Papstwort an die Kirche in Deutschland

Ermahnung zu einem missionarischen Aufbruch

Die Ansprache des Papstes an die deutschen Bischöfe vom 20. November 2015 lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Ohne Abstriche sollten wir uns alle diesem historischen Aufruf verpflichtet fühlen und ihm unsere volle Aufmerksamkeit schenken.

Von Papst Franziskus

Liebe Mitbrüder, es ist mir eine Freude, Euch aus Anlass Eures Ad-limina-Besuchs hier im Vatikan begrüßen zu können. Die Wallfahrt an die Gräber der Apostel ist ein bedeutender Augenblick im Leben eines jeden Bischofs. Sie stellt eine Erneuerung des Bandes mit der universalen Kirche dar, die durch Raum und Zeit als das pilgernde Volk Gottes voranschreitet, indem sie das Glaubenserbe treu durch die Jahrhunderte und zu allen Völkern trägt. Herzlich danke ich dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx für seine freundlichen Grußworte. Zugleich möchte ich Euch meinen Dank aussprechen, dass Ihr meinen Petrusdienst durch Euer Gebet und Euer Wirken in den Teilkirchen mittragt. Ich danke besonders auch für die große Unterstützung, die die Kirche in Deutschland durch ihre vielen Hilfsorganisationen für die Menschen in aller Welt leistet.

Wir leben augenblicklich in einer außergewöhnlichen Zeitstunde. Hunderttausende von Flüchtlingen sind nach Europa gekommen oder sind unterwegs auf der Suche nach Schutz vor Krieg und Verfolgung. Die christlichen Kirchen und viele einzelne Bürger Eures Landes leisten einen enormen Einsatz, um diese Menschen aufzunehmen und ihnen Beistand und menschliche Nähe zu geben. Im Geiste Christi wollen wir uns immer wieder den Herausforderungen durch die große Zahl der Hilfesuchenden stellen. Gleichzeitig unterstützen wir alle humanitären Initiativen, um die Lebenssituation in den Ursprungsländern wieder erträglicher zu machen.

Erosion des katholischen Glaubens

Die katholischen Gemeinden in Deutschland unterscheiden sich deutlich zwischen Ost und West, aber auch zwischen Nord und Süd. Überall engagiert sich die Kirche professionell im sozial-caritativen Bereich und ist auch im Schulwesen überaus aktiv. Es ist darauf zu achten, dass in diesen Einrichtungen das katholische Profil gewahrt bleibt. So sind sie ein nicht zu unterschätzender positiver Faktor für den Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Auf der anderen Seite ist aber gerade in traditionell katholischen Gebieten ein sehr starker Rückgang des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs und des sakramentalen Lebens zu verzeichnen. Wo in den Sechziger Jahren noch weiträumig fast jeder zweite Gläubige regelmäßig sonntags zu Heiligen Messe ging, sind es heute vielfach weniger als 10 Prozent. Die Sakramente werden immer weniger in Anspruch genommen. Die Beichte ist vielfach verschwunden. Immer weniger Katholiken lassen sich firmen oder gehen das Sakrament der Ehe ein. Die Zahl der Berufungen für den Dienst des Priesters und für das gottgeweihte Leben haben drastisch abgenommen. Angesichts dieser Tatsachen ist wirklich von einer Erosion des katholischen Glaubens in Deutschland zu sprechen.

Überwindung der Resignation

Was können wir dagegen tun? Zunächst einmal gilt es, die lähmende Resignation zu überwinden. Sicherlich ist es nicht möglich, aus dem Strandgut „der guten alten Zeit“ etwas zu rekonstruieren, was gestern war. Wir können uns aber durchaus vom Leben der ersten Christen inspirieren lassen. Denken wir nur an Priska und Aquila, die treuen Mitarbeiter des heiligen Paulus. Als Ehepaar verkündeten sie mit überzeugenden Worten (vgl. Apg 18,26), vor allem aber mit ihrem Leben, dass die Wahrheit, die auf der Liebe Christi zu seiner Kirche gründet, wirklich glaubwürdig ist. Sie öffneten ihr Haus für die Verkündigung und schöpften aus dem Wort Gottes Kraft für ihre Mission. Das Beispiel dieser „Ehrenamtlichen“ mag uns zu denken geben angesichts einer Tendenz zu fortschreitender Institutionalisierung der Kirche. Es werden immer neue Strukturen geschaffen, für die eigentlich die Gläubigen fehlen. Es handelt sich um eine Art neuer Pelagianismus, der dazu führt, unser Vertrauen auf die Verwaltung zu setzen, auf den perfekten Apparat. Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert aber das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen (vgl. Evangelii gaudium, 32). Die Kirche ist kein geschlossenes System, das ständig um die gleichen Fragen und Rätsel kreist. Die Kirche ist lebendig, sie stellt sich den Menschen vor Ort, sie kann in Unruhe versetzen und anregen. Sie hat ein Gesicht, das nicht starr ist. Sie ist ein Leib, der sich bewegt, wächst und Empfindungen hat. Und der gehört Jesus Christus.

Gebet statt Verweltlichung

Das Gebot der Stunde ist die pastorale Neuausrichtung, also „dafür zu sorgen, dass die Strukturen der Kirche alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‚Aufbruchs‘ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet“ (vgl. Evangelii gaudium, 27). Sicher, die Rahmenbedingungen sind dafür in der heutigen Gesellschaft nicht unbedingt günstig. Es herrscht eine gewisse Weltlichkeit vor. Die Weltlichkeit verformt die Seelen, sie erstickt das Bewusstsein für die Wirklichkeit.

Ein verweltlichter Mensch lebt in einer Welt, die er selbst geschaffen hat. Er umgibt sich gleichsam mit abgedunkelten Scheiben, um nicht nach außen zu sehen. Es ist schwer, solche Menschen zu erreichen. Auf der anderen Seite sagt uns unser Glaube, dass Gott der immer zuerst Handelnde ist. Diese Gewissheit führt uns zunächst ins Gebet. Wir beten für alle Männer und Frauen in unserer Stadt, in unserer Diözese, und wir beten auch für uns selbst, dass Gott einen Lichtstrahl seiner Liebe schicke und durch die abgedunkelten Scheiben hindurch die Herzen anrühre, damit sie seine Botschaft verstehen. Wir müssen bei den Menschen sein mit der Glut derer, die als erste das Evangelium in sich aufgenommen haben. Und „jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zurückzukehren und die ursprüngliche Frische des Evangeliums wiederzugewinnen, tauchen neue Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksformen, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich an neuer Bedeutung für die Welt von heute auf. In der Tat, jedes echte missionarische Handeln ist immer ‚neu‘“ (Evangelii gaudium, 11). Auf diese Weise können sich alternative Wege und Formen von Katechese ergeben, die den jungen Menschen und den Familien helfen, den allgemeinen Glauben der Kirche authentisch und froh wiederzuentdecken.

Treue zum Lehramt der Kirche

In diesem Zusammenhang der neuen Evangelisierung ist es unerlässlich, dass der Bischof seine Aufgabe als Lehrer des Glaubens, des in der lebendigen Gemeinschaft der universalen Kirche überlieferten und gelebten Glaubens, in den vielfältigen Bereichen seines Hirtendienstes gewissenhaft wahrnimmt. Wie ein treusorgender Vater wird der Bischof die theologischen Fakultäten begleiten und den Lehrenden helfen, die kirchliche Tragweite ihrer Sendung im Auge zu behalten. Die Treue zur Kirche und zum Lehramt widerspricht nicht der akademischen Freiheit, sie erfordert jedoch eine Haltung der Dienstbereitschaft gegenüber den Gaben Gottes. Das Sentire cum Ecclesia muss besonders diejenigen auszeichnen, welche die jungen Generationen ausbilden und formen. Die Präsenz der katholischen Fakultäten an den staatlichen Bildungseinrichtungen ist zudem eine Chance, um den Dialog mit der Gesellschaft voranzubringen. Nutzt auch die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt mit ihrer katholischen Fakultät und den verschiedenen wissenschaftlichen Fachbereichen. Als einzige Katholische Universität in Ihrem Land ist diese Einrichtung von großem Wert für ganz Deutschland und ein entsprechender Einsatz der gesamten Bischofskonferenz wäre daher wünschenswert, um ihre überregionale Bedeutung zu stärken und den interdisziplinären Austausch über Fragen der Gegenwart und der Zukunft im Geist des Evangeliums zu fördern.

Ohne Priester keine Eucharistie

Wenn wir ferner einen Blick auf die Pfarrgemeinden werfen, die Gemeinschaft, in der der Glaube am meisten erfahrbar und gelebt wird, so muss dem Bischof in besonderer Weise das sakramentale Leben am Herzen liegen. Hier seien nur zwei Punkte hervorgehoben: die Beichte und die Eucharistie.

Das bevorstehende Außerordentliche Jubiläum der Barmherzigkeit bietet die Gelegenheit, das Sakrament der Buße und der Versöhnung wieder neu zu entdecken. Die Beichte ist der Ort, wo einem Gottes Vergebung und Barmherzigkeit geschenkt wird. In der Beichte beginnt die Umwandlung des einzelnen Gläubigen und die Reform der Kirche. Ich vertraue darauf, dass im kommenden Heiligen Jahr und darüber hinaus dieses für die geistliche Erneuerung so wichtige Sakrament in den Pastoralplänen der Diözesen und Pfarreien mehr Berücksichtigung findet.

Desgleichen ist es notwendig, die innere Verbindung von Eucharistie und Priestertum stets klar sichtbar zu machen. Pastoralpläne, die den geweihten Priestern nicht die gebührende Bedeutung in ihrem Dienst des Leitens, Lehrens und Heiligens im Zusammenhang mit dem Aufbau der Kirche und dem sakramentalen Leben beimessen, sind der Erfahrung nach zum Scheitern verurteilt. Die wertvolle Mithilfe von Laienchristen im Leben der Gemeinden, vor allem dort, wo geistliche Berufungen schmerzlich fehlen, darf nicht zum Ersatz des priesterlichen Dienstes werden oder ihn sogar als optional erscheinen lassen. Ohne Priester gibt es keine Eucharistie. Die Berufungspastoral beginnt mit der Sehnsucht nach dem Priester im Herzen der Gläubigen.

Kompromissloser Lebensschutz

Ein nicht hoch genug zu einschätzender Auftrag des Bischofs ist schließlich der Eintritt für das Leben. Die Kirche darf nie müde werden, Anwältin des Lebens zu sein, und darf keine Abstriche darin machen, dass das menschliche Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod uneingeschränkt zu schützen ist. Wir können hier keine Kompromisse eingehen, ohne nicht selbst mitschuldig zu werden an der leider weitverbreiteten Kultur des Wegwerfens. Wie groß sind die Wunden, die unserer Gesellschaft durch die Aussonderung und das „Wegwerfen“ der Schwächsten und Wehrlosesten – des ungeborenen Lebens wie der Alten und Kranken – geschlagen werden! Wir alle sind Leidtragende davon.

Liebe Mitbrüder, ich wünsche Euch, dass die Begegnungen, die Ihr mit der Römischen Kurie in diesen Tagen hattet, Euch den Weg mit Euren Teilkirchen in den nächsten Jahren erhellen und Euch helfen, immer besser Euren schönen geistlichen und seelsorglichen Auftrag wahrzunehmen. So könnt Ihr mit Freude und Zuversicht Eure geschätzte und unverzichtbare Mitarbeit an der Sendung der universalen Kirche leisten. Ich bitte Euch weiterhin um Euer Gebet, dass ich mit Gottes Hilfe meinen Petrusdienst ausüben kann, und ebenso empfehle ich Euch der Fürsprache der seligen Jungfrau Maria, der Apostel Petrus und Paulus sowie der Seligen und Heiligen Eures Landes. Von Herzen erteile ich Euch und den Gläubigen Eurer Diözesen den Apostolischen Segen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Ausdruck väterlicher Fürsorge

Franziskanischer Einspruch

Die Rede, die Papst Franziskus den deutschen Bischöfen bei ihrem Ad-limina-Besuch Mitte November 2015 in Rom mit auf den Weg gegeben hat, geht alle an. Pfarrer Erich Maria Fink sieht in den Worten des Papstes einen Ausdruck väterlicher Fürsorge, der uns nachdenklich machen sollte. Hirten wie Gläubige, ehrenamtliche wie hauptberufliche Mitarbeiter der Kirche seien dazu aufgerufen, Gewissenserforschung zu halten. Ist der Einspruch, den Franziskus vorgetragen hat, nicht wirklich berechtigt? Bietet er nicht unzählige Ansatzpunkte, um der katholischen Kirche in Deutschland eine neue Dynamik zu verleihen? Gewiss habe das Papstwort einen strengen und unmissverständlichen Ton. Doch Pfarrer Fink hofft, dass es weniger als Kritik, sondern vielmehr als eine beherzte Ermutigung aufgenommen wird.

Von Erich Maria Fink

67 Bischöfe und Weihbischöfe aus Deutschland waren vom 16. bis 21. November 2015 zum sog. „Ad Limina-Besuch“ nach Rom gekommen. „Ad limina“ heißt „zu den Schwellen“ und ist die Kurzform für „Visitatio ad limina apostolorum“, also „Besuch an den Schwellen der Apostel“, gemeint sind deren Gräber. Doch geht es bei den regelmäßigen Wallfahrten der Bischöfe aus aller Welt zu den Gräbern der hll. Apostel Petrus und Paulus, wie sie vom Kirchenrecht im Abstand von fünf bis sieben Jahren vorgeschrieben sind, vor allem um die Begegnung mit dem Papst und den Kardinälen der Römischen Kurie. Franziskus hat gleich zu Beginn seiner Ansprache an die deutschen Bischöfe am 20. November 2015 hervorgehoben, dass der Sinn eines solchen Besuchs in der „Erneuerung des Bandes mit der universalen Kirche“ bestehe. Mehrfach betonte er seinen „Petrusdienst“ und zeigte im Tonfall seiner Rede deutlich, dass er gewillt ist, durch mahnende Worte diesen Dienst konkret für die „Teilkirche“ in Deutschland auszuüben.

Franziskus sorgt für Überraschung

Der Papst hat mit seiner Rede für eine Überraschung gesorgt. Wieder einmal zeigte er, wie wenig er sich in das Raster „konservativ“ – „progressiv“ einordnen lässt. Er ist einfach katholisch im ursprünglichen Sinn des Wortes: er hat die weltumspannende Kirche vor Augen, welche berufen ist, das Evangelium allen Menschen zu bringen.

Diejenigen, die von Papst Franziskus einen revolutionären Umschwung erwarten, stehen sprachlos vor seinen Worten an die deutschen Bischöfe. Keiner ihrer Liberalisierungswünsche wird auch nur im Entferntesten erwähnt, geschweige denn erfüllt. Am liebsten würden sie die Rede totschweigen. Und tatsächlich besteht die Gefahr, dass der mahnende Ruf einfach ad acta gelegt wird. Damit dies nicht passiert, muss sich die Kirche in Deutschland aufrichtig Gedanken darüber machen, was die Rede für uns bedeutet und wie wir die Anregungen des Papstes konkret umsetzen können.

Diejenigen, welche sich um Treue zur Kirche und zum Nachfolger des hl. Petrus bemühen, dürfen sich gestärkt fühlen. Mancher von ihnen wird nach Irritationen und Unbehagen neues Vertrauen in Papst Franziskus gewinnen. Doch auch sie erfahren durch die Worte einen heilsamen Ruck. Sie merken, dass es nicht reicht, einfach am Gewohnten festzuhalten. Es sei „nicht möglich“, so der Papst, „aus dem Strandgut ‚der guten alten Zeit‘ etwas zu rekonstruieren, was gestern war“. Die von ihm unverblümt ausgesprochene Krise in der Glaubenspraxis, der verheerende Rückgang des Gottesdienstbesuchs, der Verlust der Beichte, die „Erosion des katholischen Glaubens in Deutschland“, wie er es nennt, all dies verlange eine „pastorale Neuausrichtung“, einen vollkommen neuen missionarischen „Aufbruch“.

Franziskus ruft dazu auf, „zur Quelle zurückzukehren und die ursprüngliche Frische des Evangeliums wiederzugewinnen“. Und dazu seien oft „neue Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksformen, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich an neuer Bedeutung für die Welt von heute“ notwendig. Die Kirche sei „kein geschlossenes System“, man könne nicht auf den „perfekten Apparat“ vertrauen, alles Starre müsse aufgebrochen und überkommene Strukturen mit neuem Leben erfüllt werden.

