Grundidee des Hilfswerks: Nahrung und Bildung miteinander verknüpfen

Mary’s Meals

Zum Abschluss des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit stellen wir ein relativ junges Hilfswerk vor, das ein eindrucksvolles Beispiel für gelebte Barmherzigkeit bildet. Es stellt die Frucht einer Bekehrungsgnade im Leben eines jungen Mannes aus Schottland dar. Bis heute ist der lebendige Glaube als Grundlage des Engagements in der internationalen Kinderhilfsorganisation spürbar. Maria Christiana von Habsburg, die Vorsitzende von Mary‘s Meals in Deutschland, von Beruf Politologin, ist verheiratet und hat sechs Kinder. Im Interview bringt sie zum Ausdruck, dass in der grandiosen Entwicklung des Hilfswerks ganz offensichtlich Gott die Hand mit im Spiel hat.

Interview mit Maria Christiana von Habsburg

Kirche heute: „Mary‘s Meals“ hat sich inzwischen zu einer ansehnlichen internationalen Hilfsorganisation entwickelt. Wie ist die Initiative entstanden? Können Sie uns die Geschichte etwas genauer schildern?

Habsburg: Es begann mit einer Begegnung: Magnus McFarlane Barrow, ein junger schottischer Familienvater, hatte während des Bosnienkriegs Hilfsgüter in das Krisengebiet gebracht. So besaß er persönliche Erfahrungen mit Hilfstransporten. Da fragte ihn ein befreundeter Missionar, der in Malawi tätig ist, ob er nicht auch dort aktiv werden könnte. Denn in dem südafrikanischen Land herrschte gerade eine große Hungersnot. Magnus fuhr hin und besuchte viele Menschen. Dabei begegnete er einer Familie, deren verwitwete Mutter von fünf Kindern im Sterben lag. Vor der Hütte kam er mit dem ältesten Sohn, dem 14jährigen Edward, ins Gespräch. Auf die Frage, was er sich für sein Leben erträume, gab dieser zur Antwort: „Ich wünschte, ich hätte genug zu essen und könnte eines Tages zur Schule gehen.“ Dieser Satz wurde zur Inspiration.

Kirche heute: Woher kommt der Name „Mary‘s Meals“?

Habsburg: Einmal wurde Magnus gefragt, ob sich die Bezeichnung Mary‘s Meals auf die Queen Mary von Schottland beziehe. Da musste er lachen und antwortete, nein, es gehe um eine andere Queen: Maria, die Mutter Jesu! Auch sie habe Flucht und Armut durchgemacht und bestimmt auch das Gefühl gekannt, bangen zu müssen, ob sie genug Essen für ihr Kind aufbringen kann.

Mary‘s Meals ist grundsätzlich für alle „Menschen guten Willens“ offen und bewusst an keine Konfession oder Religion gebunden. Das Hilfswerk engagiert sich für alle notleidenden Kinder und macht keine Unterschiede. Doch für gläubige Christen ist klar, dass der Name auf die Gottesmutter hinweist. Und es gibt für uns keinen Zweifel daran, dass hier die himmlische Mutter am Werk ist.

Kirche heute: Welches Konzept verfolgt die Organisation heute? Was sind ihre Schwerpunkte, was ist ihre Zukunftsperspektive?

Habsburg: Das Konzept besteht darin, Nahrung und Bildung miteinander zu verknüpfen. Diese Grundidee hat sich nie geändert. Durch die Verpflegung kommen viele Kinder in die Schule, die sonst zum Betteln, zur Feldarbeit oder zum Müllsammeln geschickt würden. Durch die Schulbildung wiederum bekommen sie die Chance auf eine bessere Zukunft. Der Brei, den sie erhalten, ist sehr nahrhaft und vitaminreich. So können sich die Kinder in der Schule besser konzentrieren und werden auch seltener krank, was sich positiv auf den Schulbesuch und die Ergebnisse auswirkt.

Kirche heute: Sie möchten also durch die Verbindung von Schule und Ernährung auch die Bildung fördern. Wie kommt das Hilfswerk in Kontakt mit Schulen? Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Schulen aus?

Habsburg: Inzwischen treten jeden Tag mehrere Schulen an das Hilfswerk Mary‘s Meals heran und stellen den Antrag auf Unterstützung. Daraufhin beginnt ein Auswahlverfahren, das viele Aspekte berücksichtigt. Wesentlich dabei ist die Bereitschaft der Schule und der Gemeinde vor Ort, sich am Hilfsprogramm zu beteiligen. Die tägliche Mahlzeit wird von lokalen „Volontärs“, d.h. von ehrenamtlichen Helfern, vorbereitet und ausgeteilt. Meistens sind es Verwandte, also Mütter, Omas, manchmal auch Väter oder Onkel. Diese machen sich nicht selten schon um 4 Uhr morgens zu Fuß auf den Weg in die mehrere Kilometer entfernten Schulen, um das Wasser abzukochen und alles vorzubereiten, sodass die Kinder vor Unterrichtsbeginn den stärkenden Brei bekommen. Indem die Menschen vor Ort eingebunden werden, betrachten sie das Projekt als ihr eigenes. Sie wachen sehr akribisch darüber, dass nichts verschwindet. So beugt man der Korruption vor. Dieses Vorgehen wahrt auch die Würde der Eltern: Sie sind zwar zu arm, um ihre Kinder ausreichend ernähren zu können, haben aber durch Mary‘s Meals die Möglichkeit, selbst mit zu sorgen, dass ihre Kinder genug zu essen bekommen. Nicht zuletzt hat der Einsatz von Freiwilligen den Vorteil, dass Kosten gespart werden. Nur dadurch ist es möglich, mit 14,50 Euro ein Kind ein ganzes Jahr lang mit einem solchen Schulessen zu versorgen.

Kirche heute: Wo kommen die Nahrungsmittel her?

Habsburg: Wenn es irgendwie möglich ist, versuchen wir die Nahrungsmittel vor Ort einzukaufen. Dadurch wird die ansässige Landwirtschaft gefördert. Doch dies ist nicht immer möglich. Außerdem dürfen wir in Zeiten des Nahrungsmittelmangels den Markt nicht leerräumen, Dies würde die Preise für die armen Menschen in die Höhe treiben. So importieren wir das Getreide aus Nachbarländern, die von der Dürre weniger betroffen sind. Außerdem fördern wir an vielen Schulen die Errichtung von Schulgärten.

Kirche heute: Wie stehen die Regierungen, die Verwaltungen und Behörden zur Initiative?

Habsburg: Mary‘s Meals ist unabhängig. Das ist sehr wichtig, um die Gelder effizient einsetzen zu können. Oft werden die Behörden aufgrund der positiven Folgen auf die Initiative aufmerksam. So hat z.B. in Malawi, wo Mary‘s Meals mehr als ein Viertel der Grundschulkinder mit einer Schulmahlzeit versorgt, die Regierung unser Hilfswerk gebeten, sie bei der Organisation von Schulessen zu beraten. Angeregt durch Mary‘s Meals hat das Erziehungsministerium die Ausgabe von Schulmahlzeiten zur Priorität erklärt. Denn die chronische Unterernährung der Kinder ist ein großes Problem für das Land. Die Schulergebnisse sind schwach, die Fehlzeiten hoch, der Anteil der Kinder, die überhaupt zur Schule gehen, sehr niedrig. Allerdings sind die Gelder so knapp, dass die Umsetzung der Pläne durch die Regierung kaum möglich ist. Aber es ist schon ein großer Schritt, dass die Verantwortlichen diese Notwendigkeit erkannt haben.

Kirche heute: In welchen Ländern ist das Hilfswerk derzeit tätig?

Habsburg: In 12 Ländern: Malawi, Südsudan, Liberia, Uganda, Sambia, Benin, Kenia, Haiti, Thailand, Indien, Myanmar, Ecuador.

Kirche heute: Wie viele Kinder erreicht Mary‘s Meals heute? Wie ist die Hilfe nach Ländern in etwa verteilt?

Habsburg: Heute erreicht Mary‘s Meals an jedem Schultag fast 1,2 Mill. Kinder. Über 800.000 davon leben in Malawi, 135.000 in Liberia, 43.000 in Sambia, 35.000 in Haiti.

Kirche heute: Wo liegen im jetzigen Augenblick die Brennpunkte? Wo ist Ihre Unterstützung besonders dringlich?

Habsburg: Leider gibt es heute viele Länder und Regionen, in denen Kinder leiden. Das südliche Afrika, insbesondere Malawi, wird derzeit von einer Hungersnot heimgesucht, die durch eine klimatisch bedingte miserable Ernte verursacht ist. Die Situation wird sich in den nächsten Wochen noch zuspitzen. Das ist für uns ein Grund zur Besorgnis und wir versuchen unsere Arbeit in Malawi noch zu intensivieren.

Aber auch der Südsudan befindet sich in einer furchtbaren Lage. Das Land wurde erst vor wenigen Jahren als eigener Staat gegründet, und zwar nach Jahren des Bürgerkriegs und der Unterdrückung des christlichen Südens durch den muslimischen Norden. Das Land kommt aber nicht zur Ruhe und befindet sich in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand. Den Kindern geht es dort ganz besonders schlecht. Sie müssen in Elend, Not und täglicher Unsicherheit leben. Unsere Arbeit ist stark erschwert. Oft können Schulen nicht normal betrieben werden, weil sie zerstört oder besetzt sind. Unser Partner vor Ort, die Diözese Rumbek, leistet eine hervorragende und sehr mutige Arbeit. Sie betreibt, so gut es geht, auch weiterhin Schulen, an denen wir Mary‘s Meals austeilen. – Ich darf noch auf ein Pilotprojekt hinweisen: Wir haben an einer Schule im Libanon angefangen, Flüchtlingskinder aus Syrien zusammen mit libanesischen Kindern zu verpflegen.

Kirche heute: Aus welchen Ländern erhält die Initiative ihre Spenden?

Habsburg: Schottland ist nach wie vor Geberland Nr. 1, da das Projekt dort sehr bekannt ist und schon lange besteht. Gefolgt ist es von den USA. Und schon an dritter Stelle kommt Deutschland – im engen Rennen mit Österreich!

Kirche heute: Gibt es eine staatliche Unterstützung? Wird die Initiative eher behindert oder gefördert?

Habsburg: Nein, staatliche Unterstützung gibt es nicht. Das ist auch gut so, weil es die Unabhängigkeit garantiert. Allerdings bekommen wir punktuelle Hilfe. Zum Beispiel hat die GIZ (staatliche „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“) den Transport von Schultaschen nach Malawi gefördert, die im Rahmen unseres „Rucksackprojektes“ (deutsche Schüler stiften ihre nicht mehr benötigten Schulranzen, gefüllt mit wichtigen Schulmaterialien, und erleichtern so den Kindern in den von Mary‘s Meals betreuten Schulen den Schulbesuch) gesammelt wurden. Auch hat die englische Regierung einige Monate lang alle in England eingegangenen Spendengelder von Mary‘s Meals verdoppelt. Das war natürlich sehr erfreulich. Es hat vielen Kindern geholfen und gleichzeitig bedeutet diese Unterstützung eine große Anerkennung unserer Arbeit.

Kirche heute: Wer entscheidet über den Einsatz der Spendengelder? Wie wird die Verwendung kontrolliert?

Habsburg: Wenn sich eine Schule bewirbt, wird geprüft, wie groß die Not ist, ob es Chancen für einen nachhaltigen Erfolg des Projekts gibt, wie groß die Bereitschaft ist, sich zu beteiligen, und welche Kosten zu veranschlagen sind. Das variiert sehr nach Region und Lage der Schule und hängt auch von der Möglichkeit ab, Synergien zu nutzen. Das allererste Kriterium ist immer: Handelt es sich wirklich um die ärmsten, verwundbarsten Kinder?

Auf die Kontrolle wird großer Wert gelegt. Zum einen gibt es eine gute Überwachung durch die Mütter und Familienangehörigen selbst, die ja stark an den Abläufen beteiligt sind. Außerdem wird jede Schule zweimal in der Woche unangekündigt besucht. Dabei werden die Bestände geprüft und auch die Hygienemaßnahmen kontrolliert.

Kirche heute: Kann man eine Zahl nennen, wie viele Menschen weltweit für Mary‘s Meals ehrenamtlich und hauptamtlich tätig sind?

Habsburg: Das ist wirklich schwer zu sagen. In den Projekten selbst sind über 30.000 Volontäre registriert. Und in den Geberländern sind es Zehntausende. Oft kommt plötzlich eine Spende, die irgendwo an einer Schule, im privaten Raum an einem Geburtstag oder in einer Pfarrei abgegeben wurde, weil dort jemand Mary‘s Meals im Herzen trägt.

Kirche heute: Sind Sie persönlich auch bei Mary‘s Meals engagiert? Wann sind Sie dazugekommen? Was ist Ihre Aufgabe? Was hat Sie dazu bewogen, für die Initiative tätig zu werden?

Habsburg: Ich bin derzeit Vorsitzende von Mary‘s Meals in Deutschland. Als ich vor etwa 10 Jahren davon hörte, war ich gleich fasziniert. Schon als Kind haben mich die Bilder hungernder Kinder betroffen gemacht. Doch man fühlt sich dieser Not gegenüber meistens machtlos. Bei Mary‘s Meals ist das anders: Jeder kann etwas tun! Auch kleinste Beträge können ein Kinderleben retten. Das einfache Konzept, der wirkungsvolle Ansatz, die niedrigen Verwaltungskosten – weniger als 7 Prozent –, all das fand ich auf Anhieb sehr überzeugend.

Kirche heute: Werden christliche Grundsätze oder Ideale des Evangeliums als Grundlage für die Arbeit betrachtet? Hat im Alltag der Hilfstätigkeit auch gemeinsames Gebet seinen Platz?

Habsburg: Wie bereits erwähnt: Jeder ist willkommen zu helfen. Aber tatsächlich bildet für viele der Mitarbeiter der Glaube den Mittelpunkt ihres Engagements. „Wer ein Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf!“ Das kann auch heißen: „Wer einem Kind etwas zu essen gibt…“ Magnus selbst und viele seiner Mitarbeiter leben diesen Einsatz aus dem Glauben heraus. Das Gebet spielt eine wichtige Rolle. Es wurde ein eigenes Gebet für Mary‘s Meals formuliert. Auch der Glaube an die Vorsehung spielt eine entscheidende Rolle. Natürlich versuchen wir, vor allem jetzt, da die Organisation größer wird, rational zu planen, objektiv zu entscheiden etc. Doch oft ist es auch ein Hören auf den Heiligen Geist. Dennoch gibt es viele Menschen, die keine Christen sind und sich doch mit ganzem Herzen der Sache verschrieben haben. Es ist eine besondere Freude, vereint mit ihnen an der „guten Sache“ zu arbeiten. Ich sehe darin ein Zeichen, dass der Heilige Geist überall wirkt, wenn sich Menschen vom Schicksal anderer berühren lassen.

Kirche heute: Das Heilige Jahr der Barmherzigkeit passt wunderbar zum Grundansatz der Hilfsorganisation. Wie haben Sie das Jahr, das bald zu Ende geht, erlebt – persönlich und im Zusammenhang mit Mary‘s Meals?

Habsburg: Für mich persönlich war und ist dieses Jahr ein ganz besonderes Geschenk. Das Thema der Barmherzigkeit ist in meinem Leben seit Jahren sehr präsent. Ich versuche, der Güte Gottes immer näher zu kommen, seine Barmherzigkeit in mein Leben hineinzulassen und den Menschen barmherzig zu begegnen. Das beginnt sicherlich in der Familie und in der nächsten Umgebung. Gleichzeitig aber geht es auch um Kinder in der Ferne, die nicht einmal das Nötigste zum Leben haben. Uns von ihrer Not ergreifen zu lassen und tätig zu werden, das ist für mich gelebte Barmherzigkeit.

Kirche heute: Wie steht die katholische Kirche zur Initiative? Gibt es eine offizielle Anerkennung oder Unterstützung?

Habsburg: Der Gründer von Mary‘s Meals ist Papst Franziskus schon mehrmals begegnet, zuletzt im Juni dieses Jahres am Ende einer Generalaudienz. Der Papst war sehr erfreut, als er hörte, dass Mary‘s Meals nun mehr als 1,1 Millionen der ärmsten Kinder der Welt mit einer täglichen Schulmahlzeit versorgt. „Avanti! Avanti! Avanti! Che Dio benedica il vostro lavoro“, meinte er enthusiastisch: „Weiter! Weiter! Weiter! Möge Gott Ihre Arbeit segnen!“

Kirche heute: Wir danken Ihnen von Herzen für das eindrucksvolle Gespräch und wünschen Ihnen persönlich sowie der ganzen Hilfsorganisation Gottes reichsten Segen für die zukünftige Tätigkeit.

