, ihren Glauben nicht zu praktizieren oder ihn verloren zu haben. Die Gründe, aus denen sie kirchlich heiraten möchten, haben nicht direkt mit dem christlichen Leben zu tun: Familientradition, soziale Regeln, die Sehnsucht nach einem schönen Fest. Kann eine so wenig vorbereitete Person zur Feier des Ehesakramentes zugelassen werden? Gehen die Partner in diesem Fall eine unauflösliche Ehe ein, deren Maßstab das Verhältnis Christi zu seiner Braut, der Kirche, ist?

Der hl. Johannes Paul II. gibt in Familiaris consortio 68 einige Kriterien an, die auf diese Fragen eine Antwort geben. Während er betont, dass es wichtig für die Brautleute ist, in ihrem Glauben zu wachsen, zeigt er die Gründe auf, die dafür sprechen, auch diejenigen zur Ehe zuzulassen, die unvollkommen vorbereitet sind. Wenn zwei Brautleute, die die Taufe empfangen haben, den Plan des Schöpfers für die Ehe annehmen (eine Ehe, die unauflöslich, exklusiv und offen für das Leben ist) und nicht explizit die Sakramentalität der Ehe ablehnen, können sie zur Feier zugelassen werden. Warum ist das möglich? Um diese Frage zu beantworten, untersuchen wir die wesentlichen Elemente der Beziehung zwischen Glaube und Ehe.

a) Die natürliche Ehe nach der Schöpfungsordnung: ein Weg zum Glauben

Es gibt eine enge Beziehung zwischen der natürlichen Ehe und dem christlichen Glauben. Wer die ursprünglichen Erfahrungen der ehelichen Liebe akzeptiert, der lebt schon im Keim einen Glauben; sein Leben nimmt das Leitmotiv des Glaubens schon vorweg.[2]

Die erste Folge des Glaubens besteht ja darin, dass man Gott als den Ursprung und das Fundament des Seins anerkennt, dass er zur Sicherheit und zur Stütze des eigenen Lebens wird. Diese Anerkennung des Ursprungs wird nun in erster Linie durch die Familienbeziehungen ermöglicht, vor allem durch die Vater- und Mutterschaft, die uns unsere Herkunft von Gott offenbaren. Auch die eheliche Liebe zeigt die ursprüngliche Vaterschaft Gottes auf. Sie tut dies, indem sie die Bedeutung des vom Schöpfer empfangenen, geschlechtlich verfassten Leibes aufzeigt, der es uns ermöglicht, die Gabe des geliebten Menschen zu empfangen und uns selbst dem anderen zu schenken.

Der Glaube besteht nun wiederum darin, sich der Treue Gottes anzuvertrauen, dessen Liebe nie aufhört, uns in unserer Lebensgeschichte zu begleiten. Er steht fest zu seinem Bund mit uns und befähigt uns Menschen, diesen zu erfüllen. Die eheliche Liebe bewegt uns nun ebenfalls dazu, dem Anderen ein das ganze Leben umfassendes Versprechen zu geben, das uns eine transzendente, in der Liebe offenbarte Dimension eröffnet, die in der Lage ist, uns auf unserem Weg beizustehen. In diesem Zusammenhang kann mit Benedikt XVI. auf die gemeinsame Wurzel der Wörter fides (Glauben) und foedus (Pakt oder Bund) hingewiesen werden, wobei im Lateinischen der letztere Begriff auch die Ehe bezeichnen kann.[3]typo3/#_ftn3

Der Glaube bekennt die Gegenwart Gottes im Fleisch Christi, das die Fülle der Liebe Gottes zu den Menschen offenbart. Die Öffnung des Fleisches zu Gott ist in Ehe und Familie vernehmbar, und zwar durch die interpersonale Gemeinschaft, die geformt wird. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Ehe ein Weg, der uns dazu führt, Christus anzunehmen, der in seinem Leib die Fülle der Liebe des Vaters offenbart (vgl. Kol 2,9).

Daher können wir sagen, dass in der Ehe die wesentlichen Merkmale des christlichen Glaubens bereits enthalten sind. Die in der Schöpfungsordnung gegebenen Bedingungen der Ehe anzunehmen, bedeutet, impliziert an der Sakramentalität der Ehe teilzuhaben, selbst wenn man den Glauben nicht bekennt. Es gilt zu beachten, dass all dies bereits sehr anspruchsvoll ist. Diejenigen zur Ehe zuzulassen, die die natürliche Wahrheit der Ehe akzeptieren, bedeutet nicht, die Latte sehr niedrig anzusetzen. Das Gegenteil ist der Fall. Es bedeutet, die in der ehelichen Liebe wirkende Gegenwart Gottes anzuerkennen.

b) Der Taufcharakter: der permanente Hintergrund des Glaubens

Diesem ersten Element (der schöpfungsmäßigen Gegebenheiten der Ehe als Weg zum Glauben) muss ein zweites hinzugefügt werden: sind die Brautleute schon getauft, dann sind sie Christus schon begegnet und sind durch ihn zu einer neuen Schöpfung geworden.[4] Selbst wenn sie den Glauben weder bekennen noch praktizieren, hat diese Tatsache doch immer Einfluss auf ihr Leben und führt sie auf gewisse Weise in die Sphäre des Glaubens ein.

Es fällt uns heute schwer, dies zu verstehen. Wenn von der  Bedeutung des Glaubens für die Ehe gesprochen wird, dann geht es gewöhnlich um einen subjektiven, bewussten Glauben, der versucht, sich in Werken auszudrücken. Zweifelsohne handelt es sich hierbei um ein wesentliches Merkmal des Glaubens. Es erklärt den Glauben aber nicht vollständig. Der Glaube ist viel mehr als das, was vom Bewusstsein erkannt und vom Wollen ergriffen wird. Vielmehr ist der Glaube ein neues Leben, in das wir hineingeboren werden, ein Leben, das sich nicht auf Wissen und den bewussten Willen reduzieren lässt. Es gibt kein Lebewesen, das sein Leben mit dem Blick oder dem Verlangen umspannen kann. Den gesamten Schwerpunkt auf den bewussten Aspekt des Glaubens zu legen, bedeutet, den Glauben zu verkürzen.

Ein konkreter Fall, der auch einen Bezug zur Familie hat, kann uns helfen zu verstehen, warum dem so ist: die Kindertaufe. Das Kind hat keinen Glauben, der sich seiner selbst bewusst ist; und doch handelt es sich hier nicht so sehr um eine Ausnahme von der allgemeinen Regel, als vielmehr um das Paradigma der Taufe schlechthin, das uns verstehen lässt, was bei einer Erwachsenentaufe geschieht. Die Taufe ist in Wirklichkeit eine Geburt, die uns in ein neues Leben eintreten lässt. Und wie bei der Geburt eines Kindes, so kommt es auch hier nicht in erster Linie auf eine Handlung des „Ich“ an. Was zählt, ist vielmehr, in ein Netz von Beziehungen aufgenommen zu werden, das uns einen Namen und eine Identität verleiht und unseren Schritten Halt gibt. Nur von hier aus können wir ein neues Leben erhalten und in diesem in Freiheit wandeln.

Der hl. Paulus drückt diese neue Geburt mit dem Bild des Leibes aus (Röm 6,5: „in Christus eingegliedert“), gerade weil der Leib uns einen Platz in der Welt gibt und uns in ein Netz von personalen Beziehungen einführt, noch bevor wir dies suchen oder wählen. In der Taufe erhalten wir sozusagen einen neuen Leib, treten in die von Jesus gelebte Beziehungswelt ein. Wir teilen seinen Denk- und Handlungshorizont, der uns hält und Richtung gibt, noch bevor wir auch nur eine einzige freie Handlung vollbringen. Und so wie unser leibliches Sein, mit allem, was wir bei der Geburt empfangen haben, immer der Hintergrund allen unseres Tuns ist, selbst wenn wir gegen das Leben rebellieren, so ist auch die Taufe der neue Hintergrund aller unserer Handlungen, deren Grund Christus ist, selbst wenn wir uns gegen ihn erheben.

Jetzt wird klar, weshalb der Glaube selbst dann nicht gänzlich ausgelöscht wird, wenn jemand ihn nicht praktiziert. Um den Glauben zu „verlieren“ reicht es nicht, eine innere Überzeugung aufgegeben zu haben. Der Glaube wohnt nicht nur im bewussten „Ich“, sondern auch in den Verbindungen zur Welt und zu den Anderen, in der Tradition und der Erinnerung, in den Institutionen, der Kultur, der Familiengeschichte, die alle ein integraler Bestandteil des eigenen Namens sind. Der Taufcharakter erinnert uns daran, dass der Getaufte auf einer Ebene, die tiefer liegt als das eigene Erkennen und Wollen, immer an Christus gebunden bleibt, selbst wenn er seines Taufglaubens entsagen wollte. Die Getauften leben daher in einer neuen Leiblichkeit, nämlich der Leiblichkeit Jesu und der Kirche. Wenn sie „ein Fleisch“ miteinander werden, dann tun sie dies in Einklang mit den Merkmalen dieses neuen Leibes.

c) Der Glaube der Kirche, ein inneres Element des Glaubens des Getauften

Es gibt noch ein drittes Merkmal des Glaubens, das uns hilft, seine Rolle für den Ehekonsens zu klären: der Glaube muss als eine relationale Realität verstanden werden. Wer glaubt, der glaubt nicht in der Isolation, sondern ausgehend von einer ursprünglichen Teilhabe an einem gemeinsamen Leben und einer gemeinsamen Vision. Der Glaube besteht in erster Linie darin, in ein Netzwerk von Beziehungen einzutreten, die von Christus berührt wurden. Unser Glaube lebt in dem Glauben der anderen; er lebt vor allem im Glauben der Kirche, die uns zum Glauben gezeugt hat.

Auch hier kann uns der Fall der Kindertaufe helfen. Die Kindertaufe ist möglich, weil der Glaube des Kindes durch die Vermittlung der Eltern und Paten im Glauben der Kirche aufgenommen und empfangen wird. Es ist, als gehöre das Kind Anderen, und in diesen kann es in das Leben des Glaubens aufgenommen werden, und zwar nicht als isoliertes Subjekt, sondern als Person, die wesensmäßig in Beziehung steht. Wie dem Kind sein Name gegeben wurde, wie seine Herkunft von seinen Vorfahren stammt, wie sein Geschick in der ihm von seinen Eltern gegebenen Bildung vorweggenommen wird, so kann ihm auch sein Glauben durch diese Lebensgemeinschaft mit anderen gegeben werden.

Diese Aussagen über die Taufe können in ähnlicher Weise auf die Ehe angewendet werden, insofern die Ehe von Christus und der Kirche aus ihre Erfüllung findet. Dieses Sakrament zeigt ganz deutlich, dass der Glaube keine isolierte Handlung ist. Die Ehe kann nur gelebt werden, wenn man sich einer weiteren und reicheren Wirklichkeit öffnet: die Eheleute haben Vertrauen ineinander, und sie vertrauen sich gemeinsam dem in ihrer Liebe wahrzunehmenden Geheimnis an. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es nicht schwer zu verstehen, dass ihre Handlung offen ist dafür, dass die Gesellschaft und die Kirche an ihr teilhaben.

Wenn es darum geht, den Glauben der Brautleute zu bestimmen, sollte man diesen daher nicht isoliert betrachten. Was zählt, ist, dass sie in den Strom des Glaubens der Kirche eintreten möchten, dass sie in ihr einen Weg annehmen, der im Einklang mit dem Pfad ihrer Ehe steht. Hinzu kommt, dass die Liebe des Paares bereichert wird, wenn sie im Glauben der anderen aufgenommen und empfangen wird. Das bisschen Glaube, das sie haben, kann größer werden und entsprechend der Dynamik, die jedem Sakrament zu eigen ist, reifen. Auf diese Weise wird dann die Ehevorbereitung zu einer Gelegenheit für die Katechese. Der Glaube kennt diesen Weg der Praxis: um sehen zu können, muss man sich auf den Weg machen, wie Papst Franziskus es ausdrückt: „Der Glaube ‚sieht‘ in dem Maße, in dem er vorangeht“ (Lumen fidei 9). Indem man Paare, deren Glaube schwach ist, zur Ehevorbereitung einlädt, sagt man ihnen: „Komm, und du wirst sehen; beginn zu gehen und du wirst das große Versprechen verstehen, das dir in dieser Liebe gegeben wurde und dessen Geheimnis du schon erahnen kannst.“  Für diesen Schritt reicht es, dass sie in den Glauben der Kirche eingeschlossen werden möchten.

d) Eine natürliche Ehe zwischen Getauften?

Was bedeutet all dies für die These einer natürlichen Ehe zwischen Getauften? Wie wir bereits in der Darlegung über den Taufcharakter gezeigt haben, ist Christus dem Getauften begegnet, der somit mit dem Eschaton, mit dem, was letztendlich und endgültig ist, in Kontakt gekommen ist. Er ist dem unübertreffbaren Ereignis der Liebe Gottes in der Geschichte begegnet – es könnte nichts Größeres geschehen. Indem Jesus die Erfüllung der Geschichte offenbart, offenbart er auch den Ursprung der ganzen Schöpfung: Er ist der Letzte und der Endgültige, weil er auch den  Ursprung in sich aufnimmt. Daraus ist Folgendes zu schließen: Wer einmal Jesus begegnet ist, wer einmal von demjenigen berührt und innerlich verwandelt wurde, in dem sich der Anfang und das Ziel der gesamten Wirklichkeit offenbart, für den ist es unmöglich zurückzugehen und so zu tun, als ob Jesus nicht in sein Leben gekommen wäre. Gerade weil Jesus sich als das ursprüngliche Fundament zeigt, ist es nun nicht möglich, zu einer vorausgehenden, vor seiner Ankunft liegenden Vergangenheit zurückzukehren. Es ist nicht möglich, eine natürliche Realität zu leben, wie man sie vor der Begegnung mit Christus gelebt hatte.

Zu behaupten, es sei (zumindest in bestimmten Fällen) möglich, den Vertrag und das Sakrament zu trennen, würde bedeuten, dass man (in diesen bestimmten Fällen) akzeptieren würde, dass es für jemanden, der Christus gefunden hat, möglich sei, zur natürlichen Realität zurückzukehren, so als ob Christus nicht in sein Leben gekommen wäre. Es würde bedeuten, dass die Begegnung mit Christus nicht die Gesamtheit des menschlichen Lebens radikal berührte, da es noch Bereiche gäbe, die nicht bis auf die Wurzel von Christus verwandelt worden wären.

Wird an der Untrennbarkeit von Vertrag und Sakrament festgehalten, muss auf einen Einwand geantwortet werden. Was passiert, wenn zwei Getaufte Christus ablehnen, so dass sie die Ehe nicht aus der Sicht Christi schließen wollen? Verlieren sie dann ein natürliches fundamentales Recht, nämlich das Recht, heiraten zu können? Es ist zu sagen, dass es in diesem Fall nicht verwunderlich ist, dass man das natürliche Recht zu heiraten verliert: Wer Jesus Christus gefunden hat, gewinnt alles: auch seine Natur, seinen Ursprung, seine Vergangenheit. Wenn man aber, nachdem man Christus begegnet ist, den Glauben verlässt, dann verliert man auch den Zugang zum Ursprung und damit zur Weise, wie man vor der Begegnung mit Christus gelebt hatte.