Treue zur Kirche und zum Lehramt

In diesem Sinn erinnerte er an die Aussage in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium, welche oft dafür herangezogen wurde, eine gewisse Loslösung von Rom und Alleingänge in den Teilkirchen zu rechtfertigen. „Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert aber das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen (vgl. Evangelii gaudium, 32).“ Damit scheint er den Ball an Reinhard Kardinal Marx zurückgeworfen zu haben, der zuvor im Begrüßungswort dem Papst für den Impuls zur Dezentralisierung gedankt und gesagt hatte: „Eine stärker synodale Kirche würde die Chance bieten, das Verhältnis von zentraler Steuerung der Kirche durch den Nachfolger Petri einerseits und angemessenen Formen dezentraler Festlegungen und Vorgangsweisen neu zu justieren.“

Demgegenüber aber betonte der Papst das „Sentire cum Ecclesia“ (Denken und Fühlen mit der Kirche) und erinnert die Bischöfe an ihre Pflicht, gewissenhaft darüber zu wachen, dass in allen Bereichen wirklich der katholische Glaube weitergegeben wird, d.h. der „in der lebendigen Gemeinschaft der universalen Kirche überlieferte und gelebte Glauben“. Und er fügte hinzu: „Die Treue zur Kirche und zum Lehramt widerspricht nicht der akademischen Freiheit, sie erfordert jedoch eine Haltung der Dienstbereitschaft gegenüber den Gaben Gottes.“

Unerwartet war denn auch das dezidierte Eintreten des Papstes für die Katholische Universität Eichstätt: „Als einzige Katholische Universität in Ihrem Land ist diese Einrichtung von großem Wert für ganz Deutschland und ein entsprechender Einsatz der gesamten Bischofskonferenz wäre daher wünschenswert, um ihre überregionale Bedeutung zu stärken und den interdisziplinären Austausch über Fragen der Gegenwart und der Zukunft im Geist des Evangeliums zu fördern.“

Lähmende Resignation überwinden

Dass die Kirchen in Deutschland immer leerer werden, wussten die Bischöfe eigentlich selbst. Doch der Papst musste zunächst die Situation beim Namen nennen, um seiner anschließenden Ermutigung ein entsprechendes Gewicht zu verleihen.

Und worauf kommt es ihm an? Wir müssen in unserem kirchlichen Leben wieder Gott ins Spiel bringen. Jede Aktivität muss vom Vertrauen auf die göttliche Mithilfe getragen werden, jeder Schritt, der getan wird, muss aus der Verbundenheit mit Jesus Christus heraus erfolgen. Die Überzeugung, „dass Gott der immer zuerst Handelnde ist“, muss jeden Tag neu Gestalt annehmen. Und Franziskus fährt fort: „Diese Gewissheit führt uns zunächst ins Gebet. Wir beten für alle Männer und Frauen in unserer Stadt, in unserer Diözese, und wir beten auch für uns selbst, dass Gott einen Lichtstrahl seiner Liebe schicke und durch die abgedunkelten Scheiben hindurch die Herzen anrühre, damit sie seine Botschaft verstehen.“

„Die Weltlichkeit verformt die Seelen, sie erstickt das Bewusstsein für die Wirklichkeit.“ Mit dieser Aussage knüpfte Franziskus an die Rede seines Vorgängers Benedikt XVI. an, die bis heute für heftige Diskussionen sorgt. Doch der Papst plädierte nicht für ein oberflächlich verstandenes Armutsideal. Ihm geht es um die „Freundschaft mit Christus“, von dem allein wir alles erwarten sollen. In diesem Geist fordert er die Erneuerung des sakramentalen Lebens, das übernatürlich verstanden werden muss und nur im Glauben ergriffen und geschätzt werden kann. Die Beichte, das „für die geistliche Erneuerung so wichtige Sakrament“, müsse „in den Pastoralplänen der Diözesen und Pfarreien mehr Berücksichtigung finden“. Ebenso hob er die Heilige Messe hervor und brachte sie in Verbindung mit der Berufungspastoral: „Pastoralpläne, die den geweihten Priestern nicht die gebührende Bedeutung in ihrem Dienst des Leitens, Lehrens und Heiligens im Zusammenhang mit dem Aufbau der Kirche und dem sakramentalen Leben beimessen, sind der Erfahrung nach zum Scheitern verurteilt.“ Denn: „Ohne Priester gibt es keine Eucharistie.“

Ausblick

Die Papstrede verlangt keine großen Erklärungen. Jeder kann sie verstehen. Sie muss nur gelesen, zur Kenntnis genommen werden. Und damit stellt sie uns vor die Aufgabe der Umsetzung. Diese muss in der Bischofskonferenz und auf allen Ebenen bis hin zum Pfarrgemeinderat erfolgen, von den Mitarbeitern der bischöflichen Kurien bis zu den Seelsorgern vor Ort, vor allem aber auch in den „Herzen der Gläubigen“. Die Kirche in Deutschland hat gewiss große Stärken. Der Papst will uns helfen, dass dieses Potential nicht verlorengeht, sondern für die ganze Weltkirche fruchtbar wird.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

50 Jahre Ehebegleitung durch „Marriage Encounter“

Erfolgreiche katholische Ehebewegung

Seit fast 50 Jahren breitet sich auf der ganzen Welt die Geistliche Bewegung „Marriage Encounter“ (ME) – „(vertiefte) Begegnung in der Ehe“ aus, die mit erstaunlichen Resultaten Ehepaare begleitet. Auf dem dreifachen „Königsweg“ Dialog-Sexua­lität-Gebet werden die Eheleute zu einer Vertiefung ihrer Beziehung hingeführt, welche eine neue Entfaltung und Verwirklichung des Ehesakraments nach sich zieht. In die Förderung der Kommunikation wird die katholische Spiritualität der Ehe mit einbezogen, so dass die Ehepaare in der Regel zu einer neuen und lebendigen Freude an der Kirche gelangen. „Ich bin vertraut mit ‚Marriage Encounter‘ und der guten Arbeit, die Sie leisten!“ So sagte Papst Franziskus bei der Bischofssynode dem früheren ME-Leitungspaar auf Weltebene, Cathy und Tony Witzcak, die er zu Auditoren der Synode ernannt hatte. Weltweit hat ME inzwischen über eine Million Paare begleitet und damit die Ehelandschaft in der Kirche leise, aber doch wirklich verändert. In Deutschland gibt es die Bewegung seit 1979. Seitdem haben hier etwa 4.400 Paare am klassischen Einstiegswochenende teilgenommen. Das für die Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland verantwortliche Paar stellt ME vor.

Von Waltraud Koch-Heuskel und Wilfried Koch

Bischofssynode fordert intensive Ehepastoral

Spätestens bei der vergangenen Bischofssynode über Ehe und Familie ist es allgemein bekannt und klar geworden: es reicht seitens der Kirche nicht, mit den Paaren die kirchliche Trauung zu feiern und sie mit dem „Ite missa est“ zu entlassen. Das Stichwort „Ehebegleitung“ macht seitdem die Runde.

Da können wir von einer katholischen Ehebegleitung berichten, die es seit fast 50 Jahren weltweit in allen Kontinenten gibt und die seitdem mit Erfolg, in der Stille, viele Ehen verwandelt hat. Sie ist bei uns noch nicht überall bekannt, aber sie hat mit dazu beigetragen, die kirchliche Ehelandschaft zu verändern. Wir sprechen von der Geistlichen Bewegung „Marriage Encounter“ (oft eher unter dem Kürzel ME bekannt), die 1968 in der Kirche der USA entstanden ist (nach einem Anfangsimpuls aus Spanien). ME, Marriage Encounter, heißt „Begegnung in der Ehe“. Gemeint ist damit eine vertiefte Begegnung, denn begegnen tun sich Ehepaare ganz selbstverständlich in der Ehe.

Vertiefte Kommunikation in der Ehe

Genau um eine solche Vertiefung der ehelichen Beziehung geht es bei der Ehebegleitung, die ME anbietet. In Beziehung stehen irgendwie alle Ehepaare, doch reicht solches In-Beziehung-Stehen schon aus, um die Ehe fest zu machen? Die Scheidungsziffern gerade in den ersten Jahren nach einer Heirat sprechen davon, dass hier selbst bei nächstem Zusammenleben wohl jener Anteil von Beziehung fehlt, der glücklich macht: und dies ist nach unseren Erfahrungen das gelingende Gespräch über die Gefühle, das in die Tiefe führt; also ein Zuhören mit dem Herzen, das Nähe und Verbundenheit schenkt. Die Kommunikation über die Gefühle, die tiefer geht als die Alltagsverwaltungsgespräche, ist ein Schlüssel zum Geheimnis glückender und glücklicher Beziehung. Und kirchlich können wir fragen: Gibt es in der Vielzahl von sakramentalen Ehen eine sakramentale Vertiefung, eine Entfaltung des Ehesakramentes? Oder gilt das Ehesakrament nach der Trauung nicht zumeist als abgeschlossen, oder von seiner Bedeutung weiß manch ein Ehepaar nichts?!

Entfaltung des Ehesakraments

Wir antworten bei ME auf die Beziehungssituation von Ehepaaren und zeigen einen Weg auf zu tiefgehender Beziehung und auch zu Ehespiritualität. Wir haben die Erfahrung, dass Ehepaare, die vertieft und wesentlich miteinander reden, dadurch ihre Ehespiritualität pflegen, das Ehesakrament entfalten und die Beziehung qualifizieren.

ME ist ein Programm, das Eheleuten beisteht und sie begleitet: mit einer Form sozialer und geistlicher Kommunikation, die Ehepaaren hilft, sich voreinander und vor Gott wesentlich auszusprechen, damit das Ja-Wort Fleisch werden kann, das hineinbuchstabiert werden will in den Alltag, durch das wesentliche Gespräch.

Ehebegleitung in drei Schritten

Wie sieht nun Ehebegleitung durch ME konkret aus – und wie geschieht die Entfaltung des Ehesakraments? Drei Schritte, drei Stufen sind es: 1. ein Initiationskurs (von uns kurz „das Wochenende“ genannt), 2. die besondere Dialogform, die jedes Ehepaar vom Wochenende mitnimmt, und 3. die kleinen Ehepaargruppen, denen sich Paare anschließen können.

1. Begleitstufe: Das Wochenende

Das Wochenend-Seminar ist ein Ereignis, bei dessen Programm von Freitagabend bis Sonntagnachmittag, in diesen 48 Stunden, eine Umkehr stattfindet, eine wahre Verwandlung von Ehepaaren. Es klingt für den Leser überzogen, so etwas zu sagen, wo sich doch nichts von jetzt auf gleich verwandelt. Man muss es am eigenen Leib erlebt haben. Wir beide, die im Team des Wochenendes dabei sind, können es bezeugen: an uns selbst (als wir Teilnehmer des Wochenendes vor über 20 Jahren waren) und wir können es beweisen an den vielen Paaren, die wir bei den Wochenenden begleitet haben. Unter der klaren Führung durch das Programm, bei dem jedes Ehepaar auf sich konzentriert bleibt, ohne Ablenkungen, verändern sich Paare nachhaltig. Wer es nachkontrollieren möchte, würde zwischen Freitagabend, der ersten Einheit, und Sonntagmittag bei der Betrachtung der Paare einen Unterschied wie zwischen Tag und Nacht erleben, die schon rein äußerlich sichtbar wird, und zurückzuführen ist auf eine Wandlung im Innern, im Herzen: in neuen Entscheidungen füreinander, die sich dann nach außen zeigen. Es ist eine neue Nähe zwischen den Paaren festzustellen, es hat sich manches gelöst. Der Leiter eines Bildungshauses, der die Teilnehmer am Freitagabend im Haus begrüßt hatte, stellte am Sonntagmittag, als er zum Verabschieden kam, lapidar fest: Hier sitzt eine völlig veränderte Gruppe.

 Zu diesem Wochenend-Seminar laden wir verheiratete Paare ein, die schon eine Strecke gemeinsam gegangen sind, die ein gutes Stück Eheerfahrung gesammelt haben. Und die damit auch die Erfahrung gemacht haben, wie die Kommunikation schwieriger wird, wie der Alltag, die Kinder und der Beruf so viel Zeit wegnehmen, dass für die Pflege der Beziehung kaum mehr Zeit übrig bleibt. Es ist die Phase der Ernüchterung. Viele Paare verlieren und verlernen mit den Jahren vielfach die Fähigkeit, wesentlich miteinander zu sprechen. Und geraten damit manchmal in eine Sprachlosigkeit hinein, wenn es um wesentliche Dinge geht. Man ist dann kein schlechtes Ehepaar, muss kein „Krisenpaar“ sein, aber es gäbe noch einen Zuwachs für die Beziehung, eine Qualifizierung für sie, einen Ausbruch aus der „Bewusstlosigkeit“, aus der Routine, in deren unsichtbaren Fallgruben die Liebe abhandenkommen kann.

Die Antwort von ME auf diese Situation ist das Eheseminar (das Wochenende). In den letzten vier Jahren haben wir mit diesem Seminar rund 10.500 Paare in Europa erreicht. In Deutschland waren es seit 2010 insgesamt 381 Paare bei 50 Seminaren. Dies sind nur ein paar Zahlen, die deutlich machen, dass hier zwar keine  Massenbewegung angezettelt werden konnte, und dennoch jedes Jahr – nach Ländern unterschiedlich – eine große Zahl von Paaren erreicht wird – und das weltweit in 100 Ländern auf allen Kontinenten. Und da viele Teilnehmer anschließend die weiteren Ehebegleitungsschritte mitgehen, entsteht somit in der Kirche eine neue Kultur der Ehe, eine Erneuerung des Ehesakraments, die sehr leise geschieht, aber doch wirkt. Dort, wo kirchlicherseits das ME-Eheseminar unterstützt wird, sind die Teilnehmerzahlen höher.

Wir beide haben vor über 20 Jahren an diesem ME-Wochenende teilgenommen. Wir waren selbst überrascht, dass dieses Seminar für uns zu einer tiefen Erneuerungserfahrung wurde, die unseren Alltag aufbrach.

2. Begleitstufe: Der Dialog im Ehepaar

Vom Wochenende nehmen die Eheleute den Dialog mit, eine Gesprächsweise der besonderen Art mit konkreten Regeln. Diese verhilft, in kurzer Zeit in die Tiefe zu gelangen, Nähe zu finden, einander verantwortlich wahrzunehmen, mit dem Herzen zuzuhören. Dies ist der zweite Teil der Ehebegleitung. Dieser Dialog begleitet die Ehepaare vom Wochenende an, und was zunächst wie eine Methode aussieht, führt schließlich zu einem neuen Lebensstil, Die Eheleute werden mit Hilfe des Dialogs, wenn sie ihn regelmäßig führen, zur kleinsten Selbsthilfegruppe der Kirche. Sie wachsen an der Hand des Dialogs allmählich und gedeihlich in eine andere Lebensweise hinein. So ist es uns gegangen. Dadurch lernen wir immer mehr, uns zu öffnen und mitzuteilen. Wir beide lernen auch nach 42 Ehejahren im Dialog immer noch Neues voneinander kennen oder vertiefen alte Kenntnisse und sind überrascht, wie reichhaltig der Schatz im Acker einer Ehe doch noch ist.

3. Begleitstufe: Die kleinen Ehepaar-Gruppen

Ein dritter Schritt der Ehebegleitung ist, dass wir die Paare nach dem Wochenende einladen, sich einer Dialoggruppe von drei bis fünf Paaren anzuschließen. Diese Dialoggruppen treffen sich einmal im Monat und ein Paar bereitet einen Impuls über ein Beziehungsthema vor, aus dem sich dann die Frage für den Dialog ergibt. Die Paare führen dann wie zuhause den Dialog im Paar. Und schließlich teilen die Paare den anderen von den Erfahrungen in ihrem Dialog mit. Auf diese Weise entsteht eine gemeinsame Lern- und Lebenssituation, die auch für die anderen Paare bestärkend ist. Dieser Austausch in der gesamten Gruppe ist für uns eine Erfahrung von konkreter Kirche, von der Gemeinschaft der Getauften, die zueinander steht. Es ist eine Form der Fürbitte füreinander, wenn Paare sich so gegenseitig an der Hand nehmen.

Hier sowie beim Dialog zuhause wird die Erfahrung des Wochenendes auf Dauer angelegt. Während bei sonstigen Kursen die Veränderung schnell in der Gewalt des Alltags zerrinnt, wird sie hier beständig weitergeführt. Durch weiterführende Angebote sorgt die ME-Bewegung dafür, dass der neue Lebensstil erhalten bleibt. Ehebegleitung in der Art eines perpetuum mobile.

Verwirklichung des Ehesakraments im Alltag

Das Wochenende führt die Paare dazu, sich bewusster als Teil der Kirche zu verstehen und das Ehesakrament auch als Berufung für einen Dienst in der Kirche zu sehen. Unser Ziel ist es, dass die Paare ihr Ehesakrament durch die konkrete Bemühung umeinander in einer guten Kommunikation entfalten und verwirklichen.

Mit der Trauung ist das Sakrament nicht abgeschlossen, es darf sich im Leben des Ehepaares entfalten. Die Trauung braucht ein Sich-Trauen im Alltag, wenn sich die Eheleute einander mehr und mehr anvertrauen, wenn sie den Schritt zum Vertrauen wagen, sich dem anderen öffnen, auch mit dem, was sie bisher nicht mitgeteilt haben. Da geht das Sich-Verheiraten weiter im Alltag und hört nie auf. Das Ehesakrament ist ein Beziehungssakrament; es ruft in die Beziehung hinein. Deshalb sind die Bemühungen um eine vertiefte, offene Kommunikation eine Entfaltung des Ehesakramentes und damit Ehespiritualität. Mann und Frau sollen „ein Gespräch“ werden, so wie Gott in sich „ein Gespräch“ ist. In Beziehung stehend und miteinander sprechend sind Ehepaare das, was man ihnen kirchlich nachsagt: ein wahres Abbild des dreifaltigen Gottes. Unser Gründer sagte pointierend: „Wenn ein Mann seiner Frau ein Stunde lang wirklich zuhört, dann ist dies schon ein mächtiges Gebet.“ Denn vom Ehesakrament her gedacht hören die Partner dann nicht nur einander zu, sondern hören Christus zu, der im jeweils anderen auf sie wartet.