Mehr Informationen gibt es unter: www.marysmeals.de – Bankverbindung: Mary's Meals Deutschland e.V., Pax-Bank Köln, IBAN: DE42 3706 0193 4007 3750 13

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Mary‘s Meals“ ist für viele Familien ein Rettungsanker

Hungerkatastrophe in Malawi

Die Hilfsorganisation Mary‘s Meals organisiert Schulspeisungen, sodass Kinder in armen Ländern jeden Tag in ihrer Schule kostenlos eine warme Mahlzeit erhalten können. Durch die Verknüpfung von Ernährung und Schule wird auch bewusst die Bildung gefördert. In Malawi, wo Mary‘s Meals schon viele Jahre tätig ist, wird die Unterstützung für unzählige Familien zum einzigen Rettungsanker. Denn dem Land droht eine ungeheure Hungerkatastrophe.

Von Maria Christiana von Habsburg

Ich schaffe es nicht mehr, meine Familie zu ernähren, und ich leide jeden Tag, weil ich nicht weiß, wie ich für meine Kinder sorgen soll.“ Felia Binwell, 32, muss seit dem Tod ihres Mannes allein für den Lebensunterhalt ihrer vier Kinder sorgen. Normalerweise arbeitet sie als Erntehelferin und Tagelöhnerin, doch „im Moment gibt es für mich keine Arbeit. Die Erträge auf den Feldern sind so gering, dass ich nicht bei der Ernte helfen kann.“

6,5 Millionen von Hunger bedroht

Malawi befindet sich derzeit im Ausnahmezustand und steht vor der größten Hungersnot seit Jahren. Millionen Menschen leiden Hunger. Eine verheerende Kombination von Überschwemmungen und Dürren im Süden des afrikanischen Kontinents hat die Ernten vernichtet. Dies sind Auswirkungen des Klimaphänomens „El Niño“, das auch auf dem amerikanischen Kontinent schon für Verwüstungen gesorgt hat. 6,5 Millionen Menschen sind von akutem Hunger bedroht. Laut WFP, dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, sind rund 40% der Bevölkerung betroffen. Im April hat der Präsident den nationalen Katastrophenfall ausgerufen. In den nächsten Monaten, wenn die Vorräte aufgebraucht sind, wird sich die Lage noch verschlimmern. Bis Ende des Jahres, so die Prognose, werden 8 Millionen Menschen, die Hälfte der Landesbevölkerung, auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein.

Mary‘s Meals hilft durch Schulspeisungen

Die Organisation Mary‘s Meals arbeitet schon seit vielen Jahren in Malawi. Das internationale Kinderhilfswerk hat sich zum Ziel gesetzt, durch Schulspeisungen Ernährung und Bildung zu verknüpfen. Täglich versorgen wir über 1,1 Millionen der ärmsten Kinder der Welt mit einer warmen, ausgewogenen und kostenfreien Mahlzeit. Viele Grundschulkinder, die sonst zum Betteln, zur Feldarbeit oder zum Sammeln auf die Mülldeponie geschickt werden, dürfen wegen des Essens in die Schule. Dies stillt nicht nur ihren Hunger, sondern gibt ihnen eine reelle Chance auf eine bessere Zukunft.

14,50 Euro versorgen ein Kind ein ganzes Jahr

In Malawi sind es 814.000 Kinder, die an jedem Schultag von Mary‘s Meals ernährt werden, also jedes vierte Grundschulkind. 14,50 Euro reichen aus, um ein Kind ein ganzes Jahr lang mit einem Schulessen zu versorgen. Hierzulande reicht das gerade mal für einen Kinobesuch mit Popcorn. Seit dem Anfang der Hungersnot ist der Einsatz von Mary‘s Meals für viele Familien der einzige Rettungsanker, der den hungernden Kindern das Überleben sichert. „Ich hatte schon alle Hoffnung verloren, bis vor drei Wochen Mary‘s Meals begann, die Kinder in der Athulepe Schule mit Essen zu versorgen“, sagt Felia Binwell. Sandram Ndilibes, Schuldirektor, bestätigt dies: „Die nächsten Monate werden für jeden extrem hart werden. Hunger kann man mit einem Krieg vergleichen, er vernichtet Menschenleben und auch die Hoffnung. Ohne die Schulspeisungen müssten wir wahrscheinlich die Schule schließen.“

Wenn Sie helfen wollen: www.marysmeals.de – IBAN: DE42 3706 0193 4007 3750 13

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
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Zum Fest Allerheiligen

Unsere Heimat ist im Himmel

Freuen wir uns wirklich auf den Himmel? Erwarten wir das Kommen des Herrn tatsächlich mit großer Sehnsucht, wie wir es in der Liturgie zum Ausdruck bringen? So fragt sich Weihbischof Dr. Andreas Laun. Und er gibt zur Antwort: Die alles entscheidende Perspektive, die oft vergessen und über die selten gepredigt wird, besteht darin, dass wir auf dem Weg zum Himmel sind. Wir müssen diese Hoffnung ständig nähren und dürfen uns auch eine Vorstellung davon machen, selbst wenn sie nie an die Wirklichkeit des ewigen Lebens herankommt. Weihbischof Laun versucht dies auf der Grundlage der biblischen Verheißungen.

Von Weihbischof Andreas Laun

Ich freue mich jetzt schon wieder auf das Heimkommen!“, sagen die meisten Menschen gegen Ende auch eines an sich schönen Urlaubs. Der Grund für solche Gefühle ist, dass keine irdischen Freuden die Seele ganz und auf Dauer sättigen können. „Ich freue mich schon sehr auf den Himmel“, sagte mir neulich eine Frau, auch nach einem besonders gelungenen Urlaub, den sie am Meer verbracht hatte!

Sie hat Recht, und christlich gesehen benennt sie damit die Grundverfassung, in der jeder Mensch leben sollte, immer und täglich und nicht nur ab und zu, etwa am Fest Allerheiligen. Übrigens gehen darum nicht wenige Christen auch täglich in die heilige Messe, letztlich auf Grund ihrer Sehnsucht nach dem Himmel.

Verwandlung unseres armseligen Leibes

In lapidarer Prägnanz schreibt Paulus: „Unsere Heimat aber ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter…“ und fügt sofort eine inhaltliche Beschreibung unserer Hoffnung an: „… der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes, in der Kraft, mit der er sich alles unterwerfen kann“ (Phil 3,20f).

In der hl. Messe erinnern wir Christen uns nicht nur einmal an die Wiederkunft Jesu, die wir zu ersehnen behaupten – sehr oft wohl ziemlich gedankenlos. Eigentlich sollten wir hingegen ganz sicher wissen: Wir sind natürlich auf dem Weg zum Himmel, wohin denn sonst? Ja, es gibt eine fürchterliche Alternative, aber an diese sollten wir weder ernsthaft noch im Spaß denken – nur soweit, dass wir sie, den Mahnungen Jesu folgend, auch nicht verdrängen oder so dumm wären zu meinen, wir könnten sie durch Leugnung aus der Wirklichkeit hinauskatapultieren!

1000 Jahre leben – eher Alptraum als Wunschziel

Zurück zum Thema Nr. 1 des Christen: Wir sehnen und wünschen uns aus ganzem Herzen den Himmel. Er, der Himmel, ist der Inhalt unserer tiefsten, eigentlich einzigen Hoffnung. Die „kleinen Hoffnungen“ unseres irdischen Alltags folgen erst lange, in großem Abstand, danach und weiter hinten, auch wenn sie sich in unserem Bewusstsein weit nach vorne drängen können und manchmal durch Schmerz und Angst „die“ einzig große Hoffnung fast vergessen machen.

Wer das bestreitet oder belächelt, sollte sich fragen lassen, welche andere Antwort er zu bieten hätte. Sogar der wunderbarste Fortschritt der Medizin, der unser Leben um Jahrhunderte verlängern würde, wäre viel eher ein Albtraum, als ein Wunschziel, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika über die Hoffnung eindrucksvoll erklärt hat. Hand aufs Herz: Wer würde sich ernsthaft wünschen, 1000 Jahre zu leben?

Und was das eigentlich trostvolle Fegefeuer betrifft: Es ist zwar leidvoll, aber doch nur ein Vorraum zum Himmel, sein einziger „Exit“ ist die Tür zum Himmel, und diese ist „zu dieser Zeit“ nicht mehr eng oder vielleicht zugesperrt, sondern breit und offen!

Das himmlische Hochzeitsmahl

Also der Himmel! Wie aber dürfen wir ihn uns „vorstellen“? Na ja, jedenfalls nicht fad wie der „Bayer im Himmel“, der nicht „Luja singen“ will und sich nach einem Bier im Hofbräuhaus sehnt!

Ansichtskarten oder Werbefilme vom Himmel gibt es nicht, aber die Bibel, die unser Verlangen nach Bildern kennt, lädt uns ein, mit ihren Bildern vom Himmel zu träumen: „Teilnahme am himmlischen Hochzeitsmahl“ – klingt doch gut, oder? „Gemeinschaft der Heiligen“, in der sich auch die Menschen befinden werden, die wir „damals auf Erden“ bei ihrem Tod so schmerzlich beweint haben.

Im Hebräerbrief lesen wir dazu: „Ihr seid zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung und zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind; zu Gott, dem Richter aller, zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten!“

Die neue Erde

„Neue Erde“, die wohl auch nicht ausschauen wird wie ein betonierter Flugplatz, nur grün gestrichen. Mit der „neuen Erde“ dürfen wir unsere schönsten Erinnerungen an Meer, Berge, Blüten, geliebte und bewunderte Tiere verbinden: Die neue Erde, einschließlich unserer neuen Körper, wird schöner sein als das, was wir schon hatten.

Jesus selbst verspricht uns eine neue Wohnung, und diese darf man sich wohl gemütlicher denken als einen „Menschenkäfig“, wie es sie in den kommunistischen Trabantenstädten gab. Unser Leib wird auch himmlisch sein, ohne dass Paulus (1 Kor 15,34) uns erklärt, wie das „genau“ sein wird, weil er es spürbar selbst nicht weiß, wenn er sagt: „Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer Leib. Wenn es einen irdischen Leib gibt, gibt es auch einen überirdischen.“ Eigentlich sagt er nur, dass Gott „auch euren sterblichen Leib lebendig machen wird, durch seinen Geist, der in euch wohnt“ (Röm 8,11).

Die Herrlichkeit des Herrn

Also Hochzeitsfeier, Großfamilie der Engel und der Heiligen, zu denen zu unserer größten Überraschung auch wir selbst gehören werden, Wohnung und neue Schöpfung, neuer Leib – und was noch? Noch eine andere, das Wesentliche sogar besser benennende Vision ist: Die „Herrlichkeit des Herrn“ werden wir schauen. Sie wird den Himmel erfüllen und zu dem Zustand jener Seligkeit machen, von der die Heilige Schrift sagt: „Wir verkündigen, wie es in der Schrift heißt, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“ (1 Kor 2,9).

Eine gewisse Ahnung erfüllt uns, wenn wir lesen: Die Engel „riefen einander zu: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere. Von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt“ (Jes 6,3). „Die Erde auch, nicht nur der Himmel!“, rief Dietrich von Hildebrand, der große Philosoph, laut in einem Gespräch.

Oder ebenso majestätisch: Nachdem Gott die Erde gereinigt hat, „kommt Er, und über dem ganzen Gebiet des Berges Zion und seinen Festplätzen erscheint bei Tag eine Wolke und bei Nacht Rauch und eine strahlende Feuerflamme. Denn über allem liegt als Schutz und Schirm die Herrlichkeit des Herrn; sie spendet bei Tag Schatten vor der Hitze und ist Zuflucht und Obdach bei Unwetter und Regen“ (Jes 4,5f). Oder auch nur: „Man wird die Herrlichkeit des Herrn sehen, die Pracht unseres Gottes“ (Jes 35,2).

Das himmlische Jerusalem

Etliche andere Texte bei den Propheten oder auch aus dem Neuen Testament ließen sich zitieren, besonders jene von der „Frau des Lammes“ (Offb 21,9), vom himmlischen Jerusalem, das nur von der Herrlichkeit des Herrn erleuchtet wird.

So ist der Himmel, so stelle ich ihn mir vor – trotz aller Unmöglichkeit, ihn schon jetzt wirklich zu erkennen! Das war und ist auch besonders begnadeten Menschen von Paulus bis zu den Seherkindern von Fatima verwehrt geblieben. Aber ich freue mich auf den Himmel aus ganzem Herzen. Er ist die Sehnsucht, die mein Leben begleitet!

Und Sie, liebe Leser, freuen sich nicht? Das glaube ich Ihnen nicht, das gibt es einfach nicht! Also – angesichts der Kürze unseres Lebens – auf ziemlich bald im Himmel! „Morgen in Jerusalem“ drücken die Juden gerne ihre Hoffnung aus. Christen können das mit ihnen auch sagen im Gedanken an das „himmlische Jerusalem“, das die Bibel verspricht, aber wir könnten auch sagen: „Morgen im Himmel!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Im Leben der Heiligen offenbart Gott sein Geheimnis

Hagiografische Theologie

Hagiografie ist die Darstellung des Lebens von Heiligen. Doch dabei kann man unterschiedliche Akzente setzen. Professor Dr. Ludwig Mödl[1] hat unter dem Titel „Heilige – Boten Gottes"[2] ein neues Buch über Heilige herausgebracht. Er stellt sie nicht in erster Linie als Modelle für ein christliches Leben vor, sondern als Verkünder einer theologischen Botschaft. In der Vergangenheit sei oft einseitig das Tugendhafte im Verhalten der Heiligen herausgestellt worden, besonders zu pädagogischen Zwecken. Die jeweiligen theologisch-spirituellen Besonderheiten seien in den Hintergrund getreten. Doch die Kirche betone durch die Form der Heiligsprechung gerade den Aspekt der Glaubenslehre, insofern das Leben der Heiligen etwas vom Geheimnis Gottes vermittle. Das Buch ist auf der Grundlage von Vorträgen entstanden, die er im Rahmen von Exerzitien gehalten hat. Nachfolgend die Hinführung, in der er Inhalt und Stil seines Buchs erklärt.

Von Ludwig Mödl

Zunächst müssen wir festhalten: Wer von Gott sprechen will, der muss von Menschen sprechen; denn kein Begriff erfasst die göttliche Wirklichkeit direkt, alle Begriffe sind menschliche Begriffe. Das Göttliche ist und bleibt Geheimnis. Alles Reden darüber kann das Geheimnisvolle allemal nur unzureichend umschreiben. Dazu benutzen wir Bilder, Metaphern, Geschichten und Begriffe, von denen jeder seinen Kontext und seine je eigene Geschichte hat. Sprache hängt immer zusammen mit Lebensvorgängen. Und vieles, was da gesagt wird, ist wie ein Umkreisen des Nichtsagbaren.

Hier nun setzt das Interesse an Heiligen an; denn Heilige sind Lebensbilder, die etwas vom göttlichen Geheimnis anzeigen können. Deshalb ist mir die Hagiografie (Heiligenbeschreibung) wichtig. Sie ist neben der begrifflichen Theologie, neben der inszenierenden Theologie in der Liturgie und der darstellenden Theologie in anderen Kunstformen eine Theologiesprache, die einen Funken des Gott-Geheimnisses aufleuchten lässt.

Die Heiligenverehrung

In der katholischen Kirche haben viele in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts das Schauen auf die Heiligen zurückgedrängt oder vergessen. Vermutlich ist diese Form von Verkündigung deswegen in Misskredit geraten, weil man die Heiligen in den Jahrzehnten davor im Sinne der Moralrede verengt hat. Die Heiligen wurden als „Tugendhelden“ dargestellt. Sie wurden dabei nicht selten verzweckt, um Kindern und Erwachsenen nahezulegen, wie ein tugendhaftes Leben aussieht. Die Heiligen wurden so „Ausbünde“ von Ordnung, von Durchhaltekraft, von Treue, von Zuverlässigkeit und anderen – oftmals – sekundären Tugenden. Dadurch kamen ihre Lebensgeschichten moralisierend daher. Ihr besonderer Tugendgrad wurde betont, ihr Vorbildcharakter herausgestellt und gegebenenfalls noch ihre Fürbitte angeraten. Als Träger einer Gott-Botschaft kamen Heilige aber wenig vor. Somit waren sie nicht mehr Lebensbilder einer theologischen Botschaft, sondern christliche Helden. Hagiografie wurde nicht mehr als ein Zweig der Theologie verstanden, sondern entweder als Nebenzweig der Kirchengeschichte oder eben als pädagogische Vorbild-Ressource.