Wenn sich die Getauften der Ehe als einer rein natürlichen Realität nähern, dann lehnen sie bewusst die Verbindung, die sie mit Christus haben, ab und verstehen somit die Ehe auf andere Art als die Nichtgetauften. Es ist eine Sache, die Natur mit einer möglichen Offenheit auf Christus hin zu leben, bevor man ihn gefunden hat; es ist eine andere Sache, sich der Natur im Gegensatz zu Christus zu nähern. Eine direkte Ablehnung Christi würde es für die Brautleute unmöglich machen, ihre Ehe in der natürlichen Dimension zu leben, da sie ein wesentliches Element der natürlichen Ehe verneinen würden: die Offenheit, und sei diese unbewusst, auf eine endgültige Erfüllung der Ehe in Jesus.

Abschließend meine ich, dass es ganz ohne Zweifel gilt, die These der absoluten Untrennbarkeit von Vertrag und Sakrament im Falle der Getauften zu bekräftigen. Die Untrennbarkeit entspringt der wesentlichen Einheit von Natur und Gnade, die ein Merkmal der von Jesus herbeigeführten Fülle der Zeiten ist, insofern er den Ursprung wieder herstellt und das christliche Leben unumkehrbar in seinen tiefsten Ebenen verwandelt.


[1] Prof. José Granados, 1970 in Madrid geboren, ist Ordenspriester der „Jünger der Herzen Jesu und Mariä“ und Vizepräsident des „Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. für Studien über Ehe und Familie“ in Rom, wo er auch als ordentlicher Professor für Dogmatik tätig ist. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Auf Deutsch ist vor kurzem sein zusammen mit Carl A. Anderson verfasstes Werk Zur Liebe berufen. Eine Einführung in die Theologie des Leibes von Johannes Paul II., Fe-Verlag, Kisslegg 2014, erschienen.
[2] Papst Franziskus hat dies in seiner Enzyklika Lumen fidei betont: „Auf diese Liebe [Gottes] gegründet, können sich Mann und Frau mit einer Geste, die ihr ganzes Leben mit einbezieht und in vielen Zügen an den Glauben erinnert, die gegenseitige Liebe versprechen“ (LG 52).
[3] Vgl. Benedikt XVI.: Ansprache zur Eröffnung des Gerichtsjahres der römischen Rota, 26. Januar 2013: „Das gegenseitige Sich-Anvertrauen ist in der Tat die unverzichtbare Grundlage eines jeden Bundes oder Bündnisses.“
[4] Zur Bedeutung des Taufcharakters für die Ehe vgl. Gustav Martelet: Mariage, amour et sacrement, NRTh 95 (1963) 577-597.

Weiterentwicklung der Lehre über das Ehesakrament

Im Dienst am Menschen

Pfarrer Erich Maria Fink ist überzeugt, dass die im Kirchenrecht verankerte Feststellung, jede Ehe zwischen Getauften sei ein Sakrament, keine endgültige Lehraussage darstellt. Vielmehr sieht er an diesem Punkt eine Lücke in der Lehre der Kirche, die nach einer vertiefenden und weiterführenden theologischen Betrachtung verlange. Dabei geht es ihm nicht um eine theoretische Frage, sondern um einen wahrheitsgemäßen und pastoral verantwortlichen Dienst am Menschen. Den Ansatz von Dr. Andreas Schmidt, der die Möglichkeit einer Trauung ohne sakramentalen Charakter in Betracht zieht, hält er für äußerst bedenkenswert. Denn auf dieser Grundlage werde die Ehepastoral einerseits dazu herausgefordert, sich der Wirklichkeit des Glaubens zu stellen, andererseits aber auch ermächtigt, das Instrumentarium der kirchlichen Dispens auf der Grundlage des Petrinischen Privilegs in Anspruch zu nehmen. Die Synode über Ehe und Familie betrachtet Pfr. Fink als kirchengeschichtlichen Kairos, um sich dieser Aufgabe zu stellen und sich für eine differenziertere Sicht des Ehesakraments zu entscheiden.

Von Erich Maria Fink

Gültigkeit der Sakramente

Nach der Tradition der Kirche werden die sieben Sakramente „ex opere operato“ gespendet. Das heißt, ein Sakrament ist gültig und wirksam, wenn es nach der vorgegebenen Form vollzogen wird. Vom Spender ist lediglich die „Intention“ verlangt, nach der Absicht der Kirche zu handeln. Ausdrücklich ist die Gültigkeit weder von der sittlichen Disposition noch vom persönlichen Glauben des Spendenden abhängig. Auf Seiten des Empfängers ist die einzige Voraussetzung, dass er dem Vollzug des Sakraments nicht bewusst entgegenwirkt. Eine vollkommen andere Frage ist die geistliche Fruchtbarkeit des Sakraments, die natürlich von der inneren Verfassung des Empfängers abhängt. Auch ein unwürdiger Empfang ändert nichts an der Gültigkeit, selbst wenn er bewusst geschieht und eine schwere Sünde darstellt.

Glaube und Ehesakrament

All dies gilt auch für das Ehesakrament, das sich nach katholischer Auffassung die Eheleute gegenseitig spenden. Verständlicherweise hat die Kirche immer betont, dass die Gültigkeit der Ehe vom persönlichen Glauben der Brautleute unabhängig ist. Voraussetzung für das Zustandekommen des sakramentalen Ehebandes ist die innere Zustimmung zu den wesentlichen Eigenschaften des Bundes der Ehe, das heißt die uneingeschränkte Absicht, die eheliche Treue bis zum Tod zu halten, und die grundsätzliche Offenheit, die Kinder, die Gott schenken will, anzunehmen. Wenn dieser Willensakt, der sog. „Ehekonsens“, in Freiheit und auf rechtmäßige Weise kundgetan wird, ist die Ehe gültig. Auf diesem Hintergrund verteidigt Professor José Granados in seinem Artikel über den Zusammenhang von Glaube und Ehesakrament (S. 7ff), dass die Ehe unter Getauften immer ein Sakrament darstellen müsse. Er hält abschließend fest: „Ich meine, dass es ganz ohne Zweifel gilt, die These der absoluten Untrennbarkeit von Vertrag und Sakrament im Falle der Getauften zu bekräftigen.“ Er verweist auf die Gültigkeit der Taufe von Kindern, welche ebenfalls keinen persönlichen Glauben des Täuflings voraussetze. Gleichzeitig betrachtet er das Ehesakrament als Teil der sakramental verfassten Kirche, in deren Glauben die im Sakrament vereinten Eheleute eingebettet seien. 

Unklarheit bei fehlendem Glauben

Allerdings deutet auch Prof. Granados die Grenzen einer solchen Auffassung an. Er spricht vom natürlichen fundamentalen Recht zu heiraten. Doch „wenn zwei Getaufte Christus ablehnen, so dass sie die Ehe nicht aus der Sicht Christi schließen wollen“, würden sie „das natürliche Recht zu heiraten“ verlieren. Granados möchte damit wohl ausdrücken, dass der Seelsorger in einem solchen Fall die Trauung verweigern könnte bzw. sogar die Pflicht dazu hätte.

Granados versteht seinen Beitrag als Antwort auf den Vorschlag, den Dr. Andreas Schmidt, der Spiritual des Münchener Priesterseminars, in seinem Beitrag „Ein Ausweg aus dem ‚großen Dilemma‘? Perspektiven einer erneuerten Ehepastoral“ (Kirche heute Nr. 1/2015, S. 10-13) gemacht hat. Schmidt spricht sich dafür aus, dass bei fehlendem Glauben auch Getaufte nur eine sogenannte „Naturehe“ eingehen könnten, die von vornherein keinen sakramentalen Charakter besäße. Dadurch würde sich ein Weg aus dem Dilemma auftun, in das die momentane Ehepastoral geraten sei.

Pastorales Anliege

Der Artikel von Prof. Granados stellt eine Zusammenfassung der ausführlicheren Untersuchung dar, die unter dem Titel „The Sacramental Character of Faith: Consequences for the Question of the Relation Between Faith and Marriage“ in der englischsprachigen Ausgabe der Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio erschienen ist (Bd. 41.2, 2014, S. 245-268). Die darin enthaltenen Überlegungen sind ohne Zweifel wertvoll, doch berührt Prof. Granados mit keinem Wort das eigentliche pastorale Anliegen, das Andreas Schmidt vor Augen hat.

Dass die Kirche die Pflicht hat, heiratswillige Gläubige gut vorzubereiten und auch gewissenhaft zu prüfen, steht außer Frage. Doch sehr häufig kommt es vor, dass einer der beiden Brautleute die Initiative ergreift und kirchlich heiraten möchte, während der andere nur ihm bzw. ihr zuliebe in die Hochzeit einwilligt. Der gläubige Partner legt Wert auf die Trauung, weil er nur auf dieser Grundlage ein geordnetes Verhältnis eingehen und die eheliche Verbindung ohne Sünde vor Gott verwirklichen kann. Muss die Ehe nun als Sakrament betrachtet und empfangen werden, obwohl der andere Partner, der zwar getauft ist, zum Zeitpunkt der Eheschließung überhaupt nicht an Christus glaubt und auch kein religiöses Leben führt?

Ich bin überzeugt, dass die Kirche in dieser Frage noch nicht das letzte Wort gesprochen hat. Zwar gilt der Grundsatz, dass das Kirchenrecht die „geronnene Dogmatik“ bilde. Tatsächlich heißt es in Canon 1055 § 2: „Deshalb kann es zwischen Getauften keinen gültigen Ehevertrag geben, ohne dass er zugleich Sakrament ist.“ Ich denke aber nicht, dass die Kirche mit diesem Canon eine endgültige dogmatische Entscheidung formuliert hat. Denn es stellt sich die Frage, was hier mit „Getauften“ gemeint ist. Man könnte nämlich die Aussage auch auf folgende Weise relativieren: Wenn es sich um Menschen handelt, die sich mit ihrem „Getauftsein“ überhaupt nicht identifizieren, schließen sie den Ehevertrag auch nicht als „Getaufte“ ab, selbst wenn man das unauslöschliche Merkmal, das durch die Taufe eingeprägt wird, nicht in Zweifel zieht.

Bedenken gegen eine Zwei-Klassen-Ehe

Gegen die Überlegungen einer „Naturehe“ zwischen Getauften werden zahlreiche Einwände erhoben. Es wird vor allem davor gewarnt, dass man mit einer solchen Möglichkeit eine Zwei-Klassen-Ehe einführen würde. Die einen könnten sich für eine Ehe erster Klasse entscheiden, bei der sie aufgrund des sakramentalen Charakters ihrer Ehe an deren Unauflöslichkeit gebunden wären, die anderen könnten eine Ehe zweiter Klasse wählen, um sich die Türe für eine „Scheidung auf katholisch“ offen zu halten. Solche Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. Doch wiegt die Verpflichtung, der Sache wahrheitsgemäß zu begegnen und dadurch den Menschen gerecht zu werden, höher als das Bemühen, einem drohenden Missbrauch vorzubeugen.

Auch eine „Naturehe“ verpflichtet beide Eheleute zur ehelichen Treue, nicht nur den gläubigen Partner. Ohne diese Absicht auf beiden Seiten, tritt auch der gläubige Teil nicht in eine „geordnete Beziehung“ vor Gott ein. Doch wäre die Kirche im Fall eines Scheiterns nicht an die absolute Unauflöslichkeit der Ehe gebunden, sondern könnte von dem so genannten „Petrinischen Privileg“ Gebrauch machen und nach eingehender Prüfung eine kirchliche Dispens gewähren, durch welche die Ehe aufgelöst würde. Die konkrete Anwendung dieses Instrumentariums für eine „Naturehe“ mit einem ungläubigen Getauften müsste genau geregelt werden.

Pastorale Herausforderung

Neben der theologischen Hürde, welche das kirchliche Lehramt nehmen müsste, stellt der Ansatz vor allem eine pastorale Herausforderung im Umgang mit den betroffenen Paaren dar. Im Brautgespräch müsste der persönliche Glaube der Brautleute thematisiert und geprüft werden. Es wäre gefordert, dass der ungläubige Getaufte seinen Glaubensmangel erkennt und eingesteht und dass der Seelsorger dessen Verharren im Unglauben konstatiert. Als Folge könnte der betroffene Partner beispielsweise auf keinen Fall die hl. Kommunion empfangen.

Einerseits ist der Seelsorger dazu verpflichtet, alles zu unternehmen, um einen fernstehenden getauften Partner zum Glauben und zu einer persönlichen Beziehung mit Christus hinzuführen, ihn auch darauf aufmerksam zu machen, dass davon das ewige Heil abhängt, andererseits müsste der Seelsorger die Entscheidung des Ungläubigen im Namen der Gewissensfreiheit respektieren. Weiter zu reflektieren ist die Frage, wie die Kirche mit einer solchen „Naturehe“ umgeht, wenn sich der ungläubige Partner schließlich doch bekehrt.

Signale des Papstes

Derzeit wird die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten unter bestimmten Bedingungen diskutiert. Während ich dafür im Rahmen der kirchlichen Tradition keine Möglichkeit sehe, wäre der Ansatz einer „Naturehe“ zwischen Getauften eine reale Perspektive, welche allerdings einer Weiterentwicklung in der Lehre bedürfte. Papst Franziskus ist bereits in diese Richtung gegangen, wenn er in verschiedenen Ansprachen (z.B. beim Jahresempfang für die Richter der Römischen Rota am 23.01.2015 und vor Kirchenrechtlern der Gregoriana am 24.01.2015) erklärt hat, dass zahlreichen Ehen aufgrund des Mangels an Glauben ungültig seien. Er forderte, diesen Tatbestand verstärkt in das Verfahren der Ehe-Annullierungen einzubeziehen. Doch der Ansatz von Dr. Andreas Schmidt ginge noch einen wesentlichen Schritt weiter.


500. Geburtstag der hl. Teresa von Avila

Ganz von Gott ergriffen 

Mit Symposien, Ausstellungen, Einkehrtagen und Festgottesdiensten wird weltweit das Jubiläumsjahr zum 500. Geburtstag der spanischen Kirchenlehrerin Teresa von Ávila bzw. Teresa von Jesus gefeiert. Die Heilige, die am 28. März 1515 in Ávila geboren ist, wird über alle Grenzen der religiösen Bekenntnisse hinweg als Mystikerin und Lehrerin der geistigen Vereinigung des Menschen mit Gott anerkannt. In einer Reihe von Katechesen stellte Papst Benedikt XVI. große Theologen und Frauengestalten des Mittelalters vor. Unter anderem zeichnete er im Rahmen der Generalaudienz am 2. Februar 2011 auch ein Bild der hl. Teresa von Ávila – in unvergleichlicher Schönheit und Prägnanz.

Von Benedikt XVI.

Die hl. Theresia von Ávila stellt einen der Höhepunkte der christlichen Spiritualität aller Zeiten dar.

Kindheit: „Ich will Gott schauen“

Sie wird 1515 in Ávila in Spanien geboren, mit dem Namen Theresia de Ahumada. In ihrer Autobiografie erwähnt sie selbst einige Einzelheiten aus ihrer Kindheit: Von „tugendhaften und gottesfürchtigen Eltern“ wird sie in eine kinderreiche Familie hineingeboren; es waren neun Brüder und drei Schwestern. Schon als Kind – sie ist noch keine neun Jahre alt – liest sie die Lebensbeschreibungen einiger Märtyrer, die in ihr den Wunsch nach dem Martyrium wecken. Sie läuft sogar kurz von zu Hause weg, um als Märtyrerin zu sterben und in den Himmel einzugehen (vgl. Das Buch meines Lebens 1,4): „Ich will Gott schauen“, sagt die Kleine zu ihren Eltern. Einige Jahre später wird Theresia über ihre Kindheitslektüre sagen, dass sie darin die Wahrheit gefunden hat, die sie in zwei grundlegenden Prinzipien zusammenfasst: auf der einen Seite „die Tatsache, dass alle Dinge dieser Welt vergehen“, und auf der anderen Seite, dass nur Gott allein „für immer, für immer“ ist. Dieses Thema kehrt wieder in ihren berühmten Versen: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken! Alles geht vorüber: Gott, er bleibt derselbe. Geduld erreicht alles. Wer Gott hat, dem fehlt nichts. Gott allein genügt.“ Als sie mit zwölf Jahren ihre Mutter verliert, bittet sie die allerseligste Jungfrau Maria, ihre Mutter zu sein (vgl. Das Buch meines Lebens 1,7).