Der amerikanische Theologe und Buchautor Scott Hahn schreibt in seinem Buch über die Sakramente: „… Meine Frau ist ein Sakrament für mich. Sie ist für mich die Spenderin des Ehesakraments, so wie ich es für sie bin. Sie ist für mich ein Sakrament und eine Stunde mit ihr ist eine Stunde Gebet. Mein Gespräch mit ihr ist eine sakramentale Begegnung. In ihr sehe ich die Liebe des Heiligen Geistes … und in unserer körperlichen Vereinigung erfahre ich etwas von der Vereinigung Christi mit seiner Braut, der Kirche.“

Es ist also nicht nur soziologisch zu betrachten, was Paare tun, wenn sie sich um eine vertiefte Kommunikation bemühen, sondern theologisch. Es ist eine Sakramentszeit, wo sich das Eheversprechen realisiert. Christus ist hier gegenwärtig – in einer anderen Weise von „Realpräsenz“ und dennoch ganz wahr. Es ist seine Gegenwart, die Mann und Frau verbindet. Und im Gespräch miteinander zeigt er diese Gegenwart wie in Emmaus. Viel besser kann ich meinen Partner nicht lieben, achten und ehren, als dass ich lerne, ihm zuzuhören, und zwar mit dem Herzen, auf seine Gefühle zu achten und ihn dadurch zu ehren, dass ich verantwortlich damit umgehe.

Abbild des dreifaltigen Gottes

Pater Kentenich hat einmal gesagt: „Das vollkommenste Abbild des dreifaltigen Gottes sind an sich die Eheleute.“ Und weil Gott ein Gott ist, der in sich Gespräch ist, der in sich reine Beziehung ist, darum ist die Bemühung von Eheleuten um das Gespräch etwas durchaus Göttliches und Heiliges, durch das sie sich bemühen, Abbild des Dreifaltigen zu sein. Durch die Beziehung, die die Eheleute in der Kirche leben, wird offenbart, wie Jesus die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kirche, gemeint hat: als ein Beziehungsgeschehen. Dieses Beziehungsgeschehen hat drei Dimensionen, die wir die drei Königswege einer glückenden Ehe nennen: 1. der Dialog, also die besonders gestaltete, tief gehende Kommunikation, 2. die aufmerksam und bewusst gestaltete Sexualität und das Sprechen darüber sowie 3. das Beten, das gemeinsame Glaubensleben.

Das ist die tiefere Spiritualität von ME. Genauso wie ein gutes Gespräch zwischen Mann und Frau eine Art „Gebet“ sein kann, so glauben wir daran, dass auch eheliche Sexualität ein Ort ist, wo sich das Abbild-Sein für Gott ereignen kann, eine Entfaltung des Ehesakramentes, eine Andachtszeit des Sakraments; in diesem Gespräch des Leibes ist Christus gegenwärtig, wie damals in Emmaus. Der eben zitierte Ausspruch über die Eheleute lautet nämlich vollständig so: „Das vollkommenste Abbild des dreifaltigen Gottes sind an sich die Eheleute, und zwar im Augenblick des ehelichen Aktes.“ Diese drei Königswege Dialog – Sexualität – Gebet sind eng miteinander verbunden; fehlt es bei einem an Intensität und Beachtung, wirkt sich das auch auf die anderen aus.

Die „drei Königswege“ führen zur Ehebeständigkeit

Aus den deutschsprachigen Ländern gibt es eine Ehepaar-Studie aus den Jahren 2008 /2009, die gezeigt hat, dass diese drei Königswege Einfluss haben auf die Ehezufriedenheit und Ehebeständigkeit. Beide sind umso größer, wenn ein Paar 1. wesentliche Gespräche führt, auch über die Gestaltung der Sexualität, 2. miteinander betet und 3. in den Gottesdienst geht. Die Scheidungsgefahr bei solchen gläubigen Paaren lag bei 0,6 Prozent (allgemeine Scheidungsrate nahezu 50 Prozent).

Diese Studie bestätigt die pastorale Annahme, dass den Glauben praktizierende Paare eine andere Ausdauer im Aushalten von schwierigen Situationen haben, oftmals einen gelösten Blickwinkel, der Geduld und Barmherzigkeit mit dem anderen schenkt, eine andere Weltanschauung im wahrsten Sinn des Wortes. Wer seine Ehe von Christus her beleuchten lässt, gewinnt daran.

Neue lebendige Freude an der Kirche

Wir erleben, dass die Ehepaare sich nach dem Wochenende manchmal ganz neu für die Kirche entscheiden und sich ihr zuwenden, weil sie – vielleicht zum ersten Mal – eine solche Zuwendung der Kirche zu ihnen als Ehe-Paar erlebt haben. Sie begreifen, dass sie als Ehepaar für die Kirche wichtig sind und trauen sich dann auch öfter, als Ehepaar in Erscheinung zu treten. Viele, die schon vor dem Wochenende in Gemeinden mitgearbeitet haben, haben dies neu als Dienst verstanden, den sie als Ehepaar der Kirche tun können, dass also ihre Ehe nicht nur etwas Privates ist, sondern auch sie sozusagen in Dienst genommen werden, als Kirche im Kleinen. Da entsteht manchmal eine ganz neue, lebendige Freude an der Kirche. Wir spüren, die Zuwendung und das Interesse, welches die Kirche den Ehepaaren schenkt, wirkt sich für die Kirche lebenspendend aus.

Es wäre sogar sinnvoll, wenn sich diese Zuneigung der Kirche zu den Ehepaaren in häufigeren Predigten über die Ehe zeigen würde, in der öfteren Erwähnung in den Fürbitten. Zu überlegen wäre, warum die Ehepaare nicht auch durch einen offiziellen Einschub im Hochgebet in der Liturgie „vorkommen“ könnten: an der Stelle, wo für die zum Dienst Beauftragten der Kirche ein Gedenken eingelegt wird: „… für den Papst, den Bischof … die Priester und Diakone, die Eheleute und alle, die zum Dienst in der Kirche bestellt sind“. Im Sinn der Regel „lex orandi – lex credendi“ (die Norm des Betens bestimmt die Norm des Glaubens) würde dies ein neues Bewusstsein schaffen und die Ehepaare ermutigen und bestärken. Es wäre eine Wertschätzung ihres Daseins und des Dienstes, den sie für die Kirche und die Welt tun.

Mit dem ME-Wochenende liegt ein Angebot für die Kirche bereit, das nicht allein Gesprächsmethoden anbietet, sondern auch Ehespiritualität vermittelt, einen veränderten Lebensstil begründet und dauerhafte Ehebegleitung ermöglicht. Dieses bestehende Angebot kann von der Kirche genutzt werden. Wir bieten uns mit unserem Programm für die Begleitung von Ehepaaren an.

Informationen über ME in Deutschland

In Deutschland wird der Ehepaarkurs in fast allen Gegenden angeboten. Er findet statt in Bildungshäusern/Klöstern in den folgenden Bistümern (Einzugsbereich jeweils auch die Nachbarbistümer): Augsburg, Berlin, Dresden-Meißen, Freiburg, Görlitz, Köln, Limburg, Osnabrück, Passau, Rottenburg-Stuttgart,  Trier, Würzburg; sowie in Ost-Belgien und der deutsch-sprachigen Schweiz. Es gibt Ehepaargruppen im Emsland, rund um Osnabrück, Ibbenbüren, am Niederrhein und Ruhrgebiet, in Köln und Umland, Bergisches Land, Eifel-Trier-Saarland, sowie in und im Umland von Magdeburg, Erfurt, Halle-Leipzig, Dresden, Chemnitz, Kassel, Frankfurt, Darmstadt, Baden, Neckar-Alb, Bodensee-Allgäu, Franken, Ulm, Regensburg, Augsburg, München, Altötting-Burghausen, Passau usw.

Die deutsche ME-Gemeinschaft hat zurzeit etwa 163 Dialoggruppen mit 691 Paaren. Sie ist strukturiert in den Regionen Nord, Ost, Köln, Rhein-Main, Baden-Württemberg und Bayern. Zur Gemeinschaft gehören auch Priester und Ordensleute. 20 Priester sind es zurzeit. Seit 1979 waren es 150 Priester, die das Wochenende mitgemacht haben. Im Jahr 2014 haben 10 Priester den neu geschaffenen Priesterkurs mitgemacht. ME geht in seinem Programm davon aus, dass das Ehe- und das Weihesakrament einander ergänzen und dass beide Sakramente in eine gelingende Beziehung rufen, das eine in die Beziehung zu einem Menschen, das andere in die Beziehung zu vielen Menschen. Beide Male geht es um die Fähigkeit zu vertieften Begegnungen. Im Leben der Gemeinschaft entstehen im Miteinander von Eheleuten und Priestern eine gegenseitige Bestärkung und eine Bereicherung.

ME lädt auch Brautpaare und Paare, die in einer festen Beziehung stehen und einen verbindlichen Weg suchen, zu einem Wochendkurs ein („Mut-zur-Liebe“). Dieser Kurs ist ähnlich aufgebaut wie der Ehepaarkurs und ermöglicht den Paaren eine tiefgehende Sicht auf den Stand ihrer Beziehung, gibt ihnen Hilfen für die Zukunft an die Hand. Zugleich ermutigt dieser Kurs, die Beziehung verbindlich zu machen (Ehe) und lädt ein zum Ehesakrament.

Weitere Informationen über ME finden Sie auf: www.me-deutschland.de

Anfragen können auch direkt an das verantwortliche Ehepaar für die Öffentlichkeitsarbeit gerichtet werden: pr@me-deutschland.de

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
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Das Recht auf eine Privatsphäre

Bedeutung der Diskretion

Dr. Carlos Encina Commentz, Offizial der Apostolischen Pönitentiarie in Rom, organisiert seit vielen Jahren „Pastorale Fortbildungen für Beichtväter über das Forum internum“. Eingeladen sind Priester und Seminaristen. Für den deutschsprachigen Raum werden die Fortbildungen, die sich großer Beliebtheit erfreuen, in der Gebetsstätte Wigratzbad im Bistum Augsburg abgehalten. Vom 11. bis 14. Januar 2016 findet die Tagung dort bereits zum achten Mal statt und steht dieses Jahr unter dem Thema: „Der Heilungsdienst der Kirche – ein Werk der Barmherzigkeit“ (vgl. S. 13). Bei der siebten Fortbildung im vorigen Jahr hielt Msgr. Carlos einen Vortrag über die „befreiende Kraft der Wahrheit“. Darin machte er sich auch Gedanken zur Frage, wie weit das „Recht auf Wahrheit“ geht. Ein aktuelles Thema.

Von Carlos Encina Commentz

Gibt es eigentlich ein „Recht auf Wahrheit? Die Antwort – dies mag vielleicht überraschen – ist „Nein“. Es gibt kein absolutes „Recht auf Wahrheit“. Wir sind zwar dazu verpflichtet, nicht zu lügen (vgl. Thomas v. Aquin: S. Th., 2-2, q. 110, a. 3). Aber wir sind nicht immer verpflichtet, in allem die Wahrheit zu sagen. Auch aus Gründen der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit oder anderer Notwendigkeiten, muss man manchmal die Wahrheit für sich halten.

Warum also gibt es kein Recht auf Wahrheit? Warum sollten gewisse Dinge reserviert bleiben? Nun, der Mensch braucht nicht alles über sein Leben und seine Tätigkeiten öffentlich bekannt zu machen, selbst wenn dies heute viele über Facebook tun. So etwas kann die eigene Freiheit schwerwiegend verletzen, wie schon viele – um bei dem Beispiel zu bleiben – Facebook-Nutzer auf leidvolle Weise erfahren haben. Eigentlich sind es immer totalitäre Vorstellungen, die das Recht auf Privacy nicht anerkennen wollen oder es nicht respektieren. Es gibt verstärkt die Tendenz, in das Leben der Bürger, selbst in die intimsten Bereiche, einzugreifen und diese zu kontrollieren. Dabei würde es gerade dem Gemeinwohl zugute kommen, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. Bei militärischen Geheimnissen, bei Verhandlungen zwischen Staaten, den Geheimdiensten, usw. ist das nach wie vor eine notwendige Bedingung. Aber auch in der Kirche gibt es Dinge, die durch das päpstliche Geheimnis geschützt sind. Böse Zunge sagen, dass das päpstliche Geheimnis heute darin besteht, dass alle wissen, um was es geht, außer dem Heiligen Vater. Anders als bei dem päpstlichen Geheimnis verhält es sich mit dem Beichtgeheimnis. Das Kirchenrecht belegt eine direkte Verletzung des Beichtgeheimnisses mit automatischer Exkommunikation. Die Lossprechung von dieser Exkommunikation ist dem Heiligen Stuhl vorbehalten. Im Forum internum ist die Apostolische Pönitentiarie zuständig für die Lossprechung bei derartigen Fällen. Schon anhand dieser Beispiele zeigt sich deutlich, dass nicht alle alles wissen brauchen und es auch nicht dürfen.

In der heutigen Welt kommt den Medien eine besondere Rolle zu, zumal sie die öffentliche Wahrnehmung prägen. Sie kennen kaum mehr Grenzen und richten sich nach dem Maßstab der Auflage (des Geldes). Je mehr Schlagzeilen ein Artikel produziert, umso besser. Dabei kommt der Privatsphäre und auch der Wahrhaftigkeit keine große Bedeutung mehr zu.

Manchmal kann es in der Tat gut sein, bestimmte Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, um so zur Aufklärung und Lösung von Problemen beizutragen. In gewissen Fällen kann so etwas dazu beitragen, bestimmte Fehler, Missbräuche, Delikte, unsaubere Machenschaften, usw., öffentlich bekannt zu machen und durch den dadurch erzeugten Druck die Situation zu verändern. Auf diese Weise werden die Autoritäten gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen. Auch die Bekanntmachung von verbrecherischen Taten kann dazu führen, politische und gegebenenfalls auch wirtschaftliche Tätigkeiten des Staats zu beeinflussen und zu einer Verbesserung beitragen. In diesem Fall würde es sich um eine positive Folge der Meinungsfreiheit handeln. Umgekehrt kann aber eine tendenziöse oder unwahre Information großen Schaden anrichten und Existenzen ruinieren. Wenn die Auflagenstärke zum entscheidenden Kriterium wird, dann wird nicht selten das Recht und die Wahrheit gebeugt. Davor hat – mit gutem Grund – Papst Benedikt wiederholt gewarnt. Er hat die Journalisten eingeladen, sich der Wahrheit verpflichtet zu fühlen. Als Grundsatz kann gelten, dass man andere nur so behandelt, wie man selber wünscht behandelt zu werden. Biblisch gesprochen würde das bedeuten: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12).

Leider gibt es einige, auch prominente Fälle in der Kirche, wo unmoralische Handlungen durch ein falsches Schweigen verborgen geblieben sind. So etwas ist nicht korrekt und auch nicht tolerierbar. Diskretion, Vertraulichkeit oder „Privacy“ gehören zu den Rechten der Person und sind Ausdruck der Würde. Wenn es jedoch um eine Art „Geheimniskrämerei“ geht, die dazu führt, unmoralische Interessen oder Handlungen zu schützen, dann wäre dies ein Missbrauch des Schweigegebotes. Auf diese Weise würden die Freiheit und die Würde der Person mit Füßen getreten. Nicht selten verbindet sich damit eine Manipulation des Gewissens.