Die theologische Besonderheit eines Heiligen

Heilige sind Menschen, die in besonderer Weise den christlichen Glauben gelebt und dargestellt (und damit verkündet) haben. Sie sind dem gläubigen Volk aufgefallen. Deshalb verehren die Menschen sie, besuchen ihre Gräber, schmücken diese und beginnen, ihre Fürbitte anzurufen. Sie vertrauen ihrem Beten, da es eine besondere Grundlage zu haben scheint.

Dabei geht es nicht, wie eben gesagt, um die Tugend dieser Heiligen, sondern darum, wie sich in ihrem Verhalten und in ihrem Glauben etwas von der Zuwendung des Ewigen zu uns Menschen spiegelt. In den Lebensgeschichten der Heiligen finden wir solche Glaubenszeichen und damit Gott-Reden. Dabei gilt: Verschiedene Heilige zeigen Verschiedenes von Gott. Und jeder bekundet in anderer Weise, dass Gott noch am Wirken ist. Gottes Wunder leuchten in den Heiligen auf.

Ein Heiliger hat mit Blick auf Christus gelebt. Er hat eine ganz andere Situation, die Jesus nicht kannte, so gelöst, wie Jesus selbst sie vermutlich gelöst hätte. So wurde ein Heiliger zum Glaubenszeugen und zum Glaubenszeichen; denn dadurch hat sich die Botschaft Jesu neu ausgedrückt, sie wurde gleichsam zu einem neuen „Lebens-Bild“ der Gottesbotschaft.

So können wir die „Theologie“ eines Heiligen vierfach aufnehmen und mit Blick auf ihn die Gott-Wirklichkeit in neuer Weise erahnen:

• durch einen neuen Begriff, den der Heilige prägt oder zu dem er Anlass gibt,

• durch ein neues Bild, das der Heilige darstellt,

• durch eine neue Weise, mit Gott zu kommunizieren, oder

• durch ein neues Modell, wie sich der Glaube an Gott im Leben umsetzen lässt.

Die Proklamation eines Heiligen

Schon die Tatsache, dass (seit dem 10. Jahrhundert) der Papst, also die oberste Autorität in der Kirche, die Proklamation eines Heiligen in seine Kompetenz gebunden hat, zeigt, wie wichtig die Verantwortlichen damals bis heute die Heiligen als Theologie-Träger und als Modelle für ein christliches Leben genommen haben und nehmen. Zuvor waren Missstände eingerissen. Familien wollten ihr Ansehen aufbessern, indem sie verstorbene Angehörige als Heilige verehrten. Auch sollten an manchen Orten Wallfahrten entstehen, die Geld einbrachten. Um solche Missbräuche zu verhindern und vor allem keine falschen Glaubens- und Lebensmodelle aufkommen zu lassen, hat man den strengen Prozess eingeführt, der auf oberster Ebene letztentschieden wurde und wird.

Die Verantwortlichen der Kirche prüfen, ob die Verehrung eines Menschen durch das Volk zu Recht besteht. Sie durchleuchten in Form eines Gerichtsverfahrens die Biografie. Ein Promotor treibt die Sache voran, ein „Advocatus Diaboli“ sucht kritisch beizuholen, was gegen eine Heiligsprechung spricht. Zu dem Verfahren müssen noch besondere Ereignisse eintreten, die eine Heiligsprechung unterstützen. Besonders werden durchleuchtet der moralische Lebenswandel, die Frömmigkeitsform und die dahinterstehende Theologie. Untersucht wird im Letzten die Frage: Ist dieses Leben wirklich eine gültige Weise, christlich zu leben? Ist dieses Leben motiviert gewesen aus der Liebe zu Gott und zu den Menschen? Hat dieses Leben den Charakter, exemplarisch ein christlicher Weg zu sein? Und die uns besonders interessierende Frage: Spiegelt dieses Leben etwas vom Geheimnis des Ewigen? Ist dieses Leben „Gott-Rede“, also „Theologie“?

Wenn dies alles positiv beschieden wird, und zwar zunächst regional auf Bistumsebene und dann auf Weltebene in Rom, dann wird der Mensch (normalerweise) zunächst zu einem „Seligen“ erklärt, der regionale Verehrung genießt. Kommt man zu dem Schluss, dass der Heilige für alle in der Kirche hilfreich sein könnte, dann wird er – nach einem nochmaligen strengen Doppelprozess – zum „Heiligen“ erklärt.

Seit dem 10. Jahrhundert nimmt diese Erklärung, wie schon gesagt, der oberste Repräsentant des kirchlichen Amtes vor, der Papst. Zuvor machte es der zuständige Bischof. Durch die Hochstellung der Sache sollte zum einen verhindert werden, dass zweitrangige und unvollkommene Kandidaten dem Volk als Sprachhilfe und Beispiel vorgestellt werden. Zum anderen sollte demonstriert werden, dass die Heiligenproklamation eine theologische, also den Glauben und seine Ausdrucksformen betreffende Angelegenheit ist. Die Biografie spricht also theologisch.

Im 15. Jahrhundert kam eine übertreibende Verehrung in die Praxis. Und damit waren die Heiligen zu einer Predigtform geworden, die den Blick auf Christus nicht förderte, sondern oftmals sogar verstellte. Deshalb haben die Reformatoren jeden Heiligen-Kult verworfen. Damit aber haben sie sich einer Sprachform beraubt, die eine spezielle „metaphorische Theologie“ sein kann, wie oben dargestellt. Wie aber können wir diese revitalisieren? Beispiele finden wir zuerst in der Bibel.

Biblische Vorgaben

Dass die Verehrung der Heiligen nicht nur eine Marginalie ist, die wir auch bleiben lassen könnten, zeigen folgende Überlegungen: In den Anfängen unseres Glaubens gab es keinen Namen für Gott und damit keine andere Ausdrucksform für den Glauben als das Verhalten eines Glaubenden und seine Lebensgeschichte. Die Leute benannten jene geistliche Kraft, die sich erwiesen hat an einzelnen Menschen, nach dem Namen dieser Menschen. Es gab keinen anderen Namen als: der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, also der Gott unserer Väter. Am Leben dieser Menschen, an ihrer Biografie und an ihrem Glauben sah man, wer Gott ist, was er wirkt und wie er verehrt sein will. Indem man die Geschichte dieser Menschen erzählte, erzählte man die Geschichte Gottes mit den Menschen. Ja, man erzählte dadurch von Gott selbst.

Erst die Begegnung Abrahams mit Melchisedek brachte diesem eine neue Sprachform für seinen Gott. Abraham traf sich mit Melchisedek vor Salem, er feierte einen Gottesdienst mit ihm und schloss Religionsgemeinschaft, was sich dadurch ausdrückte, dass er ihm den Zehnten gab – die „Kirchensteuer“. Dieser Melchisedek hatte schon einen anderen Namen für seinen Gott. Und der gemeinsame Gottesdienst drückte aus, dass Abraham seinen Gott identisch ansah mit dem Gott des Melchisedek. Dieser nannte Gott „El Eljon“, das heißt „der Höchste der Höchsten“. Hier kommt die Metapher „höchst“ hinzu. Sie bezeichnet diesen Gott in Relation zu den Göttern, an welche die anderen glaubten. Über all diesen steht er. Das ist zunächst gesagt. Später werden andere Metaphern dies präzisieren, indem sie zeigen, dass die anderen Götter „Nichtse“ sind im Vergleich zu ihm. Aus dem „Höchsten“ wird der „Einzige“, was er für Abraham und Melchisedek zumindest grundsätzlich bereits war.

Am Leben nun des Abraham und an der Opferweise des Melchisedek konnte man erkennen, was dieser Glaube bewirkt und wie „der Höchste der Höchsten“ beschaffen ist. Wenn man von Gott erzählen wollte, erzählte man die Geschichte des Abraham in seinen vielfachen Facetten und die Geschichte des Isaak und des Jakob und der vielen Nachfahren. In der menschlichen Geschichte gerade dieser Menschen leuchtet ein „Mehrwert“ auf, welcher von Gott handelt. Und das trifft auch für die Heiligen zu. Diesen Mehrwert gilt es zu finden und zu benennen.

 

Durch Menschen nur wird offenbar

des Ew‘gen Existenz und Willen.

Was ist geschrieben, wird erst klar,

wenn Heil‘ge es mit Leben füllen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Prof. Dr. Ludwig Mödl, geb. 1938 in Ingolstadt, war Regens in Eichstätt, Professor für Pastoraltheologie, Homiletik und Spiritualität in Luzern, Eichstätt und an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, nach seiner Emeritierung im Jahr 2003 Spiritual im Herzoglichen Georgianum München und Universitätsprediger in St. Ludwig München.
[2] Ludwig Mödl: Heilige – Boten Gottes. Prof. Dr. Ludwig Mödl stellt in seinem Buch folgende Heilige vor: Benedikt, Franz vom Assisi, Thomas von Aquin, drei Jungfrauen: Barbara – Margareta – Katharina, Vitus, Birgitta von Schweden, Teresa von Ávila, Johannes von Gott, Pfarrer von Ars, Newman, Rupert Mayer, Paul VI. und Anna Schäffer. Bei jedem Heiligen skizziert er zunächst das Leben, erschließt in einem zweiten Schritt die theolo­gische Bedeutung, also die „Gott-Rede“ des jeweiligen Heiligen, und fügt schließlich einige Punkte zum Nachdenken an. Geb., 160 S., ISBN 978-3-9454012-5-5 – www.media-maria.de

Das kurze Leben des Paters Anton Jans (1903-1932)

Kartäuser und Mystiker

1934 hatte der bekannte Münchner Theologieprofessor Prälat Dr. Martin Grabmann im Verlag Ars Sacra ein Buch mit dem Titel „Pater Anton Jans – Ein Mystikerleben der Gegenwart“ herausgegeben. Nun unterzog sich ein Verehrer dieses außergewöhnlichen Kartäuserpaters der Mühe, das in altdeutscher Schrift gedruckte Buch neu zu setzen und sowohl in Buchform als auch als E-Book vorzulegen. Der jetzige Titel lautet „Pater Anton Jans – Kartäuser und Mystiker“.[1] Die Neuerscheinung kann als Glücksfall betrachtet werden. Sie birgt einen wertvollen Schatz auch für unsere Zeit.

Von Hans Jakob Bürger

Als das Buch „Anton Jans – Ein Mystikerleben der Gegenwart“ veröffentlicht wurde, gab der Verlag an, es sei von einem „weißen Mönch“ verfasst, der nicht genannt werden wolle. Es handelte sich um Pater Gerhard Ramakers, der auf Tagebuchaufzeichnungen und Briefe seines Mitbruders Pater Anton Jans zurückgreifen und ein beeindruckendes geistliches, ja mystisches Testament zusammenstellen konnte.

Pater Anton Jans wurde am 22. August 1903 als Hans Jans in Nottwil in der Schweiz geboren, wuchs im Kreis einer treu katholischen Familie auf und erhielt die Schulbildung an der Volksschule in Ballwil, der Mittelschule in Beromünster (1917-21) und dem Gymnasium des Benediktinerklosters Engelberg (1921-25).

1926 trat er in die Schweizer Kartause La Valsainte ein, wo ihm der Ordensnamen Anton gegeben wurde. Schon früh bekam er gesundheitliche Probleme, doch wurde er deswegen nicht einfach entlassen. Er durfte in der Ordensgemeinschaft bleiben, die feierliche Profess ablegen und am 4. Oktober 1931 die Priesterweihe empfangen. Unmittelbar danach schickten ihn seine Oberen in die südfranzösische Kartause Montrieux (Provence), da seine  Herzkrankheit lebensbedrohlich geworden war. Sie hofften, ihm durch einen Ortswechsel Erleichterung verschaffen zu können. Aber Pater Anton Jans starb nur wenige Monate später am 28. Februar 1932.

Entfaltung der Gnadengaben

Die Gedanken und Formulierungen von Pater Anton Jans weisen eine frappierende Ähnlichkeit zum hl. Johannes vom Kreuz auf. Dieser große Kirchlehrer betrachtet die Mystik im Wesentlichen als eine Entfaltung der übernatürlichen Gnadenveranlagung, wie sie jedem Christen durch die Sakramente verliehen wird. Auch die Beschauung, die als zentraler Akt der Mystik gilt, ist demnach nichts anderes als eine besondere Form der Kontemplation im Licht des Glaubens. Selten finden wir eine schlichtere Entfaltung eines Mystikerlebens, das zugleich klar und wesenhaft aus den gnadenhaften Wirklichkeiten in der Seele hervorgeht, als bei Pater Anton Jans.

Aus den Aufzeichnungen des jungen Mönchs ergibt sich der christozentrische Charakter seiner Spiritualität. Christus steht im Mittelpunkt seines ganzen Ringens und Erlebens. Von Ihm aus dringt er in das Innenleben der Heiligsten Dreifaltigkeit vor. In Ihm erlangt er das Bewusstsein der Lebenseinheit mit dem mystischen Leib Christi. Auch seine Marienverehrung hat als inneren Zielpunkt die Vereinigung mit Christus. Durch Ihn erkennt er sich als Kind Gottes und, indem er Christus in sich Gestalt gewinnen lässt, vollendet sich die Gottesgeburt in seiner Seele.

Bereits 1922 beginnt er als Neunzehnjähriger auf dem Gymnasium der Benediktiner, sein ganzes Streben auf geistliche Ziele auszurichten. Es zeichnet sich durch ein vollkommenes Vertrauen auf die Gnade aus, verbunden mit einer unbedingten Hingabe an die Gnade Gottes. Sein Leitmotiv ist: „Sei treu der Pflicht und treu der Gnade!“ In seinem äußeren Auftreten bleibt er frisch und lebendig wie zuvor; aber er wird zurückgezogener und reifer. Immer deutlicher tritt eine übernatürliche Gesinnung hervor, die von nun an sein ganzes Leben beherrscht. Nur was einen Wert für die Ewigkeit hat, nimmt er in seine empfängliche Seele auf. Mehr und mehr sieht er von sich selbst ab und lässt den Willen Gottes zur übernatürlichen Form seines Seins und Strebens werden.

Er setzt sich zum Ziel, selbst die kleinsten Unvollkommenheiten zu vermeiden. Keinen Augenblick möchte er verloren gehen lassen; denn das wäre in seinen Augen ein Diebstahl. Als Kartäusernovize macht er sich den Grundsatz des hl. Johannes vom Kreuz zu eigen: „Je mehr die Seele sich frei und leer von allem Geschaffenen macht, desto mehr kann Gott von ihr Besitz ergreifen.“ Diesem aszetischen Ziel der inneren Reinigung geht er mit Demut und Großmut entgegen.

In der Kartause

Mit der zeitlichen Profess im Jahr 1927 tritt in seinem geistlichen Leben ein Wandel ein. Es beginnt der Erleuchtungsweg. Von nun an vereinfacht sich sein Gebet sehr stark. Er schreibt selbst, dass er anfange, in der vollen Wahrheit zu leben. Er stützt sich allein auf den Glauben. Auch wenn die dunkle Nacht über ihn kommt, duldet er keine Kompromisse mit der menschlichen Natur. Grundlage seines Lebens wird die Tiefe seiner Seele, dem Bereich der Sinne entrückt. Doch Anton Jans erhebt auf Licht und Erleuchtung keinen Anspruch. Die Worte der Heiligen Schrift sind für ihn Wegweiser, besonders auch dann, wenn es in ihm dunkel wurde.

Von jetzt an heißt es: „Ich muss immer auf Ihn, Christus, schauen.“ Die Frömmigkeit des Kartäusers wird tiefer, konkreter und persönlicher, nämlich gebunden an Christus. Er ist sein Ziel. Das erkennt der Kartäuser mit seinem schlichten Charakter ganz klar. Er soll ganz in Jesus aufgehen und ein zweiter Christus werden! „Das sei unser Programm: Das Leben Jesu in uns leben.“ Der Gedanke der Gottesgeburt in der Seele klingt an: „Wir wollen dieses Weihnachten feiern durch Maria und mit Maria, öffnen wir daher unsere Herzen, wenn Maria anklopft, um in uns Jesus zu gebären.“ Wunderbar weiß P. Anton Jans das Jesus-leben-in-sich mit Maria zu verbinden. Sie ist für ihn die Mittlerin aller Gnaden. Es ist ihr Werk, Jesus in seiner Seele zu gestalten.