Berufung: „Ich rang mit einem Schatten des Todes“

In der Jugend hatte die Lektüre profaner Bücher sie zu den Ablenkungen eines weltlichen Lebens geführt, aber die Erfahrung als Schülerin der Augustinerinnen von „Nuestra Señora de Gracia“ in Ávila und der Umgang mit geistlichen Büchern, vor allem Klassikern der franziskanischen Spiritualität, lehren sie die Sammlung und das Gebet. Mit 20 Jahren tritt sie, ebenfalls in Ávila, in das Karmelitinnenkloster der Menschwerdung ein; im Ordensleben nimmt sie den Namen Theresia von Jesus an. Drei Jahre später wird sie so schwer krank, dass sie für vier Tage ins Koma fällt und scheinbar tot ist (vgl. Das Buch meines Lebens 5,9). Auch der Kampf gegen ihre Krankheiten ist für die Heilige ein Kampf gegen die Schwächen und die Widerstände gegen den Ruf Gottes. Sie schreibt: „Ich sehnte mich danach zu leben, denn ich verstand sehr wohl, dass ich nicht eigentlich lebte, sondern mit einem Schatten des Todes rang, aber es gab niemanden, der mir Leben gab, selbst geben konnte ich es mir aber auch nicht; der es mir aber geben konnte, hatte Recht, mir nicht zu Hilfe zu kommen, denn viele Male hatte er mich wieder an sich gezogen, während ich ihn im Stich gelassen habe“ (Das Buch meines Lebens 8,12). 1543 verliert sie die Nähe ihrer Angehörigen: der Vater stirbt, und all ihre Brüder wandern einer nach dem anderen nach Amerika aus. In der Fastenzeit des Jahres 1554 erreicht Theresia mit 39 Jahren den Höhepunkt des Kampfes gegen ihre Schwächen. Die zufällige Entdeckung des Bildes „eines ganz mit Wunden bedeckten Christus“ zeichnet ihr Leben zutiefst (vgl. Das Buch meines Lebens 9). Die Heilige, die zu jener Zeit in tiefem Einklang mit dem Augustinus der Bekenntnisse steht, beschreibt den entscheidenden Tag ihrer mystischen Erfahrung so: „Es widerfuhr mir …, dass mich ganz unverhofft ein Gefühl der Gegenwart Gottes überkam, so dass ich in keiner Weise bezweifeln konnte, dass er in meinem Innern weilte oder ich ganz in ihm versenkt war“ (Das Buch meines Lebens 10,1).

Reform des Karmelordens: „Ich sterbe als Tochter der Kirche“

Mit dem Heranreifen ihrer Innerlichkeit beginnt die Heilige, das Ideal der Reform des Karmelordens konkret zu entwickeln: 1562 gründet sie in Ávila mit Unterstützung des Bischofs der Stadt, Alvaro de Mendoza, den ersten reformierten Karmel, und wenig später erhält sie auch die Approbation des Generaloberen des Ordens, Giovanni Battista Rossi. In den folgenden Jahren gründet sie weitere neue Karmelklöster, insgesamt 17. Grundlegend ist die Begegnung mit dem hl. Johannes vom Kreuz, mit dem sie 1568 in Duruelo bei Ávila das erste Kloster der Unbeschuhten Karmeliten gründet. 1580 erhält sie von Rom die Genehmigung zur Errichtung einer autonomen Provinz für ihre reformierten Karmelklöster: der Ausgangspunkt des Ordens der Unbeschuhten Karmeliten. Theresia beendet ihr irdisches Leben inmitten ihrer Gründungstätigkeit: Nachdem sie 1582 den Karmel von Burgos errichtet hat und sich auf der Rückreise nach Ávila befindet, stirbt sie in der Nacht auf den 15. Oktober in Alba de Tormes, während sie demütig folgende Sätze wiederholt: „Letztlich sterbe ich als Tochter der Kirche“ und „Mein Bräutigam, die Stunde ist gekommen, dass wir uns sehen“. Ihr Leben spielte sich innerhalb von Spanien ab, wurde aber für die ganze Kirche hingegeben. Sie wird 1614 von Papst Paul V. selig und 1622 von Gregor XV. heilig gesprochen. Vom Diener Gottes Paul VI. wird sie 1970 zur Kirchenlehrerin erklärt.

Kirchenlehrerin: „Gott weilte in meinem Inneren“

Theresia von Jesus hatte keine akademische Ausbildung, aber sie hat sich die Lehre von Theologen, Literaten und geistlichen Lehrern stets zunutze gemacht. Als Schriftstellerin hat sie sich immer an das gehalten, was sie persönlich erlebt oder in der Erfahrung anderer gesehen hatte (vgl. Vorwort zum Weg der Vollkommenheit); sie ging also von der Erfahrung aus. Theresia kann geistliche Freundschaften mit vielen Heiligen knüpfen, insbesondere mit dem hl. Johannes vom Kreuz. Gleichzeitig zieht sie Nahrung aus der Lektüre der Kirchenväter: aus dem hl. Hieronymus, dem hl. Gregor dem Großen, dem hl. Augustinus. Zu ihren größten Werken gehört vor allem ihre Autobiografie mit dem Titel Das Buch meines Lebens; sie nennt sie Von den Erbarmungen Gottes. Sie wurde 1565 im Karmel von Ávila verfasst und berichtet über den biografischen und geistlichen Weg, der niedergeschrieben wurde, um – wie Theresia selbst sagt – ihre Seele der Begutachtung durch den „Meister der geistlichen Menschen“, den hl. Johannes von Ávila, zu unterziehen. Ziel ist es, die Gegenwart und das Wirken des barmherzigen Gottes in ihrem Leben hervorzuheben; daher gibt das Werk oft den Gebetsdialog mit dem Herrn wieder.

Es ist eine faszinierende Lektüre, denn die Heilige erzählt nicht nur, sondern sie zeigt, dass sie die tiefe Erfahrung ihrer Beziehung zu Gott noch einmal durchlebt. 1566 schreibt Theresia den Weg der Vollkommenheit; sie nennt ihn „Anweisungen und Ratschläge, die Theresia von Jesus ihren Töchtern, den Ordensschwestern, gibt“. Empfängerinnen sind die zwölf Novizinnen des Karmels „San José“ in Ávila. Ihnen bietet Theresia ein tiefgreifendes Programm des kontemplativen Lebens im Dienst der Kirche, dessen Grundlage die evangelischen Tugenden und das Gebet sind. Einer der wertvollsten Abschnitte ist der Kommentar zum „Vaterunser“, dem Vorbild für das Gebet. Das berühmteste mystische Werk der hl. Theresia ist die Innere Burg, das sie 1577 schrieb, in voller Reife. Es ist eine neue Auslegung ihres geistlichen Weges und gleichzeitig eine Kodifizierung des möglichen Ablaufs des christlichen Lebens auf seine Fülle, die Heiligkeit, hin, unter dem Wirken des Heiligen Geistes. Theresia greift dabei zurück auf die Struktur einer Burg mit sieben Wohnungen als Bild der Innerlichkeit des Menschen und führt gleichzeitig das Symbol der Seidenraupe ein, die als Schmetterling neu geboren wird, um den Übergang vom Natürlichen zum Übernatürlichen zum Ausdruck zu bringen. Inspiriert durch die Heilige Schrift, besonders durch das Hohelied, gelangt die Heilige am Ende zum Symbol der beiden „Brautleute“, mit dem sie in der siebten Wohnung den Höhepunkt des christlichen Lebens unter seinen vier Aspekten beschreiben kann: dem dreifaltigen, dem christologischen, dem anthropologischen und dem kirchlichen Aspekt. Ihrer Tätigkeit als Gründerin der reformierten Karmelklöster widmet Theresia Das Buch der Gründungen, das zwischen 1573 und 1582 entstanden ist und in dem sie über das Leben der entstehenden Ordensgemeinschaft spricht. Wie bei der Autobiografie soll der Bericht vor allem das Wirken Gottes beim Werk der Gründung der neuen Klöster hervorheben.

Aufstieg zu Gott: „Beten ist Verweilen bei einem Freund“

Es ist nicht leicht, die tiefe und vielschichtige Theresianische Spiritualität in wenigen Worten zusammenzufassen. Erstens verweist die hl. Theresia auf die evangelischen Tugenden als Grundlage des ganzen christlichen und menschlichen Lebens: insbesondere die Abkehr von den Gütern oder die evangelische Armut, und das betrifft uns alle; die Liebe zueinander als wesentliches Element des Gemeinschaftslebens und des gesellschaftlichen Lebens; die Demut als Liebe zur Wahrheit; die Entschlossenheit als Frucht des christlichen Wagemuts; die theologische Hoffnung, die sie als Durst nach dem lebendigen Wasser beschreibt. Sie vergisst darüber jedoch nicht die menschlichen Tugenden: Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Höflichkeit, Fröhlichkeit, Bildung. Zweitens verweist Theresia auf eine tiefe Übereinstimmung mit den großen biblischen Gestalten und das aufrichtige Hören auf das Wort Gottes. Sie fühlt sich im Einklang vor allem mit der Braut des Hohenlieds und mit dem Apostel Paulus sowie mit dem leidenden Christus und dem eucharistischen Jesus. Die Heilige hebt außerdem hervor, wie wesentlich das Gebet ist. Sie sagt: Beten ist „nichts anderes als Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt“ (Das Buch meines Lebens 8,5). Die Idee der hl. Theresia stimmt mit der Definition der theologischen Liebe durch den hl. Thomas von Aquin als „amicitia quaedam hominis ad Deum“ überein: eine Art Freundschaft des Menschen mit Gott, der dem Menschen als erster seine Freundschaft angeboten hat; die Initiative geht von Gott aus (vgl. Summa theologiae II-II,23,1). Das Gebet ist Leben, und es entwickelt sich nach und nach zusammen mit dem Wachstum des christlichen Lebens: vom gesprochenen Gebet über die Verinnerlichung durch Betrachtung und Sammlung bis hin zur liebenden Vereinigung mit Christus und mit der Allerheiligsten Dreifaltigkeit. Natürlich handelt es sich nicht um eine Entwicklung, bei der man beim Aufstieg zu den höheren Stufen die vorhergehende Art des Gebets zurücklässt, sondern vielmehr wird die Beziehung zu Gott, die das ganze Leben umfasst, nach und nach vertieft. Bei Theresia handelt es sich nicht so sehr um eine Unterweisung im Gebet als vielmehr um eine „Mystagogik“: Sie lehrt den Leser ihrer Werke beten, indem sie selbst mit ihm betet; häufig unterbricht sie den Bericht oder die Darlegung, um ein Gebet hervorzubringen.

Braut Christi: „Den großen Gott können wir überall lieben“

Ein weiteres Thema, das der Heiligen am Herzen lag, ist die Zentralität der Menschheit Christi. Für Theresia ist das christliche Leben eine persönliche Beziehung zu Jesus, das seinen Höhepunkt in der Vereinigung mit ihm aus Gnade, aus Liebe und in der Nachahmung findet. Daher misst sie der Betrachtung des Leidens große Bedeutung bei, ebenso wie der Eucharistie als Gegenwart Christi in der Kirche, durch das Leben eines jeden Gläubigen und als Herzstück der Liturgie. Die hl. Theresia lebt eine bedingungslose Liebe zur Kirche: sie offenbart einen aufrichtigen „sensus Ecclesiae“ angesichts der Spaltungen und Konflikte in der Kirche ihrer Zeit. Sie reformiert den Karmelorden in der Absicht, der „heiligen römisch-katholischen Kirche“ besser zu dienen und sie besser zu verteidigen, und ist bereit, ihr Leben für sie hinzugeben (vgl. Das Buch meines Lebens 33,5). Ein letzter wesentlicher Aspekt der Theresianischen Lehre, den ich hervorheben möchte, ist die Vollkommenheit als Bestreben und Endziel des gesamten christlichen Lebens. Die Heilige hat eine sehr klare Vorstellung von der „Fülle“ Christi, die der Christ aufs Neue lebt. Am Ende des Weges der Inneren Burg, in der letzten „Wohnung“, beschreibt Theresia diese Fülle, verwirklicht in der Einwohnung der Dreifaltigkeit, in der Vereinigung mit Christus durch das Geheimnis seiner Menschheit.

Die hl. Theresia von Jesus ist eine wahre Lehrerin des christlichen Lebens für die Gläubigen jeder Zeit. In unserer Gesellschaft, in der es oft an geistlichen Werten mangelt, lehrt uns die hl. Theresia, unermüdliche Zeugen Gottes, seiner Gegenwart und seines Wirkens zu sein; sie lehrt uns, wirklich diesen Durst nach Gott zu spüren, der in der Tiefe unseres Herzens vorhanden ist, dieses Verlangen, Gott zu schauen, Gott zu suchen, mit ihm im Gespräch zu stehen und seine Freunde zu sein. Das ist die Freundschaft, die wir alle brauchen und nach der wir jeden Tag aufs Neue suchen müssen.

Das Vorbild dieser Heiligen, die zutiefst kontemplativ war und tatkräftig ans Werk ging, möge auch uns anspornen, jeden Tag die rechte Zeit dem Gebet, der Öffnung gegenüber Gott und diesem Weg zu widmen, um Gott zu suchen, ihn zu schauen und seine Freundschaft und somit das wahre Leben zu finden. Denn in Wirklichkeit müssten viele von uns sagen: „Ich lebe nicht, ich lebe gar nicht wirklich, denn ich lebe nicht das Eigentliche meines Lebens.“ Die Zeit des Gebets ist daher keine verlorene Zeit, sondern eine Zeit, in der sich der Weg des Lebens öffnet, in der sich der Weg öffnet, um von Gott eine glühende Liebe zu ihm, zu seiner Kirche und eine konkrete Liebe zu unseren Brüdern zu lernen.

Pastorale Neuausrichtung

Papst Franziskus machte die Frage der Gültigkeit einer sakramentalen Ehe bei einem Mangel an Glauben zum Thema seiner Ansprache anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahrs der Römischen Rota am 23. Januar 2015. Ein vom mangelnden Glauben herrührender „schwerer Irrtum über das Verständnis der Ehe selbst“ beeinträchtige den Ehewillen und könne Grund für deren Nichtigkeit sein. Nach dem Wunsch des Papstes sollten die Annullierungsverfahren unentgeltlich angeboten werden. Es bedürfe einer „pastoralen Neuausrichtung“ zum Wohl der betroffenen Ehepaare und Kinder, wobei das „salus animarum“, das Heil der Seelen, das höchste Ziel allen kirchlichen Handels sei und bleibe.