Es mag angebracht sein, in diesem Kontext etwas über die Diskretion zu sagen, die gerade für uns Priester von großer Bedeutung ist. Diskretion steht in enger Verbindung mit dem Unterscheidungsvermögen, das sich auf Italienisch mit dem schönen Wort „discernimento“ umschreiben lässt, das sich wiederum vom Lateinischen „discernere“ herleitet. Damit ist ein „Trennen“, ein „Abstand nehmen“ gemeint, eine Voraussetzung, um überhaupt Dinge unterscheiden zu können. Eine Auswahl/Entscheidung treffen bedeutet demnach, eine Wirklichkeit als ganze zur Kenntnis zu nehmen und die einzelnen Elemente zu prüfen. Eine diskrete Person ist in der Regel in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen; nicht auf Grundlage von bloß subjektiven Meinungen, sondern auf der Grundlage der Objektivität der Dinge. So kann erwägt werden, welche Informationen zum Gemeinwohl beitragen und welche nicht. Eine diskrete Person ist fähig zu unterscheiden, welche Information mitgeteilt werden sollte und welche nicht. Alles, was dazu beiträgt, Schlagzeilen zu produzieren, ist in der Regel kontraproduktiv, dadurch werden fast immer Menschen geschädigt. Das Gesagte gilt noch mehr für das geistliche Leben. Hier kann als Regel die Anweisung aus dem Buch Tobit gelten, in der es im 12. Kapitel heißt: „Es ist gut, das Geheimnis eines Königs zu wahren“ (Tob 12,7). So hat sich auch der hl. Josef verhalten, als er davon erfuhr, dass Maria schwanger war (vgl. Mt 1,19-24), und so verfuhr auch die Jungfrau Maria selbst, die alles in ihrem Herzen bewahrte (vgl. Lk 2,18).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
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Papst Franziskus zur „Vatileaks“-Affäre

Auf dem Rückflug von seiner Afrika-Reise gab Papst Franziskus eine Pressekonferenz. Dabei wurde er von Philip Pulella, einem Mitarbeiter der Agentur Reuters, direkt auf die Vatileaks-Affäre angesprochen. Wörtlich sagte Pulella: „Sie haben in Uganda frei gesprochen und gesagt, dass es überall Korruption gibt und auch im Vatikan. So lautet meine Frage: Was ist die Bedeutung der freien und laikalen Presse bei der Ausrottung dieser Korruption, wo immer sie existiert?“

Von Papst Franziskus

Die freie laikale oder auch konfessionelle, in jedem Fall aber professionelle Presse – denn die Professionalität der Presse kann laikal oder konfessionell sein; wichtig ist, dass sie wirklich Fachleute sind, so dass die Nachrichten nicht manipuliert werden – diese Presse ist für mich wichtig, denn die Meldung von Ungerechtigkeiten, von Korruption ist eine große Aufgabe, weil sie darauf hinweist: Dort gibt es Korruption. Und der Verantwortliche muss dann etwas unternehmen, die Sache beurteilen, ein Gericht einberufen…

Aber die professionelle Presse muss alles sagen, ohne in die drei gewöhnlichsten Sünden zu fallen: die Desinformation – nur die halbe Wahrheit zu sagen –; die Verleumdung, die es in der unprofessionellen Presse gibt – wenn keine Professionalität vorhanden ist, wird der andere beschmutzt ohne Rücksicht auf die Wahrheit –; und die Diffamierung – Dinge zu sagen, die den Ruf einer Person schädigen, Dinge, die gar nicht in den aktuellen Zusammenhang gehören, eventuell Dinge aus der Vergangenheit… Und das sind die drei Fehler, die die Professionalität der Presse gefährden.

Aber wir brauchen Professionalität, das Rechte [zu sagen]: Die Dinge stehen so und so. Und was die Korruption betrifft: die Tatsachen genau prüfen und dann sagen: Ja, hier gibt es Korruption, in dieser und jener Angelegenheit. … Und außerdem, ein wirklich professioneller Journalist entschuldigt sich, wenn er einen Fehler gemacht hat: Ich glaubte …, aber dann habe ich gemerkt, dass es nicht so war.

Und auf diese Weise laufen die Dinge bestens. Das ist sehr wichtig.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
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„Heute“ will dir der Herr sein Heil schenken

Versöhnung lässt uns Gott erfahren

Dr. Antony D‘Cruz J. O.Praem. (geb. 1976 in Kerala) ist als Seelsorger im Pfarrverband Neustift (Erzbistum München und Freising) eingesetzt. Er promovierte im Fach Dogmatik und ist auf die Lehre der Kirche und ihrer Mission spezialisiert. Seine Gedanken über die entscheidende Bedeutung der Versöhnung sind ein wunderschöner Beitrag zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit. Im Licht des Weihnachtsfestes leuchtet das Gnadenangebot der bedingungslosen Liebe Gottes auf, die unsere Herzen und das Angesicht der Erde zu erneuern vermag.

Von Antony D’Cruz OPraem

Benedikt XVI.: Was heißt „heute“?

Papst Benedikt XVI. unterstrich in seiner Adventsaudienz am 21. Dezember 2011 die überzeitliche Bedeutung der Ereignisse der Heilsgeschichte. „Denn das Weihnachtsfest ist nicht einfach nur der Jahrestag der Geburt Jesu – es ist auch das –, sondern es ist mehr, es ist die Feier eines Geheimnisses, das die Geschichte des Menschen geprägt hat und weiterhin prägt“, so Benedikt XVI. Und später erklärt er: „In der heiligen Messe der Heiligen Nacht werden wir als Kehrvers zum Antwortpsalm folgende Worte wiederholen: ,Heute ist uns der Heiland geboren.‘ Das Temporaladverb ,heute‘ kommt mehrmals in allen Feiern der Weihnachtszeit vor und bezieht sich auf das Ereignis der Geburt Jesu und auf das Heil, das die Menschwerdung des Sohnes Gottes bringt. In der Liturgie geht dieses Ereignis über die Grenzen von Raum und Zeit hinaus und wird im Jetzt gegenwärtig. … Wenn wir in den liturgischen Feiern hören oder sagen: ,Heute ist uns der Heiland geboren‘, dann gebrauchen wir keinen leeren konventionellen Ausdruck, sondern wollen sagen, dass Gott ,heute‘, jetzt, uns, mir, jedem von uns die Möglichkeit bietet, ihn zu erkennen und anzunehmen, wie die Hirten in Betlehem es taten, damit er auch in unserem Leben geboren wird und es erneuert, es erleuchtet, es mit seiner Gnade, mit seiner Gegenwart verwandelt.“

Weihnachten ist so zu verstehen, dass die Begegnung mit Gott „heute in unserer Gegenwart“ möglich ist, weil „der Herr der Geist ist“ (2 Kor 3,17) und sich durch den Geist zeigt.

„Jahwe“ ist immer gegenwärtig

Es gibt viele biblische Texte, welche uns das zeitlose Wirken Gottes erschließen. Ein Angelpunkt ist die Offenbarung Gottes am brennenden Dornbusch: „Ich bin, der ich bin“ (Ex 3,14). Das heißt, „Jahwe“ ist immer präsent, immer aktiv, immer bereit zu retten, er ist der Herr der Zeit. So erweist sich Gott dem Mose als der „Gott der Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (Ex 3,6). Das bedeutet, wie Abraham, Isaak und Jakob Gott erfahren haben, ist er auch heute noch für die Menschen da. Darum zitiert Jesus das genannte Wort Jahwes an Mose, als er auf die Auferstehung hinweist. Und Jesus fügt hinzu: „Er ist doch nicht der Gott der Toten, sondern der Gott der Lebenden“ (Mt 22,32). Wir glauben, dass Jesus Christus nicht nur der Höhepunkt und die Fülle der Offenbarung ist, sondern dass er sich selbst als der allgegenwärtige Gott enthüllt. In seiner Person bricht das Reich Gottes an. Und so sagt er: „Heute“ hat sich das Prophetenwort, „das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,21). Durch die Menschwerdung ist das Ereignis der Erlösung immer gegenwärtig. Anders gesagt: Die Heilserfahrung, die Jesus Christus gebracht hat, gilt auch heute für uns. Aber wie?

Zachäus wählt Leben und Heil

Eine Möglichkeit, das „Heute“ zu verstehen, zeigt die Zachäus-Geschichte auf (Lk 19,1-10). Entscheidend ist die Zusicherung Jesu an Zachäus: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.“ Er ist ein Mensch, der zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod pendelt. Zachäus wählt Leben und Heil. Es ist die richtige Wahl, die er trifft. So kann er die Gegenwart des Heils erfahren. Diese freie Entscheidung versöhnt ihn mit seinen Mitmenschen, von denen er durch seine bösen Taten getrennt ist. Und er sagt: „Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.“ In den Tiefen des eigenen Seins, was die Bibel „Herz“ nennt, erfährt er seine Erlösungsbedürftigkeit. Die Verwandlung des Herzens in ein neues Herz für die Mitmenschen ermöglicht uns, „heute“ Gott zu erleben.

Es geht also um die „Versöhnung“. Diese Wirklichkeit steht hinter der Menschwerdung Jesu Christi. Und sie ist der Anfang des Weges, „heute“ die Erlösung zu erfahren. Ziel der Menschwerdung ist die Versöhnung Gottes mit den Menschen und der Menschen untereinander. Dies beleuchten zwei paulinische Texte: „Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat“ (2 Kor 5,19), und: „Er hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan, wie er es gnädig im Voraus bestimmt hat: Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist“ (Eph 1,9-10). Diese beiden Verse fassen das Kommen Christi in Bezug auf die Versöhnung zusammen. Henri de Lubac unterstreicht in seinem Buch „Katholizismus“, dass die Kirche „Sakrament der Gemeinschaft“ ist und die von Gott geschaffene ursprüngliche Einheit sichtbar macht. Diese Einheit wurde durch die Sünde der Menschen gestört, in Christus aber wird sie wiederhergestellt (Catholicism, 1988, 25, 33).

Geheimnis der  Versöhnung

Wenn der in Jesus Christus geoffenbarte Plan Gottes in der endgültigen Versöhnung aller besteht, dann verspricht jeder Akt der Versöhnung zu einer Erfahrung des göttlichen Geheimnisses zu werden. Dies wird vor dem Hintergrund der Lehren Jesu über Gebet und Vergebung deutlich. Die Aufforderung Jesu zur Versöhnung ist mit einer Verheißung verbunden: Wenn wir unseren Brüdern und Schwestern vergeben, dann vergibt auch Er unsere Sünden (Mt 6,14-15). Wenn wir unseren Schuldigern vergeben, bevor wir beten, antwortet Gott auf unser Gebet (Mk 11,25, Mt 5,44). Ähnlich ist es, wenn wir uns mit unseren Feinden versöhnen, bevor wir unser Opfer darbringen. Dann wird Gott unser Opfer annehmen (Mt 5,23-24). Jesus selbst hat dafür ein Beispiel gegeben: Als er sich am Kreuz opferte, betete er für seine Gegner und bat Gott für sie um Vergebung (Lk 23,34).

Was wir am Kreuz sehen, ist der mutige Akt des liebenden Wohlwollens Gottes, die Sünder trotz allem zu lieben. Durch die Erlösung hebt Gott die Auswirkung der Sünde auf, nimmt Er die orientierungslosen Sünder an, macht sie liebenswert. Dies bewirkt eine dauerhafte Versöhnung und schafft eine neue, alles verändernde Beziehung. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn stellt diesen Aspekt der Liebe des barmherzigen Vaters zu seinem sündigen Sohn auf dramatische Weise heraus (Lk 15,11-32). In der schenkenden Liebe Gottes spiegelt sich die menschliche Erfahrung, dass echte Vergebung (im Gegensatz zum Vergessen) eine Art des Gebens ist – wie ein Loslassen. Auch zahlreiche andere europäische Sprachen drücken „vergeben“ als eine verstärkte Form des Verbs „geben“ aus, z.B. ,,forgive“ auf Englisch, „pardonner“ auf Französisch, „perdonare“ auf Italienisch und „perdonar“ auf Spanisch (vgl. Gerald O’Collins SJ und Daniel Kendall SJ: The Bible for Theology, 1997, 50-52).

Der mutige Akt der „Liebe ohne Vorbehalte“ gegenüber meinen Brüdern und Schwestern ist die Voraussetzung für meine Beziehung zu Gott. Dies wird in den Anweisungen Jesu für eine erste christliche Gemeindeordnung deutlich (vgl. Mt 18): Jesus macht klar, dass ein Christ nicht nur für sich selber leben kann, sondern dass jeder für den anderen Mitverantwortung trägt, dass die Sünde des Einzelnen auch die Gemeinschaft belastet. Zudem unterstreicht er als Frucht der Liebe in der Gemeinde das einträchtige Gebet (versöhnte Gemeinschaft). Jesus sagt: „Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,19f.). Das persönliche Gebet ist zweifellos wichtig, ja unverzichtbar, doch der Herr versichert jeder Gemeinschaft seine Gegenwart, die – auch wenn sie sehr klein ist – eines Sinnes ist, da sie die Wirklichkeit des dreieinigen Gottes, die vollkommene Gemeinschaft der Liebe, widerspiegelt (Benedikt XVI., Angelusgebet am 4.9.2011). Grundlage ist nicht die Liebe der Menschen zu Gott, sondern Gottes Liebe zu den Menschen (1 Joh 4,9-19; Joh 3,16). Und die grundlegende Antwort des Menschen auf Gottes Liebesangebot ist nicht die Rückgabe der Liebe an Gott, sondern die Weitergabe der Liebe an die Mitmenschen (vgl Mt 19,16-19). So entstehen echte christliche Gemeinden.

Unser Glaube schenkt wahre Versöhnung, wie sie in der Heilsgeschichte aufscheint. Von der Zeit des Exodus bis zum Anbruch des Reiches Gottes in Jesus von Nazareth baut Gott ein neues menschliches Miteinander auf. Zwei biblische Bildworte bringen dies zum Ausdruck: das Bild vom „Leib Christi“ bei Paulus (1 Kor 12,12-27) und vom „Weinstock“ bei Johannes (Joh 15,1-8). Paulus verwendet den Vergleich mit dem menschlichen Körper, um das Ziel der christlichen Gemeinschaft zu verdeutlichen. Wie alle Teile des Körpers in unterschiedlichen Funktionen organisch verbunden sind, so sind die Glieder des mystischen Leibes Christi an verschiedenen Positionen im Zeugnisgeben für Christus vereint (versöhnt).

Hl. Bernhard: Der „mittlere Advent“

Unsere Überlegungen haben mit dem „Heute“ der Menschwerdung Christi begonnen, mit unserer Erfahrung des Heils. Das Kommen des Herrn ist uns in zwei Formen wohlvertraut. Doch Bernhard von Clairvaux spricht nicht nur von der zweimaligen Ankunft des Herrn, für ihn gibt es vielmehr ein dreimaliges Kommen Jesu: die erste Ankunft „in Demut“ als Retter bei der Menschwerdung, dann die Wiederkunft „in Herrlichkeit“ als Richter am Ende und schließlich der „mittlere Advent“, die „Gottesgeburt im Menschen“. Ein guter Weg dorthin sei – so der hl. Bernhard – die „tägliche Begegnung mit dem Auferstandenen“ (vgl. Sermo 5, in: Adventu Domini, 1-3). Wenn jemand dieses mittlere Kommen für reine Fantasie hält, sollte er sich daran erinnern, was unser Herr selbst sagt: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“ (Joh 14,23).

„Der Herr aber ist der Geist“ (2 Kor 3,17) und Er bleibt durch den Geist über die Grenzen von Zeit und Raum präsent und macht die Begegnung „heute“ mit ihm möglich, weil seine Liebe jeden Morgen neu ist (Klgl 3,23). Der wahre Sinn der Menschwerdung findet sich in der „amor benevolentiae“ – in der schenkenden Liebe Gottes für meine Brüder und Schwestern (1 Joh 4,20). Und wenn wir bedenken, dass Vergebung und bedingungslose Liebe die Grundlage der Taten Gottes sind, können wir dem Herrn in jedem Augenblick unseres Lebens begegnen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
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Erneuerung der kirchlichen Bußpraxis

Schuld und Vergebung

Der bekannte Pastoraltheologe Prälat Dr. Ludwig Mödl (geb. 1938) hat ein neues Buch über das Vaterunser herausgegeben.[1] Die Bitte „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ nimmt er zum Anlass, über die kirchliche Bußpraxis nachzudenken und Impulse für eine Erneuerung der Beichte zu geben. Sein Schwerpunkt liegt auf der Förderung des Sündenbewusstseins. Er nennt zwei Voraussetzungen, um eine wirkliche Befreiung von Schuld erfahren zu können: Zum einen müssen wir unsere Schuld ins Bewusstsein heben, zu ihr stehen und sie im Bekenntnis durchleiden. Zum anderen müssen wir sie in einen Zusammenhang mit Gott bringen, ihm gegenüber Reue empfinden, ihn aufrichtig um Verzeihung bitten und an die sakramentale Vergebung glauben. In den nachfolgenden Auszügen finden sich wertvolle Anregungen für das Jahr der Barmherzigkeit.

Von Ludwig Mödl

Betrachten wir zunächst, was wir meinen, wenn wir von Sünde sprechen, um uns dann zu fragen, wie Menschen heute Schuld überhaupt wahrnehmen und wie sie von Sünde frei werden.

I. Die Sünde

In der Bibel wird zwar auch allgemein von Sünde gesprochen, aber viel häufiger wird direkt genannt, was damit gemeint ist. Da ist die Rede von Gewalt, von Götzendienst, von Rebellion, von Hartherzigkeit, von Profitgier, von Gefallsucht, von Ehebruch. Bei alledem kommt immer wieder durch, dass ein Mensch, der solches tut, gleichermaßen den Menschen und Gott schadet. Wo Menschen zu Schaden kommen, wo eine Gottesrede oder eine andere religiöse Handlung nicht für Menschen förderlich ist, dort liegt eine Fehlhaltung vor, und dort ist Gott nicht zufrieden mit einem Menschen. Wo immer also etwas zerstörerisch wirkt, wo Gottes Gebot missachtet wird, wo Leben behindert oder gar zerstört wird, da liegt Sünde vor. Bei Mk 7,21-23 werden solche zerstörerischen Handlungen aufgezählt, wenn es heißt: Denn innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein. All diese Haltungen mindern das Leben eines Menschen, obwohl sie das Gegenteil zu tun vorgeben, und zerstören ihn und seine Mitwelt. Das ist gemeint mit Sünde. Es gibt noch andere Versuche, solche Fehlhaltungen zu systematisieren. Bei allen aber wird deutlich: Ein ich-süchtiges, zerstörerisches Denken, Reden und Handeln entfremdet einen Menschen von Gott und von den Mitmenschen, das heißt es trennt von Gott und behindert oder zerstört die Gerechtigkeit. Wie aber nimmt ein Mensch heute ein solches Fehlverhalten wahr?