Er unterscheidet sorgsam zwischen der Vereinigung mit Jesus Christus in der hl. Kommunion und der Vereinigung mit Jesus durch die Gnade. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis seines mystischen Denkens nicht ohne Bedeutung. Es beginnt sein Hineinwachsen in die Weite des mystischen Christus.

Der trinitarische Gesichtspunkt tritt besonders in den Tagen der Erleuchtung hervor, etwa während der Einzelexerzitien vor den ersten Gelübden. Zunächst ist es einfach der Gedanke der Heiligen Schrift, der ihn beseelt: „Wer mich liebt, wird mein Wort halten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Joh 14,23). Doch allmählich, nämlich ab Juli 1929, offenbart sich in seinen Aufzeichnungen ein tieferes Eingehen in das Innenleben der Heiligsten Dreifaltigkeit. Es zeigt sich einerseits eine spezifische Differenzierung seines Innenlebens gegenüber den drei göttlichen Personen. Andererseits tritt der Übergang zur Stufe der Einigung nicht mehr merklich hervor. Damit erreicht seine seelische Entwicklung einen Höhepunkt (Anfang 1930). Im August dieses Jahres kann er sagen: „In meiner Seele zeugt der Vater seinen Sohn.“

„Jesus, ich will Dich überall leben lassen, eine zweite Menschheit für Dich sein, um die Wunden Deines Herzens zu ehren“, schreibt er im Juli 1929. Das ist vielleicht das Schönste, was er über sein Verhältnis zu Christus gesagt hat. „Ganz Jesus, ganz Priester!“ – das ist seine Sehnsucht auch kurz vor seinem Heimgang am 28. Februar 1932.

Pater Anton Jans wurde zu einem einzigen Widerklang Christi. In einer seiner letzten Aufzeichnungen schrieb er an seine Familie: „Der liebe Gott ist überall; leider sind wir nicht bei Ihm, was das einzige wirkliche Übel ist, worüber wir uns betrüben sollten. Den ganzen Tag könnt Ihr mit dem Heiland in Verbindung sein, ohne dabei von der Pflichtarbeit abzustehen, weil Er bloß will, dass Ihr dies und jenes tut. Tun wir es also, weil Er es so will, so tun wir es aus Liebe zu Ihm, das heißt, wir sind in wahrer Vereinigung mit dem Heiland in der Liebe, die man nicht nötig hat zu fühlen, wohl aber zu leben.“

Pater Gerhard Ramakers

Wie bereits erwähnt, war der Mönch, der als Autor nicht genannt sein wollte und gemäß dem Brauch des Kartäuserordens zu seinen Lebzeiten auch nicht genannt wurde, Pater Gerhard Ramakers. Er wurde 1896 im niederländischen Echt unweit der deutschen Grenze geboren. 1917 trat er in die Kartause La Valsainte ein, wo er 1918 die Profess ablegte und 1923 zum Novizenmeister ernannt wurde. Als solcher hatte er einen großen Einfluss auf eine begeisterte junge Generation von Kartäusern, unter denen sich auch Pater Anton Jans befand. Neben verschiedenen Stationen in anderen Häusern des Ordens verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens in der deutschen Kartause Marienau, wo er am 3. April 1984 starb.

Professor Dr. Martin Grabmann, der das Buch von P. Gerhard Ramakers über Anton Jans 1934 herausgegeben hatte, schrieb in seinem Geleitwort: „So möge dieses Büchlein, das für den Theologen, für den gebildeten Laien und auch für den einfachen Gläubigen gleich verständlich geschrieben ist, hinausgehen als Künder der Wirklichkeit einer Welt des Übernatürlichen, als Mahner zur Besinnung auf die übernatürlichen Lebenskräfte, die in der Kirche geborgen sind, als Tröster und Wegweiser im Ringen und Kämpfen hochgemuter gottsuchender und liebender Seelen, als Zeuge für die unvergängliche Wahrheit, für den tiefen Erkenntnis- und Lebenswert der in dieser Schrift so oft angeführten Worte Christi: ,Wenn Mich jemand liebt, wird er Mein Wort halten; Mein Vater wird ihn lieben, und Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen (Joh 14,23).‘“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
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[1] Martin Grabmann (Hrsg.): Pater Anton Jans – Kartäuser und Mystiker, Neuauflage 2015, Taschenbuch, 190 S., ISBN 978-1516835973. Auch als E-Book erhältlich.

Ringen um den richtigen Weg in der frühen Kirche

Auseinandersetzung zwischen Heiligen

Worin besteht Heiligkeit? Dies zeigte Papst Benedikt bei der Generalaudienz am 31. Januar 2007 auf. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Paulus, Barnabas und Markus mache deutlich, dass es auch zwischen Heiligen Auseinandersetzung und Streit geben könne. Doch „die Fähigkeit zu Versöhnung und Vergebung macht uns heilig“.

Von Papst Benedikt XVI.

Barnabas bedeutet „Sohn der Ermahnung“ (Apg 4,36) oder „Sohn des Trostes“ und ist der Beiname eines aus Zypern gebürtigen jüdischen Leviten. Nachdem er sich in Jerusalem niedergelassen hatte, war er einer der ersten, die sich nach der Auferstehung des Herrn dem Christentum anschlossen. Mit großer Hochherzigkeit verkaufte er einen Acker, der ihm gehörte, und übergab den Erlös den Aposteln für die Bedürfnisse der Kirche (vgl. Apg 4,37). Er machte sich zum Gewährsmann der Bekehrung des Saulus bei der christlichen Gemeinde von Jerusalem, die dem ehemaligen Verfolger noch misstraute (vgl. Apg 9,27). Nachdem er nach Antiochia in Syrien gesandt worden war, holte er Paulus in Tarsus ab, wohin sich dieser zurückgezogen hatte; er verbrachte mit ihm ein ganzes Jahr und widmete sich der Evangelisierung dieser wichtigen Stadt, in deren Gemeinde Barnabas als Prophet und Lehrer bekannt war (vgl. Apg 13,1). So hat Barnabas im Augenblick der ersten Bekehrungen der Heiden begriffen, dass das die Stunde des Saulus war, der sich in seine Heimatstadt Tarsus zurückgezogen hatte. Er ging dorthin, um ihn aufzusuchen. So hat er in jenem wichtigen Augenblick Paulus gleichsam der Kirche zurückgegeben; er hat ihr in diesem Sinn den Völkerapostel noch einmal geschenkt.

Von der Gemeinde Antiochias wurde Barnabas zusammen mit Paulus in die Mission entsandt, und die beiden machten jene Reise, die unter dem Namen „erste Missionsreise“ des Apostels bekannt ist. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Missionsreise des Barnabas, denn er war der wahre Verantwortliche, dem sich Paulus als Mitarbeiter anschloss; sie erreichten die Regionen von Zypern und Zentral- und Südanatolien in der heutigen Türkei, mit den Städten Attalia, Perga, Antiochia in Pisidien, Ikonion, Lystra und Derbe (vgl. Apg 13-14). Zusammen mit Paulus begab sich Barnabas dann zum sogenannten Konzil von Jerusalem, wo die Apostel zusammen mit den Ältesten nach einer gründlichen Untersuchung des Problems beschlossen, die Praxis der Beschneidung von der christlichen Identität zu trennen (vgl. Apg 15,1-35). Nur so haben sie schließlich offiziell die Kirche der Heiden möglich gemacht, eine Kirche ohne Beschneidung: Wir sind einfach durch den Glauben an Christus Söhne Abrahams.

Die beiden, Paulus und Barnabas, gerieten dann zu Beginn der zweiten Missionsreise in eine Auseinandersetzung, weil Barnabas beabsichtigte, als Gefährten den Johannes, genannt Markus, mitzunehmen, während Paulus das nicht wollte, weil sich der junge Mann während der vorhergehenden Reise von ihnen getrennt hatte (vgl. Apg 13,13; 15,36-40). Es gibt also auch unter Heiligen Auseinandersetzungen, Zwietracht und Streitigkeiten. Und dies erscheint mir sehr tröstlich, weil wir sehen, dass die Heiligen nicht „vom Himmel gefallen“ sind. Sie sind Menschen wie wir, mit Problemen, die auch kompliziert sein können. Die Heiligkeit besteht nicht darin, nie einen Fehler, eine Sünde begangen zu haben. Die Heiligkeit wächst in der Fähigkeit zur Bekehrung, zur Reue, zur Bereitschaft, wieder neu anzufangen, und vor allem in der Fähigkeit zu Versöhnung und Vergebung. Und so kommt Paulus, der dem Markus gegenüber ziemlich hart und bitter gewesen war, schließlich wieder mit ihm zusammen. In den letzten Briefen des hl. Paulus, dem Brief an Philemon und im Zweiten Brief an Timotheus, tritt gerade Markus als „mein Mitarbeiter“ in Erscheinung. Also nicht der Umstand, nie einen Fehler begangen zu haben, sondern die Fähigkeit zu Versöhnung und Vergebung macht uns heilig. Und wir können alle diesen Weg zur Heiligkeit lernen. Auf jeden Fall reiste Barnabas zusammen mit Johannes, genannt Markus, um das Jahr 49 nach Zypern (vgl. Apg 15,39). Von dem Zeitpunkt an verlieren sich seine Spuren. Tertullian schreibt ihm den Brief an die Hebräer zu, was nicht ganz unwahrscheinlich ist, weil Barnabas, da er zum Stamm Levi gehörte, ein Interesse für das Thema des Priestertums haben konnte. Und der Brief an die Hebräer erläutert uns auf wunderbare Weise das Priestertum Jesu.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
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Die „Obrigkeitshörigkeit“ der Protestanten (Luther verstehen – Teil 5)

Christ und Gesellschaft

In einer Artikelserie zum bevorstehenden Reformationsgedenken geht Andreas Theurer in seinem fünften Beitrag auf das Verhältnis des Christen zur politischen Obrigkeit bei den reformatorischen Glaubensgemeinschaften ein. Die Aufgabe des Weihepriestertums durch die Reformation führte zur Abschaffung des bischöflichen Amtes. Damit stellte sich für die Protestanten die Frage nach der kirchlichen Autorität. Luther übertrug die gesamte Verantwortung für das Leben der Kirche den jeweiligen Landesherren. Theurer zeigt auf, wie sich diese weitreichende Entscheidung bis auf den heutigen Tag auswirkt.

Von Andreas Theurer

Die „neuen Lehren“ Martin Luthers führten zu einem völlig neuen Verhältnis zwischen Staat und Kirche bzw. zwischen Christ und Gesellschaft. Deshalb werden häufig negative politische Entwicklungen der Neuzeit den Kirchen der Reformation zur Last gelegt. Zum Beispiel wird oft der Judenhass des späten Luther mitverantwortlich gemacht für den Antisemitismus des Dritten Reichs oder das protestantische Staatskirchentum für die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen. (Freilich war Luthers Antijudaismus nur gegen die jüdische Religion gerichtet, nicht – wie bei den Antisemiten – gegen die „Rasse“!) Andererseits gilt die Reformation, insbesondere das moderne protestantische Synodalsystem vielen als großer gesellschaftlicher Fortschritt oder sogar als Vorbote der Demokratisierung.

In der Tat hat sich im Protestantismus ein deutlich anderes Verhältnis zwischen dem einzelnen Christen und seiner Obrigkeit entwickelt als im Katholizismus. Ich möchte versuchen, die Ursachen und Folgen dieser Entwicklung grob zu skizzieren. Wichtige Stichworte sind in diesem Zusammenhang das „Landesherrliche Kirchenregiment“ und die „Zwei-Reiche-Lehre“. Auch die völlig andere Bewertung des „gottgeweihten Leben“ spielt für die unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklung in beiden konfessionellen Systemen sicherlich eine Rolle.

Das „Landesherrliche Kirchenregiment“

Das „Landesherrliche Kirchenregiment“ bezeichnet die Sonderform der Kirchenleitung, die seit der Reformation in allen protestantischen Gebieten üblich wurde: Anders als in Schweden und England, wo die Könige lutherische bzw. anglikanische Bischöfe installierten, haben die deutschen evangelischen Fürsten das nicht zugelassen, sondern – entgegen Luthers Hoffnung – nach und nach die Kirchenleitung für sich selbst beansprucht. Die zum neuen Glauben übergetretenen Landesherren traten somit an die Stelle der in ihrem Herrschaftsgebiet entmachteten Bischöfe und übernahmen also nicht nur die Einsetzung und Besoldung der Pfarrer, sondern auch die Festlegung, welche Theologie an ihren Universitäten gelehrt werden sollte und welchem Bekenntnis ihre Untertanen zu folgen hatten. Ab dem 18. Jahrhundert, als der Konfessionswechsel ganzer Territorien nicht mehr durchsetzbar war, kam es sogar immer wieder vor, dass zum Katholizismus konvertierte Herrscher weiterhin nominell die Kirchenleiter ihrer protestantischen Staaten blieben, auch wenn sie die praktische Durchführung dieser Aufgabe einem „Konsistorium“, also einer Oberkirchenbehörde, übertragen mussten.

Folgen der Unterwerfung

Diese protestantische Verbindung von Thron und Altar verwirklichte somit all das, wogegen die Kirche im Investiturstreit im Hochmittelalter so leidenschaftlich gekämpft hatte. Sie bedeutete die völlige Unterwerfung der Kirche unter die Fürsten und ihre Vereinnahmung zu den Zwecken und Zielen der jeweiligen Regierung. Die Nachwirkungen dieser Haltung können bis heute in den vielen Konflikten zwischen der christlichen Lehre und der Mehrheitsmeinung beobachtet werden.

Synoden wählen Kirchenpräsidenten

Als in Deutschland mit der Revolution von 1918 die Personalunion von Fürst und evangelischem „Bischof“ zerbrach, standen die Protestanten vor einer großen Herausforderung. Seither wählen ihre Synoden Kirchenpräsidenten, die teilweise auch den Titel „Landesbischof“ führen. Dennoch ist ihre Machtposition bei weitem nicht mit der eines katholischen Bischofs vergleichbar. Ihre Stellung in der Kirche ähnelt mehr der des Bundespräsidenten in Deutschland. Die oberste Leitungsvollmacht in einer protestantischen Landeskirche liegt bei den Synoden, die in der Regel zu einem Drittel aus Pfarrern und zu zwei Dritteln aus Laien (die zum allergrößten Teil auch keine theologische Ausbildung haben) bestehen, die ihre Entscheidungen demokratisch fällen und dabei sogar tiefgreifende Änderungen der Lehre oder Praxis beschließen können (wie z.B. die Einführung der kirchlichen Trauung für gleichgeschlechtliche Paare!). Dass die Kirchenleitung in allen protestantischen Gemeinschaften also nicht bei den Bischöfen liegt sondern bei demokratisch gewählten Gremien, ist sicherlich der gravierendste Struktur-Unterschied zu den Kirchen altkirchlichen Modells.

Die „Zwei-Reiche-Lehre“

Früher war für die Lutheraner auch die „Zwei-Reiche-Lehre“ von großer Bedeutung. Demnach gibt es unter der Herrschaft Gottes „ein Reich zur Rechten“ und ein „Reich zur Linken“. Im „Reich zur Rechten“ regiert die Kirche. Sie verkündet das Wort, reicht die Sakramente, fördert die Bekehrung der Menschen und übt – wo nötig – Kirchenzucht (also z.B. öffentliche Buße, Ausschluss vom Abendmahl, Verwehrung eines christlichen Begräbnisses usw.). Im „Reich zur Linken“ herrscht der Staat. Nach Kapitel 13 des Römerbriefs ist der Christ verpflichtet, dem Staat zu gehorchen (egal ob Monarchie, Republik oder Diktatur), denn „alle Obrigkeit ist von Gott“ und sie hat das Recht und die Pflicht, das Schwert zu führen, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn man eine schlechte Regierung hat, ist das nach dieser Ansicht eine (verdiente) Strafe Gottes und auch einer solchen Obrigkeit muss man gehorchen. Wer als Christ das Rechte tut, braucht die Obrigkeit nicht zu fürchten. Und wenn es eine Regierung ist, die ungerecht handelt, dann wird Gott den Machtmissbrauch strafen. Der Untertan aber hat nicht das Recht zur eigenmächtigen Auflehnung oder gar Revolution. Wie ernst Luther diese Unterscheidung nahm, hat er 1525 im Bauernkrieg unmissverständlich deutlich gemacht, als er sich in gröbsten Worten gegen den gewalttätigen Aufstand der Bauern wandte und die Fürsten zum rücksichtslosen Durchgreifen gegen sie aufforderte. Die „Zwei-Reiche-Lehre“, die – vor allem im Luthertum – zu einem weitgehend unpolitischen Christentum geführt hatte, wurde in den letzten Jahrzehnten freilich weitgehend in den Hintergrund gedrängt. An ihre Stelle trat als breiter innerprotestantischer Konsens eine Haltung, die das politische Engagement der Christen und ihre bewusst vom Glauben inspirierte Einflussnahme auf die Politik anstrebt.

