Erzbischof Georg Gänswein in Altötting

10 Jahre Papstbesuch

Um das zehnjährige Jubiläum des Besuchs von Papst Benedikt XVI. in Altötting zu feiern, kam Kurienerzbischof Dr. Georg Gänswein am 10. September 2016 nach Bayern. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der Medien wurde dem Papst aus Deutschland ein weiteres Denkmal gesetzt. Höhepunkte waren ein Festvortrag am Samstagnachmittag, bei dem es um die Schwerpunkte der Verkündigung Benedikts XVI. ging, ein Besuch im Geburtsort des emeritierten Papstes und die Enthüllung einer Papststatue am Kapellplatz. Prälat Günther Mandl, Stadtpfarrer, Stiftspropst und Wallfahrtrektor von Altötting, fasst seine Eindrücke von diesem Großereignis zusammen.

Von Prälat Günther Mandl

Bei den Überlegungen, wer wohl der geeignetste Ehrengast sei, um die Ereignisse vom 11. September 2006 in Erinnerung zu rufen, waren wir uns sofort einig: Dr. Georg Gänswein. Er ist seit 20 Jahren Mitarbeiter und Privatsekretär von Kurienkardinal Ratzinger und Papst Benedikt und somit so eng mit dem heutigen Papst emeritus verbunden wie nur wenig andere. Ein Jahr lang haben wir alles bis ins Detail vorbereitet wie damals den Papstbesuch selber. Georg Gänswein gab uns ein Zeitfenster vom 10. September mittags bis 11. September abends vor.

1000 Gäste beim Festvortrag

So planten wir am Samstag, 10. September, um 14 Uhr ein Grundsatzreferat des hohen Gastes in unserem neuen „Kultur + Kongress Forum“ zum Thema „Der Weg der Kirche in unserer Zeit“. 1000 Interessenten waren erschienen, sie wurden nicht enttäuscht. Der Redner legte das Schwergewicht seines Referates auf die Neuevangelisierung, also auf die neue Zu- und Hinwendung der ganzen Kirche zur authentischen Botschaft der Bibel, zur biblischen Einfachheit, Armut, Demut, Barmherzigkeit und Liebe. Dabei sei nicht nur das verkündete, sondern vor allem das gelebte Wort überzeugend und verwandelnd; so gesehen seien immer die Heiligen die wahren Reformatoren der Kirche gewesen wie etwa der hl. Franz von Assisi und der hl. Dominikus.

Besuch in Marktl am Inn

Nach dem viel beachteten Vortrag fuhr der hohe Gast aus Rom nach Marktl und besuchte zunächst das Geburtshaus des Papstes emeritus: Der theologische Betreuer, Ludwig Reischl, verstand es, die Aussageabsicht des Hauses als Ort der spirituellen Begegnung aufzuzeigen. Um 18 Uhr schloss sich der Vorabendgottesdienst in der überfüllten Taufkirche des Papstes an. Ein in der Region hochgeschätzter Chor sang die Krönungsmesse von W. A. Mozart. In seiner Predigt legte Georg Gänswein das Evangelium vom verlorenen Schaf zeitnah und sehr impulsiv aus: Im Sinne von Papst Franziskus und Mutter Teresa rief er dazu auf, in der Pastoral auch an die Ränder der Kirche und Gesellschaft zu gehen wie der gute Hirte.

Anschließend segnete der Kurienerzbischof eine Erinnerungstafel zum Papstbesuch, erstellt vom Bildhauer Michael Neustifter und angebracht an der Außenwand des Kulturforums, in dem sich ein niveauvoller Abend anschloss mit Eintrag ins Goldene Buch zusammen mit den Bürgermeisterinnen aus Sotto il Monte (Geburtsort von Papst Johannes XXIII.), von Canale d`Agordo (Geburtsort von Papst Johannes Paul I.) und von Wadowice (Geburtsort von Papst Johannes Paul II.). Eine Stunde lang stellte sich Dr. Gänswein den Fragen eines Journalisten, in denen es um teils sehr persönliche Informationen  über die Person des emeritierten Papstes ging.