II. Heutige Wahrnehmung von Schuld

Die Menschen fühlen sich heute in vielen Bereichen autonom. Jeder Mensch kann weithin selbstständig sein Leben gestalten. Er darf rauchen, wenn er will; er darf bergsteigen, wenn er kann; er darf heiraten, wen er will; er darf sich seinen Beruf suchen und Ähnliches. Autonom, das heißt selbstständig darf jeder sein Leben gestalten, zumindest in seinem privaten Bereich. Wie erkennt in diesem Umfeld ein Mensch, dass er schuldig geworden ist?

Früher, das heißt noch vor siebzig Jahren, herrschte eine Grundidee vor, die besagte: Wer nicht Ordnung hält, der macht sich schuldig. Es sind schließlich Dinge von der Natur vorgegeben, an denen niemand ungestraft vorbeigehen kann. Wer eben zu wenig schläft, der wird krank. Wer die Nacht zum Tag macht, der stört die Ruhe anderer. Wer zu früh zu rauchen beginnt, der wird dreißig Jahre später an den Folgen erkranken. Wer die von der Natur oder von Menschen vorgegebene Ordnung stört, der macht sich schuldig. Und man dachte weiter: Wer die Ordnung Gottes stört, wer also nicht nach den Vorgaben der Gebote lebt, der macht sich vor Gott schuldig, und das nennt man Sünde. Sünde ist also eine Übertretung der Ordnung Gottes. Wer die Ordnung einhält, der tut sich und anderen etwas Gutes. Wer sie nicht einhält, der zerstört sein Leben und das der anderen – und beleidigt Gott, der allem die Ordnung gegeben hat. Das war allgemein anerkannt.

Heute gilt ein anderes Muster. Ein Mensch fühlt Schuld, wenn er einem anderen schadet oder ihn enttäuscht oder die Beziehung zu ihm verletzt. Schuld wird heute mit Beziehung zusammengebracht. Wo Beziehung gestört oder gar zerstört wird, da empfindet ein Mensch Schuld. Wie aber kommt es dann zur Erkenntnis von Schuld? Und wie zur Erkenntnis von Sünde, also einer Schuld vor Gott?

Lassen Sie mich ein Beispiel erzählen: Eine junge Frau hatte mit ihrem Freund intime Beziehungen. Sie hat einmal die Pille vergessen und wurde schwanger. Da sie und der Freund das Kind als Eindringling betrachteten, ließ sie es abtreiben. Sie hatte zunächst kein Schuldgefühl. Doch einmal während einer Fernsehsendung beschlich sie plötzlich die Angst: Wird mein Freund mich verachten, weil ich abgetrieben habe? Er verneinte dies mit dem Hinweis, er habe doch selbst zugestimmt. Doch von nun an wurde die junge Frau allen Menschen gegenüber immer unsicherer. Sie hörte sensibel auf Untertöne in den Gesprächen und fragte sich ständig: „Wissen die etwas? Was würde meine Mutter sagen, wenn sie es wüsste? Was wäre mit mir, wenn meine Mutter auch so gehandelt hätte?“ In ihrer Not ging die junge Frau zu einer alten weisen Oma und erzählte ihr alles. Diese sagte: „Schade, dass du das getan hast. Gott hätte dir das Kind zugemutet! Er wird dir verzeihen.“ Dabei, so sagte die junge Frau später, kam ihr zum ersten Mal in den Sinn, dass die Sache etwas mit Gott zu tun hatte. Und das war zugleich der Ausweg aus ihrer Angst: „Wenn Gott mir verzeiht, dann müssen es auch die anderen tun.“

Die Sündenerkenntnis kam also folgendermaßen zustande: Zunächst wuchs ein Schuldgefühl mit Angst, ausgelöst durch irgendein Bild und Wort in einer Fernsehsendung, das sie später gar nicht mehr genau angeben konnte. Durch dieses Gefühl kam sie durch Nachdenken und das Gespräch zur Erkenntnis, dass die Sache Beziehungen belastet. Die junge Frau musste sich sagen: „Ich habe etwas getan, das die anderen, wenn sie es wüssten, nicht gutheißen würden.“ Diese Erkenntnis ließ sie Angst empfinden, sie fühlte sich schuldig vor den Menschen. Der Hinweis der Oma auf Gott, den Erbarmer, ließ die Schuld als Sünde, also als aversio a Deo („Abwendung von Gott“), erkennen und zugleich die Botschaft von der Vergebung in den Blick bekommen.

Schuldig fühlt sich heute also ein Mensch, wenn er spürt, dass er den Erwartungen anderer Menschen nicht entsprochen hat, besonders jener, die ihm nahestehen und die er schätzt, die also Autoritäten für ihn darstellen. Dass die Schuld Sünde ist, erkennt er, wenn er sein Verhalten mit der Offenbarung Gottes in Beziehung setzt. Nicht die Übertretung einer Ordnung bringt heute für viele also die Einsicht von Schuld, sondern die Belastung der Beziehungen. Wie aber findet ein Mensch aus der Schuld heraus? Was hilft ihm? Was befreit?

III. Befreiung von Schuld

Meist empfindet ein Mensch Schuld zunächst als undeutliches Gefühl. Es ist ihm mulmig. „Hoffentlich merkt niemand etwas von dem, was ich getan habe. Hoffentlich kommt da nichts nach. Hoffentlich entdeckt niemand meine Tat.“ Immer mehr wird die Seele ausgefüllt von solchen Ängsten. Mag ein Mensch sie noch so verdrängen, mit einem Schlag können sie wieder da sein. Er braucht noch dazu viel seelische Energie, um Schuld zu verdrängen. Wie kann sich ein Mensch von Schuldgefühlen befreien?

Viele Psychologen sind sich einig – und sie bestätigen nur, was die Praxis der Kirche seit Jahrhunderten weiß: Von Schuldgefühlen befreit kann ein Mensch werden, wenn er die Schuld zunächst ins Bewusstsein hebt. Und das ist der Fall, wenn er die Schuld ins Wort bringt, also ausspricht. Doch das genügt noch nicht. Er muss sie so aussprechen, dass die Bedeutung dessen, was er getan hat, im Gesagten dasteht, das heißt das Aussprechen wehtut. Indem er die Schuld benennt, durchleidet er sie. Und das geschieht am deutlichsten dann, wenn er seine Schuld vor einer Autorität ausspricht. Das kann jemand sein, der irgendeine offizielle Stelle hat, oder vor jemandem, vor dem er sich besonders schämt. Ein Schuldgefühl muss zum Schuldbewusstsein werden, und dieses muss ausgesprochen und nachgelitten werden. Der Mensch muss also zu seiner Schuld stehen und sie durchleiden. Doch dann muss ihm von der anderen Seite her zugesagt sein: „Dein Schuldgefühl ist berechtigt, du hast Schuldhaftes getan, aber diese Schuld macht nicht dein ganzes Leben aus. Da du bereust und dir die Sache leidtut, sei dir geholfen, das Ganze so weit wie möglich rückgängig zu machen. Es soll dich nicht mehr ungebührlich belasten. Es ist dir vergeben. Fühle dich wieder unbelastet.

Und was Gott betrifft, er ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Erbarmen. Die Kirche kann dir zusichern: Du bist frei von Schuld, weil du dein Verhalten vor dem Ewigen als falsch erkannt und um Vergebung gebetet hast: Deine Sünden sind dir vergeben.“ Im Beichtgeschehen vollzieht sich dieser Weg.

Ein Schuldiger bekennt seine Schuld. Er äußert seine Reue. Er durchleidet sein Versagen, indem er sich anklagt. Dann wird ihm zugesagt: „Du bist nicht verurteilt, sondern du bist frei von Sünde. Gott, die höchste Autorität, verzeiht dir. Ich spreche es dir in seinem Namen zu.“ So wird ein Mensch frei. So darf er wissen: „Ich bin nicht mehr verdammungswürdig, ich habe wieder einen Wert, obwohl ich Schlimmes getan habe.“

IV. Die kirchliche Bußpraxis

Bei der ersten Erscheinung Jesu sagt – gemäß dem Johannesevangelium – er zu seinen Jüngern: Empfanget den Heiligen Geist. Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben (Joh 20,22-23). Zur Kirche gehören demnach wesentlich die Buße und damit die Sündenvergebung.

Um die Versöhnungsbereitschaft zu fördern und generell das Sündhafte abzuwehren, muss die Buße in der Kirche je neu geübt werden. Sie betrifft dort zunächst den Einzelnen, sollte aber auch die Gemeinschaft umfassen.

Nach dem II. Vatikanischen Konzil ist – angeregt durch das Konzil – im Jahre 1974 eine neue Ordnung erschienen unter dem Namen Ordo poenitentiae (AAS 66, 714-720). Dieser Ordo sagt Folgendes: Solange wir Menschen auf Erden sind, werden wir immer der Buße bedürfen, da wir Sünder sind. Sünden sind nicht von Priestern erfundene Einschränkungen des Lebens, wie Nietzsche meinte („Der Priester herrscht durch die Erfindung der Sünde“ – Der Antichrist, Werke Bd. 2, hrsg. K. Schlechta, München 1966, 121). Vielmehr entstehen sie überall dort, wo Menschen nicht nach dem Prinzip der Liebe und nach den Vorgaben des Evangeliums leben, denn um Liebe müssen wir uns stets mühen, und es gibt von Natur aus vorgegebene Dinge. Wer sie nicht einhält, der schadet sich selbst und er schadet den anderen. Allerdings sind diese Dinge nicht immer leicht zu erkennen, und sie sind auch nicht immer leicht einzusehen. Die Kirche ist verpflichtet, die Menschen darauf aufmerksam zu machen. Dies geschieht durch die Übung der Buße. Bei ihr soll uns bewusst werden, wie unser Leben verläuft, wo wir unsere Stärken, aber auch unsere Schwächen haben und vor allem, wo wir sündigen, das heißt uns von Gott abwenden. Dabei sollen wir uns bewusst machen, dass vor allem die Beziehungsebene betroffen ist, nicht in erster Linie die Ordnung. Was aber können wir tun, um von Sünden frei zu werden?

Der Ordo poenitentiae besagt: Buße ist zunächst eine innere Haltung. Sobald ich gemerkt habe, dass ich gegen Gott gesündigt und Unrecht getan habe, soll ich in mich gehen und meine Reue zum Ausdruck bringen. Dies können wir mit drei Mitteln tun: mit Fasten, Beten und Almosengeben. Vornehmlich in der Fastenzeit, aber auch in der Adventszeit und an jedem Freitag der Woche, sollen wir uns dessen bewusst werden. Wir sollen unser Gewissen erforschen und so evtl. Schuld ins Bewusstsein heben. So werden wir fähig, Sünden zu erkennen. Wir werden fähig, uns wirklichkeitsgerecht einzuschätzen, denn das ist die große Gefahr, dass ein Mensch sich über sich selbst täuscht. Selbst Mörder sehen oft nicht ein, dass sie Unrecht begangen haben. Sie halten sich für gerechtfertigt und ärgern sich nur, dass sie erwischt wurden. Viele Menschen sind sich ihrer Schuld nicht bewusst. Sie sind verbohrt. Ihnen muss deutlich gemacht werden: Ihr seid im Irrtum! Wenn ihr zu Gottes Söhnen und Töchtern gehören wollt, dann müsst ihr euch an die Vorgaben des Evangeliums halten, dann müsst ihr euch bekehren, dann müsst ihr Buße tun. Die Bußzeiten wollen also den Menschen helfen, sich selbst recht einzuschätzen und die eigenen Sünden zu erkennen – auch und gerade zu erkennen, was falsche Haltungen und Wünsche für Folgen haben. Dazu soll in den Bußzeiten, so sagt der Ordo poenitentiae, in Bußandachten hingewiesen werden.

Bußandachten sollen den Menschen helfen, über sich selbst nachzudenken und das Leben nüchtern anzuschauen. Zugleich sollen sie Sprachhilfen dafür geben, die eigenen Sünden zu erkennen bzw. zu formulieren. Vage Gefühle von Schuld können so ins Bewusstsein kommen. Auf diese Weise sind sie schon einmal ausgesprochen, wenn auch nicht vom Sünder selbst. Aber er kann sich sagen: „Ja, genau das ist es, was mich belastet.“ Und er kann dann wenigstens konkret Gott um Verzeihung bitten. Das ist also der Segen von Bußandachten.

Der eigentliche Höhepunkt der Buße ist aber nach wie vor die sakramentale Einzelbeichte. In ihr geschieht genau das, was den Menschen wirklich befreien kann. Wie sehr leidet mancher Mensch an seiner Schuld! Wie wenig helfen da Worte und gute Zusprüche. Im Inneren verkrampft sich alles, im Inneren ist ein Mensch nicht zufrieden. Er muss sich aussprechen können, er muss nachleiden dürfen, er muss Buße tun können, nur dann löst sich seine Seele. Und der Glaube an das Erbarmen Gottes lässt ihn neu in Freiheit leben. Das ist es, was die kirchliche Buße vermitteln möchte. Gott ist der Allerbarmer. Deshalb sollen wir die Buße „feiern“!

V. Die frohe Botschaft von der Vergebung

Die Bußpraxis funktioniert – auch – deshalb nicht mehr, weil es in unserer Kirche keine Buße im Sinne struktureller Kontrolle gibt. Zum Beispiel werden Unternehmungen und Aktivitäten nicht systematisch kontrolliert, und bei Schwierigkeiten wird eine Opposition nicht gehört oder zurückgedrängt. Anders gesagt: Der prophetische Zwischenruf hat keinen Ort, vor allem keinen wirksamen Ort. Die Frage, ob wir nicht alles evangeliumsgemäßer gestalten könnten, steht nicht im Raum. Die Kirche ist starr geworden. Deshalb lassen sich auch viele in ihr nicht bewegen. – Darum können wir nur uns selbst gegenüber in Opposition gehen – oder uns von Menschen, die uns kritisch anschauen, infrage stellen lassen. Denn nur, wenn wir immer wieder fragen, ob dies oder jenes dem Evangelium entspricht – und wenn wir uns prüfen, ob wir dem entsprechen, was wir als Gottes Willen erkannt haben – werden wir im Sinne unseres Gottes leben. Wir werden denen, die uns Unrecht getan haben oder die uns aufregen, verzeihen. Erst dann dürfen wir sicher sein, dass der Ewige uns verziehen hat. Dann können wir auch dem Wort des Beichtvaters glauben: Ego te absolvo („Ich spreche dich los“).

Die Buße ist ein sträflich vernachlässigter Teil unserer Pastoral. Dabei haben wir eine Botschaft, welche die Welt nicht kennt. Sie heißt: Es gibt eine Verzeihung. Wir sagen im Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an die Vergebung der Sünden.“ Und im Vaterunser bitten wir darum und versichern unserem Herrn, dass wir am Vergebungswerk mitwirken. Die Welt kennt keine Verzeihung, in ihr gibt es für allgemein anerkannte Vergehen „null Toleranz“! Dies soll es in der Kirche nicht geben. Schauen wir in die Passion des Lukas. Seine Kernbotschaft ist ja schon in der Kindheitsgeschichte in dem Satz formuliert: Christus, der Retter, ist da. Der Höhepunkt dieses Evangeliums ist zusammengefasst in der Begebenheit am Kreuz. Einer der Verbrecher, der neben Jesus am Kreuz hängt, bittet: Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst. Und der Herr antwortet ihm: Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein. Welch ein Wort! Sagen wir es mit unseren heutigen Begriffen: Jesus spricht einem Menschen zu, dass er gerettet ist, also in das Reich Gottes eingehen darf. Der erste Heilige der Kirche, der Erste, von dem wir wissen, dass er gerettet ist, war ein Verbrecher. Dismas hat ihn das Volk genannt. Ein Signal an die Welt ist diese Szene. Es gibt eine Vergebung, seit Christus gelebt hat. Und die Kirche muss diese Botschaft verkünden – und den Sündern vermitteln, denn wo es Vergebung gibt, da wird das Reich Gottes in der Welt sichtbar.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
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[1] Ludwig Mödl: Herr, lehre uns beten. Das Vaterunser. Geb., 144 S., ISBN 978-3-9454011-1-8, Euro 13,95 (D), Euro 14,40 (A). In jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag bestellen: Tel. 07303-9523310 Fax 07303-9523315 oder via E-Mail: buch@media-maria.de – Internet: www.media-maria.de

Symposium zum 10. Todestag

Theologie von Leo Scheffcyzk neu entdecken

Zehn Jahre nach seinem Tod fand in Bregenz ein erstes Symposium zur Theologie von Leo Kardinal Scheffczyk (1920-2005) statt. Unter dem Thema „Vermächtnis seines Denkens für die Gegenwart“ wurde es zu einer überzeugenden Einladung, sich neu mit seinem theologischen Erbe zu befassen. Beseelt vom Rahmen, den die Mitglieder der geistlichen Familie „Das Werk“ boten, eröffneten hochrangige Referenten aktuelle Zugänge zu den Schriften eines tiefgläubigen Denkers. Organisiert wurde das Symposium von Pater Dr. Johannes Nebel FSO, der in Bregenz den Nachlass des schlesischen Theologen verwaltet.