Geringschätzung des gottgeweihten Lebens

Eine weitere wichtige gesellschaftliche Umorientierung brachte der Protestantismus in Bezug auf die Wertschätzung des geistlichen und des weltlichen Standes.

Während für die altkirchliche Tradition die Abwendung von der Welt und der Eintritt in einen Orden sowie die Ehelosigkeit um des Himmelreichs willen hohe Wertschätzung genossen und als besonderes Charisma angesehen wurden, konnte der Protestantismus bis vor wenigen Jahrzehnten mit diesen scheinbar nutzlosen, unproduktiven und schöpfungswidrigen Lebensformen gar nichts anfangen. Für die Reformatoren war es die Aufgabe des Menschen, in seinem jeweiligen Stand der Gesellschaft zu dienen: als Adeliger, als Prediger oder als Bauer (bzw. Handwerker oder Arbeiter), sowie in all diesen Ständen als Vater oder Mutter. Der Verzicht auf die Ehe galt ihnen als unnatürlich und ein Leben in Kontemplation als unnütz.

Wirtschaftliche Produktivität als Christenpflicht

Eine Religion, die in Einheit mit der Staatsideologie Arbeit als Form des Gottesdienstes und Produktivität als Bürgerpflicht lehrt, kann in der Tat als die wesentliche Ursache eines wirtschaftlichen und bildungsmäßigen Vorsprungs der protestantischen Gebiete vor den katholischen und orthodoxen anerkannt werden, der sich seit der Zeit der „Aufklärung“ überall auf der Welt und natürlich auch in Deutschland deutlich abzeichnete. Die Abschaffung der Klöster, aller Wallfahrten, der meisten Feiertage und nach und nach aller Wochengottesdienste und die Verwendung der damit gewonnen Zeit und Menschen für die Volkswirtschaft, nicht zu vergessen die viel größere Sparsamkeit im Bau und in der Ausstattung der Gotteshäuser, bewirkten einen entsprechenden Aufschwung, der bis in unsere Zeit auch im Ortsbild von katholischen und evangelischen Dörfern erkennbar war.

Unterschiedliche Akzentsetzung in der katholischen Kirche

Die katholische Kirche hat in den letzten zwei Jahrhunderten große Anstrengungen unternommen, den Bildungsrückstand der katholischen Völker aufzuholen. In vielen Teilen der Welt ist dies auch gelungen und katholische Schulen genießen hohe Anerkennung. Anders als im Calvinismus oder in manchen Freikirchen kann aber ein Katholik nie auf die Idee kommen, wirtschaftlicher Wohlstand wäre ein Zeichen für die Auserwählung durch Gott.

Die evangelischen Werke der Diakonie und Mission wurden stets von bewundernswerter Opferbereitschaft und unermüdlichem Einsatz getragen. Aber auch in Zukunft werden wohl gläubige Katholiken im Durchschnitt mehr Zeit, Kraft und Geld als fromme Protestanten in solche Werke der Frömmigkeit investieren, die nicht zuerst dem Nächsten, sondern „nur“ Gott und der Kirche dienen. Nach katholischem Glauben sind freilich auch diese Güter gut angelegt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
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Zu den Beiträgen über Neuevangelisierung

Die Häresie des Aktionismus

Dass eine neue Evangelisierung zeitgemäße Methoden einsetzen muss, steht für Ehrendomherr Edmund Dillinger außer Zweifel. Doch sieht er auch im missionarischen Engagement die Gefahr, einem Aktionismus zu verfallen. Wenn es der Herr sei, der das Reich Gottes aufbaut, dann müsse gerade auch die Mission aus dem Gebet und den Sakramenten hervorgehen. „Die irregeführten Modernisierer werden aussterben und die wahre Kirche Jesu wird voller Lebenskraft erglänzen“, so Dillinger. Und er fügt hinzu: „Am Ende werden wir überrascht und beglückt, vielleicht aber auch beschämt über den reichen Fischfang unseres Lebens sein.“

Von Edmund Dillinger

In unserer heutigen Gesellschaft ist es notwendig, dem Ruf unseres Herrn Jesus Christus zu folgen, der uns aufträgt: „Fahrt hinaus auf die hohe See und werft eure Netze aus!“ (vgl. Lk 5,4).

Heute versucht man uns einzureden, man dürfe nicht mehr missionieren, jeder müsse seine eigene Religion behalten oder sogar glaubenslos leben dürfen. Doch der Aufruf Jesu zur Mission gilt besonders auch für uns heute: „Geht hinaus in alle Welt, lehret alle Völker und tauft sie!“ (vgl. Mt 28,19).

Sind wir bereit, von unserem Glauben Zeugnis zu geben in einer Gesellschaft, in der man verlacht und verspottet wird, wenn man sich als religiös und an Gott glaubend bekennt?

In einem Boot auf die hohe See hinauszufahren und die Netze auszuwerfen, scheint vielleicht ein Vergnügen, ein lustiger Ausflug zu sein. Aber wenn dies ständig, Tag für Tag, bei Hitze und Kälte, bei Tag und Nacht, bei Sturm und Gefahr, bei hohem Wellengang geschehen soll, dann sieht die Angelegenheit schon anders aus. Dazu kommt noch, dass oft ein solcher Versuch des Fischfangs ohne Erfolg endet.

Übertragen auf unser tägliches kirchliches Leben heißt dies: Es ist verhältnismäßig leicht, in jungen Jahren die Fahrt ins Leben zu wagen. Denken wir an das „Ja“ am Traualtar oder das „Adsum“ bei der Priesterweihe. Aber es ist nicht mehr ganz so leicht, dieses Versprechen jahraus, jahrein zu halten, in der Ehe mit ihren täglichen Schwierigkeiten und Herausforderungen, in der Familie bei Missverständnissen und Kummer, im Dienst Gottes, in der ewig gleichen Tretmühle des pastoralen Berufs. Wenn Schwierigkeiten, Unglück, Leid, Krankheit und Tod kommen – wer wird da nicht müde und verzagt, wer möchte nicht resignieren, aufgeben, vor dem Leben kapitulieren?

Vielen Menschen geht es heute trotz Wirtschaftswunder und Hochkonjunktur sehr schlecht. Sie erfahren: Geld macht nicht glücklich. Besonders viele junge Menschen sind innerlich leer, ziellos, sie erkennen keinen Lebenssinn mehr. Die Angst davor, dem heutigen Tempo des Lebens nicht mehr gewachsen zu sein, ist die Ursache vieler Krankheiten und oft auch der Flucht aus dem Leben. So kommt es zu Kurzschlusshandlungen wie Selbstmord und Gewalttaten. Die allzu große Betriebsamkeit ist eine moderne Irreführung, eine Irrlehre. Man hat sie „Häresie der Aktion“ getauft.

Hat dieser Aktionismus nicht auch Einzug in unsere Kirche gehalten? Unsere Priester und Bischöfe sind überfordert von den vielen Konferenzen und Sitzungen, von den Ausschusstagungen und der umfangreichen Bürokratie. Auch der ständige Schrei nach Reformen, nach Umwandlungen und Erneuerungen machen die Menschen, auch die Christen in der Kirche, krank, denn wir alle suchen einen Ort der Beheimatung, wo wir uns wohlfühlen durch die altbekannte Umgebung, durch die Gewohnheit, durch das bekannte Überlieferte.

Selbstverständlich müssen wir in der Seelsorge die modernen Kommunikationsmittel gebrauchen, mit zeitgemäßen Methoden arbeiten, uns in die sozialen Verhältnisse der pluralistischen Gesellschaft eingewöhnen und unsere Verkündigung sachgerecht einbringen. Doch muss es wieder unsere tiefste Überzeugung werden, dass nicht Bürokratie und Verwaltung das Wesen der Kirche ausmachen, sondern Gebet, gut gestaltete liturgische Feier, Spendung der Sakramente, besonders der Buße, gute Belehrung der Kinder in der Vorbereitung auf Erstkommunion und Firmung.

Es ist eine Falschmeinung, man könne das Reich Gottes durch Aktionismus und Sitzungen erzwingen. Was sagt Paulus? „Ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, das Gedeihen aber hat Gott gegeben“ (1 Kor 3,6). Rosenkranz, Andachten, Meditation und Innerlichkeit, Askese, stilles Gebet daheim und in der Kirche (viele Kirchen sind ständig verschlossen), besonders das private Lesen in der Heiligen Schrift sind wichtige, aber heute weitgehend vernachlässigte religiöse Handlungen.

Petrus antwortete auf die Aufforderung Jesu, auf den See hinauszufahren: „Auf dein Wort hin will ich es tun“ (vgl. Lk 5,5). Seien wir uns in der Seelsorge bewusst, dass wir nichts allein mit eigenen Kräften tun können. Auch mit den besten Plänen und Synodenergebnissen erreichen wir gar nichts. Vertrauen wir darauf, dass Jesus alles in uns und durch uns tut. Glauben wir fest, dass Jesus bei uns im Schiff der Kirche ist und uns im Sturm nicht untergehen lässt. Dann wird auch Friede, Freude und Trost in uns sein und wir werden neuen Lebensmut und Kraft zur Seelsorge erhalten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
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Interview mit Bischof António Marto von Leiria-Fátima

Eingreifen Gottes in die Geschichte

Bereits am 13. Mai 2016 erneuerte die portugiesische Bischofskonferenz in Fatima die Weihe Portugals und der Kirche in Portugal an das Unbefleckte Herz Mariens. An diesem Tag war die Statue des Heiligtums nach einer einjährigen Pilgerreise durch alle Diözesen wieder in die Erscheinungskapelle zurückgekehrt. Mit einem siebenjährigen Programm bereitet sich das Land auf die Hundertjahrfeier der Marienerscheinungen vor. Der zuständige Ortsbischof von Leiria-Fátima, António Marto, geht in besonderer Weise auf die Bedeutung der Fatimabotschaft für unsere Zeit ein. Das Interview führte Pfarrer Dr. Thomas Maria Rimmel als Mitarbeiter von K-TV sowohl für den Fernsehsender als auch für unsere Zeitschrift. Für die Übersetzung aus dem Portugiesischen stand uns dankenswerterweise Ana Reis zur Seite.

Interview mit Bischof António Marto, Leiria-Fátima

Kirche heute: Exzellenz, welche Bedeutung hat die Botschaft von Fatima für die Welt von heute?

Bischof Marto: Die Erscheinungen Unserer Lieben Frau von Fatima sind ein übernatürliches Ereignis, ein Eingreifen Gottes in die Geschichte der Menschheit durch Maria, und zwar zu einem dramatischen Zeitpunkt. Sie erfolgten im geschichtlichen und politischen Kontext des ersten Weltkriegs, der gerade stattfand. Gleichzeitig berührt die Botschaft von Fatima auch den zweiten Weltkrieg. Die beiden Kriege mit ihren Schrecken und ihrem Völkermord sind ein Ausdruck der Verweltlichung und der Sünde in der Welt.

Die Botschaft von Fatima ist also eine ernste Ermahnung an die Welt, darüber nachzudenken, welchen Weg sie eingeschlagen hat, und ein Aufruf zur Bekehrung der Herzen für den Frieden in der Welt.

Sie ist eine Botschaft der Ermahnung auch im Blick auf die aktuelle Situation, die wir in der heutigen Welt erleben, einer zerbrechlichen Welt, die, wie Papst Franziskus sagt, „den dritten Weltkrieg stückweise erlebt“.

Sie ist aber auch eine Botschaft der Hoffnung und des Trostes, die besagt, dass es möglich ist, den Hass und den Krieg mit der Liebe und der Bekehrung der Herzen zu besiegen.

Kirche heute: Papst Benedikt hat gesagt: „Wer glaubt, dass die prophetische Mission Fatimas beendet sei, irrt sich.“ Was heißt das?

Bischof Marto: Es bedeutet, dass die Botschaft von Fatima auch weiterhin den ständigen Kampf zwischen Gut und Böse im Laufe der Geschichte offenbart. Es geht um die Mächte des Bösen und die Leiden, die so der Menschheit und der Welt zugefügt werden. Gleichzeitig aber geht es um die Hoffnung, dass es möglich ist, diese Mächte zu besiegen, mit der Gnade und Barmherzigkeit Gottes und mit unserem Mitwirken durch die Bekehrung der Herzen und die Wiedergutmachung der Sünden der Welt.

Kirche heute: Welche Erfahrung haben Sie mit dem Rosenkranzgebet?

Bischof Marto: Das Rosenkranzgebet ist eines der Gebete, um die Unsere Liebe Frau gebeten hat. Es führt uns in das Geheimnis der Liebe und Barmherzigkeit Gottes für die Menschheit ein. Wenn ich den Rosenkranz bete, fühle ich mich im Einklang mit den Geheimnissen Christi, so, wie Maria sie erlebt hat. Nach ihrem Beispiel sind auch wir heute aufgefordert, diese Geheimnisse zu leben, als Weg der Betrachtung und der Bekehrung. In Vereinigung mit den Leiden der Welt ist es ein Gebet für den Frieden, ein Gebet, das den Herzen Frieden bringt, um diesen Frieden dann im Alltag durch unser Zeugnis auszustrahlen. 

Kirche heute: Was macht die Heiligkeit der Hirtenkinder von Fatima aus?

Bischof Marto: Die Heiligkeit der Hirtenkinder ist in ihrer Selbsthingabe begründet, welche sie Gott durch Maria aufgeopfert haben. Als die Liebe Frau sie fragte: „Wollt ihr euch Gott anbieten, um mit ihm zusammenzuwirken, auch wenn ihr dabei leiden werdet, für die Erlösung der Welt?“, antworteten sie: „Ja“. Darin ist die Heiligkeit von allen drei Kindern begründet. Es ist gleichzeitig die christliche Heiligkeit, die von der Taufe ausgeht.

Sodann erlebte jeder einzelne von ihnen die Botschaft auf seine besondere Weise: Bei Jacinta war es eine einfühlsamere Art, die vom Mitgefühl gekennzeichnet war. Wie sie das Leid der Welt und das Leid der Sünder fühlte, brachte sie Opfer für die Bekehrung der Sünder und die Bekehrung der Welt dar.

Die Heiligkeit Franciscos war mehr von der Kontemplation gekennzeichnet. Er betrachtete Gott, wie er angesichts des Weltgeschehens und des Zustands dieser Welt unglücklich und traurig ist. So versuchte er wie ein Sohn, den Vater zu trösten. Um im Einklang mit Gott zu sein, war er kontemplativer. Er zog sich zurück, um das Geheimnis Gottes zu betrachten. Und es ist sehr interessant; denn er sprach als Kind eine so tiefe theologische Wahrheit in so einfachen Worten aus. Er sagte: „Ich habe mich sehr gefreut, den Engel zu sehen. Noch mehr Freude empfand ich beim Anblick Unserer Lieben Frau. Am schönsten aber fand ich den Heiland in jenem Licht, das Unsere Liebe Frau in unsere Brust strahlen ließ und welches brannte, ohne uns zu verbrennen. Oh, wie Gott ist! Ich liebe Gott so sehr!“ Das – von einem Kind gesagt – ist wunderbar! Denn darin besteht einer der grundlegenden Aspekte der Botschaft von Fatima, nämlich die Anbetung Gottes, Gott in das Zentrum unseres persönlichen Lebens, des Lebens der Kirche und des Lebens der Welt zu stellen.

Kirche heute: Welche Bedeutung hat die Botschaft von Fatima heute für den Frieden in der Welt?