Höhepunkt in der Basilika St. Anna

Das Fest erreichte tags darauf seinen Höhepunkt im Pontifikalgottesdienst in der Basilika St. Anna: Ein langer Kirchenzug mit Fahnenabordnungen, Ministranten, Konzelebranten, Diözesanbischof Dr. Stefan Oster und seinem Amtsvorgänger Bischof em. Wilhelm Schraml, dem Hauptzelebranten Dr. Gänswein und vielen Ehrengästen aus Gesellschaft und Politik zog durch die Pforte der Barmherzigkeit in das überfüllte Gotteshaus ein. Der Kapellchor brachte die Maria Zeller Messe, die missa cellensis, von Joseph Haydn in hervorragender Weise zur Aufführung. In seiner Predigt legte der Kurienerzbischof das Sonntagsevangelium vom verlorenen Sohn sehr ansprechend und eindringlich für die Teilnehmer im Gotteshaus, am Radio Horeb und im K-TV aus.

Enthüllung der Statue Benedikts XVI.

Ein weiterer Höhepunkt war die anschließende Enthüllung und Segnung der Papststatue, erstellt vom schon erwähnten Künstler Michael Neustifter: Damit sind beide Päpste, die in neuerer Zeit den Gnadenort besucht haben, Johannes Paul II. und Benedikt XVI., von der Fassade des Kongregationssaals aus für alle Bewohner und Gäste in würdiger und ansprechender Weise präsent. Bürgermeister Herbert Hofauer hatte diese Idee zielstrebig umgesetzt, unterstützt von namhaften Sponsoren. Er lud die Ehrengäste anschließend zum Empfang vor und ins Rathaus ein, wo dem Kurienerzbischof die Goldene Ehrennadel der Stadt Altötting verliehen wurde.

Fotoausstellung „Papstbesuch“

Um 15 Uhr hielt Diözesanbischof Dr. Stefan Oster eine Pontifikalvesper in der überfüllten Stiftspfarrkirche und eröffnete sodann in der bischöflichen Administration die Fotoausstellung von Schwarz-Weißbildern, die bisher in Altötting unveröffentlicht waren: Der Design- und Fotokünstler Rudolf Klaffenböck aus Passau hat sie tiefsinnig und oft mehrdeutig erstellt; beim Gang durch die Museumsräume kam es zu interessierten Diskussionen. Nach dem Abendessen in vertrautem Rahmen brach der hohe Gast seine Rückreise nach Rom an.

Schlussbewertung

• Kurienerzbischof Dr. Georg Gänswein hat in einer sehr würdigen und präsenten Weise das dichte Festprogramm bewältigt und wurde nie müde, in großer Geduld und pastoraler Zuwendung die vielen Gesprächs- und Autogrammwünsche zu erfüllen.

• Ehrengast bei allen Teilen des Festes war Bischof em. Wilhelm Schraml: Er hat vor 10 Jahren den Papstbesuch mit seinen Gremien hervorragend vorbereitet und gestaltet.

• Diözesanbischof Dr. Stefan Oster zeigte wieder einmal, wie wichtig ihm Altötting ist; er nennt den Gnadenort gern den „zweiten Lungenflügel der Diözese“.

• Es gab keinerlei Panne: Die Organisation war perfekt und wurde von allen gelobt.

• Wie schon beim Papstbesuch vor 10 Jahren hätte auch beim Jubiläum das Wetter nicht besser sein können.

• Viele sagten: Es war der größte Menschenauflauf der letzten Jahre.

• Die Medien berichteten im Vorfeld und in der Nachbetrachtung äußerst freundlich und ausführlich.

• Das Zusammenspiel aller kirchlichen und weltlichen Kräfte klappte wieder einmal hervorragend, sodass ein bemerkenswerter Synergie-Effekt entstand.