Von Papst Franziskus

Die Ehekrise ist nicht selten in ihrer Wurzel eine Krise der vom Glauben, also von der Treue zu Gott und zu seinem in Jesus Christus verwirklichten Liebesplan, erleuchteten Erkenntnis. Die pastorale Erfahrung lehrt uns, dass heute eine große Zahl von Gläubigen in irregulären Situationen lebt, wobei die weit verbreitete weltliche Mentalität einen starken Einfluss auf ihre Geschichte hatte. Denn es gibt eine Art spirituelle Weltlichkeit, „die sich hinter dem Anschein der Religiosität und sogar der Liebe zur Kirche verbirgt“ (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 93) und die dazu führt, statt der Herrlichkeit des Herrn das persönliche Wohlergehen zu suchen. Eine der Früchte dieser Haltung ist das Vorhandensein „eines im Subjektivismus eingeschlossenen Glaubens, bei dem einzig eine bestimmte Erfahrung oder eine Reihe von Argumentationen und Kenntnissen interessiert, von denen man meint, sie könnten Trost und Licht bringen, wo aber das Subjekt letztlich in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühle eingeschlossen bleibt“ (ebd., 94). Ganz offensichtlich verliert für den, der sich dieser Haltung beugt, der Glaube seinen richtungweisenden und normativen Wert und lässt freien Raum für Kompromisse mit dem eigenen Egoismus und mit dem Druck der gängigen Mentalität, die durch die Massenmedien vorherrschend geworden ist. Daher muss der Richter, wenn er die Gültigkeit des zum Ausdruck gebrachten Konsens abwägt, den Kontext der Werte und des Glaubens – beziehungsweise ihres Mangels oder ihres Nichtvorhandenseins –, in dem der Ehewille sich gebildet hat, berücksichtigen.

Denn die Unkenntnis über die Glaubensinhalte könnte zu dem führen, was der Codex als einen „den Willen bestimmenden Irrtum“ bezeichnet (vgl. Can. 1099). Anders als in der Vergangenheit darf diese Möglichkeit in Anbetracht des häufigen Vorrangs des weltlichen Denkens über das Lehramt der Kirche nicht mehr als Ausnahme betrachtet werden. Dieser Irrtum bedroht nicht nur die Stabilität, die Ausschließlichkeit und die Fruchtbarkeit der Ehe, sondern auch die Hinordnung der Ehe auf das Wohl des anderen, die eheliche Liebe als „Lebensprinzip“ des Konsens, die gegenseitige Hingabe zur Bildung einer Gemeinschaft für das ganze Leben. „Die Ehe wird tendenziell als eine bloße Form affektiver Befriedigung gesehen, die in beliebiger Weise gegründet und entsprechend der Sensibilität eines jeden verändert werden kann“ (Evangelii gaudium, 66), was die Brautleute zu einem mentalen Vorbehalt gegenüber der Dauerhaftigkeit der Verbindung oder ihrer Ausschließlichkeit führt: Diese würden verschwinden, wenn die geliebte Person die eigenen Erwartungen in Bezug auf das affektive Wohlergehen nicht mehr erfüllt.

Ich möchte euch daher zu einem immer größeren und immer leidenschaftlicheren Bemühen in eurem Dienst zum Schutz der Einheit der Rechtsprechung in der Kirche auffordern. Wie viel Pastoralarbeit zum Wohl vieler Ehepaare, vieler Kinder, die oft Opfer dieser Vorgänge sind! Auch hier bedarf es einer pastoralen Neuausrichtung der kirchlichen Strukturen (vgl. ebd., 27), um allen, die sich an die Kirche wenden, um Licht in ihre eigene Ehesituation zu bringen, das „opus iustitiae“ anzubieten. … Und diesen Punkt möchte ich betonen: Die Sakramente sind unentgeltlich. Die Sakramente schenken uns die Gnade. Und ein Eheverfahren betrifft das Sakrament der Ehe. Wie sehr möchte ich, dass alle Verfahren unentgeltlich wären!


Prof. Dr. Joachim Piegsa – ein katholischer Moraltheologe mit Herz

Er liebte die Kirche!

Am 20. Februar 2015 ist der deutsche Moraltheologe Prof. Dr. Joachim Piegsa MSF im 85. Lebensjahr verstorben. Besonders auf dem Hintergrund der Ablehnung der Enzyklika Humanae vitae im deutschen Sprachraum war er stets um die Treue zum kirchlichen Lehramt bemüht. Das Pontifikat Johannes Pauls II. begleitete er mit Ergebenheit und großem wissenschaftlichen Eifer. Dabei war seine Lehrtätigkeit mit einer demütigen und vorbildlichen priesterlichen Haltung verbunden. Nachfolgend ein Auszug aus der Beerdigungsansprache von Erzbischof Alfons Nossol, dem bekannten emeritierten Bischof von Oppeln, mit dem Prof. Piegsa in tiefer Freundschaft verbunden war.

Von Bischof em. Alfons Nossol

Moraltheologe im Dienst des katholischen Glaubens

Vor 84 Jahren erblickte Professor Dr. Joachim Piegsa in einer kinderreichen schlesischen Familie das Licht der Welt. Seine klugen und frommen Eltern erlaubten ihm das Gymnasium der Missionare von der Heiligen Familie (MSF) zu besuchen. Nach dem Abitur trat er dieser Gesellschaft bei und erhielt auch die Priesterweihe. Nach einem Spezialstudium in Moraltheologie an der Katholischen Universität Lublin promovierte er und wurde Rektor des Ordenspriesterseminars, in dem er zugleich Moraltheologie dozierte.

Über Rom gelangte er nach Mainz, wo er bei Prof. Ziegler habilitierte und ab 1971 an der Theologischen Fakultät der Mainzer Universität Vorlesungen hielt, bis er 1977 Professor für Moraltheologie in Augsburg wurde. Hier wirkte er segensreich bis zur Pensionierung. Schon in Mainz war er um Kontakte wissenschaftlicher Art mit der Katholischen Universität Lublin bemüht. Lublin lud Mainzer Professoren zu Gastvorlesungen ein und Mainz zu Gastvorlesungen an der Johannes-Gutenberg-Universität. Diese hatte 1977 die Ehrendoktorwürde an Kardinal Karol Wojtyla verliehen, der bis zur Papstwahl Professor in Lublin war.

Professor Joachim Piegsa ist Verfasser einer dreibändigen Moraltheologie: „Der Mensch – das moralische Wesen“. Gemäß seiner Ordensausrichtung interessierte er sich insbesondere für das heute wieder aktuelle Thema „Ehe und Familie“, wobei die Familie nach ihm als eine Gemeinschaft der Liebe zu gelten hat.

Einheit von Lehre und gelebter Frömmigkeit

Im Zug des Aggiornamento des II. Vatikanischen Konzils ließ es Professor Piegsa nie bei purer Theorie bewenden, sondern pflegte den „Satz im Gebet“ seiner didaktischen und wissenschaftlichen Wirkung zu suchen und zu erforschen.

Am Herzen lag ihm immer schon die Losung Johannes Pauls II.: „Der kürzeste Weg des Menschen zu Gott ist der andere Mensch.“ Kurzum: Nächstenliebe als Beweis der Gottesliebe!

Kaum zu umschreiben, wieviel Gutes dieser Priester, Ordensmann und Professor getan hat, um irgendwie leidenden Menschen zu helfen. Deswegen suchten sie ihn auch auf. Den Menschen eine Freude zu bereiten und es nicht nur beim billigen Trost bewenden zu lassen, darauf kam es bei ihm an. Seine priesterliche Existenz war sein Leben lang exemplarische radikale „Proexistenz“ – „Dasein für die anderen“.

Mit seinem Leben hat Professor Piegsa auch Zeugnis dafür abgelegt, dass wahre Liebe stets ans Kreuz geschmiegt ist. Wir können uns diesem Grundgeheimnis des christlichen Glaubens nur durch unser Leben nähern. Erlöst sind wir nicht durch die Liebe zur Macht, sondern durch die Macht der Liebe. Das Leiden ist der Preis der Liebe, Gott zahlt ihn mit dem Kreuz. Der Gott, der liebt, macht sich verletzlich, verwundbar. Aus Liebe zu uns nimmt er das Kreuz auf sich und leidet mit. Aber er geht darin nicht unter, er steht auf zu neuem, unvergänglichem Leben.

Beispielhafte Liebe zur Heimat

Ohne die beispielhafte und zugleich ansteckende Liebe von Professor Piegsa zur Heimat hätten wir kein integrales Bildnis dieses großen Schlesiers. „Heimat ist dort, wo man zum ersten Mal den Himmel über sich erblickte.“ Schlesien, „das Land des denkenden Herzens und des liebenden Verstandes“, wie es unsere früheren Dichter zu umschreiben versuchten, war stets seine Sehnsucht und seine große Liebe. Deswegen dachte er nie daran, sie eventuell zu verpolitisieren bzw. sogar zu verideologisieren. „Beten schenkt Heimat“ (G. Lohfink), auch dann, wenn man von ihr entfernt worden ist.

Er hat sie deshalb auch nie im Stich gelassen. Insbesondere ihre Eigenart und Brückenfunktion in Europa hat er wahrgenommen. Nach der Friedensbotschaft Johannes Pauls II. von 1989, die den Titel trug: „Achten der Minderheiten – ein Weg zum Frieden“, half er theologisch auch der deutschen Minderheit in seiner alten Heimat Fuß zu fassen, indem er drei Auflagen jeweils zu 100.000 Exemplaren des schlesischen Gebets- und Gesangsbuches „Weg zum Himmel – Droga do Nieba“ zustande brachte, die von der Augsburger Diözese getragen wurden.

Danken wir Gott, dass es diesen edlen Menschen, Priester, Ordensmann, Professor und wahren Freund in unserem Leben gegeben hat. Danken wir, dass er Liebe gesät hat und mit uns allen Freude erntete.


Der hl. Franz von Sales lehrt das Christsein im Alltag

Glanz echter Frömmigkeit

Weihbischof Dr. Andreas Laun ist Oblate des hl. Franz von Sales. Als Moraltheologe lernte er die Spiritualität und den pastoralen Ansatz seines Ordensvaters außerordentlich schätzen. Im umfangreichen Erbe des heiligen Kirchenlehrers sieht er eine Orientierungshilfe von überzeitlicher Bedeutung. Die sog. „Deutsche Ausgabe der Werke des heiligen Franz von Sales“ (DASal) umfasst zwölf Bände. Daraus stellte Weihbischof Laun einige Zitate zusammen, welche das Bemühen des hl. Franz von Sales um eine angemessene Form der Frömmigkeit bei seinen Gläubigen aufzeigen. „Wenn möglich, sollen wir vermeiden, dass unsere Frömmigkeit unangenehm wird“ (DASal 6,107), so schrieb der Heilige selbst. Was macht eine echte, fruchtbare Frömmigkeit aus?

Hl. Franz von Sales (1567-1622)

Echte Frömmigkeit macht alles vollkommen

Echte Frömmigkeit verdirbt nichts; im Gegenteil, sie macht alles vollkommen. Verträgt sie sich nicht mit einem rechtschaffenen Beruf, dann ist sie gewiss nicht echt. Die Bienen, sagt Aristoteles, entnehmen den Blumen Honig, ohne ihnen zu schaden; sie bleiben frisch und unversehrt. Die echte Frömmigkeit schadet keinem Beruf und keiner Arbeit; im Gegenteil, sie gibt ihnen Glanz und Schönheit. Kostbare Steine erhalten einen höheren Glanz, jeder in seiner Farbe, wenn man sie in Honig legt. So wird auch jeder Mensch wertvoller in seinem Beruf, wenn er die Frömmigkeit damit verbindet. Die Sorge für die Familie wird friedlicher, die Liebe zum Gatten echter, der Dienst am Vaterland treuer und jede Arbeit angenehmer und liebenswerter (DASal 1,37).

Eheliche Liebe wird rein und schön

Sieh die Eheleute, die so herzlich miteinander leben und einander mit einer Ehrfurcht begegnen, die nicht denkbar ist ohne eine große Liebe. Sieh, diese Frommen verbinden die Sorge um das Hauswesen mit der Sorge um ihr Innerstes, die Liebe zum Gatten mit der Liebe zum himmlischen Bräutigam. Sieh dich um: Du findest sie alle in heiliger, gütiger, liebevoller Haltung; sie hören auf unseren Herrn und alle möchten ihn in ihrem Herzen tragen. Sie freuen sich, aber ihre Freude ist schön, liebevoll, geordnet. Sie lieben einander, aber ihre Liebe ist heilig und ganz rein. Wer unter diesen Frommen ein Leid trägt, quält sich nicht viel damit und verharrt in beherrschter Haltung. Sieh, wie der Anblick des Heilands sie erfreut, wie alle einmütig zu ihm hinstreben (DASal 1,59).

Gottesdienst führt zu sorgfältiger Pflichterfüllung

Bist du wirklich klug, dann werden Mutter oder Ehefrau, Ehemann oder Vater dich nicht hindern können, oft zu kommunizieren. Du wirst ja an Tagen, da du beim Tisch des Herrn warst, alle deine Pflichten genau so sorgfältig erfüllen, ja du wirst deinen Mitmenschen gegenüber noch freundlicher und liebevoller sein als sonst und ihnen keinen Dienst abschlagen. So ist es wenig wahrscheinlich, dass sie dich von einer Übung abhalten wollen, die ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet, außer sie wären von schwierigem und unvernünftigem Charakter; dann wird dir wohl dein Beichtvater sagen, wieweit du ihrer Schwäche nachgeben sollst (DASal 1, 101-102).

Rechte Freiheit schadet keinem Stand

Muss man aus Nächstenliebe von der Freiheit Gebrauch machen, so soll dies ohne Ärgernis und Ungerechtigkeit geschehen. Ich weiß zum Beispiel, dass ich irgendwo weitab von meiner Diözese nützlicher sein könnte. In diesem Falle darf ich von der Freiheit nicht Gebrauch machen, weil ich Ärgernis erregte und unrecht täte; denn hier hält mich meine Pflicht fest. So machen auch verheiratete Frauen einen falschen Gebrauch von der Freiheit, wenn sie sich ohne rechtmäßigen Grund und unter dem Vorwand der Frömmigkeit und Nächstenliebe von ihrem Gatten entfernen. Die rechte Freiheit schadet keinem Stande. Im Gegenteil, sie bewirkt, dass jeder seinen Beruf liebt, weil er weiß: es ist der Wille Gottes, dass er darin bleibe (1 Kor 7,20.24) (DASal 5,63).

Ergebung und Gleichmut machen die Werke wertvoll

Denken Sie daran, was ich Ihnen so oft gesagt habe: Machen Sie unserer Frömmigkeit Ehre; lassen Sie sie allen Menschen Ihrer Umgebung, vor allem aber Ihrer Familie sehr liebenswert erscheinen; bewirken Sie, dass jeder gut von ihr spricht. Mein Gott, wie glücklich sind Sie, einen so vernünftigen und willigen Gatten zu haben! Sie sollten Gott recht dafür preisen. – Wenn Sie auf irgendwelchen Widerspruch stoßen, so ergeben Sie sich ganz Unserem Herrn und trösten Sie sich in dem Bewusstsein, dass seine Gunsterweise nur für die Guten sind oder für jene, die sich anschicken, es zu werden (2 Tim 3,12) (DASal 6,87).

Wie ich sehe, sind Sie jetzt richtig auf die Probe gestellt, Ergebung und Gleichmut zu üben, da Sie Gott nicht nach Ihrem Willen dienen können. Ich kannte eine Dame, eine der größten Seelen, die mir je begegnet sind, die lange Zeit in einer solchen Unterwerfung unter die Launen ihres Gatten verharrte, dass sie auf der Höhe ihrer Hingabe an Gott und ihrer Andachtsgluten dekolletierte Kleider tragen musste, außenhin mit Schmuck überladen wurde und außer zu Ostern stets nur heimlich und verborgen kommunizieren konnte; andernfalls hätte sie tausendfachen Sturm in ihrem Haus heraufbeschworen. Und auf diesem Weg ist sie sehr hoch hinaufgestiegen, wie ich weiß, der ich recht oft ihr Beichtvater gewesen bin.