Bischof Marto: Ich hatte bereits gesagt, dass Fatima das Böse in der Welt offenbart, aber auch die Gnade der Barmherzigkeit, die in den Dramen der Geschichte siegt. Gleichzeitig ruft uns Fatima ganz besonders dazu auf, mit Gott bei der Errichtung des Friedens in der Welt zusammenzuwirken. Denn Unsere Liebe Frau kam, von Gott gesendet, hierher, um nach Mitwirkenden zu suchen. Dies sagte Papst Benedikt XVI. bei seiner Predigt hier im Jahr 2010. Sie kam, um Mitwirkende für das Werk der Erlösung und für das Werk des Friedens auf der Welt zu suchen, und zwar durch die Wiedergutmachung. Die Wiedergutmachung ist ein sehr bedeutender Aspekt der Botschaft, der manchmal von den Menschen nicht verstanden wird. Es handelt sich um eine Einladung, der Banalität und der Fatalität des Bösen Widerstand zu leisten und sich nicht durch das Böse besiegen zu lassen, sondern das Böse durch die Wiedergutmachung des Bösen zu besiegen, die Wiedergutmachung dessen, was das Böse produziert, die Wirkungen, die Sünde, die das Böse auf der Welt hervorruft. Deswegen ist Fatima eine ständige Quelle des Friedens, und zwar nicht nur des Friedens der Welt, sondern des Friedens der Herzen. Denn der Friede der Welt beginnt in jedem einzelnen. Wenn ein Mensch keinen Frieden in sich trägt, kann er auch der Welt keinen Frieden weitergeben. Fatima und das Heiligtum sind eine Oase des Friedens für die Menschen und für die Familien und somit auch für die Welt.

Kirche heute: Kardinal Clemente hat kürzlich gesagt, man könne Fatima nicht verstehen ohne Portugal und Portugal nicht ohne Fatima. Was heißt das?

Bischof Marto: Man müsste diese Frage dem Kardinal stellen. Ich verstehe es so, wie es Papst Benedikt XVI. hier in Fatima ausgedrückt hat: Fatima ist das geistliche Herz Portugals! Das Herz im Körper empfängt das Blut und sendet es gereinigt und erneuert in den gesamten Organismus zurück. Fatima ist in der Tat das Zentrum, die besagte Oase der geistlichen Erneuerung für ganz Portugal. Sechs Millionen Pilger kommen jährlich nach Fatima, 75 Prozent davon sind Portugiesen. So ist Fatima ein Ort der Neubelebung des Glaubens und des geistlichen Lebens. Hier wird also Portugal geformt! Denn es sind nicht nur die Politiker, welche eine Nation, einen Staat erbauen, es sind die Bürger. Und wenn die Bürger eine tiefe Spiritualität besitzen, dann bringen sie die grundlegenden Tugenden zum Einsatz und helfen somit ebenfalls an der Errichtung eines Landes mit. Deswegen gehört Fatima zum Herzen Portugals und bildet das geistliche Herz des Landes.

Kirche heute: Was bedeutet die Botschaft von Fatima für Sie persönlich?

Bischof Marto: Ich erzähle ein wenig von meiner persönlichen Geschichte. Lange Zeit hatte ich überhaupt kein Interesse an Fatima. Als ich in Rom mein Theologiestudium beendet hatte, befanden wir uns in einer Zeit des Rationalismus. Auch der Glaube ging durch das Sieb der Vernunft und so betrachtete ich Fatima als ein Heiligtum der Volksfrömmigkeit. Ich dachte, die Botschaft wäre eher an Kinder gerichtet. Dann wurde ich 1997 – ich war damals Dozent für Sakramententheologie am Lehrstuhl für Liturgie in Porto – zum 80. Jahrestag der Erscheinungen eingeladen, einen Vortrag über die Eucharistie in der Botschaft von Fatima zu halten. So las ich zum ersten Mal die Erinnerungen von Schwester Lucia. Und ich war von der Authentizität der Erzählung und vor allem von der Bedeutung der Botschaft wirklich beeindruckt. Ich stellte fest, dass die Botschaft viel bedeutender war, als ich ursprünglich angenommen hatte, vor allem weil es um die Beziehung Gottes zur Geschichte der Menschheit geht. Es ist eine Botschaft der Barmherzigkeit an eine Welt, die durch die Weltkriege das Risiko der Selbstvernichtung eingegangen war. Und so las ich die Erinnerungen drei Mal, auf der Suche nach den hermeneutischen Schlüsseln zum Verständnis der Botschaft. Was mich am meisten berührte, war der genannte Satz von Francisco, der zur Anbetung Gottes einlädt. Dies brachte eine große Erneuerung meines Glaubens und meiner Spiritualität mit sich.

Ein anderer Aspekt war die Liebe der Mutter. Ich habe verstanden, dass der Glaube unseres Volkes durch das mütterliche Herz Mariens angesprochen wird. Es ist die Sprache von Herz zu Herz und eine Sprache, die jeder versteht: eine Sprache der Liebe und der Barmherzigkeit, die wunderschön ist! Und so wurde ich für den Ausdruck des Glaubens und der Marienverehrung unseres Volkes sensibel.

Kirche heute: Fatima, eine Botschaft für das Herz, wie Sie eben gesagt haben. Was bedeutet für Sie die Verehrung des Unbefleckten Herzens Mariens?

Bischof Marto: Das Unbefleckte Herz Mariens, das auch in der Botschaft von Fatima vorkommt, ist ein Symbol, eine Ikone der Barmherzigkeit Gottes, die im Herzen der Mutter vollkommene Gestalt annimmt und durch das mütterliche Herz Mariens zu uns kommt. Und es ist die Sprache des Herzens, die jeder versteht, wie Kardinal Newman sagte: „Cor ad cor loquitur“ – „das Herz spricht zum Herzen“. Niemand bleibt diesem Herzen gegenüber gleichgültig, sondern fühlt sich angesprochen. Papst Benedikt XVI. zeigte hier die Schönheit der Verehrung des Unbefleckten Herzen Mariens auf. Unsere Liebe Frau pflanzt durch ihr Unbeflecktes Herz in das Herz ihrer Verehrer, ihrer Kinder die Liebe zu Gott ein, die in ihrem Herzen existiert. Somit bringt uns die Verehrung des Unbefleckten Herzen Mariens in Einklang mit dem Herzen des Vaters, zusammen mit Maria.

Kirche heute: Dieses Jahr haben die portugiesischen Bischöfe die Weihe Portugals an das Unbefleckte Herz Mariens erneuert. Warum dieses Jahr? Gab es einen Anlass?

Bischof Marto: Ja, denn wir feiern hundert Jahre der Erscheinungen und haben die Feier dieses Jubiläums nicht auf das Jahr 2017 beschränkt. Vielmehr haben wir ein siebenjähriges Programm erarbeitet, um alle Aspekte der Botschaft von Fatima vertiefen zu können. Wir wollten das gesamte Volk Gottes in Portugal miteinbeziehen und das Gedenken nicht nur auf Kongresse für Experten oder Neugierige reduzieren. So besuchte die Pilgermadonna im Lauf eines Jahres alle Diözesen Portugals. Sie wurde hier vom Heiligtum aus ausgesandt und kehrte erst ein Jahr später, am 13. Mai 2016, wieder zurück. Zum Abschluss und Höhepunkt dieser „Wallfahrt“ der Statue war die gesamte Bischofskonferenz in Fatima anwesend, um Unserer Lieben Frau für ihren Besuch zu danken. In diesem Rahmen erneuerte sie die Weihe Portugals und der Kirche in Portugal an das Unbefleckte Herz Mariens. Das war der Anlass. 

Kirche heute: Schwester Lucia schreibt: „In Portugal wird sich immer das Dogma des Glaubens erhalten.“ Wie dürfen wir das verstehen?

Bischof Marto: Ich würde gerne eine klare und vollständige Antwort geben, doch, um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass es sich um ein Versprechen seitens Unserer Lieben Frau handelt. Und ich hoffe, dass wir Portugiesen diesem Versprechen und diesem Geschenk Unserer Lieben Frau gerecht werden und dass wir diese Gnade und diesen Segen des Himmels nie vergessen, der hier auf die Erde herabgestiegen ist, der hier seinen Anfang genommen hat und der hier zum ersten Mal mitgeteilt worden ist.

Kirche heute: Die Gottesmutter hat hier in Fatima gesagt: „Am Ende wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren.“ Wie dürfen wir diese Worte verstehen?

Bischof Marto: Papst Benedikt XVI. gab hier in Fatima die Interpretation, das mütterliche Herz Mariens sei die Garantie dafür, dass die barmherzige Liebe Gottes über die Dramen der Geschichte triumphieren werde, dass das letzte Wort der Geschichte immer die Güte und Barmherzigkeit Gottes sein werde, doch ohne diesem ein Zeitlimit zu geben.

Kirche heute: Was können wir für Fatima tun?

Bischof Marto: Ich hatte ja gesagt, dass Unsere Liebe Frau nach Mitwirkenden sucht, für die Bekehrung der Welt, für die Erneuerung der Kirche und für die Verlebendigung des Glaubens auf der ganzen Welt. Also sind auch wir dazu aufgerufen, daran mitzuwirken, dass die Schönheit und der Reichtum der Botschaft, die Unsere Liebe Frau von Fatima der Welt gebracht hat, übermittelt werden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
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Die Engelerscheinungen in Fatima 1916 (Teil 2)

Vorbote der Marienerscheinungen

Die drei Engelerscheinungen von Fatima im Jahr 1916 bilden den Auftakt zu den anschließenden Erscheinungen der Gottesmutter. Sie sind einerseits ein integraler Bestandteil der sog. „Fatimabotschaft“, andererseits eine inhaltliche Vorbereitung auf die späteren Ereignisse. Pfarrvikar Christian Stadtmüller erschließt vor allem den Sinn der Gebete, welche der Engel die Kinder gelehrt hat. Man kann es als göttliche Pädagogik bezeichnen, wie durch die einfachen und doch so tiefen Worte und Gesten des Engels entscheidende Geheimnisse der christlichen Offenbarung wieder ganz neu ins Bewusstsein gebracht worden sind. Nachfolgend der zweite Teil seines Vortrags vom 18. Juli 2016, in dem er die zweite und dritte Erscheinung des Engels behandelt.

Von Christian Stadtmüller

Die zweite Erscheinung des Engels

Lúcia dos Santos berichtet von drei Erscheinungen eines Engels im Jahr 1916.[1] Wie es in ihren Erinnerungen heißt, hat die erste Erscheinung im Frühjahr stattgefunden. Weiter schreibt sie: „Längere Zeit danach spielten wir an einem Sommertag, an dem wir die Zeit der Mittagsruhe zu Hause verbrachten, an einem Brunnen, den meine Eltern im Hof hatten und den wir Arneiro nannten. … Plötzlich sahen wir vor uns die gleiche Gestalt, den Engel, wie mir schien. Er sagte: Was macht ihr? Betet, betet viel! Die Herzen Jesu und Mariens haben mit euch Pläne der Barmherzigkeit vor. Bringt dem Allerhöchsten unaufhörlich Gebete und Opfer dar. – Wie sollen wir Opfer bringen?, fragte ich. – Macht aus allem ein Opfer, um die Sünden gut zu machen, durch die er beleidigt wird, und die Bekehrung der Sünder zu erflehen. Gewinnt so für euer Vaterland den Frieden. Ich bin sein Schutzengel, der Engel Portugals. Vor allem nehmt das Leid an und ertragt in Ergebung, was der Herr euch schicken wird."[2]

1. Einführung in die Sühnethematik

Nach der ersten Andeutung der Möglichkeit, für andere und für deren Hass und Gleichgültigkeit um Verzeihung zu bitten,[3] eröffnet der Engel bei seiner zweiten Erscheinung den Weg, durch die eigene Liebe, Anbetung, Hoffnung und den Glauben den Mangel anderer daran zu sühnen. Das große Thema der Botschaften von Fatima wird damit offenbar: die Sühne.

Die Opfer, die die Kinder bringen sollen, werden vom Engel in Verbindung gebracht mit dem Plan der Barmherzigkeit, den die Herzen Jesu und Mariens hegen. Weil „Gott … in Christus die Welt mit sich versöhnt“ hat (2 Kor 5,19), ist die Erlösung nicht das Werk des Menschen, sondern ein Werk Gottes. Sie ist Geschenk der göttlichen Barmherzigkeit an uns und benötigt an sich keiner Ergänzung. Denn der Tod Jesu ist die höchste Form der Liebe und das vollendete Einstehen hinter seinem Wort: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13).

Seine Liebe aber, so Karl Wallner, „ist eben gerade in dem Sinn einmalig, dass sie schon alle künftige Liebeshingabe ermöglicht und umfasst. Niemand kann mehr lieben als Christus, niemand kann tiefer lieben als Christus. In Christus gibt Gott dem Menschen die Chance, selbst mit letzter Liebe an der Vollendung der Welt mitzuarbeiten. Daher sind die Christen eingeladen, in die Haltung Christi einzutreten, eben der Gesinnung nach ein ‚zweiter Christus‘ zu werden. Die höchste Form, in Christus zu sein, ist, wie Christus zu lieben. Die höchste Weise, wie Christus liebt, ist die Sühneliebe. Wenn daher jemand wirklich in Christus ist und in Christus liebt, dann hat er auch Anteil an den Wirkungen, welche die Sühneliebe Christi hervorbringt. Er ergänzt, was an den Leiden Christi fehlt."[4]

2. Lebenshaltung der Buße und Sühne

Der Engel macht in seinem Aufruf an die Kinder, ständig Gebet und Opfer darzubringen, deutlich, dass jene Hinwendung zu Gott kein punktuelles oder isoliertes Handeln des Einzelnen sein kann, sondern zu einer gewissen Lebenshaltung werden muss. Karl Wallner bezeichnet diese Haltung der Sühne als „Bereitschaft, sich geistig mit dem Opfer Christi zu verbinden und so die Sünden der anderen stellvertretend zu tragen. Ein Christ nimmt Sühne auf sich, indem er für Gottferne und Verlorenheit der anderen durch Gebet und Opfer vor Gott eintritt. Er nimmt die eigenen Leiden und Gebrechen, Entbehrungen bewusst auf sich als Fürbitte für jene, die der Barmherzigkeit Gottes mehr und am meisten bedürfen."[5]

Lúcia stellt in ihren Überlegungen heraus, dass es sich bei diesen Opfern um „Opfer von geistigen, intellektuellen, moralischen, physischen und materiellen Gütern"[6] handeln kann. „Wir können diese oder jene als Gabe bringen. Wichtig ist, dass wir bereit sind, die Gelegenheiten, die sich uns bieten, zu benützen; wir sollen uns selber opfern, wenn es gefordert wird, in der Erfüllung unserer Pflichten Gott, dem Nächsten und uns selber gegenüber."[7] Schwester Lúcia mahnt im Hinblick auf das tägliche Opfer: „Ja, wie kann jemand ein Freund Gottes sein, der keine Opfer bringt, die nötig sind, um auf dem Weg seiner Gebote zu gehen, der nicht verzichtet auf unerlaubte Freuden, der dem Stolz, der Eitelkeit, jeglicher Begierde, des Geizes, übertriebener Bequemlichkeit nachgibt, dem es an Liebe und Gerechtigkeit dem Nächsten gegenüber fehlt, der rüttelt am Joch des täglichen Kreuzes oder es aus bösem Willen mitschleppt, ohne sich dem Kreuz Jesu anzugleichen und sich mit ihm zu vereinigen?"[8]

„Macht aus allem, was ihr könnt, ein Opfer“ bedeutet das Leben als ein großes Werk der Buße zu verstehen und selbst die banalsten Dinge als Möglichkeit zu sehen, Gott die eigene Liebe zu zeigen. Der Alltag, der dem Menschen Mittel zur Heiligkeit werden kann, wird später vom hl. Josemaría Escrivá und schließlich auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgegriffen: Die Christen in der Welt sind „von Gott gerufen, ihre eigentümliche Aufgabe, vom Geist des Evangeliums geleitet, auszuüben und so wie ein Sauerteig zur Heiligung der Welt gewissermaßen von innen her beizutragen und vor allem durch das Zeugnis ihres Lebens, im Glanz von Glaube, Hoffnung und Liebe Christus den anderen kund zu machen. Ihre Aufgabe ist es also in besonderer Weise, alle zeitlichen Dinge, mit denen sie eng verbunden sind, so zu durchleuchten und zu ordnen, dass sie immer Christus entsprechend geschehen und sich entwickeln und zum Lob des Schöpfers und Erlösers gereichen."[9]

Schließlich war die Haltung, aus allem ein Opfer zu machen, der Weg, den Jacinta und Francisco beschritten, um schon als Kinder heilig zu werden.

Die dritte Erscheinung des Engels

Schwester Lúcia schreibt: „So verging einige Zeit und wir waren mit unseren Herden auf dem Weg zu einem Grundstück meiner Eltern, das am Abhang des schon erwähnten Berges liegt, ein bisschen über den Valinhos. … Nachdem wir gegessen hatten, beschlossen wir, zur Höhle zu gehen, die auf der anderen Seite des Berges lag. Wir machten darum eine Runde um den Berg und mussten einige Felsen hinaufklettern, die auf dem Gipfel … liegen. Den Schafen gelang es mit großer Mühe, sie zu überqueren. Als wir dort ankamen, begannen wir auf den Knien, die Gesichter am Boden, das Gebet des Engels zu wiederholen: Mein Gott, ich glaube an dich, ich bete dich an, ich hoffe auf dich und ich liebe dich usw. Ich weiß nicht, wie viele Male wir dieses Gebet wiederholt hatten, als wir über uns ein unbekanntes Licht erstrahlen sahen.