• Wir sind uns wieder bewusst geworden, wie wichtig die Rolle der Gnadenorte ist, in einer Zeit, in welcher das kirchliche Leben vielerorts in Krise geraten ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Weg und Herzmitte der Kirche in unserer Zeit

Erneuerung durch Evangelisierung

Erzbischof Dr. Georg Gänswein hat am 10. September 2016 in Altötting ein Grundsatzreferat über die vorrangige Aufgabe der Evangelisierung in der heutigen Zeit gehalten. Es sei ein zentrales Anliegen von Benedikt XVI. gewesen, den Primat des Wortes Gottes in der Sendung des Bischofs und Priesters in den Mittelpunkt zu rücken. Denn ein „pastoraler Paradigmenwechsel“ sei angesagt. Die entscheidende Frage für die Zukunft der Kirche sei die Weitergabe des Glaubens, nicht eine flächendeckende Versorgung mit den Sakramenten. Die Seelsorge müsse sich an erster Stelle mit der Frage auseinandersetzen, worin das Wort Gottes bestehe, wie die christliche Offenbarung angenommen werden könne, was Nachfolge Christi bedeute. Einige wichtige Abschnitte aus seinem Vortrag.

Von Erzbischof Georg Gänswein

Die Verkündigung des Wortes Gottes ist im Leben und Wirken der Bischöfe und Priester die elementare Voraussetzung für das Voranbringen der Neuevangelisierung. Sie legt sich auch und gerade in der pastoralen Situation der Kirche heute besonders nahe, und zwar aus drei Gründen.

1. Inflation der Wörter

Erstens: Der Auftrag der Verkündigung des Wortes Gottes muss in einer Welt wahrgenommen werden, in der wir von Wörtern geradezu überschwemmt werden und die Wörter der Inflation anheimgegeben sind, so dass wir immer wieder zu sagen pflegen: „Dies sind nichts als Worte.“

Manchmal will es nur noch schwer gelingen, in den vielen Wörtern des täglichen Lebens das eine Wort herauszuhören, das das Wort Gottes ist. Die Kirche erscheint dann nur noch als Gemeinschaft menschlicher Wörter und nicht mehr als Kirche des Wortes Gottes.

In dieser Situation sind die Verkünder des Wortes Gottes berufen und verpflichtet, mit ihrem ganzen Wirken und zuvor mit ihrer eigenen Existenz zu dokumentieren, dass es im Leben der Menschen nicht einfach um Wörter geht, sondern um das „Wort des ewigen Lebens“ (Joh 6,68).

2. Verlust der Lernorte des Glaubens

Die Kirche steht im Dienst der Verkündigung des Wortes Gottes als Wort des Lebens für die Menschen. Diese Fokussierung ihrer Sendung auf das Weitergeben des Wortes Gottes drängt sich auch aus einem zweiten Grund auf. Eine der großen Herausforderungen, die sich in der heutigen pastoralen Situation stellt, besteht darin, dass die Weitergabe des Glaubens an die kommende Generation zur Überlebensfrage des Christentums geworden ist. Wir müssen immer mehr die Erfahrung machen, dass selbst die geschichtlich gewachsenen traditionellen Wege der Glaubensweitergabe und der Hinführung zum Glauben und kirchlichen Leben und die damit verbundenen Lernorte des Glaubens – Familie und Pfarrei, Religionsunterricht und Schule – zunehmend schwächer werden und ganz ausfallen. Nicht nur findet in vielen Familien die Primärsozialisation im kirchlichen Leben nicht mehr statt, sondern auch in der Schule wird die Weitergabe des Glaubens zunehmend prekärer; und selbst der Religionsunterricht, der immer nur subsidiär zu wirken vermag, kann nur mehr auf bereits vorhandenen Glaubensgrundlagen aufbauen.