Töten Sie sich daher freudig ab und tun Sie in dem Maße, als Sie verhindert sind, das Gute zu tun, das Sie wünschen, umso eifriger das Gute, das Sie nicht wünschen (Röm 7,15.19). Sie wünschen nicht diese Verzichte, sondern andere; aber leisten Sie die, die Sie nicht wünschen, denn diese sind umso wertvoller (DASal 6,106-108).

Richtiges Maß schafft ein wahres Paradies

Ich freue mich, dass Sie nun fröhlicheren Geistes sind als zuvor. Zweifellos, gnädige Frau, wird Ihre Befriedigung alle Tage zunehmen, denn die Güte Unseres Herrn wird sich immer mehr in Ihrer Seele ausbreiten. Nie hat jemand von der Frömmigkeit verkostet, ohne sie köstlich zu finden. Ich bin sicher, dass diese Fröhlichkeit und geistige Freude um sich greift und mit ihrem kostbaren Duft all Ihren Verkehr erfüllt, besonders den häuslichen. Dieser ist doch für Sie der gewöhnliche und entspricht Ihrer Hauptpflicht; er soll ihn daher auch mehr denn alles andere spüren lassen. Wenn Sie die Frömmigkeit lieben, dann handeln Sie so, dass alle ihr Achtung und Ehrerbietung entgegenbringen; das werden sie auch tun, wenn sie deren gute und angenehme Auswirkungen in Ihnen sehen.

Mein Gott, welch große Möglichkeiten haben Sie doch, sich um Ihr ganzes Haus verdient zu machen! Sie können es ohne Zweifel zu einem wahren Paradies der Frömmigkeit machen, zumal sich Ihr Herr Gemahl Ihren guten Bestrebungen so wohlgeneigt zeigt. Ach, wie glücklich werden Sie sein, wenn Sie richtig Maß halten, wie ich es Ihnen für Ihre Übungen gesagt habe, indem Sie diese, soviel Sie können, Ihren häuslichen Obliegenheiten und dem Willen Ihres Gatten anpassen, der doch weder ungeregelt noch hart ist. Ich habe kaum verheiratete Frauen gesehen, die leichter fromm sein können als Sie, gnädige Frau, sodass Sie daher auch sehr verpflichtet sind, darin vorwärts zu schreiten (DASal 6,293-294).


Plädoyer für eine angemessene Einstellung zum Papsttum

Vorsitz der Liebe

Professor Dr. Anton Štrukelj ruft eine Schrift von Hans Urs von Balthasar in Erinnerung, in der die richtige Haltung eines Katholiken zum Nachfolger des hl. Petrus herausgearbeitet wird. Das über 300 Seiten umfassende Werk ist bereits 1974 erschienen, hat nach Prof. Štrukelj jedoch nichts an Aktualität verloren. Gerade Papst Franziskus verwirkliche den „Vorsitz der Liebe“ auf eine Weise, wie es in vielem der Vision von Hans Urs von Balthasar entspreche. Das besagte Buch trägt den Titel: „Der antirömische Affekt. Wie lässt sich das Papsttum in der Gesamtkirche integrieren?“ Einerseits verlange die Größe des Petrusamtes Gefühle liebender Ehrfurcht und Treue, andererseits habe jeder Katholik in der Kirche seine freie Meinungsäußerung, wenn sie nur in der Liebe geschehe.

Von Anton Štrukelj 

„Papst ist Meister des ganzen Hauses Christi“ (hl. Ignatius v. Loyola)

Die Last des Papstamtes ist so schwer, dass die Christen ein tiefes Mitleid mit dem haben sollten, dem dieses Kreuz auferlegt ist. Kardinal Joseph Ratzinger spricht von der „martyrologischen Struktur des Primats“.[1] Der „Apostolische Sitz“ und das Kreuz sind identisch: „Das Papsttum bedeutet Kreuz, und zwar das größtmögliche. Denn was könnte mehr mit dem Kreuz … zu tun haben als Sorge und Verantwortung für alle Kirchen des Erdkreises?"[2] Auch Mose stöhnte unter der Last ganz Israels, die er nicht mehr tragen konnte und doch tragen musste.

Es wäre normal und selbstverständlich, dass die Katholiken ihren Oberhirten, den Papst, liebend im Gebet unterstützen würden, so wie die erste Kirche sich um Petrus sorgte: „Die Gemeinde betete inständig für ihn zu Gott“ (vgl. Apg 12,5). In der Tat bittet Papst Franziskus immer wieder die Gläubigen, sie sollen für ihn beten. Und das tun wir auch. Aber leider ist es nicht immer und überall so. Es gab und es gibt einen verbreiteten antirömischen Affekt.

Der antirömische Affekt als Selbstzerstörung der Kirche

Hans Urs von Balthasar hat den antirömischen Affekt eine Krankheit genannt und auch seine Symptome beschrieben.[3] Das Tragische ist, dass heute viele Katholiken von dieser Krankheit befallen sind. „Die Krankheit hat unterdessen solche Fortschritte gemacht, dass die davon nicht Befallenen zumeist für Außenseiter gehalten werden. … Der Eindruck, den man bei einer Übersicht über die Weltlage der Catholica gewinnt, ist vor allem der, dass sich die Katholiken, insbesondere die Theologen, über die Folgen des genannten Affekts keinerlei Rechenschaft geben."[4] Der antirömische Affekt als Selbstzerstörung der katholischen Kirche ist „eine Schändung des Heiligsten, des ewig verwundbaren ,Leibes Christi, der die Kirche ist‘ und der wir sind oder sein sollten“.[5]

Die Verbreitung des antirömischen Affekts hat die historischen Wurzeln schon in der Apostelzeit. Dieses seltsam irrationale Phänomen bestand schon längst vor der testamentarischen Weisung, die Luther hinterließ: Hoc unum me mortuo servate: odium in pontificem Romanum.[6] Der antirömische Affekt hat eine lange Geschichte. Er ist „so alt wie erstens das Römische Reich und zweitens der Vorrangsanspruch des römischen Bischofs“, stellt Balthasar lapidar fes.[7] und beschreibt die historische Diagnose der Krankheit. Auch Kardinal Joseph Ratzinger bemerkte dazu: „Das Thema Papsttum gehört nicht zu den populären Themen der Nachkonzilszeit."[8] Trotzdem wollen wir das Papsttum in seiner positiven, von Christus gewollten und gestifteten Gestalt betrachten.

Die Größe des Papsttums

„Der Schlüssel“ zum Verständnis des Papsttums „liegt tief verschüttet im Mysterium der Trinität und der Menschwerdung“.[9] Dementsprechend darf man das Petrusamt nicht isoliert betrachten, sondern immer nur im Gefüge der Gesamtkirche. Die Kirche ist eine Gemeinschaft. Das ist das Primäre. Damit die Kirche wirklich Communio sein kann, braucht sie gleichzeitig und untrennbar davon die Hierarchie.[10]

Die Kirche, die wir unsere Mutter nennen, ist keine bloß ideale und irreale Kirche, sie ist vielmehr eben diese hierarchische Kirche. Sie ist die Kirche, die tatsächlich heute konkret existiert, und nicht eine Kirche, von der wir träumen. Deshalb kann der Gehorsam, den wir ihren leitenden Personen leisten, nur ein kindlich ergebener Gehorsam sein. Die Kirche ist unsere Mutter: Ecclesia Mater. Sie hütet uns und hält uns versammelt in ihrem mütterlichen Schoß. Wir hören nicht auf, von ihrem Geist zu leben. „Jeder echte Katholik hegt ihr gegenüber Gefühle liebender Ehrfurcht. Er liebt es, ihr den Mutternamen zu geben, wie ihre ersten Kinder es taten, und wie die altchristlichen Texte ihn so vielfach bezeugen. Jeder wahre Katholik bekennt mit Cyprian und Augustin: ,Wer die Kirche nicht zur Mutter hat, kann Gott nicht zum Vater haben.‘"[11]typo3/#_ftn11

Henri de Lubac, der in seinem Meisterwerk über die Kirche die ganze Tradition liebend durchmeditiert hat, stellt das Papsttum in diese allumfassende marianische Mutterschaft der Kirche. Als „anima ecclesiastica – Mann der Kirche“ versteht er es, von diesem Dienstamt sehr persönlich zu reden. Seiner Ansicht nach ist es für einen Katholiken ganz selbstverständlich, die Mutterschaft der Kirche und die Vaterschaft des Papsttums in einer unzertrennlichen Einheit zu betrachten. So ist der Papst „der Meister des ganzen Hauses Christi“ (Ignatius von Loyola). Der Katholik „weiß, dass Petrus nicht nur die Schafe, sondern auch die Lämmer anvertraut wurden, dass Jesus für ihn gebetet hat, damit sein Glaube nicht wanke, dass er ihm die Schlüssel des Himmelreiches vermacht und ihm den Auftrag gegeben hat, alle seine Brüder zu stärken. Er versteht, dass Petrus die ganze Kirche personifiziert, dass … die Kirche als Ganze an ihm ihr sichtbares Fundament hat."[12]typo3/#_ftn12 Der Katholik begnügt sich auch nicht nur damit, festzustellen und zu verstehen, dass die Kirche sich letztlich in Petrus verdichtet, er freut sich auch darüber. Er lässt sich von denen nichts weismachen, die ihm beibringen möchten, er habe ,den Sinn für die Allgemeinheit der Kirche verloren‘ … Leugnet man denn den Kreis, wenn man zeigt, dass er einen Mittelpunkt haben muss? Zerstört man den Leib, wenn man ihm sein Haupt zugesteht? Allem Argumentieren von außen stellt der kirchliche Mensch die Evidenz seines Glaubens entgegen."[13]

Diesen strahlenden Worten fügt Henri de Lubac noch folgende dazu: Der Katholik „macht sich das Wort des hl. Augustinus zu eigen: ,Ubi Petrus, ibi Ecclesia‘. Er erblickt in Petrus den unerschütterlichen Felsen, auf dem auch die Festigkeit seines eigenen Glaubens mitaufruht, ,die Mitte der katholischen Einheit und Wahrheit‘, das einzige sichtbare Zentrum aller Gotteskinder … und so wird seine Treue zum christlichen Glauben konkret in seiner Treue zu Petrus; seine Liebe zur christlichen Einheit wird konkret in seiner Liebe zu Petrus. Über alle äußeren Fragwürdigkeiten hinweg bleibt er ihm mit allen Fibern seines Herzens verbunden."[14]

Integrieren: unterwegs zur Fülle Christi

Der Christ, der aus der Frische der lebendigen Tradition schöpft, darf sich vom Virus des antirömischen Affektes nicht anstecken lassen. Da aber diese Krankheit allzu sehr verbreitet ist, war es ein wichtiges Anliegen von Hans Urs von Balthasar, die entsprechenden Medikamente bereitzustellen. Er schrieb: „Charismen werden nicht aufs Geratewohl ausgeteilt, sondern von Gott in die Bedürfnisse und Nöte seiner Kirche, in die jeweilige historische Gegenwart hinein gespendet. Wenn sie von Gott stammen, dann schwimmen sie meistens nicht mit den Modeströmungen, sondern erhalten viel eher Gegengifte und Arzneien für die Gefahren der Zeit."[15]

In seinem Buch Der antirömische Affekt will Balthasar das Papsttums in die Gesamtkirche integrieren. Wie Henri de Lubac, sein Meister und Freund, so stellt auch er ins Zentrum seiner Betrachtung das Mysterium der Kirche. So zeigt sich das Amt Petri in seiner christologischen Konstellation. „Jeder Mensch steht in einer mitmenschlichen Konstellation; ein einziger Mensch wäre ein innerer Widerspruch. Menschsein bedeutet Mitsein."[16] Die mitmenschliche Konstellation bleibt dem Menschen nicht äußerlich, sondern bestimmt ihn innerlich. Das gilt für Jesus Christus wie für Petrus. So ist Jesus Christus durch sein Mitsein mit dem Täufer, der Mutter, den Zwölf und den anderen Jüngern, ja selbst mit Paulus bestimmt. Petrus seinerseits ist bestimmt durch sein Mitsein mit Jesus Christus, mit Maria und den anderen Aposteln und Jüngern. „Petrus in Gefüge“ bedeutet, dass der Auftrag des Petrus innerlich mitbestimmt wird durch andere Berufungen. Es gibt auch eine Spannungseinheit von Amt und Charisma (Paulus), Amt und Liebe (Johannes), Amt und Dienst (Maria). Diese realsymbolischen Gestalten ergänzen und beleuchten das Petrinische in der Kirche. Ganz zentral bleibt das Verhältnis Maria-Johannes und dann Maria-Johannes-Petrus.

Johannes, der Liebesjünger, erhielt am Kreuz wahrhaft testamentarisch die Mutter des Herrn anvertraut, mit der zusammen er die jungfräuliche Urzelle seiner Kirche bilden sollte, der apostolischen Kirche unter der Führung Petri. „Von dieser am Kreuz gestifteten Urzelle der Kirche wird alles ausgehen, was dann auch zum kirchlichen Organismus sich ausbilden wird: der schon zum Fels designierte Petrus, der verleugnet hat, wird mit der johanneischen Liebe begabt, um der Frage des Herrn standzuhalten: ,Liebst du mich mehr als diese?‘ und daraufhin mit der Verheißung der Kreuzigung beschenkt zu werden. … Johannes wird zum Bindeglied zwischen der unbefleckt heiligen und der hierarchisch organisierten Kirche. … Es ist zentral richtig, wenn das väterliche Haupt der Kirche (Papst heißt Vater) sich immer neu an die Mutter der Kirche wendet, um von ihr Beistand und Fruchtbarkeit für sein amtliches Walten zu erbitten."[17] „Der Nachfolger Petri kann sich immer in einer Marienkirche neue Kraft für sein Zeugnis holen."[18]

Die Slawenapostel, die Heiligen Cyrill und Methodius, die Mitpatrone Europas, haben den Papst „Apostolicus“ genannt und damit die apostolische Grundlage seines Primats unterstrichen. Aber auch die nahe Vergangenheit kennt wunderbare Vorbilder: man denke an den Kardinal Alojzij Stepinac in Kroatien oder an Erzbischof Anton Vovk in Slowenien.[19] Die kommunistische Regierung wollte die Abspaltung von Rom. Aber die Hirten blieben treu auch in der Verfolgung – z.B. der ungarische Kardinal József Mindszenty oder der selige Märtyrer-Bischof Vilmos Apor (er war Onkel von Hans Urs von Balthasar). Welch teueren Preis haben diese und andere Zeugen bezahlt und damit die unerschütterliche Treue zum Papst bezeugt! Solche Bekenner beweisen, dass der „Vorsitz der Liebe“ innerhalb der kirchlichen Communio notwendig ist. „Das heißt, dass jeder Katholik, der in der Liebe lebt, seinen freien unmittelbaren Zugang zu Gott und seine freie Meinungsäußerung in der Kirche hat, wenn sie nur in der Liebe geschieht."[20]


[1] Joseph Kardinal Ratzinger: Kirche, Ökumene und Politik. Neue ekklesiologische Versuche, Johannes Verlag, Einsiedeln 21987, 41-48.
[2] Ebd., 46. Zum Thema siehe auch H.-J. Fischer, S. O. Horn, W. Kasper und H. J. Pottmeyer: Wozu noch einen Papst? Vier Plädoyer für das Petrusamt, Communio, Köln 1993. Anton Štrukelj: Ti si Peter Skala, Ljubljana 1996.
[3] Hans Urs von Balthasar: Der antirömische Affekt. Wie lässt sich das Papsttum in der Gesamtkirche integrieren?, Johannes Verlag Einsiedeln, Trier 21989, S. 1, 25, 40; Eine Buchbesprechung bei A. Strle: Hans Urs von Balthasar in „protirimski afekt“, in: Bogoslovni vestnik 36 (1976), 255-270.
[4] Der antirömische Affekt
, 1.
[5] Ebd., 1-9.
[6] Ebd., 16.
[7] Ebd., 29.
[8] Kirche, Ökumene und Politik, 35. Siehe auch Joseph Ratzinger: Der Primat des Papstes, in: JRGS 8/1, Freiburg 2010, 606-675.
[9] Kirche, Ökumene und Politik, 51.
[10] Vgl. dazu B. Hallensleben: Einheit als Communio. Zum Verhältnis von „communio sanctorum“ und „communio oecumenica“, in: IkZ Communio 17 (1988), 24-40; Paul Josef Cordes: Communio. Utopie oder Programm?, in: Quaestiones disputatae Nr. 148, Freiburg 1993.
[11] Henri de Lubac: Die Kirche. Eine Betrachtung, Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg 22011, 238f. Vgl. auch sein Buch Quellen kirchlicher Einheit, Johannes Verlag Einsiedeln 1974.
[12] Ebd., 241.
[13] Ebd., 243.
[14] Ebd., 244f
[15] Hans Urs von Balthasar: Erster Blick auf Adrienne von Speyr, Johannes Verlag Einsiedeln 41989, 84.
[16] Der antirömische Affekt, 115.
[17] Hans Urs von Balthasar: Maria für heute. Neuaufl., Johannes Verlag Einsiedeln 1997, 56-57.
[18] Ebd., 21f.
[19] Siehe Anton Štrukelj: Vertrauen. Mut zum Christsein, EOS Verlag St. Ottilien 2012: „Ich vertraue auf den Herrn“. Erzbischof Anton Vovk – der Fels im kommunistischen Slowenien, 217-233.
[20] Der antirömische Affekt, 8.