Wir richteten uns auf, um zu sehen, was vor sich ging und sahen den Engel. In der linken Hand hielt er einen Kelch; darüber schwebte eine Hostie, aus der einige Blutstropfen in den Kelch fielen. Der Engel ließ den Kelch in der Luft schweben, kniete sich zu uns nieder und ließ uns dreimal wiederholen: Heiligste Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, in tiefer Ehrfurcht bete ich dich an und opfere dir auf den kostbaren Leib und das Blut, die Seele und die Gottheit Jesu Christi, gegenwärtig in allen Tabernakeln der Erde, zur Wiedergutmachung für alle Schmähungen, Sakrilegien und Gleichgültigkeiten, durch die er selbst beleidigt wird. Durch die unendlichen Verdienste seines heiligsten Herzens und des Unbefleckten Herzens Mariens bitte ich dich um die Bekehrung der armen Sünder.

Danach erhob er sich, ergriff den Kelch und die Hostie, reichte mir die heilige Hostie und teilte das Blut im Kelch zwischen Jacinta und Francisco auf, wobei er sprach: Empfangt den Leib und das Blut Jesu Christi, der durch die undankbaren Menschen so furchtbar beleidigt wird. Sühnt ihre Sünden und tröstet euren Gott."[10]

1. Der ganze Herr im Sakrament

Mit den Kindern wiederholend macht der Engel bei der dritten Erscheinung klar, um wen und was es in dem Kelch geht, den sie anbeten. Es ist nichts anderes als das Geheimnis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, mit dem der Mensch in der Eucharistie konfrontiert wird. Groß und unbegreiflich ist vielen dieses Geheimnis geblieben. Der Herr selbst sagt nach seiner eucharistischen Rede, in dem er sich als das „Brot des Lebens“ bezeichnet und betont, dass sein Fleisch wirklich eine Speise ist und dabei auf Unverständnis stößt: „Wollt auch ihr weggehen?“ (Joh 6,67).

Der hl. Josemaría Escrivá schreibt: „Der Herr kann das, was wir nicht können. Jesus Christus, vollkommener Gott und vollkommener Mensch, hinterlässt uns [in der Eucharistie] nicht ein Zeichen, sondern eine Wirklichkeit: Er selbst ist es, der bleibt. Er wird zum Vater gehen und bei den Menschen bleiben. Er gibt uns nicht bloß ein Geschenk, das die Erinnerung an ihn wachhalten soll, etwa ein Bild, dessen Konturen mit der Zeit verblassen, oder ein Foto, das vergilbt und denen belanglos erscheint, die damals nicht dabei waren. Er selbst ist wirklich gegenwärtig unter den Gestalten von Brot und Wein: gegenwärtig mit seinem Leib, seinem Blut, seiner Seele und seiner Gottheit."[11]

Anzunehmen, es handele sich bei der Eucharistie um ein kompliziertes Symbol und Zeichen, führt in die Irre. Als Jesus das Messopfer stiftete, so schreibt Romano Guardini, „wusste er, dass es um etwas von göttlicher Bedeutung ging. Er wollte also verstanden sein und sprach so, wie er verstanden sein wollte. Er hatte es nicht mit Symbolisten zu tun, sondern mit einfachen Männern, die nicht deuteln und vergeistigen, sondern ihn wörtlich nehmen würden. Auch nicht mit Begriffsleuten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, sondern mit antiken Menschen, die sinnenhaft schauten und dachten."[12] „Das ist mein Leib“ (Mk 14,22) und „das ist mein Blut“ (Mk 14,23) begründen die wunderbare Gegenwart des wirklichen Herrn in der Eucharistie. Weil gilt: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30) kann in der Eucharistie im Sohn zugleich die ganze allerheiligste Dreifaltigkeit „angebetet und verherrlicht"[13] werden.

2. Die Aufopferung des Leibes, des Blutes, der Seele und der Gottheit Jesu

Der Engel lehrt in seinem Gebet die Kinder etwas, mit dem sich auch Erwachsene schwer tun: die Aufopferung des Leibes, des Blutes, der Seele und der Gottheit Jesu. Die Möglichkeit, Jesus aufzuopfern, ist nicht zu begründen ohne die Gnade des Taufsakramentes. Durch die Taufe wird der Mensch „Christus gleichgestaltet, weil er durch die Taufe Christus eingegliedert ist."[14] Der Christ wird in der Taufe so mit Christus verbunden, dass das Geheimnis der Eucharistie zu seinem eigenen Geheimnis wird. Der heilige Augustinus lehrt: „Wenn ihr der Leib Christi und seine Glieder seid, so ist auf dem Tisch des Herrn das niedergelegt, was euer Geheimnis ist; ja ihr empfangt das, was euer Geheimnis ist."[15] Dieser mystische Leib des Herrn, der Christus zum Haupt hat, ist die Kirche. Schwester Lúcia meditiert in ihrem Aufruf zum Glauben: Die „Gegenwart des Herrn in seiner Kirche stärkt unseren Glauben, unsere Hoffnung und unsere Liebe, denn die Kirche Gottes ist Christus unter uns, ist Christus in jedem einzelnen von uns, insofern wir Glieder seines mystischen Leibes, seiner Kirche, sind.[16]

Die Gemeinschaft der Gläubigen – also die Kirche – bringt Gott das Opfer dar, das Gott selbst gibt: „So bringen wir aus den Gaben, die du uns bereitet hast, dir, dem erhabenen Gott, die reine, heilige und makellose Opfergabe dar: das Brot des Lebens und den Kelch des ewigen Heiles."[17] Im Kanon der heiligen Messe wird deren Bedeutung hervorgehoben, an die der selige Papst Paul VI. in seiner Enzyklika Mysterium fidei erinnerte. Als „Synthese und Gipfel“ der Eucharistielehre betont er, „dass … im eucharistischen Mysterium auf wunderbare Weise das Kreuzopfer vergegenwärtigt ist, das ein für alle mal dargebracht wurde; hier wird es immer ins Gedächtnis zurückgerufen, und es kommt seine heilbringende Kraft zur Wirkung in der Vergebung der Sünden, die täglich begangen werden."[18]

Um diesen Weg des Opferns zu beschreiten, nämlich sich mit dem Opfer Christi zu vereinen und es gleichsam darzubringen, „sind alle Christgläubigen in allen Verhältnissen und in jedem Stand je auf ihrem Wege berufen zu der Vollkommenheit in Heiligkeit …"[19] Denn das Aufopfern des Leibes, des Blutes, der Seele und der Gottheit Christi geschieht vor allem durch das Bemühen, Christus immer ähnlicher zu werden. Dies geschieht, wie es das Konzil lehrt, durch die Sakramente[20] und hier vor allem „in der Teilnahme am eucharistischen Opfer, der Quelle und dem Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens,“ denn hier „bringen [die Gläubigen] das göttliche Opferlamm Gott dar und sich selbst mit ihm."[21]

Hier sei die besondere Rolle derer betont, die für die Feier des Opfers von der Kirche geweiht wurden. Für die Priester ist es angebracht „dass sie täglich würdig und andächtig die Messe feiern“ und so „zum Heil des Menschengeschlechtes beitragen."[22]

3. „In allen Tabernakeln“

Wenn der Engel daran erinnert, dass Jesus in seiner Gottheit, „in allen Tabernakeln der Erde“ gegenwärtig ist, verweist er zugleich auf unseren Glauben, dass nicht nur während der Feier der Eucharistie Christus präsent ist, sondern es in den heiligen Gestalten auch unablässig bleibt. Die Kirche lädt uns nicht nur ein, „am besten täglich"[23] die heilige Messe mitzufeiern, sondern auch das Allerheiligste „tagsüber zu besuchen; ein solcher Besuch ist ein Beweis der Dankbarkeit und ein Zeichen der schuldigen Verehrung gegenüber Christus, dem Herrn, der hier gegenwärtig ist."[24]

4. „Zur Wiedergutmachung für alle Schmähungen, Sakrilegien und Gleichgültigkeiten“

In seinem Aufruf nach Sühne macht der Engel auch den Grund konkret, warum Gott gegenüber Wiedergutmachung geleistet werden soll: Schmähungen, Sakrilegien und Gleichgültigkeiten gegenüber Gott.

Die Schmähung ist die Beleidigung Gottes, ein Sakrileg begeht, wer Sakramente und andere liturgische Handlungen, gottgeweihte Personen, Dinge oder Orte entweiht oder verunehrt. Eine besonders schwere Sünde ist das Sakrileg dann, wenn es sich gegen die Eucharistie richtet …"[25] Die Gleichgültigkeit gegenüber Gott, der Kirche und allem Heiligen ist ein Phänomen, das auch unserer Zeit nicht fremd ist, das vielmehr auf dem Vormarsch zu sein scheint. Der Engel von Fatima führt uns mit seinem Appell, Sühne zu leisten, indirekt das Doppelgebot der Liebe vor Augen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,37ff.). Das Sühneopfer, zu dem der Engel aufruft, verwirklicht beides. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, desjenigen, der Gott schmäht und beleidigt, der Sakrilegien begeht. Die Erfüllung des Auftrages Christi: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44), wird dabei bei manchem selbst zu einem Opfer, das Gott wiederum angeboten werden kann als Werk der Sühne.

5. Die mystische Kommunion

Der Engel reicht den Kindern die mystische Kommunion und erklärt ihnen, dass sie so Sühne leisten und Gott trösten können. Damit die Kommunion zu einem Akt der Sühne werden kann, muss der Kommunizierende sich selbst mit dem Opfer verbinden und, wie die Kirche lehrt, im Stand der Gnade sein. Im Geschehen der mystischen Kommunion und den Begleitworten des Engels wird die Erhabenheit der eucharistischen Kommunion deutlich. Sie ist kein symbolisches Mahl der Sünder. „Sieh, das Brot des Engels Gabe, wird den Pilgern hier zur Labe, wahrhaft ist‘s der Kinder Habe, nicht den Hunden werft es hin“,[26] schreibt der hl. Thomas von Aquin in seiner Sequenz zum Fronleichnamsfest und greift so in wunderbarer Weise dem Geschehen im Herbst 1916 vor, wo das „Brot“ als Gabe des Engels den Kindern zur Habe geworden ist. Im zweiten Geheimnis von Fatima wird Maria am 13. Juli des folgenden Jahres die Bitte aussprechen, monatlich die Sühnekommunion zu empfangen.[27]

6. Der Trost Gottes

Ein anderer Aspekt des letzten Satzes des Engels ist der Trost Gottes. Besonders vom kleinen Francisco wird berichtet, dass es ihm ein besonderes Anliegen war, den Heiland zu trösten. Als sie einmal beim Spielen waren, fragten ihn die beiden Mädchen: „Warum rufst du uns nicht, dass wir mit dir beten?“ – Da antwortete Francisco: „Ich bete lieber allein, weil ich da nachdenken kann und den Heiland trösten, der über viele Sünden so betrübt ist."[28] Als Ende Februar 1919 sich der Zustand des kleinen Jungen verschlechterte und er neben einer schweren Grippe auch eine Lungenentzündung zu ertragen hatte,[29] blieb es auch weiterhin „Franciscos sehnlichster Wunsch …, den Heiland und seine heiligste Mutter zu trösten."[30] Dass Gott Trost annimmt, ja sogar ersehnt und zugleich der Knabe in der Lage ist, Trost zu spenden, machte aus dem Kind einen Heiligen. Er hatte sich das Gebet des Engels zu Herzen genommen.

Zusammenfassung

Im Buch Exodus spricht Gott: „Ich werde einen Engel schicken … Achte auf ihn und höre auf seine Stimme!“ (Ex 23,20f.). Der Engel ist es, der dem großen Ereignis von Fatima vorausgeht. Für diesen Engel stellt uns Erzbischof Karl Braun in einer seiner Predigten die Frage, „ob wir bereit sind, Gott immer bewusster und freudiger zu geben, was ihm gebührt: Glaube, Hoffnung, Liebe und Anbetung. Wir müssen uns auch prüfen, ob uns die Bekehrung der Sünder ein echtes, brennendes Anliegen ist und ob wir diesem in Wort und Tat entsprechen, es vor allem aber im Gebet und persönlichen Opfer verwirklichen. Dabei macht uns der Engel bewusst, dass unser eigenes Bemühen nicht ausreicht. Wir sollen uns deshalb auf die Verdienste Christi stützen und um die Fürsprache Marias bitten."[31]

Der Engel dient Maria, der Königin der Engel, als Vorbote und bereitet die Kinder auf die Erscheinungen unserer Lieben Frau vor. Genau vor 100 Jahren erfüllten seine Worte und Gesten ihren Zweck, denn Lúcia, Jacinta und Francisco waren vorbereitet, in ihnen war schon grundgelegt, was Maria mit ihnen vorhatte: die Botschaft von Sühne, Buße, Gebet und Frieden. Nun gilt es uns, die Worte des Engels anzunehmen, uns vorbereiten zu lassen auf die 100. Wiederkehr der Erscheinungen von Fatima, damit „der angekündigte Triumph des Unbefleckten Herzens Mariens zu Ehren der Allerheiligsten Dreifaltigkeit näherkommen"[32] kann.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Vgl. Schwester Lúcia spricht über Fatima, Fatima 82004, 82, Fußnote 12.
[2] Schwester Lúcia spricht über Fatima, 83.
[3] Lúcia dos Santos: Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, Fatima 2002, 64.
[4] Karl Wallner: Sühne – Suche nach dem Sinn des Kreuzes, Illertissen 2015, 159f.
[5] Sühne – Suche nach dem Sinn des Kreuzes, 156.
[6] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 110.
[7] Ebda.
[8] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 111.
[9] Lumen Gentium, 31.
[10] Schwester Lúcia spricht über Fatima, 84.
[11] J. Escriva: Christus begegnen, Köln 1978, Nr. 83.
[12] R. Guardini: Der Herr, Ostfildern 182011, 447f.
[13] Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel.
[14] KKK 1272.
[15] Augustinus: Sermo 272: PL 38, 1247.
[16] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 74.
[17] Die Feier der heiligen Messe, Kleinausgabe, 474.
[18] Mysterium Fidei, München 1965, 8.
[19] Ebda.
[20] Vgl. Lumen Gentium, 11
[21] Lumen Gentium, 11.
[22] Mysterium Fidei, 11
[23] Mysterium Fidei,19.
[24] Mysterium Fidei, 19
[25] KKK 2120.
[26] Messbuch der heiligen Kirche, Freiburg 1962, 371.
[27] Maria spricht zur Welt, Freiburg 201996, 46.
[28] Maria spricht zur Welt, 160.
[29] Vgl. Maria spricht zur Welt, 162.
[30] Maria spricht zur Welt, 163.
[31] Karl Braun: Fatima-Predigten, Kißlegg 2010, 43.
[32] Benedikt XVI.: Predigt, 13. Mai 2010 in Fatima.

Beitrag zum interreligiösen Dialog

Maria und der Islam

Auf dem Internationalen Mariologischen Kongress in Fatima vom 6. bis 11. September 2016 hielt Theologieprofessor Dr. Imre van Gaál, der an der Mundelein University in den USA doziert, einen hochinteressanten Vortrag zum Thema „Maria und der Islam. Eine Spurensuche im Lichte des Namens ‚Fatima‘“. In einem ersten Schritt veröffentlichen wir seine Ausführungen über die Rolle, welche Maria im Islam spielt. Die Thematik ist äußerst aufschlussreich für das Verhältnis zwischen den religiösen Vorstellungen des Islam und der christlichen Offenbarung. Im zweiten Teil, den wir im nächsten Heft publizieren, geht es um Fatima, die vierte Tochter Mohammeds. Dabei wird auch der portugiesische Ort Fatima in den Blick genommen, an dem 1917 die bekannten Marienerscheinungen stattgefunden haben. Der Beitrag wurde von Prof. Imre van Gaál für unsere Zeitschrift überarbeitet.