Trotz dieser gravierenden Veränderungen steht heute noch immer im dominierenden Mittelpunkt der pastoralen Arbeit die Sakramentalisierung des menschlichen Lebens und gerade nicht die Evangelisierung, die in einer missionarischen Situation zweifellos die entscheidende Leitperspektive der kirchlichen Pastoral sein müsste. Dieser Situation kann die Kirche nur entsprechen, wenn die herkömmliche Pastoral ihre ursprüngliche, nämlich evangelisierende Dimension zurückgewinnt. Es wird zu Recht betont, dass die traditionelle Kategorie des „praktizierenden Katholiken“ in der heutigen kirchlichen Situation kaum mehr aussagekräftig ist, jedenfalls nur noch auf eine kleine Minderheit zutrifft, dass die Mehrheit vielmehr als „Pilger“ und „Konvertiten“ zu betrachten sind. Dies sind Menschen, die nicht einfach Christen sind, sondern auf dem Weg, Christen zu werden. Pilger und Konvertiten sind noch nicht überzeugte Christen, es sind Menschen, die sich auf der Suche nach ihren Lebensüberzeugungen befinden und Christen nur werden in der Begegnung mit überzeugten christlichen Persönlichkeiten und christlichen Gemeinschaften.

In dieser weithin diffus gewordenen Situation muss die Kirche von der „pastoralen Prävalenz des Wortes vor dem Sakrament“  ausgehen. Damit ist ein „pastoraler Paradigmenwechsel“ angesagt, und zwar dahingehend, dass nicht mehr, wie in den vergangenen Jahrhunderten einer volkskirchlichen Situation, eine flächendeckende Sakramentenversorgung die dominierende Leitlinie der Pastoral sein kann, dass an deren Stelle und zugleich als Voraussetzung für die Sakramentenpastoral vielmehr die „pastorale Priorität der Evangelisierung“ und damit der Weitergabe des Glaubens treten muss.

3. Homilie in der Eucharistiefeier

Damit tritt ein dritter Grund in der heutigen pastoralen Situation vor Augen: der Priestermangel. Der Priestermangel, der in unseren Breitengraden alarmierende Ausmaße angenommen hat, führt immer mehr dazu, dass der Priester die besondere Priorität seiner Sendung nicht im Dienst am Evangelium erblickt, sondern sein Wirken stets mehr auf die Feier der Sakramente, vor allem der Eucharistie, konzentriert ist, während demgegenüber der Dienst am Wort Gottes vornehmlich an andere Dienste in der Kirche delegiert wird, und zwar bis hin zur Predigttätigkeit in der Eucharistiefeier, wie dies in einzelnen Diözesen der Fall ist.

Diese Praxis bietet dann kein Problem, wenn man die Predigt in der Eucharistiefeier unter rein funktionalen Gesichtspunkten betrachtet. Sie wird aber dann zum Problem, wenn man der Weisung der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils folgt, die die Homilie in der Eucharistiefeier als „Teil der liturgischen Handlung“ qualifiziert hat. Wenn nämlich die Homilie nicht einfach eine Unterbrechung der Liturgie mit einem eigenen Redeteil ist, sondern ins sakramentale Geschehen selbst hineingehört, dann ist sie wesentlich an den geweihten Amtsträger gebunden, der das Wort Gottes in die feiernde Gemeinde hinein trägt, auch in der Verkündigung des Wortes Christus repräsentiert und das verkündete Wort Gottes anschließend mit dem Opfer Christi verbindet, das im eucharistischen Hochgebet dem dreifaltigen Gott dargebracht wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist in der heutigen pastoralen Situation die Rückbesinnung der Bischöfe und Priester auf ihre primäre Sendung der Verkündigung des Evangeliums besonders gefordert.

Was ist das „Wort Gottes“?

Bei einem derart grundlegenden Thema erhebt sich natürlich unweigerlich die Frage, was unter „Wort Gottes“ konkret zu verstehen ist. Ein auch nur summarischer Blick in die heutige theologische Landschaft zeigt, dass sich zwei verschiedene Antwortrichtungen einander gegenüberstehen. Die eine Seite pflegt das Wort Gottes sogleich mit der Heiligen Schrift zu identifizieren, woraus sich sehr schnell eine gewisse Vereinseitigung des Wortes und in der Folge das reformatorische Prinzip des Sola scriptura ergeben. Die andere Seite geht demgegenüber von einem umfassenderen Verständnis aus und betont, dass das Wort Gottes in erster Linie nicht nur Schrift, sondern personale Wirklichkeit ist, dass nämlich Jesus Christus selbst das lebendige Wort Gottes ist. In diesem grundlegenden Sinn geht das Wort Gottes der Heiligen Schrift voraus und ist in erster Linie eine Person, nämlich der Fleisch gewordene Sohn Gottes. In ihm hat sich Gott selbst offenbart; und diese Offenbarung hat ihre authentische Bezeugung in der Heiligen Schrift gefunden.