Pastoral und Bioethik

Heilende Seelsorge

Professor Dr. Dr. Ralph Weimann, Rom, ermutigt Seelsorger im Hinblick auf bioethische Herausforderungen, das Sakrament der Buße als Sakrament der Heilung zu verstehen. Neue medizinische Methoden werden oft als legitime Möglichkeit in Aussicht gestellt und auch von Gläubigen in Anspruch genommen. Doch in Wirklichkeit verbinden sich damit nicht selten schwere Sünden mit belastenden Folgen. Daher sei es zunächst notwendig, den Menschen die Augen für die Wirklichkeit der Sünde zu öffnen, um dann von Gott Vergebung und Heilung zu erfahren und wieder aufgerichtet zu werden. In seiner Enzyklika Evangelium vitae – „Das Evangelium vom Leben“ hat Papst Johannes Paul II. dazu ein treffliches Kriterium vorgeschlagen: „Sucht vielmehr das Geschehene zu verstehen und interpretiert es in seiner Wahrheit“ (Nr. 99).

Von Ralph Weimann

Bioethik ist eine relativ junge Wissenschaft, die ethische Antworten auf den rasanten Fortschritt in Medizin und Technik zu geben versucht. Anfang und Ende des menschlichen Lebens werden immer häufiger dem Diktat des Fortschritts unterworfen und mit Nachdruck stellt sich die Frage, wie dieser zu verantworten ist. Probleme aus dem Bereich der Bioethik betreffen heute fast jeden, auch Beichtväter, wie das folgende Beispiel verdeutlicht:

Die Not einer Mutter

Es klingelt am Pfarrhaus und eine Frau bittet um ein beratendes Gespräch. Sie ist aufgelöst und gibt dem Pfarrer gleich zu verstehen, dass sich ihre Ehe in einer tiefen Krise befindet. Im Verlauf des Gesprächs stellt sich heraus, dass sie vor der Hochzeit lange mit ihrem Freund zusammengelebt und auch die Pille verwendet hat. Nach der kirchlichen Hochzeit haben sich die beiden dann entschlossen, Kinder zu bekommen, zumal das Haus eingerichtet und die „biologische Uhr“ schon fortgeschritten war. Infolge kam es jedoch zu zwei Fehlgeburten. Angeregt durch die Bundestagsdebatte zur Einführung der PID (Präimplantationsdiagnostik) und die Legalisierung derselben durch den Gesetzgeber, hat man sich schließlich „für“ das Kind entschieden und sich einer entsprechenden Therapie unterzogen. Mit dieser „Therapie“ wurde die Hoffnung verbunden, durch eine „Selektion im Reagenzglas“ Fehlgeburten und Behinderungen von vornherein auszuschließen. Die vielleicht letzte Chance, um zu einem eigenen Kind zu gelangen. Im Nachhinein, so bemerkte die Frau nicht ohne Tränen zu vergießen, blieb dieses Unterfangen nicht nur erfolglos, sondern die Nebeneffekte stellten sie und ihre Ehe auf eine harte Probe.

Nun suche sie wieder neu Anschluss an die Kirche, auch in der Beichte, die doch Vergebung, Frieden und Heilung bringen soll. Sie kam nicht unvorbereitet zum Gespräch, sondern hatte auf Anraten einer Bekannten bereits den Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) konsultiert und erfahren, dass die Abtreibung von der Kirche streng geahndet wird. Sie zitiert die Nr. 2271, in der es heißt: „Seit dem ersten Jahrhundert hat die Kirche es für moralisch verwerflich erklärt, eine Abtreibung herbeizuführen. Diese Lehre hat sich nicht geändert und ist unveränderlich. Eine direkte, das heißt eine als Ziel oder Mittel gewollte, Abtreibung stellt ein schweres Vergehen gegen das sittliche Gesetz dar.“ Noch mehr habe sie aber die folgende Nummer verunsichert, in der es heißt: „Die formelle Mitwirkung an einer Abtreibung ist ein schweres Verbrechen. Die Kirche ahndet dieses Vergehen gegen das menschliche Leben mit der Kirchenstrafe der Exkommunikation. […] Die Kirche will dadurch die Barmherzigkeit nicht einengen; sie zeigt aber mit Nachdruck die Schwere des begangenen Verbrechens und den nicht wieder gutzumachenden Schaden auf, der dem unschuldig getöteten Kind, seinen Eltern und der ganzen Gesellschaft angetan wird“ (Nr. 2272).

Nun habe sie in weiteren Recherchen erfahren, dass bei der Anwendung der PID eine beträchtliche Anzahl von Embryonen verloren geht, und so stelle sich ihr die Frage, ob diese Last nicht ggf. auch Ursache für die Ehekrise sei, die sie nun durchmachen.

Eine Antwort aus der Sicht des Glaubens

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie bioethische Probleme in den pastoralen Kontext treten. Um eine Antwort auf die geschilderte Problematik geben zu können, müssen verschiedene Ebenen Beachtung finden, nur so lässt sich eine angemessene Lösung in Aussicht stellen.

a) Medizinisch-technische Ebene

Die Frau, die sich in ihrer Not an den Pfarrer wendet, hatte sich einer PID unterzogen, die im Rahmen der künstlichen Befruchtung durchgeführt wird. Nachdem im Reagenzglas der Embryo künstlich gezeugt wurde, wird dieser im Labor auf seine Qualitäten hin überprüft. Schon bei dieser Praxis gehen unvermeidlich Embryonen verloren. Zudem findet eine massive Selektion statt, denn nur „High quality“-Embryos werden überhaupt in den Uterus der Frau übertragen, solche, die keine Anomalien aufweisen. Auch wenn es in Deutschland verboten ist, lässt sich mittels dieser Methode beispielsweise das Geschlecht, die Augenfarbe, etc. bestimmen, Embryonen werden „aussortiert“. Inzwischen lassen sich ca. 10.000 Krankheiten und 200 Erbkrankheiten auf diese Weise diagnostizieren und ggf. ausschließen. Das Verfahren ist für die Frau aus verschiedenen Gründen sehr problematisch, weil nur durch eine starke Hormonbehandlung genügend Eizellen gewonnen werden können, die für das Verfahren notwendig sind. Wissenschaftlichen Studien zufolge gehen ca. 50% aller Ehen allein deswegen zugrunde, weil die damit verbundenen physisch-psychischen Belastungen zu groß sind. In den vorgeschriebenen Beratungen wird dies meist verschwiegen oder nur sehr abgeschwächt dargestellt, zumal davon inzwischen ein ganzer Wirtschaftszweig profitiert. Damit es zu einer gesunden Lebendgeburt kommt, werden nach der European Society of Human Reproduction and Embryology im Schnitt 33,5 Embryonen verbraucht.

b) Rechtliche Ebene

Seit dem 1. Februar 2014 ist die Präimplantationsdiagnostikverordnung (PIDV) in Kraft und damit ist die PID auch in Deutschland – unter gewissen Auflagen – erlaubt. In der Bevölkerung erhält sie mehrheitlich Zustimmung, selbst wenn der Anwendungsbereich sehr beschränkt ist. Ihre begrenzte Zulassung wurde in den Medien als großer Erfolg gefeiert.

c) Ethisch-moralische Ebene

Da der Embryo an der Würde, die der Person eigen ist, Anteil hat, bedeutet die Inkaufnahme der Vernichtung von Embryonen ein schweres Verbrechen, eine große Sünde. Davon kann auch die PIDV nicht dispensieren. Aufgrund der bereits beschriebenen Fakten, die sich mit der PID verbinden, kommt das Lehramt der Kirche im Dokument Dignitas personae zu einem deutlichen Urteil: „Die Präimplantationsdiagnostik ist also Ausdruck jener eugenischen Mentalität, welche ‚die selektive Abtreibung in Kauf nimmt, um die Geburt von Kindern zu verhindern, die von Missbildungen und Krankheiten verschiedener Art betroffen sind. Eine solche Denkart ist niederträchtig und höchst verwerflich, weil sie sich anmaßt, den Wert eines menschlichen Lebens einzig und allein nach Maßstäben wie Normalität und physisches Wohlbefinden zu beurteilen, und auf diese Weise auch der Legitimation der Kindestötung und der Euthanasie den Weg bahnt."[1]

d) Pastorale Ebene

Oft herrscht eine große Unwissenheit im Hinblick auf grundlegende ethische Entscheidungen. Viele Personen – auch gläubige Christen – sind sich nicht bewusst, was sie eigentlich tun, wenn sie sich derartigen Behandlungen unterziehen. Sie trauen einer oberflächlichen Leseart und den Versprechen von Wissenschaft und Politik. Doch am Ende sind sie die Leidtragenden und drohen nicht selten unter der Last zu zerbrechen. Viele gehen zum Psychologen und hoffen, Hilfe und Linderung in ihrem Leid zu erfahren. Doch die Hilfsmittel sind begrenzt, die auf dieser Ebene geboten werden können. Das Sakrament der Beichte, in dem Vergebung stattfindet und die Last der Sünde genommen wird, stellt in diesem Kontext ein dringend wiederzuentdeckendes Geschenk dar, das man den Gläubigen nicht vorenthalten sollte. Einige Aspekte aus dem geschilderten Fall mögen dies verdeutlichen.

Aufklärung

Intuitiv merken die Menschen oft, dass sie Fehler begangen haben. Ein konkretes Wissen darum fehlt zunehmend, aber die Intuition ist nach wie vor vorhanden. Nun ist es in einem ersten Schritt wichtig zu erklären, was eigentlich geschehen ist. Dazu braucht man kein Experte in Bioethik zu sein, es reicht auf die bereits angeführten Aspekte hinzuweisen. Dies sollte allerdings nicht mit dem „Vorschlaghammer“ geschehen, sondern mit Güte und in Liebe. Es bedarf einer Aufklärung, die zugleich als eine Hinführung zum Sakrament der Beichte zu verstehen ist, die in diesem Licht gesehen zum Sakrament der Heilung wird. Es geht darum, zu helfen, Heil zu bringen, das letztlich aus der Begegnung vom Heiland kommt. Die Sünde wird im Sakrament genommen, Gott schenkt einen Neuanfang. Damit es zu diesem Neuanfang kommen kann, ist Aufklärung und Einsicht in die begangenen Sünden und Fehler notwendig. Es hilft nichts, den Menschen lediglich gut zuzureden und die Last der Sünde klein zu machen, so würde man ihr Leid nicht ernst nehmen. Es geht vielmehr darum, ihnen die Barmherzigkeit Gottes zu vermitteln, die jedoch Umkehr voraussetzt und damit auch das Eingeständnis und Bekenntnis von Schuld und Sünde.

Vergebung und Heilung

Dem Priester sind die Mittel anvertraut, Abhilfe zu schaffen und jene schwere geistige Last zu nehmen, die sich ggf. auch auf die Psyche niederschlägt. Durch den Priester tritt den Menschen Christus als Medicus entgegen. Papst Franziskus hat dies im Interview mit Antonio Spadaro SJ deutlich zum Ausdruck gebracht, als er sagte: „Ich sehe ganz klar … dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen… Man muss ganz unten anfangen."[2]

Damit dies gelingen kann, dürfen die Gläubigen im Priester nicht einem Sozialarbeiter sehen, sondern sie sollen durch ihn Christus begegnen, der sie heilt und ihnen aufhilft. Aus dieser Perspektive ist es hilfreich, der Frau – und in einem späteren Schritt auch ihrem Mann – nahezulegen, eine Lebensbeichte abzulegen. Da die meisten Menschen mit der Beichte wenig vertraut sind und dieses Sakrament oft lange – manchmal ohne eigene Schuld – vernachlässigt haben, ist dieser Schritt grundlegend. Es nützt wenig, nur einen Teilaspekt des „alten Menschen“ abzulegen, in einem solchen Fall muss der komplette „alte Mensch“ abgelegt werden: die ganze Last der Sünde. Damit dies gelingen kann, ist eine entsprechende Vorbereitung notwendig, denn so etwas lässt sich nicht im „Vorbeigehen“ erledigen, und je vollständiger die Vorbereitung ist, umso größer kann sich die befreiende Kraft der Beichte entfalten. Christus liebt den Sünder, nicht die Sünde; er ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. Zusammenfassend lässt sich folgender Weg vorschlagen:

1) In einem ersten Schritt ist aufzuzeigen, dass Böses geschehen ist. Man hilft den Menschen die „Jacke der Wahrheit“ anzuziehen, denn die Wahrheit befreit (vgl. Joh 8,32). Dies ist eine delikate Aufgabe und kann auch wehtun. Daher ist die Wahrheit mit Güte und Milde vorzubringen. Dennoch sollte die Schwere der Sünde deutlich gemacht werden, um besser die Schwere der Last zu verstehen, unter der die Person leidet.

2) In einem zweiten Schritt ist auf die Konsequenzen einzugehen, die sich aus der Sünde ergeben. Zugleich sollte auf die Macht und Größe Gottes verwiesen werden, der gekommen ist, die Kranken zu retten, denen er als Arzt entgegenkommt (vgl. Mt 9,12).

3) In einem weiteren Schritt kann dann eine Hinführung zur Beichte erfolgen. Für den Pönitenten ist es wichtig, dass die Sünde ernst genommen wird. In diesem Fall wäre eine Buße von zwei bis drei „Gegrüßest seist du Maria“ schlechtweg unangebracht, nicht nur, weil so gegen den Grundsatz der Gerechtigkeit verstoßen würde, sondern vor allem deswegen, weil sich der Pönitent dann nicht ernst genommen fühlt. Die Buße sollte „irgendwie“ der Schwere der Sünde entsprechen. Um Missverständnissen vorzubeugen, es geht hier nicht um eine „Bestrafung“, sondern um einen Heilungs- und Versöhnungsprozess. Buße sollte als Medizin und geistige Hilfe verstanden werden, die für die verwundete Seele notwendig ist. Derartige Menschen sind oft sehr verletzt und sie warten darauf, dass ihnen eine entsprechende Arznei gereicht wird.