Von P. Johannes Nebel FSO

Leo-Scheffczyk-Zentrum in Bregenz

Auf dem Friedhof des Klosters Thalbach in Bregenz, einem Zentrum der geistlichen Familie „Das Werk“, hat Kardinal Leo Scheffczyk (1920-2005) seine letzte Ruhestätte gefunden. Nach seinem Heimgang am 8. Dezember 2005 wurde auch sein umfangreicher Nachlass nach Bregenz überführt. Daraus ist ein Leo-Scheffczyk-Zentrum entstanden, das die Sammlung aller seiner Publikationen und seine umfangreiche Privatbibliothek enthält. Der zehnte Todestag des großen schlesischen Theologen bot den Anlass, seinem Denken, das bisher im fachlichen Austausch noch zu wenig belichtet wurde, erstmals ein Symposium zu widmen.

So fanden sich vom 25. bis 27. September 2015 in Bregenz etwa 80 Personen ein, die mit Interesse den Ausführungen von insgesamt neun Referenten folgten. Unter den Anwesenden war auch der emeritierte Erzbischof von Köln, Joachim Kardinal Meisner, der als Hauptzelebrant und Prediger bei der Abschlussmesse der Veranstaltung mitwirkte.

Das Symposium verfolgte von vorneherein das Ziel, über den kleinen Kreis der bisherigen Weggefährten und Schüler Kardinal Scheffczyks hinaus qualifizierte Fachtheologen zu gewinnen, die sich bislang nur am Rande oder noch gar nicht mit dem Denken des Münchner Dogmatikers auseinandergesetzt hatten. So sollte darauf ein neues Licht fallen können, das die Beschäftigung mit dieser kirchlich verdienstvollen Theologie neu anregt und belebt.

Würdigung durch Joachim Kardinal Meisner

An der feierlichen Abschlussmesse mit Kardinal Meisner in der nahe gelegenen Stadtpfarrkirche St. Gallus nahmen etwa 20 Konzelebranten teil. Meisner hielt eine ergreifende Predigt, in der er das gläubige Lebenszeugnis Kardinal Scheffczyks eindringlich vor Augen stellte. Als Rahmengedanke diente ihm dazu der aus Bayern stammende Wunsch „Sei kreuzfidel“: Das Kreuz sei „das Plus-gewordene Minus der Welt durch den Einsatz Gottes“, weshalb jeder Christ berufen sei, „ein Plus-Typ zu sein“. Dies habe Kardinal Scheffczyk leuchtend vorgelebt. Für Scheffczyk gelte aber auch die dreifache Bedeutung von „fidel“: Er sei gläubig, treu und froh gewesen.

Außerdem führte Kardinal Meisner aus: „Die erste und wichtigste Aufgabe des Theologen besteht darin, dem Volke Gottes den Gehorsam gegenüber dem geoffenbarten Glauben zu erklären und vorzuleben. Darum handelte es sich bei Leo Scheffczyk in seiner Lehrtätigkeit … um die intellektuelle und betende Durchdringung der Offenbarung. Es war immer zuerst der Anruf Gottes an die Menschen, den er mit seinem Verstand ergründete und von dort in das eigene Herz weitergab, damit aus der Lehre Leben wird. Darum war seine Theologie so überaus fruchtbar und anregend. Leo Scheffczyk wusste in seiner intellektuellen Begabung und seiner tiefen Gläubigkeit, dass er nicht der Herr des Glaubens der Menschen ist, sondern dass er durch seine Berufung zur Theologie Diener des Glaubens im Volke Gottes ist. Und darum hat er sich redlich und lebenslang bemüht. Auch schwierigen Fragen des Glaubens, die das heutige Denken aufwerfen, ist er nicht ausgewichen, sondern versuchte redlich und ehrlich plausible Antworten zu geben.“

Bahnbrechende Bedeutung für die Rezeption seines Denkens

Der Gesamtrahmen der Tagung war beseelt von den Mitgliedern der geistlichen Familie „Das Werk“ und ließ die Teilnehmenden in herzlicher Gemeinschaftlichkeit das Kirche-Sein konkret erfahren. Unter den Hörern gab es Theologen, die gestanden, dank des Symposiums Scheffczyk richtig entdeckt zu haben. Aber auch Referenten gaben zu, einen neuen Zugang zu Scheffczyk gefunden zu haben.

Dem Symposium kommt für die Rezeption des Denkens Leo Scheffczyks eine bahnbrechende Bedeutung zu: Auf sehr reflektiertem Niveau wurde in facettenreicher Einmütigkeit ein über Jahrzehnte währendes Vorurteil (Scheffczyk sei Vertreter einer wenig weiterführenden Bindung an die Vergangenheit) überwunden. Die Erkenntnis der inneren Größe, der kirchlich gebundenen Modernität und der zukunftsweisenden Zeitgemäßheit dieses demütigen schlesischen Theologen wurde wissenschaftlich sichergestellt. Dies lädt nun alle ein, Kardinal Scheffczyks Schriften erneut zu lesen und daraus theologische Anregung und Orientierung für die Freude am Glauben zu gewinnen.

Wachstum und Vertiefung der kirchlichen Lehre

In diesem Sinn wurde das Symposium mit einem Vortrag über die heilsgeschichtliche Struktur der Theologie nach Leo Scheffczyk eröffnet: Wahrheit durch Geschichte. Referent war der emeritierte Augsburger Dogmatiker Prof. DDr. Anton Ziegenaus, ein Schüler und langjähriger Kollege Leo Scheffczyks. Anliegen von Prof. Ziegenaus war es, die heilsgeschichtliche Methode des Denkens Scheffczyks herauszustellen. Dazu ging er zunächst auf Scheffczyks Wertung des Alten Testaments ein: Es zeigt sich darin nämlich, dass bereits die biblische Offenbarung eine geschichtliche Entwicklung kennt. Diese Geschichtlichkeit setzt sich in der Wahrnehmung Scheffczyks und Ziegenaus‘ in der Zeit der Kirche fort, so dass es zu einer allmählichen Ausreifung der Glaubenslehre gekommen ist.

In seinem Vortrag bekannte sich Prof. Ziegenaus selbst „klar zur heilsgeschichtlichen Strukturierung der Theologie“. Ein von der Heilsgeschichte ausgehendes theologisches Denken ermögliche der Theologie „Lebendigkeit, Dynamik und Kreativität“. Dennoch war es Scheffczyk auch wichtig, das Bleibende der einmal erkannten und kirchlich bezeugten Glaubenswahrheit festzuhalten: „Gegenüber dem Trend, den Wechsel als solchen schon als Fortschritt zu betrachten, fordert Scheffczyk, dass der Wachstumsprozess zu einer Entwicklung oder Vertiefung führen muss. Wo dies nicht beachtet wird, könnte der Wechsel statt zum Fortschritt zum Ausverkauf des Glaubens führen.“ Prof. Ziegenaus resümierte seine Beobachtungen: „So war Leo Scheffczyk offen für Wandel, allerdings im Rahmen des theologisch Legitimen, und gehört zu den Wenigen aus der aktuellen Theologie, die zur Beurteilung des Wandels die Kriterien bereitgelegt haben.“

Referenten von breitem Spektrum

Als zweiter Referent behandelte der in der Erzdiözese Chicago (Michigan/USA) lehrende Prof. Dr. Imre von Gaál die Doktorarbeit Leo Scheffczyks über die Überwindung der Aufklärung in der Kirchengeschichtsschreibung. Prof. von Gaál kam zu folgendem Ergebnis: „Die Doktorarbeit über Stolbergs Geschichtswerk erbringt Scheffczyks gesamtem weiteren Denken und Lebenswerk eine entscheidende Grundlage und Charakteristik ein: den wissenschaftlich fundierten Abstand (davon) …, den Glauben idealistisch aus der ,Idee des Christentums‘ zu destillieren und somit den Glauben unter einem System zu subsumieren.“

Anschließend kam mit Prof. Harald Seubert ein evangelischer Philosoph und Theologe zu Wort. Der hoch gebildete Wissenschaftler wandte sich einem zentralen Buch Leo Scheffczyks zu: „Katholische Glaubenswelt. Wahrheit und Gestalt“. Darauf stimmte Prof. Seubert in eindringlichem Ton eine einzige Lobrede an, die ihn unter anderem veranlasste, Leo Scheffczyk auf dem Niveau eines Romano Guardini oder Hans Urs von Balthasar zu würdigen: Doch „Scheffczyk rang nicht wie die beiden anderen Genannten mit der katholischen confessio (dem Bekenntnisglauben)“. In Scheffczyks „leisem, hoch rationalem An- und Hinnehmen (des Glaubens) als Selbstverständnis könnte gerade die Kraft seines katholischen Denkens liegen. Scheffczyks Denken ist … geradezu prädestiniert, die vermeintliche Leitunterscheidung von ,progressiv‘ und ,konservativ‘ hinter sich zu lassen, in einer Gefügtheit, wie sie in Weite und zugleich konstanter Orientierung an der katholischen Wahrheit wenigen Denkern gegeben war, vielleicht noch Kardinal Newman und Papst Benedikt XVI.“ – so Prof. Seubert.

Im weiteren Verlauf der Veranstaltung ging der Augsburger Dogmatiker Prof. DDr. Thomas Marschler auf die trinitarische Gotteslehre bei Leo Scheffczyk ein, und der Freiburger Ordinarius für Dogmatik und Liturgiewissenschaft, Prof. Dr. Helmut Hoping, wandte sich unter dem Thema „Die Auferstehung Jesu und das Geheimnis seiner Person“ Aspekten seines christologischen Denkens zu. Auch Scheffczyks Gnadenlehre, seine unentdeckte frühe Lyrik und seine Persönlichkeit kamen auf dem Symposium mit qualifizierten Beiträgen zur Sprache.

Prof. Dr. Veit Neumann, Pastoraltheologe in Sankt Pölten, beleuchtete eine weniger bekannte Seite des Wirkens Leo Scheffczyks, nämlich seine frühen Studien zur christlichen Literatur, deren Sprache er mit dem späteren dogmatischen Stil Scheffczyks verglich. Er stellte fest: „Die Sprache seiner theologisch gefassten Literaturbetrachtung findet in der Welt seiner dogmatischen Schriften keinen Gegensatz dazu, findet vielmehr ihre organische Weiterführung. … Sanftheit, Sensibilität und Souveränität bei der Beherrschung der Materie sind bei ihm wie so vieles kein Gegensatz, wie auch Menschenfreundlichkeit und Kritik bei Scheffczyk zwei Seiten einer sprachlichen Medaille sind.“

Der in Lugano lehrende Dogmatiker Prof. Dr. Manfred Hauke, Schüler von Leo Scheffczyk und auch von Anton Ziegenaus, behandelte die Mariologie im Wirken von Leo Scheffczyk und kam dabei zu wertvollen Feststellungen: „Scheffczyk hat sich nicht auf die dogmatische und dogmengeschichtliche Forschung im strikten Sinne beschränkt, sondern stets die Seelsorge und die Verbindung zum gelebten Glauben im Blick gehabt.“ Er „hat auch den Mut gehabt, das Thema der Marienerscheinungen aufzugreifen, ohne dabei die Feindseligkeit eines großen Teiles der akademischen Öffentlichkeit zu fürchten und ohne in die Leichtgläubigkeit schwarmgeistiger Pseudomystik zu verfallen“. So blieb Scheffczyk „stets den einfachen Menschen und den konkreten Anforderungen der Pastoral nahe“.

Theologisches Verdienst Scheffczyks

Insgesamt gesehen kommt Kardinal Leo Scheffczyk das Verdienst zu, in Jahrzehnten eines umfassenden gesellschaftlichen, kirchlichen und theologischen Wandels der katholischen Dogmatik Wege innerer Erneuerung und zeitgemäßer Aktualisierung erschlossen zu haben, ohne dafür – im Unterschied zu den meisten anderen namhaften Theologen des 20. Jahrhunderts – die Notwendigkeit eines markant intendierten gedanklichen Neuaufbruchs in Anspruch zu nehmen. Vielmehr zeichnet sich Scheffczyks Denken durch das Bemühen aus, in geradlinig-bruchloser Kontinuität zu früheren (patristischen und scholastischen) Paradigmen zu arbeiten, dabei aber stets die Transparenz auch für die biblische Offenbarungsgrundlage neu zu erschließen. Die hiermit angesprochenen Eigenarten hat er selbst auch methodisch reflektiert. Kennzeichnend ist sein Selbstzeugnis im Vorwort seines klassischen Buches „Katholische Glaubenswelt“ (Paderborn 32008): „Der Verfasser (möchte) für sich beanspruchen, dass er weder ,rechts‘ noch ,links‘ steht, sondern dass er geht, sogar weitergeht, aber auf dem Wege, den die ,Catholica‘ bisher auch gegangen ist.“

In einer Zeit, in der umgreifender Pluralismus und rascher Wechsel der Meinungen dominieren, andererseits aber auch eine zunehmende Polarisierung von Einzelstandpunkten stattfindet, wird eines der zentralen Forschungsanliegen Leo Scheffczyks immer aktueller, nämlich das innere Wesen dessen, was „katholisch“ („allumfassend“) ist, in hoher wissenschaftlicher Reflexion und zugleich in spiritueller Relevanz dargestellt zu haben. Dies lädt nun alle ein, Kardinal Scheffczyks Schriften erneut zu lesen und daraus theologische Anregung und Orientierung für die Freude am Glauben zu gewinnen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
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Der Einsatz der Kirche für die Jugend (Teil VI)

„Ihr seid die Architekten der Zukunft!“

Nachdem Kurienbischof Dr. Josef Clemens in seinem Vortrag über die Bedeutung der Weltjugendtage ausführlich den Einsatz von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. behandelt hat, geht er nun auf Papst Franziskus ein. Dutzende von Stellungnahmen und Äußerungen bei Begegnungen mit Jugendlichen beweisen, dass sich Franziskus „sehr einmütig in das Denken und die Absichten seiner Vorgänger einreiht – bis hin zu den benutzten Begriffen und Formulierungen“, so Clemens. Er hebe den „jugendlichen Enthusiasmus“ als wertvollen Schatz für die Kirche hervor und betrachte die Jugendlichen als „Träger der Freude und der Hoffnung“. Der Papst macht uns deutlich: Wir brauchen die Jugend, denn vor ihr hängt die Zukunft ab.

Von Bischof Josef Clemens, Rom

Drei Worte: Freude, Kreuz, Jugend

Die Feier des diözesanen XXVIII. Weltjugendtages am Palmsonntag, den 24. März 2013, bot Papst Franziskus – fünf Tage nach seinem feierlichen Amtsantritt – die willkommene Gelegenheit, um sich in seiner Predigt an die versammelten Jugendlichen zu wenden.[1] Der Papst bemerkt voll Zufriedenheit ihre Freude und ruft ihnen zu: „Ihr spielt eine wichtige Rolle beim Fest des Glaubens! Ihr bringt uns die Freude des Glaubens und sagt uns, dass wir den Glauben mit einem jungen Herzen leben müssen, immer: mit jungem Herzen, auch mit siebzig, achtzig Jahren! Ein junges Herz! Mit Christus wird das Herz niemals alt!"[2]

Der Papst bleibt jedoch nicht bei diesen Bemerkungen über die jugendliche Begeisterung stehen, sondern – ausgehend von der Palmprozession – kommt er direkt zum Kern der Heiligen Woche: „Doch wir alle wissen – und ihr wisst es sehr wohl –, dass der König, dem wir folgen und der uns begleitet, ein ganz besonderer König ist: ein König, dessen Liebe bis zum Kreuz geht und der uns lehrt zu dienen, zu lieben. Und ihr schämt euch des Kreuzes nicht! Nein, Ihr bekennt euch zu ihm, denn ihr habt begriffen, dass in der Selbsthingabe – im Verschenken des eigenen Selbst, im Herausgehen aus sich selbst – die wahre Freude liegt und dass Er mit der Liebe Gottes das Böse überwunden hat."[3]

Es überrascht, wie sich der Papst bereits in dieser ersten Rede und in seinen unzähligen weiteren Stellungnahmen zum Thema Jugend sehr einmütig in das Denken und die Absichten seiner Vorgänger einreiht – bis hin zu den benutzten Begriffen und Formulierungen![4] In der erwähnten Predigt vom Palmsonntag 2013 lädt er die Jugendlichen zur Teilnahme am Weltjugendtag ein, aber er ermahnt sie zugleich, sich geistlich gut auf diese Begegnung vorzubereiten, und übermittelt ihnen eine genaue Botschaft: „Die jungen Menschen müssen der Welt sagen: Es ist gut, Jesus zu folgen; es ist gut, mit Jesus zu gehen; gut ist die Botschaft Jesu; es ist gut, aus sich herauszugehen, bis an die Grenzen der Erde und der eigenen Existenz, um Jesus zu bringen! Drei Worte: Freude, Kreuz, Jugend."[5]

Fünf Schwerpunkte in der Jugendpastoral

Die bisher von Papst Franziskus angesprochenen Themen im Bereich der Jugendpastoral lassen sich in den folgenden Stichpunkten zusammenfassen:

(1) Die Wiederbelebung der in den Sakramenten empfangenen Gaben.