Von Imre van Gaál

Selbst 1300 Jahre nach der Hagira Mohammeds (622 n. Chr.) nimmt das Christentum mit Verwunderung wahr, dass Maria eine bedeutende Rolle im Islam spielt, schützte doch die Theotókos wiederholt Christen vor muslimischen Übergriffen und verhalf sie Christen wiederholt zu entscheidenden Siegen über muslimische Heere. So malt etwa Paolo Veronese (1528-1588) in der bekannten Allegoria della Battaglia di Lepanto, wie auf die Fürsprache Mariens die katholischen Seestreitmächte die ungleich größere Flotte Ali Paschas bei Lepanto 1571 besiegten.[1]

In der Tat, Maria wird vierunddreißigmal im Koran erwähnt – und damit erstaunlicherweise häufiger als im Neuen Testament. Die ehrliche Verehrung Marias durch Muslime ist besonders in Ephesus greifbar, wohin zahlreiche Moslems unter dem Titel „Meryemana“ zu ihrem mutmaßlichen Sterbeort pilgern.[2]

Die Gestalt Marias in der muslimischen Glaubenswelt

Signifikanterweise wird Maryam von den frühesten, bis zu den späteren, in Medina entstandenen Suren regelmäßig erwähnt. Dabei entsteht ein für den Koran erstaunlich in sich stimmiges Marienverständnis. Sure 23,52 gehört zum frühen, mittelmekkanischen Abschnitt der Koranentstehung: „Und dies ist eure Gemeinschaft. Es ist eine einzige Gemeinschaft. Und ich bin euer Herr. Mich (allein) sollt ihr fürchten."[3] Dies wird als ein Hinweis auf die übernatürliche Geburt Jesu im Koran gewertet. Diese Sicht sekundiert Sure 19,20, die ebenfalls aus der mittelmekkanischen Periode stammt: „Sie sagte: Wie sollte ich einen Jungen bekommen, wo mich kein Mann (w. Mensch) berührt hat …“ In einer unter Umständen bewusst intendierten Parallele zu Lukas 1,34f, heißt es in der spät in Mekka niedergeschriebenen Sure 66,12:

„Und (ein weiteres Beispiel für die Gläubigen hat Gott aufgestellt) in Maria, der Tochter ‘Imrāns, die sich keusch hielt … worauf wir ihr Geist von uns einbliesen. Und sie glaubte an die Worte ihres Herrn und an seine Schriften und gehörte zu denen, die (Gott) demütig ergeben sind.“

Maria wird von Mohammed als über allen Dingen erhaben, rein und spirituell hochstehend vorgestellt und verbindlich als nachahmenswertes Vorbild gelehrt.[4] Gewöhnlich wird Maryam neben Asiya, Fatima und Khadidja als eine der vier vornehmsten Frauen bezeichnet. Ibn Hanbal meint, sie führe diese Gruppe auch im Paradies an.[5]

Sure 19 berichtet zunächst von Zacharias und Yahya, sodann von Maryam und Isa. Sure 3,31-42 (Medina) enthält die Geburt Maryams und die Verkündigungsszene. Dies lässt als wahrscheinlich erscheinen, dass Mohammed erst nach der Erzählung der Geburt Isas von der Geschichte der Geburt Maryams erfuhr. Der Bericht von der Geburt Maryams, also Marias, weist frappante Parallelen zum Protoevangelium Jacobi (2. Jhdt. n. Chr.)[6] und zur De Nativitate Mariae auf.[7] In der Verkündigungsszene wird ihr das Wesen Isas (Jesu) anvertraut, als Wort Gottes und als Messias: „Als die Engel sagten: ‚O Maria, Gott verkündet dir ein Wort (kalima) von ihm, dessen Name Christus (al Masih) Jesus, der Sohn Marias, ist; er wird angesehen sein im Diesseits und im Jenseits, und einer von denen, die in die Nähe [Gottes] zugelassen werden."[8]

 Die Überlieferung stimmt darin überein, dass Maria und ihr Kind Jesus „bei der Geburt vom Teufel unberührt“ blieben. So heißt es etwa bei al-Buchari: „Der Gesandte Gottes (Gott segne ihn und schenke ihm Heil) sagte: ‚Außer Maria und ihrem Sohn Jesus gibt es keinen Menschen, der bei seiner Geburt vom Teufel nicht berührt worden wäre und darauf geweint hätte.‘"[9]

Der Ort Bethlehem wird im Koran nicht explizit erwähnt, wohl aber kryptisch „eine östliche Stelle“ (Sure 19,16f.), wohin Maria sich zurückgezogen habe: „Und wir sandten unseren Geist zu ihr. Der stellte sich ihr dar als ein wohlgestalteter Mensch“ (Sure 5,17). Zur Geburt Isas, d.h. Jesu, fallen von einer Palme Datteln (Sure 19,17-21).[10] Das noch ungeborene Kind Isa, Jesus, ruft seiner Mutter Maryam zu: „Und schüttle den Stamm der Palme zu dir hin! Dann lässt sie saftige Datteln auf dich herunterfallen“ (Sure 19,25). Dieser Bericht könnte auf das apokryphe Pseudo-Evangelium von Matthäus, Kapitel 20 zurückgehen.[11] Denn während der Flucht nach Ägypten befiehlt darin tatsächlich das Kind Jesus einer Palme, sich zu neigen, damit Maria sich Datteln nehmen könne. Laut einigen arabischen Quellen soll vom Himmel Isa seine Mutter Maryam getröstet haben. Doch die christliche Vorstellung der Koimesis, Entschlafung bzw. Dormitio Mariae, wird signifikanterweise nicht im Islam, weder im Koran noch in der Hadith, erwähnt. Stattdessen berichtet die muslimische Überlieferung von Maryams Reise nach Rom, um dort vor Marut (im Abendland als Kaiser Nero bekannt) zu predigen. Dabei wurde sie vom Jünger Johannes und einem Kupferschmied namens Shim’un – höchstwahrscheinlich ist damit Simon Petrus gemeint – begleitet. Nachdem Shim’un und Tadawus (wohl Thaddaeus) mit ihren Köpfen nach unten gerichtet, gekreuzigt worden waren, flohen Maryam und Johannes aus der Stadt Rom. Als römische Soldaten dabei waren, beide zu verhaften, habe sich in wunderbarer Weise die Erde geöffnet und beide hätten sich so ihren Verfolgern entzogen. Aufgrund dieses Wunders sei der römische Kaiser Marut (Nero) zum Christentum bekehrt worden.[12]

Mohammeds Bild des Christentums

Entscheidend um den Stellenwert Marias im Koran zu verstehen, ist die von Mohammed für sich reklamierte Nähe, aber später auch prononcierte Distanz zu Jesus: „Ich stehe dem Sohn der Maria vor allen Menschen am nächsten. Die Propheten sind auf Grund eines (göttlichen) Auftrags geboren. Zwischen mir und ihm gibt es keinen Propheten“, zitiert Sahih al-Buchari Mohammed.[13] Die Valenz, aber auch die Ambivalenz des vom Koran gezeichneten Marienbildes ist einzig auf dem Hintergrund von Mohammeds einseitigen, den biblischen Befund ignorierenden Christusverständnisses nachvollziehbar.

Die bisherige Untersuchung lässt unschwer erkennen, dass die christlichen Apokryphen – d.h. auch die häretische Strömung der Gnosis – das Marienbild des Koran entscheidend beeinflussten. Doch Spuren der kanonischen Schriften des Christentums sind kaum feststellbar. Hinweise auf das Konzil von Ephesus (431 n. Chr.) und seiner Dogmatisierung Marias als die Theotókos (Gottesmutter) fehlen gänzlich. Dies ist nicht weiter verwunderlich, gab es zur Zeit Mohammeds im südlichen Arabien ausschließlich christliche Siedlungen, die syrisch bzw. ägyptisch und damit nestorianisch oder monophysitisch geprägt waren. Antiochien wollte im fünften Jahrhundert die Muttergottes unter dem Titel Christotokos geehrt wissen. Zudem waren etliche Moslems anfänglich nach Äthiopien geflohen. Umgekehrt gab es seinerzeit auch eine nicht unbedeutende äthiopische Präsenz in Arabien.

Sie könnten das Proto-Evangelium Jacobi, die Kindheitserzählung des Thomas, Pseudo-Ephrem und das Pseudo-Evangelium des Matthäus ihm vermittelt haben. Unabhängig davon machen Johannes von Damaskus (ca. 655-750) und noch Nikolaus v. Kues (1401-64) im Hohen Mittelalter einen ketzerischen Mönch namens Bahira mit arianischen oder nestorianischen Tendenzen als die Erstursache für das verzerrte Jesusbild Mohammeds aus.[14]

Nach dem entscheidenden Sieg bei der Schlacht von Badr im Jahr 630 n. Chr. wird Maria als gläubige Muslimin vorgestellt, die sich vor Gott demütig niederwirft (siehe Sure 19 oder Sure 9,30). In Sure 3,45 heißt es „Maria! Wahrlich Allah verkündet dir ein Wort (kalima) von ihm ausgehend, dessen Name ist der Messias (masih) Jesus, der Sohn der Maria, hochangesehen in dieser Welt und in der späteren, und er gehört zu denen, die Gott nahestehen.“ Paradoxerweise werden die zwei christologischen Hoheitstitel „Logos,“ „Wort“ (kalima) und „Messias“ (masih)[15] zwar übernommen, doch ohne deren philosophiegeschichtlich gewachsenen Sinn zu bedenken bzw. ohne deren theologische Tiefe und damit für den Glauben entscheidenden Ramifikationen zu erfassen. Arabisch gewendet will „Kalima“ – Logos/Wort – nur noch „Botschaft“ bedeuten und „Massiah“/ Messias, „Masih“ im Arabischen, wird in eins gesetzt mit „rasul“ (Prophet).[16]

Würdigung

Maria erfährt im Koran große Ehrbezeigung. Ihre Geburt wird besonders in der Hadith als unbefleckt geschildert. Die jungfräuliche Empfängnis ihres Sohnes Jesus wird verbindlich gelehrt.

Entscheidend für die muslimische Ambivalenz, aber auch Spannung zum Christentum, ist die eklektische Art und Weise, mit der der Koran jüdische und christliche Elemente übernimmt. Dabei ist keine Kriteriologie bzw. Systematik ersichtlich.

Vermutlich um den Widerspruch zwischen der jungfräulichen Empfängnis Jesu in der als früh datierten Sure 19 (mittelmekkanisch) und der natürlichen Geburt Mohammeds auszumerzen, stellt der Koran noch in Mekka nachträglich in Sure 7,157f (spätmekkanisch) Mohammed als Analphabeten (ummi) dar, um damit seine außerordentliche Offenheit für Allahs Offenbarung zu erklären(?).

Postkoranisch versucht die islamische Überlieferung diesen Widerspruch zu egalisieren, indem sie besonders auf Fatima, die vierte Tochter Mohammeds, abhebt und diese nun – auf Kosten der Mutter Jesu – bis ins Phantastische überhöht darstellt.

Sure 5 „Summa contra Christianos“

Günter Riße bezeichnet die Sure 5 als eine „Summa contra Christianos“.[17] Die Christen werden keine Fürsprache im Himmel erhalten. Denn sie behaupten ja: „,Der Barmherzige hat sich ein Kind zugelegt!‘ Da habt ihr [Christen] etwas Schreckliches begangen! Schier brechen die Himmel [aus Entsetzen] darüber auseinander und spaltet sich die Erde und stürzen die Berge in sich zusammen, dass sie dem Barmherzigen ein Kind zuschreiben“ (Sure 5,88).

Seiner eigentümlichen antitrinitarischen, sprich antipolytheistischen Stoßrichtung wegen sieht der Islam alle Christen deshalb bis zum Jüngsten Gericht zu Feindschaft mit den Muslimen verurteilt (Sure 5,14). Die Erhabenheit Gottes erlaubt keine Teilung Gottes. Mit dem Ruf „La scharika laka“, d.h. „Du hast keinen Teilhaber“ (vgl. Sure 25,2; 17,111; 6,163), tanzen die Mekkapilger aus aller Welt alljährlich trancehaft um die Kaaba.[18] Dieses antichristliche Bekenntnis eint die Mitglieder dieser Weltreligion.

Ein reduziertes Christusverständnis gehört schicksalhaft zur Gründungsnarrative des Islam. Dieses tiefverwurzelte Bild nachträglich zu korrigieren käme einer Selbstauflösung des Islams gleich. Eine krude antichristologische Polemik führt nolens volens zu einer verkürzten Mariologie.

Das Bild, das der Koran von Maria zeichnet, spiegelt die geografische Ferne Mekkas zum rechtgläubigen Christentum (außerhalb der Reichweite des byzantinischen Reiches) im 7. Jahrhundert und die zeitliche Distanz zum Heilsgeschehen in Christus wider.

Ohne Abstriche an der erst nachkoranisch herausgebildeten Gestalt Fatimas zu machen und ohne die Entdeckung der ewigen Gottessohnschaft Jesu Christi wird der gläubige Moslem keinen Zugang zur biblisch fundierten und dogmatisch durchgezeichneten Mariologie des Christentums finden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Timothy Verdon, Melissa R. Katz, Amy G. Remensnyder, Miri Rubin: Picturing Mary – Woman, Mother, Idea, Scala Arts, New York, 2014, Figuren 1 und 4.
[2] B. Krilic OFM: Maria, die Mutter Jesu im Koran und in der islamischen Überlieferung, in: Zagreb Kongress, V, 389-401.
[3] Alle Koranzitate sind www.corpuscoranicum.de entnommen (31.8.2016).
[4] Roger Arnaldez: Jésus fils de Marie prophéte de l’Islam, Desclée, Paris, 1980, 77.
[5] Jane D. McAuliffe: Chosen of all women: Mary and Fatima in Qur’anic exegesis, in: Islamochristiana, VII, Pontificio Istituto di Studi Arabi, Rom, 1981, 19-28.
[6] Henneke/Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen I, 280ff.
[7] Günter Riße: Gott ist Christus, der Sohn der Maria – Eine Studie zum Christusbild im Koran, Borengässer, Bonn, 1989, 171. Jan Gijsel, Rita Beyers (Hrsg.): Libri de nativitate Mariae; textus et commentarius; Pseudo-Matthaei Evangelium; Libellus de nativitate Sanctae Mariae. Turnhout, Brepols 1997 (2 Bände). De Nativitate Mariae ist Teil des Pseudo-Matthäus Evangeliums.
[8] Sure 3,45.
[9] Al-Buchari: K. al-Anbiya 44; zit. Çinar, 195.  Ob diese Sicht auf Ephrem den Syrer zurückgeht? Bei ihm werden auch Jesus und Maria in diesem Zusammenhang gemeinsam erwähnt. „Du und deine Mutter sind schöner als alle; denn kein Makel ist an dir und keine Flecken an Deiner Mutter.“ Ephrem der Syrer: Carmina Nisibena 27,8, Edmund Beck (Hrsg. u. Übers.): Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium, Louvain, 1961.
[10] Paul Valérys Gedicht „La Palme“ ist von Sure 5 inspiriert: „Patience, patience, patience sous l’azur Chaque minute de silence est la chance d’un fruit mûr.“ Siehe Annemarie Schimmel: Jesus und Maria in der islamischen Mystik, Kösel, München, 1996, 11.
[11] Dort heißt es: „Da sprach das Jesuskind, das mit fröhlicher Miene in seiner Mutter Schoß saß, zur Palme: ‚Neige, Baum, deine Äste, und mit deiner Frucht erfrische seine Mutter.‘ Und alsbald senkte die Palme auf diesen Anruf hin ihre Spitze bis zu den Füßen der seligen Maria, und sie sammelten von ihr Früchte, an denen sie sich alle labten.“ Das Jesuskind fuhr fort: „,Erschließe unter deinen Wurzeln eine Wasserader, die in der Erde verborgen ist, und die Wasser mögen fließen, damit wir aus ihr unseren Durst stillen.‘ Da richtete sie [die Palme] sich sofort auf und eine ganz klare, frische und völlig heile Wasserquelle begann an ihrer Wurzel zu sprudeln.“ Edgar Hennecke, Wilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Mohr, Tübingen, 1999, 364f.
[12] Wensinck, 631. Édouard Sayous: Jésus-Christ d‘ après Mahomet, Paris-Leipzig, 1880.
[13] Böttrich, 200.
[14] Johannes von Damaskus: De Hearesibus liber, PG 94, 765A. Nikolaus von Kues: Cribratio Alchorani. Siehe Riße, 87ff.
[15] Vgl. für „Al Masih Isa bin Maryam“ Suren 3,45; 4,157; 4,161; für „al Masih Ibn Maryam“ Suren 5,17; 5,72; 5,75; für bloß „al Masih“ Sure 4,172; 9,30.
[16] Horst Bürkle: Jesus und Maria im Koran, 586.
[17] G. Riße, 204.
[18] Christfried Böttrich, 137.

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