4) Um diesen Heilungsprozess zu einem guten Abschluss zu bringen, ist es empfehlenswert, weitere konkrete Schritte vorzuschlagen. Wallfahrten, die mit einem solchen Geist durchgeführt werden, können viel Gutes bewirken; auch erweist sich eine gute Erklärung der Ablasspraxis der Kirche als befreiend. Sehr ratsam ist die Feier von hl. Messen in diesem Anliegen, wozu ferner die alte Praxis der gregorianischen Messen gehört, zumal dadurch der Heilungsprozess weiter vorankommt. Des Weiteren kann es hilfreich sein, das christliche Fasten an bestimmten Tagen in Erinnerung zu rufen, auch Gebetsnovenen oder gewisse Gebetsverpflichtungen unterstützen diesen Prozess und tragen dazu bei, den inneren Frieden wiederzugewinnen, den diese Menschen oft verloren hatten. Schließlich wäre es empfehlenswert, solchen Menschen zu raten, in einer Pro-Life-Bewegung aktiv zu werden, um auf diese Weise anderen zu helfen.

Auch im Bereich der Bioethik ergeben sich für den Priester Möglichkeiten, Menschen zu Gott zu führen, Vergebung zu ermöglichen und Hoffnung zu vermitteln. Es wäre wünschenswert, die Menschen dahingehend zu sensibilisieren.


[1] Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre „Über einige Fragen der Bioethik“, Rom 2008, Nr. 22. Dabei nimmt das Schreiben Bezug auf die Enzyklika Evangelium vitae, Nr. 63.
[2] Antonio Spadaro SJ: Das Interview mit Papst Franziskus. Freiburg, Herder 2013.

Der Genozid an den Armeniern jährt sich zum 100. Mal

Das Gespür für richtig und falsch

Über die Ereignisse des Jahres 1915 in den von christlichen Armeniern besiedelten Gebieten des damaligen Osmanischen Reiches zu sprechen, ist für einen Deutschen einfach – solange er nicht zu Türken redet. In seinem Beitrag macht Dr. Daniel Langhans den Versuch, die Ereignisse bewusst so zu thematisieren, dass sie an türkische Adressaten gerichtet sind. Anlass ist das soeben erschienene Buch „Völkermord an den Armeniern"[1] von Michael Hesemann, das zur Lektüre empfohlen wird.

Von Daniel Langhans

Merhaba! Herzlich grüße ich euch, liebe Freunde. Schon oft hat mich meine Sehnsucht nach den Ursprüngen meines Glaubens in eure Heimat geführt. Im bezaubernden Kappadokien, wo ich inzwischen Freunde gefunden habe, lebten ja im 4. Jahrhundert die Kirchenväter Basilius von Cäsarea (Kayseri), Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz; nicht zuletzt ihrer Gedanken-Klarheit ist es zu verdanken, dass wir Christen gegen alle Angriffe das Zeugnis der Heiligen Schrift bewahrt haben: Jesus Christus ist nicht nur wirklicher Mensch, sondern auch wirklicher Gott.

Darf ich heute einmal ein problematisches Thema ansprechen? Stellt euch vor, ausgelöst durch eine feucht-fröhliche Gartenparty kommt eine junge Mutter in den Kontakt zu einem jungen Mann aus der Nachbarschaft, die Stimmung schwappt über. In Abwesenheit ihres Ehegatten stimmt sie zu, dass der Bursche von ihrem schönen Körper Fotos macht; und leider bleibt es nicht bei Fotos. Statt, der Erlösung gewiss, offen damit umzugehen, verleugnet sie ihr Verhalten vor sich selbst.

Begangene Schuld wirkt weiter; möglicherweise durch ein ganzes Leben. Die Mechanismen der Verdrängung wirken unheilvoll: eigene Schuld wird auf andere abgewälzt, solange sie nicht wirklich vor sich selbst eingestanden ist. Wir Christen haben, wie ihr wisst, gegen solche Attacken der eigenen Psyche eine wunderbare Waffe: Wir wissen, dass es keine Schuld der Welt geben kann, die durch den Kreuzestod Jesu Christi nicht ein- für allemal beseitigt worden ist. Eben, weil es Gott selbst ist, der aus Liebe zu uns eingegriffen hat.

Was passiert nun, wenn ein ganzes Volk eine Schuld verdrängt, die aus den eigenen Reihen heraus begangen wurde? Ihr wisst natürlich, wovon ich rede. Es geht um das, was in den Jahren ab 1915 in eurem Land geschehen ist. Viele von euch haben davon gehört – die meisten allerdings nur in dem Sinn, es handele sich um unwahre Anschuldigungen gegen das türkische Volk.

Täglich sehen und hören wir von den schrecklichen Untaten der IS-Terroristen in den von ihnen besetzten Gebieten des Irak und Syriens. Auch Alewiten und Schiiten werden getötet. Welche Gefühle habt ihr, wenn ihr die Bilder seht?

Wie ich weiß, neigen viele von euch dazu, auch für die Untaten der IS-Terroristen „die Amerikaner“ verantwortlich zu machen. Zwar habe ich ein gewisses Verständnis dafür; erst unlängst hat die Obama-Administration in Nigeria militärische Hilfe gegen die islamistischen Terror-Soldaten davon abhängig gemacht, dass Nigeria die verkorksten Vorstellungen der US-Regierung über die Sexualität übernimmt. Das ist schlicht „Imperialismus“ jener Ideologie, die sich „Genderismus“ nennt. Vor diesem Hintergrund lässt sich sogar verstehen, was „Boko Haram“ übersetzt bedeutet: „Westliche Bildung ist Sünde“.

Woher nehmen wir überhaupt die Quellen für das, was richtig oder falsch, gut oder böse ist? Wer einer der großen Offenbarungs-Religionen (Judentum – Christentum – Islam) angehört, kann die Weisung aus seinen heiligen Schriften nehmen. Die Bindung an die Bibel hat der „Westen“ im Zug der neuzeitlichen Geistes-Entwicklung mehr und mehr gelockert, schließlich haben sich die politischen Verantwortlichen davon ganz gelöst. Es gibt zwar noch – dem Namen nach – religiös orientierte Parteien in Deutschland, aber auf die Politik hat das schon lange keinen direkten Einfluss mehr.

Was noch kaum jemand so richtig wahrgenommen hat: Es gibt noch eine zweite Quelle für das, was „richtiges“ bzw. „falsches“ Handeln ist: das Wesen des Menschen selbst. Muslime wie Christen oder andere Angehörige eines Schöpferglaubens vereint die Ansicht, dass es Orientierungen gibt, die sozusagen „in die Natur des Menschen eingeschrieben“ sind. Der Mensch tut gut daran, sich nach diesen zu orientieren.

Mit dem Aufkommen des sog. „Genderismus“ (der das „Geschlecht“ eines Menschen als etwas Verfügbares ansieht) hat sich etwas Entscheidendes verändert. Ausgegangen wird davon, dass es für den Menschen keinerlei Vorgegebenheiten gibt, die er zu beachten hätte. Für das, was „richtig“ und „falsch“ ist, brauche er sich einzig und allein an der sogenannten „Freiheit“ des Anderen orientieren. Dabei wird Freiheit ausschließlich negativ definiert – als „Freisein“ von Bindungen. Und jeder hat sein eigenes „Werte-System“…

Beispiel: Wenn es Menschen mit homosexueller Orientierung gibt, dann müssen diese auch die „Freiheit“ haben, ihre Neigung zu leben, heißt es; niemand darf sie daran hindern zu tun, was sie wollen. Das wird seit einiger Zeit in den Schulen Deutschlands verkündet; im Ergebnis weiß kaum noch einer, dass homosexuelle Handlungen nicht nur die in den Heiligen Schriften geoffenbarten (vgl. dazu Röm 1,27f.), sondern auch die in die menschliche Natur eingeschriebenen Weisungen Gottes verletzen. Junge Menschen wachsen desorientiert auf. Wie es sich auf die Psyche auswirkt, wenn der Mensch den inneren Sinn für gut/böse verliert, haben wir an dem einleitenden Beispiel gesehen.

Das ist nun die Stelle, liebe Freunde, an der wir über die schrecklichen Taten reden können, die damals im Osmanischen Reich an den Armeniern begangen worden sind. Wir reden von mehr als einer Million getöteter Menschen. Die meisten von ihnen sind gezielt hingerichtet worden; wie heute die Jesiden, Alewiten oder Schiiten (durch den IS-Terrorismus); auch die Armenier wurden umgebracht, weil sie Christen waren.

Wichtig ist: Es geht nicht darum, die heute Lebenden für das, was damals geschehen ist, in irgendeiner Form verantwortlich zu machen (nicht, wie jener Sohn einer befreundeten Familie, der in Paris zur Schule ging und dort von Mitschülern als „Hitler-Nazi“ tituliert wurde…). Verantwortlich ist der Mensch nur für das, was in seinen eigenen Möglichkeiten liegt.

Im aktuellen Buch von Michael Hesemann wird eine Vielzahl von bisher unveröffentlichten Originaldokumenten ausgewertet. Es zeigt die Vorgeschichte der Katastrophe und informiert genau, was sich in den Dörfern und Städten der Osttürkei, in den Steppen des Hochlandes und in der syrischen Wüste zugetragen hat.

Zu der Frage, ob der Genozid überhaupt stattgefunden hat, ist – neben der Vielzahl der unabhängigen Belege – auch relevant, dass der damalige Großwesir Damad Ferid Pascha am 11. Juni 1919 sich zu dem Unrecht öffentlich bekannt hat. Das Buch offenbart auch das Versagen der Politik; aus deutscher Sicht erscheint besonders bemerkenswert, wie verblüffend parallel sich die damalige wie die heutige Regierung Deutschlands in dieser Angelegenheit verhalten haben.

Warum, meine türkischen Freunde, erscheint mir diese in der Türkei Erdogans heute verleugnete Frage des Völkermords an den Armeniern so wichtig? Nun, wir brauchen ja bloß genauer hinzusehen. Schon im Sommer 2013 offenbarten die Proteste gegen Bauvorhaben der Regierung am Gezi-Park die Unzufriedenheit junger wie intellektueller Kreise. Am 17. Dezember 2013 begannen strafrechtliche Ermittlungen gegen Politiker und Geschäftsleute aus dem Umfeld von Tayyip Erdogan.

Die Reaktion der Regierung? Von heute auf morgen wurden sämtliche Berichte über die Verfahren unter Strafe gestellt. Staatsanwälte und Polizisten, welche die Korruption aufgedeckt hatten, wurden strafverordnet und an ihre Stelle Beamte eingesetzt, die Erdogan gegenüber loyal waren. Die Freiheit der Berichterstattung ist seither entscheidend beschnitten, Internetseiten gesperrt, die Benutzung von Facebook und Twitter eingeschränkt. Im Dezember 2014 sind 20 Journalisten der Mediengruppe Zaman verhaftet worden. Zuletzt übernahm die Bankenaufsicht die Bank Asya – bis dahin das drittgrößte Finanzinstitut der Türkei. Hat das „System Erdogan“ jetzt sein wahres Gesicht gezeigt?

Wir wissen, wie Erdogan bisher mit dem Armenien-Thema umgegangen ist. Dieser selbsternannte „Führer der Türken“ hat im Jahr 2011 ein Denkmal, das Mehmet Aksoy in der osttürkischen Stadt Kars errichtet hatte, kurzerhand abreißen lassen. Erdogan will das Thema „Völkermord an den Armeniern“ komplett tabuisieren. Wollt ihr verdrängte Schuld zum Mittel machen, euer Land zu befreien?


[1] Michael Hesemann: Völkermord an den Armeniern. Mit unveröffentlichten Dokumenten aus dem Geheimarchiv des Vatikans über das größte Verbrechen des Ersten Weltkriegs, Herbig Verlag 2015, geb., 352 S., ISBN 978-3-7766-2755-8, Euro 25,00 (D), Euro 25,70 (A). Im Buchhandel erhältlich oder im Internet: www.herbig.net

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Es gibt eine andere Welt

Es gibt eine andere Welt

Der französische Journalist und Schriftsteller André Frossard (1915-1995) wurde vor allem durch seine Freundschaft mit Papst Johannes Paul II. weltbekannt. Gemeinsam mit ihm veröffentlichte er 1982 ein Interviewbuch, das noch im selben Jahr unter dem Titel „Fürchtet euch nicht“ („N’ayez pas peur“) auch auf Deutsch erschienen ist. Der Gestalt und dem apostolischen Dienst Johannes Pauls II. widmete er in den darauffolgenden Jahren noch weitere umfangreiche Bücher. Umgekehrt war der Papst vor allem von der Bekehrung Frossards im Jahr 1935 fasziniert. Erst 1969 legte Frossard in seinem Buch „Dieu existe, je l'ai rencontré“ – „Gott existiert. Ich bin ihm begegnet“ (auf Deutsch 1970) ein ausführliches Zeugnis über sein Erlebnis ab, das ihn in einem einzigen Augenblick zu einem überzeugten Katholiken gemacht hatte. Was dem Sohn eines französischen Ministers und Mitbegründers der Kommunistischen Partei Frankreichs mit jüdischen Wurzeln widerfahren war, wurde sowohl in seiner völlig atheistischen Umgebung als auch unter Theologen heftig diskutiert. So folgte 1976 gleichsam als Fortsetzung seiner Glaubensgeschichte das Buch „Il y a un autre monde“ – „Es gibt eine andere Welt“, das der Herder-Verlag im Jahr darauf auf Deutsch herausbrachte. Der Media Maria Verlag hat dieses unvergleichliche Glaubenszeugnis nun ganz neu aufgelegt.[1] Zunächst reflektiert Frossard noch einmal sein Bekehrungserlebnis und geht auch auf die hitzigen Reaktionen ein. Der nachfolgende Auszug setzt dort ein, wo Frossard seine weitere Lebensgeschichte zu berichten beginnt. Was er als Gefangener in der Hölle der Nazis durchgemacht hat, wird übersprungen und lediglich der Abschluss seines Gesamtresümees angefügt.

Von André Frossard

Die Engel waren damals nicht mehr sehr gefragt, weder bei der Presse noch in der Marine, in die ich dank der Vermittlung eines Freundes meines Vaters eintrat, ohne eingezogen zu werden oder als Bewerber eingetragen zu sein. Es war mein Wunsch gewesen, Matrose zu werden. Nach allem, was ich über das Elend des Infanteristen und den Schlamm in den Schützengräben gehört hatte, zog ich es vor, im Wasser zu sterben.

Militärdienst bei der Marine

Als ich am 1. September 1936 das Gittertor des 2. Marinedepots durchschritt, ahnte ich freilich nicht, dass die Vorsehung mich damit für fast zehn Jahre unter die Fahnen schickte, sechs in der Marine, den Rest der Jahre in der Untergrundarmee beziehungsweise im Gefängnis. Dies hieß, klein beigeben, wo die Worte keinen Sinn mehr haben.