(2) Die Notwendigkeit einer humanen und geistlichen Formation.

(3) Die Bedeutung der christlichen Hoffnung und Freude.

(4) Der notwendige Mut, gegen den Strom zu schwimmen und sich bemerkbar zu machen („Wirbel machen“).

(5) Die Überwindung einer Wegwerfkultur, einer Kultur des Provisorischen und der Ausgrenzung von Jungen und Alten.

(6) Der Aufbau einer besseren Welt des Friedens und der Einheit.

Die Spendung der Firmung am 28. April 2013 bietet dem Papst die Gelegenheit, die Firmlinge zu ermahnen, die empfangenen Gaben des Hl. Geistes im Alltag aktiv werden zu lassen. Mit besonderer Emphase ermuntert er sie, in der Kraft des Herrn „gegen den Strom zu schwimmen“ und sich von niemand und von nichts einschüchtern zu lassen. Zugleich lädt er sie ein, in ihrem Leben auf die großen Ideale, auf die großen Dinge zu setzen.[6]

Bezeichnend sind die Worte des Papstes bei einer Audienz für jugendliche Pilger aus der Diözese Piacenza-Bobbio in der Basilika von St. Peter: „Bitte, schwimmt gegen den Strom. Seid mutig: Gegen den Strom schwimmen! … Gegen den Strom schwimmen; und das heißt Krach machen, vorangehen, aber mit den Werten der Schönheit, der Güte und der Wahrheit."[7]

In seiner für die Begegnung mit den Studenten und Dozenten der Jesuitenschulen vorbereiteten Rede am 7. Juni 2013 stellt Papst Franziskus die Wichtigkeit der geistlichen Bildung heraus. Die in der Schule zu lernende Hauptsache ist nach dem hl. Ignatius von Loyola die mit der inneren Freiheit und der Bereitschaft zum Dienst verbundene Großherzigkeit („magnanimitas“). Und dieses Ziel erfordert eine geistliche Bildung. Der Papst ermahnt die Jugendlichen, Jesus Christus immer mehr zu lieben als Antwort auf seine Liebe und seinen Ruf.[8]

In seinen frei gesprochenen Worten wiederholt er den Aufruf des hl. Ignatius zur Großherzigkeit, ein großes Herz ohne Angst zu haben: „Und es ist wichtig, diese Großherzigkeit mit Jesus zu finden, in der Betrachtung Jesu. Jesus ist derjenige, der uns die Fenster zum Horizont hin öffnet. Großherzigkeit bedeutet, mit Jesus zu gehen, mit dem Herzen darauf zu achten, was Jesus uns sagt."[9]

Lasst euch die Hoffnung nicht rauben!

Eine Jugendliche bittet um ein stärkendes Wort an die Jugend angesichts der gegenwärtigen Krise. Der Papst sieht in dieser Krise eine Chance und er interpretiert sie hauptsächlich als eine Krise des „Humanum“, weil der Wert der menschlichen Person in Frage steht, den wir zu verteidigen haben. Der Mensch muss sich von den ihn versklavenden ökonomischen und sozialen Strukturen befreien.[10]

Ein Student erwartet vom Papst angesichts der in der Welt so verbreiteten Not ein Wort der Hoffnung. Der Papst antwortet ihm: „Vor allem möchte ich euch allen, allen jungen Menschen sagen: Lasst euch die Hoffnung nicht rauben! Bitte, lasst sie euch nicht rauben! Und wer raubt dir die Hoffnung? Der Geist der Welt, die Reichtümer, der Geist der Eitelkeit, der Hochmut, der Stolz. … Wo finde ich die Hoffnung? Im armen Jesus, in Jesus, der für uns arm geworden ist. … Die Armut ruft uns auf, Hoffnung zu säen, damit auch ich mehr Hoffnung habe. … Man kann nicht über Armut sprechen, über abstrakte Armut, die gibt es nicht! Die Armut ist das Fleisch des armen Jesus, in dem Kind, das Hunger hat, in dem, das krank ist, in den Sozialstrukturen, die ungerecht sind. … Der junge Mensch muss auf hohe Ideale setzen – das ist der Rat. Aber wo finde ich die Hoffnung? Im Fleisch des leidenden Jesus und in der wahren Armut. Es gibt eine Verbindung zwischen beiden."[11]

In diesen Zusammenhang gehört sein Aufruf zur Befreiung von allem Überflüssigen und zu einer Kehrtwendung zur Wesentlichkeit: „Versucht vor allem, den Dingen gegenüber frei zu sein. Der Herr ruft uns zu einem evangeliumsgemäßen, schlichten Lebensstil und ermahnt uns, nicht der Kultur des Konsums zu erliegen. Es geht darum, die Wesentlichkeit zu suchen, zu lernen, viel Überflüssiges und Unnötiges, das uns erstickt, abzulegen. Kommen wir von der Habgier los, vom vergötterten und dann verschwendeten Geld. Geben wir Jesus den ersten Platz. Er kann uns von den Vergötterungen befreien, die uns zu Sklaven machen. Vertraut auf Gott, liebe junge Freunde! Er kennt uns, er liebt uns und vergisst uns nie!"[12]

Verlangen nach dem Schönen, Guten und Wahren

In einer Begegnung mit Jugendlichen aus der italienischen Diözese Piacenza-Bobbio erklärt der Papst, warum er gerne mit jungen Menschen zusammentrifft, und bemerkt dazu in gedanklicher Einheit mit Johannes Paul II.: „Weil ihr eine Verheißung der Hoffnung in euren Herzen tragt. Ihr seid Hoffnungsträger. Ihr lebt in der Gegenwart, das ist wahr, aber mit einem in die Zukunft gerichteten Blick. … Ihr seid die Architekten der Zukunft, Handwerker, die die Zukunft aufbauen. … Warum? Weil ihr das Verlangen nach drei Dingen in euch tragt:

Das Verlangen nach Schönheit. … Das war das Erste. Zweitens: Ihr seid Propheten des Guten. Ihr liebt das Gute, das Gutsein. Und diese Güte ist ansteckend, sie hilft allen anderen Menschen. Und ihr habt auch – drittens – Durst nach der Wahrheit: die Wahrheit suchen. … (Aber) die Wahrheit besitzt man nicht, wir tragen sie nicht mit uns herum, man begegnet ihr. Das ist eine Begegnung mit der Wahrheit, die Gott ist, aber man muss nach ihr suchen. Und diese drei Verlangen, die ihr im Herzen tragt, müsst ihr mitnehmen, in die Zukunft, und dann die Zukunft mit Hilfe der Schönheit, der Güte und der Wahrheit aufbauen. … Denkt immer daran: auf ein großes Ideal setzen, das Ideal: eine Welt der Güte, der Schönheit und der Wahrheit zu errichten. Das ist etwas, das ihr vollbringen könnt, es steht in eurer Macht, das zu vollbringen."[13]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
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[1] Vgl. Franziskus: Predigt bei der Eucharistiefeier am Palmsonntag, XXVIII. Weltjugendtag, Petersplatz, 24. März 2013, in: O.R. dt., Nr. 13, 29. März 2013, 2.
[2] Franziskus: Predigt Palmsonntag 2013, 2; Franziskus: Ansprache bei der Begegnung mit den Jugendlichen der Region Molise, Castelpetroso, 5. Juli 2014, in: O.R. dt., Nr. 29, 18. Juli 2014, 7.
[3] Franziskus, Predigt Palmsonntag 2013, 2.
[4] Bis zum 18. April 2015 hat Papst Franziskus 63 Stellungnahmen zum Thema „Jugend“ abgegeben, d.h. in vier Dokumenten (im Schreiben EG, die beiden Botschaften zum WJT 2013 und 2014, in der Bulle zum Hl. Jahr der Barmherzigkeit), in zehn Predigten, drei Grußworten beim Angelus-Gebet und in 46 Ansprachen.
[5] Franziskus: Predigt Palmsonntag 2013, 2.
[6] Vgl. Franziskus: Predigt während der Eucharistiefeier auf dem Petersplatz, 28. April 2013, in: O.R. dt., Nr. 18, 3. Mai 2013, 7; Franziskus: Predigt bei der Adventsvesper mit den Studenten der römischen Universitäten in der Petersbasilika, 30. Nov. 2013, in: O.R. dt., Nr. 50, 13. Dez. 2013, 7.
[7] Franziskus: Ansprache bei der Audienz für jugendliche Pilger aus der Diözese Piacenza-Bobbio, Basilika von St. Peter, in: O.R. dt., Nr. 36, 6. Sept. 2013, 3.
[8] Vgl. Franziskus: Improvisierter Dialog in der Sonderaudienz für die Schüler und Erzieher der von Jesuiten geführten Schulen in Italien und Albanien, Audienzhalle Paul VI., 7. Juni 2013, in: O.R. dt., Nr. 25, 21. Juni 2013, 9.
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Ebd.; vgl. Franziskus: Willkommensfeier beim WJT in Rio, Copacabana, 25. Juli 2013, in: O.R. dt., Nr. 32/33, 9. Aug. 2013, 12; Franziskus: Ansprache bei der Begegnung mit Jugendlichen in Cagliari, Largo Carlo Felice, 22. Sept. 2013, in: O.R. dt., Nr. 40, 4. Okt. 2013, 7; vgl. auch Franziskus, Enzyklika „Lumen Fidei“ über den Glauben, 29. Juni 2013, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 193, Bonn 2013, Nr. 53.
[12] Franziskus: Botschaft zum XXIX. Weltjugendtag 2014, 21. Jan. 2014,  in: O.R. dt., Nr. 51/52, 20. Dez. 2013, 4 f., 4.
[13] Franziskus: Ansprache Jugendliche Piacenza-Bobbio, 3; vgl. Franziskus: Ansprache während der Göttlichen Liturgie in der Patriarchatskirche St. Georg, Phanar, 30. November 2014, in: O.R. dt., Nr. 49, 5. Dez. 2014, 1.8, 8.

Die vier Marianischen Dogmen (4)

Maria Immaculata Conceptio (Teil II)

Im zweiten Teil ihrer Darstellung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens betont Anna Roth vor allem den Plan Gottes, der sich in diesem Geheimnis offenbart. Maria muss von Gott her verstanden werden, er hat sie für das Werk der Erlösung auf einzigartige Weise auserwählt. So ist sie die „Vorerlöste“ und zugleich die „Vollerlöste“, das Vorbild aller Erlösung.

Von Anna Roth

Am 8. Dezember 1854 verkündete der sel. Pius IX. das Dogma der Unbefleckten Empfängnis. Der Wortlaut ist wie folgt: „Zur Ehre der heiligen und unteilbaren Dreifaltigkeit, zur Zierde und Auszeichnung der Jungfrau und Gottesgebärerin, zur Erhöhung des katholischen Glaubens und zum Wachstum der christlichen Religion, kraft der Autorität unseres Herrn Jesus Christus, der seligen Apostel Petrus und Paulus und unserer (eigenen) erklären, verkünden und definieren wir, dass die Lehre, welche festhält, dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde, von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und beständig zu glauben ist."[1]

Der überzeitliche Plan Gottes

Die Ausgangsbasis für die Dogmatisierung ist die Erkenntnis, dass der Herr, Gott selbst, mit Maria einen Plan hat. Dieser Plan greift einerseits in die Weltgeschichte hinein und andererseits weist dieser Plan über die Weltgeschichte hinaus, d.h. dieser Plan Gottes hat seine Gültigkeit jenseits von Raum und Zeit. Diese Aussage weist direkt auf Gott hin, denn nur er allein kann Verfügungen jenseits allen irdischen Geschehens, aller Ontologie, aller Seinheit setzen.

Auch das Dogma von der Immerjungfrau, d.h. dass Maria vor – in – nach der Geburt Jungfrau war und blieb, bereitete schon die Basis bzw. den Boden für die Immaculata conceptio.

Und zur leiblichen Jungfräulichkeit Marias gehört auch die geistige Jungfräulichkeit, d.h. die innere Bereitschaft, ganz Christus zu folgen, d.h. die Ganzhingabe in den Willen Christi.

Die Willensfreiheit Marias

So gehört zur Thematik der Unbefleckten Empfängnis die Frage nach der Willensfreiheit Marias. Wie war es um die Willensfreiheit Marias bestellt? Konnte Maria sich aufgrund ihrer Unbeflecktheit überhaupt frei entscheiden, oder war sie aufgrund ihrer Sündenlosigkeit so in die Heiligkeit Gottes hineingenommen, dass sie gar nicht anders konnte – als „ja“ sagen?

Karl Rahner geht bei seinen Überlegungen erst von dem normalen Menschen aus und betont, normalerweise ist der Mensch in sich gespalten, d.h. da ist die Unfähigkeit des Sünders im Guten wie im Bösen, ganz er selbst zu sein. Denn es gibt da die Gespaltenheit zwischen der Natur und der Person. Diese Gespaltenheit ist durch die erste Sünde in die Welt gekommen und wird durch jede weitere Sünde erneuert bzw. vertieft.[2]

Paulus greift diese Thematik im Römerbrief auf und bemerkt: „Das Wollen liegt mir nahe, aber das Vollbringen nicht. Ich tue ja nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich."[3]

So ist das bei uns Menschen, bedingt durch die Erbsünde bzw. Ursünde, d.h. wir bewegen uns immer in der Versuchung, das zu tun, was wir im Prinzip, d.h. von unseren Vorsätzen her, nicht wollen. Wir befinden uns also immer in einem inneren Kampf zwischen Gut und Böse.

Jedoch bei Maria war dies anders, denn Maria, die Unbefleckte, befand sich immer vollkommen in der Freiheit des Willens. Sie befand sich nicht in der Gebrochenheit des Willens wie wir.[4]

Identisch mit dem Willen Christi

Folglich kann durch die Sündenlosigkeit Marias die Aussage getroffen werden, dass Marias Wille identisch – gleichförmig – ist dem Willen Jesu. Maria kann nicht in Konkurrenz zu Jesus treten. Denn durch ihre absolute Reinheit will sie nichts anderes wollen als den Willen Jesu wollen. Denn durch ihre Unbeflecktheit konnte sie in vollkommener Weise ihrem eigenen Willen entsagen, um nur dem Willen ihres göttlichen Sohnes zu entsprechen.

D.h. nicht, wie schon erwähnt, dass Maria keinen freien Willen hatte oder in ihrem freien Willen eingeschränkt gewesen wäre, nein – die Aussage bezieht sich stringent, konkret auf die Sündenlosigkeit Marias, d.h. ihr Wille war nicht gebrochen, so wie unser Wille, sondern ihr Wille war ungebrochen.

Erlösungsbedürftigkeit Marias

Wir merken, von der Immaculata sprechen, heißt auch immer von der Gottesmutter sprechen, denn die Gottesmutterschaft ist der tragende Grund der Immaculata. Alle marianischen Dogmen stehen in einer Beziehungsebene zueinander und natürlich auch in einer Beziehungsebene zu Christus. Aber – da ist noch die Kontroversdiskussion um den Begriff der Unbefleckten Empfängnis zwischen dem Dominikaner Thomas von Aquin und dem Franziskaner Duns Skotus.

Duns Skotus prägt den Begriff der Vorhererlösung , d.h. es geht um die Gnade,  die aufgrund des Erlösungswerkes Jesu Christi fließt, dass sie schon zuvor auch wirksam werden kann und nicht nur im Nachhinein, denn Maria musste wie alle Menschen erlöst werden. Thomas von Aquin geht davon aus, dass die Gnade der Unbeflecktheit Marias erst bei ihrer Geburt stattfand. Grund für diese Sicht war die Erlösungsbedürftigkeit Marias, die sie mit allen anderen Geschöpfen gemein hatte.