Man warf mir in die Arme, was ich brauchte, um mich in Blau einzukleiden, dazu einige Stücke zum Wechseln. Dies alles musste in einen runden Sack gesteckt werden, der beim Appell eine viereckige Form aufweisen musste. Nach einstündiger Bemühung, diese Quadratur des Zirkels zu lösen, bot mein Sack den Anblick einer in Bauchkrämpfen sich windenden Cervelatwurst. Dieses jämmerliche Resultat, das man meinem Mangel an Disziplin, verbunden mit der verdächtigen Eigenschaft, ein Ministersohn zu sein, nebst gewissen unglückseligen Faltenbildungen in meinem Gesicht zuschrieb, die meinem freundlichsten Lächeln den Ausdruck unerträglicher Frechheit verliehen, machte meine ersten Schritte in dieser hochgezüchteten Institution, die zudem für nicht von ihr selbst ausgewählte Rekruten wenig Sympathie hegte, beschwerlich. Ich war sehr unglücklich, so unverstanden zu sein und als drittklassig behandelt zu werden. Da man indessen nicht wusste, wozu man mich verwenden sollte, war doch ein Journalist als solcher in einer Abteilung der Grande Muette („Großen Schweigerin“)[2] unbrauchbar, ließ man mich eine leichte Prüfung in Recht und Maschinenschreiben ablegen, und da ich mit drei Fingern tippte, also einem mehr als der Durchschnitt der männlichen Stenotypisten, ernannte man mich zum Schreiber. Das erhob mich in die zweite Klasse, insofern ich nunmehr in die Schreibstube verbannt war. Nach sechs Monaten hatte ich noch kein Schiff gesehen, höchstens am Sonntag im Hafen. Hierauf wurde ich nach Paris versetzt und in irgendein – ich weiß nicht mehr, welches – Amt des Marineministeriums gesteckt. Jedenfalls habe ich sehr viele Parkettböden gebohnert.

Mein geistliches Leben

Mein Leben blieb weiter das eines Mönchs in der Welt. Am Morgen ging ich zur ersten Messe in der Madeleine. Im Ministerium betete ich in aller Stille das ganze „Kleine Offizium der heiligen Jungfrau Maria“, eine Art Brevier für Laien. Viel mehr hatte ich nicht zu tun. Mittags holte ich eine Stunde des Gebets in der Pfarrkirche Saint-Roch heraus. Meine Kameraden hatten mir versichert, dass das gesamte Personal des Ministeriums eine Zeit lang unter Beobachtung gestellt sei und dass ich höchstwahrscheinlich durch einen Inspektor des Informationsdienstes oder der Gegenspionage beschattet würde. Wenn das wahr gewesen wäre, hätte der ausgezeichnete Mann ein Innenleben von seltener Intensität geführt, und vielleicht ist er heute an meiner statt Trappist oder Kartäuser.

Nach dieser in der Sonne des Tabernakels im gewohnten Zustand der Seligkeit verbrachten Stunde begab ich mich in ein kleines Restaurant in der Nachbarschaft und vertraute meine Gedanken meinem Schutzengel an. Um nicht gestört zu werden, ließ ich mir jeden Tag zwei Gedecke reservieren. Die Wirtin, eine mächtige Dame mit Herz, hielt mich für das Opfer einer ewig hoffnungslosen Verliebtheit und lächelte mir von der Höhe ihres Kassensitzes voll schmerzlicher Teilnahme zu.

Nachmittags betete ich zwischen zwei zu bohnernden Parkettböden meinen Rosenkranz, der mir immer kurz vorkam. Niemals wurden mir die „Gegrüßet seist du, Maria“ zu viel, die auf wunderbare Weise zu Kundschaftern werden, wenn man sie auf ihr Ziel hin frei laufen lässt, statt sie wie an einer Leine zurückzuhalten. Nach dem Dienst grüßte ich noch schnell diesen oder jenen Freund, bevor ich mich wieder an die Lektüre der heiligen Teresa von Ávila machte, für die ich eine grenzenlose Bewunderung hegte und immer noch hege. Ich besuchte ihre „Seelenburg“, ich folgte ihr auf dem „Weg der Vollkommenheit“, ohne freilich daran zu denken, ihre Lehre in die Praxis umzusetzen: Es waren ihre Person und ihr Denken, die mich fesselten. Ich teilte ihre Sorgen, ihre Prüfungen, nahm leidenschaftlich für sie Partei bei den Querelen, die ihr der Klerus bereitete, und wenn sie eine Gnade vom Himmel empfing, war ich ganz stolz, als wäre diese Gunstbezeigung nicht nur ein Lohn für ihre Verdienste, sondern auch für meinen Scharfsinn. Ich glaube, sie hat mir meine freundlichen Gedanken hundertfach vergolten, indem sie meine erste Tochter gute drei Wochen zu früh an einem 15. Oktober, ihrem Namensfest, zur Welt kommen ließ, so wie ich es mir wünschte.

Ein solches Dasein scheint heutzutage absurd oder leicht verrückt. Was soll man von einem gesunden jungen Menschen an der Schwelle des Lebens denken, der sechs Stunden am Tag im Gebet verbringt und den Rest seiner Zeit geistlicher Lektüre widmet, sich über seine gelegentliche Unaufmerksamkeit ärgert und sich vorwirft, dass er nicht bis zur letzten Minute vor dem Einschlafen seinen Blick auf die unsichtbaren Höhen gerichtet hält, von wo seine Freude stammt? Was konnte ich machen? Der Himmel war mein natürliches Element. Beklagt sich der Fisch, dass er zu viel Wasser schluckt?

Den Nächsten erkennen

Wie? Und dein Nächster, wird man mir sagen, und die Welt? Hat sich Christus nicht darum in die Geschichte begeben, um sie zu retten?

Gewiss, aber bis die Geschichte, in Lärm und Sinnlosigkeit, so wie wir sie erlebten, sich bereitfinden wird, mit dem Plan, den Gott vielleicht mit ihr haben mag, zu verschmelzen, schien mir mein Nächster in einer traurigen Lage zu sein. Die Gesellschaft um ihn her funktionierte bereits wie eine Verdummungsmaschine im eigentlichen wie im übertragenen Sinn, physisch und psychisch. Sie belog ihn auf jede Weise. Als ewiges Leben offerierte sie ihm die Illusion eines Überlebens in dem großen Kollektiv mit dem zusätzlichen Versprechen einer durch die Genetik gesicherten biologischen Fortdauer. „Der Mensch für sich allein ist nichts“, sagte man ihm, um ihn dahin zu bringen, auf seine Fähigkeit der eigenen Entscheidung zu verzichten, die die politischen Machthaber so sehr stört. „Er existiert nur durch die Beziehung zu den anderen, seine Existenzberechtigung liegt im gemeinsamen Werk.“ Das war eine Aufforderung, in der Masse zu verschwinden. Meinen mehr als zur Hälfte urbanisierten und babylonisierten, zur größeren Sicherheit durch den Lärm der Fabriken und des Radios taub gemachten, durch die zahllosen, zwischen seinen Blick und die Natur geschalteten Abschirmungen blind gewordenen Nächsten – ganz gewiss liebte ich ihn! Ich liebte ihn um seiner Einsamkeit, seiner Schwächen, seiner Ungeschicklichkeit willen, um einer Schulter willen, die höher war als die andere, um das Zittern eines Augenlids, um einer barschen Abweisung willen, für ein Zögern, die Straße zu überqueren, für ein Nichts: Wie hätte ich die hartnäckige Bewunderung gewisser Prediger für das Jahrhundert mitmachen können, das ihn eben erst zu Millionen hingemordet hatte, das seinen Glauben untergrub, ihn um seine Hoffnung betrog und sich anschickte, ihn in ganzen Städten und Völkern auszurotten in dem größten Menschenopfer aller Zeiten?[3]

Damit ihr Gott mehr liebt!

Am Ende dieses Berichts wird mir der Leser, wie ich hoffe, die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu bezeugen, dass ich meine Unzulänglichkeiten nicht zu einer Doktrin ausgebaut und mich nirgends als Beispiel hingestellt habe.

Ich habe bekannt, wie schwierig es für mich war, mich in dieser Welt zurechtzufinden, und wie lange ich gebraucht habe, meinen Nächsten zu erkennen, den ich erst im Gefängnis in dem Augenblick entdeckt habe, als ich im Begriff war, ihn zu verlieren.

Noch eines will ich sagen: Es ist möglich, dass ich mein ganzes Leben lang – und darunter leide ich – Gott mehr bewundert als geliebt habe. Es ist möglich – dass dies nicht zutreffen möge, o mein Gott, dass dies nicht zutreffen möge! –, dass ich niemals seinem Licht die Zeit gegeben habe, sich in mir in Nächstenliebe zu verwandeln.

Es ist möglich, dass ich ihm das, was er mir gegeben hat, niemals anders als in Form von Dornen und Galle zurückgegeben habe.

Aber das, was ich euch von ihm gesagt habe, habe ich nur geschrieben, damit ihr ihn mehr liebt, falls ihr ihn liebt, und falls ihr ihn nicht kennt, damit ihr wenigstens über das Wesen nachdenkt, dem sich unbewusst jeder menschliche Geist, jede Seele entgegenwirft oder wie immer man jene lautere Anlage zum Göttlichen in uns nennen möge, die durch alle Jahrhunderte auf dieser Erde ohne Ruhe, ohne Unterlass alles bestreitet und bestreiten wird, was nicht ER ist, den sie findet oder vielmehr wiederfindet, wenn sie das Wagnis des Glaubens auf sich genommen hat.[4] Denn der Mensch, der von der Liebe herkommt, kehrt zur Liebe zurück, kraft des Glaubens und der Hoffnung, durch das Leid und den Tod. Und nichts kann ihn daran hindern.


[1] André Frossard: Es gibt eine andere Welt, geb., 144 S., ISBN 978-3-9454010-6-4, Euro 14,95. Direkt bestellen unter Tel. 07303-952331-0, Fax 07303-952331-5 oder E-Mail: buch@media-maria.de – im Internet siehe unter: www.media-maria.de
[2] Bezeichnung für die französische Armee zur Zeit der Dritten Französischen Republik (Anm. d. Verl.).
[3] S. 86-90.
[4] S. 141f.

Ein Gespräch mit P. Franz Magnis-Suseno SJ

Begegnungen mit dem Islam in Indonesien

Der aus Schlesien stammende Jesuitenpater Franz Magnis-Suseno wirkt sei 1961 in Indonesien. Das Bild, das er von der Arbeit der katholischen Kirche in dem zu über 87 Prozent muslimischen Land zeichnet, erweckt Hoffnung. P. Magnis-Suseno hebt hervor, dass es bisher in keinem anderen mehrheitlich islamischen Land der Welt für Muslime überhaupt möglich ist, sich offiziell taufen zu lassen.

Von Reinhard Backes

Indonesien ist ein Land der Superlative: es besteht aus mehr als 17.000 Inseln, erstreckt sich über 5.000 Kilometer und hat rund 250 Millionen Einwohner. Hauptinseln bzw. Inselgruppen sind Sumatra, Java, Kalimantan, Sulawesi und die Molukken. Dort leben etwa 300 verschiedene Volksgruppen, in der Mehrzahl Malaien. Auch bei der Religionszugehörigkeit gibt es eine klare Mehrheit: 87,2 Prozent bekennen sich laut Volkszählung von 2010 zum Islam, 9,9 zum Christentum (Katholiken 2,9), 1,7 zum Hinduismus und 0,7 zum Buddhismus.

Die Verfassung der Republik Indonesien garantiert Religionsfreiheit. Offiziell anerkannt sind der Islam, das Christentum (Protestantismus und Katholizismus), Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Nach den Worten von Franz Magnis-Suseno, katholischer Priester, Jesuit und Philosoph, ist Indonesien „das wahrscheinlich einzige, mehrheitlich muslimische Land, in dem Muslime getauft werden können“. Magnis-Suseno, 1936 in Schlesien geboren, lebt seit 1961 in Indonesien. 1977 nahm er die indonesische Staatsbürgerschaft an. Er gilt als intimer Kenner des Landes und wichtiger Brückenbauer zwischen den Religionen. Bei einem Besuch des internationalen katholischen Hilfswerks Kirche in Not erklärt Pater Magnis-Suseno: „In Indonesien ist der Islam in seiner Intensität und Ausrichtung ganz unterschiedlich. Es gibt extreme Formen, aber der ‚Mainstream-Islam‘ ist eher gemäßigt und pluralistisch, das heißt, es wird anerkannt, dass es im Land auch andere Religionen gibt.“

Gespräch mit Muslimen ist unverzichtbar

Dennoch ist nach den Worten des Jesuiten ein stetes Bemühen um gute Kontakte zu gemäßigten Muslimen für Indonesiens 25 Millionen Christen unverzichtbar: „Wenn man eine Kirche bauen möchte, ist gute Nachbarschaft ebenso wichtig, wie in kritischen Situationen. Nach meiner Einschätzung haben Katholiken zwar bessere Beziehungen zu Muslimen als Christen anderer Konfessionen, weil wir ethnisch vielfältiger und dadurch lokal verwurzelt sind. Aber man muss sich auch aktiv um gute Beziehungen zu muslimischen Persönlichkeiten bemühen. Ich sage unseren Pfarrern immer wieder, nutzt mindestens zehn Prozent eurer Zeit dafür, mit euren muslimischen Nachbarn ins Gespräch zu kommen.“

Die Zahl der Katholiken, die der Jesuit auf acht Millionen schätzt, wächst nach seinen Worten ebenso, wie die Zahl katholischer Priester: „Die Kirchen sind voll, die Qualität des einheimischen Klerus hoch.“ Ursache sei unter anderem die umfassende Ausbildung, die katholische Hochschulen auf Indonesien bieten, die gerade auch Muslimen offenstehen. Magnis-Suseno, der selbst Ethik, Theodizee und politische Philosophie gelehrt hat: „In der Philosophie, im Magister- und Promotionsprogramm an der ‚Driyarkara School of Philosophy‘ in Jakarta sind etwa 25 Prozent der Studenten Muslime. Für sie – wie auch für Katholiken – gilt gleichermaßen: Wer fromm sein will, der darf auch denken. Ängste sollen abgebaut, Fragen gestellt und dann auch beantwortet werden. Das ist für viele ein Befreiungserlebnis und führt zu einem offenen Islam.“

Zeichen für die Vitalität der Kirche

Im Gespräch äußert sich Pater Magnis-Suseno zu religiösen Ereignissen und Fragen, aber auch zu politischen. Als „eine ganz große Leistung“ lobt er etwa die demokratische Entwicklung Indonesiens seit dem Rücktritt des langjährigen Diktators Suharto im Mai 1998. In Indonesien selbst hat er vor den letzten Präsidentschaftswahlen im Juli 2014 öffentlich erklärt, warum er den Kandidaten Prabowo Subinato, einen ehemaligen General und Schwiegersohn Suhartos, für nicht wählbar hielt: „Ihm wurden schwere Menschrechtsverletzungen während seiner Militärzeit unter Suharto vorgeworfen, auch in Osttimor. Zudem wurde er im Wahlkampf von ‚Hardline-Muslimen‘ unterstützt sowie von Pfingst- und charismatischen Gemeinden.“ Bereits im ersten Wahlgang zum neuen Präsident Indonesiens gewählt wurde schließlich Joko Widodo, laut Magnis-Suseno „ein javanischer, gemäßigter Muslim, der nicht den alten Eliten entstammt und als Mann des Volkes gilt“.

Kirche in Not unterstützt die pastorale Arbeit der katholischen Kirche in Indonesien seit Jahren. Nach den Worten von Irene Eschmann, Länderreferentin von Kirche in Not für Indonesien ist die Zahl der Priester- und Ordensberufungen „Zeichen für die Vitalität der Kirche in Indonesien: Im akademischen Jahr 2012/13 studierten in Indonesien ca. 1.350 Priesteramtskandidaten Philosophie oder Theologie und mehr als 5.200 Jungen an diversen Kleinseminaren. Für Postulantinnen und Novizinnen ließen sich keine Statistiken finden. Aber viele Gemeinschaften berichten uns von einer stattlichen Zahl an Kandidatinnen, obwohl manche Kongregationen kaum um Berufungen werben. Die Messen sind voll mit Kindern und Heranwachsenden. Die Andacht der Gläubigen beeindruckt zutiefst. Häufig beteiligen sie sich aktiv am Gemeindeleben. Die Nachfrage nach Glaubensschulungen besonders in Form von Seminaren ist offenbar groß.“

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