Sowohl Thomas von Aquin als auch Duns Skotus gehen davon aus, dass „das Wesen der Erbsünde im Fehlen der dem Menschen eigentlich geschuldeten Urgerechtigkeit“ liegt.[5] Die Menschwerdung des Logos ist Gottes Plan, ist Wille Gottes.[6] So ist Maria und folglich ihre Gottesmutterschaft schon von Anfang an, d.h. vor aller Zeit, von Gott beschlossen. Hieraus leitet Skotus ab, „dass alle übrige Schöpfung, die Engel eingeschlossen, Maria untergeordnet ist. Nach Christus nimmt sie, als seine Erwählte, im Heilsplan Gottes die zweite Stelle ein. Diese Einordnung in die absolute Inkarnation (führt dazu, dass Skotus) von der voraus greifenden Erlösung und Heiligung Marias“ sprechen kann.[7]

Endgültige Entscheidung des Lehramts

Die Tradition stand erst auf der Seite von Thomas v. Aquin. „Bis zur endgültigen Entscheidung des Lehramtes verging noch eine lange Zeit“, mehrere Jahrhunderte.[8] Duns Skotus aber setzte sich nach und nach durch mit dem Begriff der Vorhererlösung Marias, den er prägte. Die Zahl der Befürworter für die Unbefleckte Empfängnis wurde immer größer, so dass die Zeit für die Dogmatisierung reif schien, und unterstützt durch die breite Zustimmung des Episkopates und im Kontext der großen Marianischen Bewegung des 19. Jahrhunderts konnte die Dogmatisierung abgeschlossen werden.[9]

Konkretisierend können wir den Erlösungsweg Christi in vier Schritten aufzeigen. Das heißt also: Der Erlösungsweg Christi (1) eröffnet sich im Mutterschoß der hl. Anna bei der passiven Empfängnis Marias, (2) aktiviert sich in der Herabsteigung des Logos zur Inkarnation in Maria, (3) vollzieht sich am Kreuz und (4) vollendet sich triumphierend mit der Auferstehung Christi.

Die „Vorherbewahrung“ Marias

Wenden wir uns noch einmal kurz der Vorherbewahrung Marias zu: Maria lebte von vornherein durch die Vorherbewahrung in einem gewonnenen Freisein, d.h. in einem gewonnenen Freisein von der Sünde. Es handelt sich bei Maria nicht um eine Reinigung von einem Makel, denn sie war von Anfang an frei von allem Makel der Sünde. Aber Marias Freiheit von der Sünde ist bei ihr nicht naturgegeben wie bei Christus, denn Jesus Christus war naturhaft ohne Sünde, Maria aber personhaft, d.h. ihre Person stand in diesem Gnadenprivileg. Aber Maria konnte nur von der Sünde vorherbewahrt werden durch Jesu rettendes Blut, d.h. Jesus ist auch für Maria gestorben. Alle ihre Gnaden verdankt Maria dem Erlösertod Christi.[10]

Der Dogmatiker Scheeben hat diese Aussagen noch einmal konkretisiert, indem er festhält, dass das ganze Sein der Gottesmutter Maria nur wesenhaft vom fleischgewordenen Gottessohn her bestimmt werden darf. Maria kann nicht erst als dieses konkrete Menschenkind angesehen werden, das dann zur Mutter des Herrn erwählt wird. Maria ist einzig und allein ins Dasein gesetzt, um Mutter Christi und Gehilfin des Erlösers zu sein, denn der Logos musste aufgrund der Erlöseraufgabe Fleisch aus der Stammwurzel Adams tragen.

Deshalb konnte nur eine echte volle Tochter Adams seine Mutter werden. Darum musste Maria, die einerseits dem Logos angegliedert war, andererseits auch dem sündigen Adam angegliedert werden. Das bedeutet aber keineswegs, dass Maria in Adam mitgesündigt hat. Denn, wie zuvor schon erwähnt, war Maria von jedem Makel der Erbsünde frei.

Marias völlige Sündenfreiheit

Marias Angliederung an Adam ist ihrer Angliederung an Christus untergeordnet. So war also die Jungfrau wesenhaft dem Logos angegliedert. Deshalb musste sie nicht nur bei ihrem passiven Empfangenwerden im Schoß der Mutter Anna, sondern während ihres gesamten irdischen Lebenslaufs vor jeder Befleckung bewahrt bleiben, also frei von Sünde bleiben.[11]

So kann festgehalten werden, dass in Maria schon während ihres irdischen Lebens die totale, absolute Reinheit von der Sünde und die Vollkommenheit der Gerechtigkeit verwirklicht war, die normalerweise bei allen anderen Menschen erst nach deren Tod verwirklicht wird. Die innere Gnade, die bei Maria die Freiheit von aller Sünde bewirkte, war eine höhere Gnade als bei den Engeln und, da die Gnade der Gottesmutterschaft Maria das Sündigen unmöglich machte, besaß sie zugleich eine höhere Reinheit von der Sünde als die Engel. Bezugnehmend hierauf besaß Maria den höchsten Grad oder die höchste Form der Reinheit von der Sünde, die man sich in einer bloßen Kreatur denken kann.[12]

Quellgrund des Erlöserblutes und seine vollkommenste Frucht

Gott wollte sein Menschsein aus einem Menschen, aus einer Frau annehmen.[13] Er hat also, indem er Maria diese große Ehre erwies, dem gesamten weiblichen Geschlecht und der ganzen Menschheit ein großes Gnadengeschenk erwiesen. Und das hat Maria allen Menschen voraus, dass das Erlöserblut ihrem Körper entnommen wurde. Das heißt, Maria ist der Quellgrund des Erlöserblutes.

Die Unbefleckte Empfängnis ist das kostbarste Zeichen des Triumphes Christi. Maria ist nicht nur die Erlöste, sondern die erste aller Erlösten und das unerreichte Vorbild aller Erlösung. Maria weiß um ihr Erlöstsein und sie dankt dem Herrn unaufhörlich für ihre Erlösung. So ist Marias Sündenreinheit für uns alle Inhalt unserer Hoffnung in Jesus Christus.

Maria – die große Immaculata conceptio, die Unbefleckte Empfängnis, hat eben durch ihre Unbeflecktheit bei Gott alle Macht. Ich glaube, so können wir besser begreifen, dass Maria wirklich für uns Menschen bei Gott alles erreichen kann, dass sie alle Gnaden für uns bei Ihm erbitten kann. Und das heißt doch, dass wir wirklich alle Sorgen der Mutter anvertrauen können. Deshalb ist es zum vollen Verstehen so wichtig, Maria von ihrer besonderen Auserwählung von Gott her zu betrachten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
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[1] DH 2005, 2803.
[2] Vgl. Karl Rahner in: Menke: „Fleisch geworden aus Maria“, Pustet, Regensburg 1999, 141.
[3] Röm 7,18f.
[4] Vgl. Karl Rahner, a.a.O., 140f.
[5] Franz Courth: Maria, die Mutter des Herrn, Theol. Hochschule Vallendar 1991, 81; in: Anna Roth: Maria Ihre Christozentrik im Spiegel der Theologie, Tectum Marburg 2008, 27.
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. ebd.
[8] Gerhard Ludwig Müller: Katholische Dogmatik, Herder 2003, 505.
[9] Vgl. ebd.
[10] Paul Sträter S.J.: Maria in der Glaubenswissenschaft, Schöningh, Paderborn 1947, Bd. 2, 117f.
[11] Vgl. Matthias Joseph Scheeben: in Paul Sträter S.J., a.a.O., 123f.
[12] Vgl. Scheeben/Feckes: Die bräutliche Gottesmutter, Fredebeul & Koenen, Essen 1951, 160.
[13] Vgl. Gerhard Ludwig Müller: Maria – die Frau im Heilsplan Gottes, Pustet, Regensburg 2002, Mariologische Studien Bd. XV., 227.

Jugendforscher analysiert Mädchen im Netz

Im Bann permanenter Interaktion

Dr. Martin Voigt (geb. 1984, Halle/Saale) promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Arbeit über „Mädchenfreundschaften unter dem Einfluss von Social Media“ und betreute für die Bundespolizei das Präventionsprojekt „Selfies im Gleisbett“. 2015 wurde Martin Voigt (Bild) für seine Beiträge in der F.A.Z. mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis ausgezeichnet. Sein aktuelles Buch „Mädchen im Netz: süß, sexy, immer online“ fokussiert die Lebenswelt einer Generation, die sich zunehmend an Gleichaltrigen orientiert und trotz ihrer Suche nach Individualität auffallend schematische Selbstinszenierungen präsentiert. Eltern und Erzieher sind gefordert.[1]

Von Werner Schiederer

Mädchen sind besonders „aktiv“

Martin Voigt beschreibt in seinem aktuellen Buch die Lebenswelt einer Generation, die mit sozialen Medien aufwächst. Längst unterscheiden Schüler nicht mehr in eine online- und eine offline-Realität. So wie sie sich auf Facebook & Co inszenieren, wollen sie von ihren Freunden auch wahrgenommen werden. Dass neue Medien das Sozialverhalten von Teenagern beeinflussen, ist allerdings nicht Voigts Schlussthese, sondern sein Ansatzpunkt. Das erste Mal entsteht für die Jugendforschung die Situation, dass eine gesamte Altersgruppe ihre Selbstbilder, ihre Stimmungen und ihre sozialen Strukturen im Schulalltag öffentlich präsentiert.

Zahllose Selbstdarstellungen wirken wie eine Suche nach emotionalem Halt und Beachtung: Das Smartphone wird besonders für Mädchen zur Nabelschnur in ihre schulische Kuschelgruppe. 14-jährige Mädchen machen reihenweise Selfies mit Kussmund, groß geschminkten Kulleraugen und Dekolleté, um in ihrer Clique als süß und sexy zu gelten. Deutlich sind die Einflüsse der nur wenige Klicks entfernten Porno-Angebote zu spüren. Voigt entschlüsselt die Symptomatik einer Verwahrlosungstendenz, vor der Christa Meves lange gewarnt hat.

Teenager, die in Ganztagsschulen und emotional belasteten Familienverhältnissen aufwachsen, gleiten laut Voigt nicht zwangsläufig in Extreme ab, wie die „Kinder vom Bahnhof Zoo“. Der Jugendforscher sucht vielmehr nach dem gemeinsamen soziografischen Nenner der im Netz besonders aktiven Schulmädchen. Symbiotische Mädchenfreundschaften und sexualisierte Ich-Entwürfe deuten auf Selbstunsicherheiten hin, die bereits in familiären Bindungserfahrungen ihren Ausgangspunkt haben können.

Kitschige Emotionalisierung von Freundschaften

Ob zu Hause, vor der Schule, eigentlich überall – die Situation in Deutschland oder anderen Ländern macht keinen Unterschied: vor allem junge Mädchen scheinen mit ihrem Smartphone verwachsen zu sein. Von früh bis spät polieren sie ihren Auftritt, halten Kontakt zur Clique und inszenieren ihre Mädchenfreundschaften. Längst heißt es „ich liebe dich soo sehr“ und nicht mehr „bussi, hdl“.

Zuerst waren soziale Netzwerke wie SchülerVZ oder Lokalisten beliebt, dann kam Facebook, momentan stehen WhatsApp und Instagram hoch im Kurs. Doch die Motivation hinter der Selbstdarstellung ändert sich nicht. Hübsch aussehen und beliebt sein sind die zentralen Identitätsbausteine. Selbstbilder à la „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ ziehen sich durch eine ganze Generation. Trifft die Pubertät auf moderne Medien, oder steckt mehr dahinter? Eine Frage, die Jugendforscher Martin Voigt so oft zu hören bekam, dass er im Anschluss an seine Dissertation noch ein Buch schrieb: „Mädchen im Netz – süß, sexy, immer online“.

Anstatt mit der Tür ins Haus zu fallen oder gar voreilig in das Klagelied über eine verdorbene Jugend einzustimmen, widmet sich das bei Springer Spektrum erschienene Buch zunächst einer soziologischen Bestandsaufnahme. Mit viel Tiefgang in die Empirie beschreibt Voigt, wie sich die neuen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung vor allem bei Mädchen immer mehr verfingen. Das große Kapitel „Von Daddys PC zum eigenen Smartphone“ bietet einen fundierten Überblick von den ersten Online-Netzwerken, als noch alles neu und aufregend war, bis heute, da nun jede Fünftklässlerin über ihr Smartphone permanent mit ihren „freundiiis“ verbunden ist. Als immer mehr Mädchen anfingen, ihre Freundschaftsverhältnisse im Netz öffentlich zur Schau zu stellen und mit großen Gefühlen auszuschmücken, setzte das landesweit eine Welle der kitschigen Emotionalisierung von Mädchenfreundschaften frei, die in einem regelrechten Kult um die „allerbeste Freundin“ ihren Höhepunkt erreichte.

Mangel an Zuwendung und tiefe Unsicherheit

Der Einfluss sozialer Medien auf das Verhalten von Teenagern würde für sich schon Stoff für mehrere Bücher bieten, doch der Leser merkt schon im ersten Teil des Buchs, dass es der Autor auf die größeren Zusammenhänge abgesehen hat. Der Beschreibung der Oberflächenphänomene folgt im zweiten Teil dann auch eine sozialpsychologische Analyse, die sich in die Interpretation gesellschaftlicher Prozesse einordnet, wie wir sie von Christa Meves, Gabriele Kuby oder Hans Joachim Maaz kennen.

„Mädchen legen auffallend viel Wert auf ihre Selbstdarstellung. Täglich neue Selfies und Liebesschwüre zwischen Freundinnen moderieren das soziale Ranking“ beschreibt Voigt die Dynamik in online vernetzten Schulklassen. Likes und Kommentare zu den Selfies – „süßee du bist sooo hüübsch!!“ – sind die Gradmesser für Beliebtheit, vor allem in den unteren Jahrgangsstufen.

Hinter dem Überschwänglichen steht die Angst, in der Gruppe an den Rand zu geraten. „Kommen Sie nicht auf die Idee, einer 14-Jährigen das Handy wegzunehmen. Der dauerhafte Kontakt zu ihren Freundinnen ist Rückversicherung und emotionale Basis im langen Schulalltag,“ erklärt Voigt, der soziale Medien lediglich als Bühnen betrachtet, die nicht für die Ich-Entwürfe der Teenager verantwortlich sind.

Die Ursachen sexualisierter Schönheitsideale oder des Zwangs, ständig online sein zu müssen, liegen tiefer. „Wir können nicht den Smartphones die Schuld dafür geben, dass zum Beispiel Sexting ein unter Teenagern weit verbreitetes Phänomen ist,“ sagt Voigt. Auch der Sammelbegriff „Pubertät“ könne nicht für alles herhalten, was unbequeme Fragen aufwirft.

Teenager würden sich zunehmend unter Gleichaltrigen sozialisieren und ihr Wertefundament entsprechend ausbilden, so Voigt, doch eine ausgereifte Identität brauche starke vertikale Wurzeln: „Welchen Halt haben Kinder, die von klein auf in Ganztagseinrichtungen wegorganisiert werden?“ Mit Artikeln in der FAZ über die Selbstsexualisierung von Mädchen und die moderne Sexualpädagogik hatte Voigt bereits für Aufsehen gesorgt.

Appell an Eltern und Erzieher

Deutschlandweit zu beobachtende Beschwörungen und Verlustängste wie „nie wieder ohne dich, ich will dich niiiee wieder verlieren, ich will nur DICH“ in den Online-Gästebüchern allerbester Freundinnen sieht der Jugendforscher nicht nur als modernes Ausgestalten von Freundschaften, sondern auch als Ausdruck mangelnder emotionaler Zuwendung und Bestätigung.

Mit einer vielschichtigen Klärung des Begriffs „Sexualisierung“ nähert sich Voigts Analyse dem way of life einer Gesellschaft, die Minderjährigen den Gebrauch von Verhütungsmitteln nahelegt und das Beenden von intimen Beziehungen als wichtige Erfahrung auf dem Weg zum Erwachsenwerden ansieht. Während Medienpädagogen die Symptome einer um sich greifenden Sexualisierung als normale, aber durch soziale Medien verstärkt sichtbar gewordene Pubertät erklären, zieht Voigt andere Schlüsse: Vielen Teenagern würde jene familiäre Prägung fehlen, die sie dazu befähigt, der sexuell aufgeladenen Dauerberieselung in den Medien mit einem starken, inneren Standpunkt zu begegnen. „Wenn Eltern wissen, dass es mit ihrer eigenen moralischen Glaubwürdigkeit nicht weit her ist, lassen sie ihre Kinder lieber die sog. eigenen Erfahrungen machen und fühlen sich in ihrer Nicht-Erziehung durch die auf Spaß und Verhütung fixierte Sexualpädagogik sogar noch bestätigt,“ sagt Voigt.

Verschiedene Faktoren in den Familien, den Schulen und die vereinnahmende Digitalisierung ganzer Lebensbereiche führen in Summe dazu, dass ein gesunder Reifungsprozess nach Meinung von Voigt auf der Strecke bleibt und eine Scheinselbständigkeit nach sich zieht. Die narzisstisch geprägte, exzessive Netzpräsenz ihrer Töchter besorgt viele Eltern. „Mädchen im Netz“ ist kein klassischer Ratgeber und doch könnte es das Buch sein, auf das Eltern lange gewartet haben. Nebenbei liefert es einen Überblick über die Social Media-Entwicklung, von ihren Anfängen im neuen Jahrtausend bis heute.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Martin Voigt: Mädchen im Netz – süß, sexy, immer online. 235 S., 22 Abb., ISBN 978-3-662-47034-3, Softcover Euro 14,99 (D), Euro 15,41 (A). Auch als eBook erhältlich. Im Internet unter: www.springer. com/de/ book/9783662470343

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