Dem Apostolischen Schreiben Benedikts XVI. über das Wort Gottes Verbum Domini liegt eindeutig die zweite Positionsbestimmung zugrunde. Wenn demgemäß Gottes Offenbarung in seinem Wort nicht einfach mit der Heiligen Schrift identisch ist, dann ist unter ihr jedenfalls mehr zu verstehen als das Geschriebene. Gottes Offenbarung liegt vielmehr der Heiligen Schrift voraus „und schlägt sich in ihr nieder, ist aber nicht einfach mit ihr identisch“.

Die analoge Verwendung des Begriffs „Wort Gottes“ bringt eine bis heute bestehende Grunddifferenz zwischen der katholischen Kirche und den aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften zum Ausdruck: Die reformatorische Theologie definiert die Kirche allein vom „pure et recte“ (rein und richtig) verkündeten Wort Gottes und der evangeliumsgemäßen Verwaltung der Sakramente her und fasst das Wort Gottes als eine der Kirche gegenüberstehende Größe und als Korrektiv des kirchlichen Amtes auf. Gegenüber dieser Auffassung des Wortes Gottes bezeichnet die katholische Kirche das Amt nicht nur als ein wichtiges Kriterium des Kircheseins, sondern betrachtet vor allem Gottes Wort und Kirche in wechselseitiger Bezogenheit: „Sie kennt nicht ein der Kirche gegenüber stehendes selbständiges Wort, sondern das Wort lebt in der Kirche, wie die Kirche vom Wort lebt – eine Relation gegenseitiger Abhängigkeit und Beziehung“.

Entstehung der Heiligen Schrift

Das Volk Gottes ist der eigentliche Adressat der Offenbarung Gottes und ihrer authentischen Artikulation in der Heiligen Schrift. Dies zeigt sich bereits an dem grundlegenden Sachverhalt, dass schon das Entstehen der Heiligen Schrift ein Ausdruck des Glaubens der Kirche und die Heilige Schrift ein Buch der Kirche ist, das aus der kirchlichen Überlieferung hervorgegangen ist und durch sie weitergegeben wird, so dass das Werden der Schrift und das Werden der Kirche als ein einziges Geschehen zu betrachten ist.

Ohne die Kirche könnte man gar nicht von „Heiliger Schrift“ reden. Ohne die Kirche wäre sie nichts anderes als eine historische Sammlung von Schriften, deren Entstehung sich durch ein ganzes Jahrtausend hindurchgezogen hat.

Die Heilige Schrift im Sinne der Zusammenfügung der verschiedenen Schriften ist das Werk der kirchlichen Überlieferung, zu der gerade bei diesem Prozess als konstitutives Element die herausragende Bedeutung des römischen Bischofsstuhles gehört hat. Insofern lässt sich auch historisch zeigen, dass die Anerkennung Roms als „Kriterium des rechten apostolischen Glaubens“ älter ist als der Kanon des Neuen Testaments, als ‚die Schrift‘.“ Ein katholischer Ökumeniker hat von daher das protestantische Schriftprinzip im Sinne des Sola scriptura mit Recht als „das ökumenische Kernproblem“ diagnostiziert, weil es faktisch auf einer frühkirchlichen Entscheidung beruht und eine solche theoretisch doch gerade ausschließen will. Diese Paradoxie bringt es an den Tag, dass die Kirche als Schöpferin, Überlieferin und Auslegerin des biblischen Kanons nicht umschifft werden kann, wie es reformierte Theologie und teilweise auch katholische Exegeten zu tun pflegen.

Gottesdienst und Verkündigung

Die Heilige Schrift ist und bleibt nur ein lebendiges Buch mit dem Volk Gottes als jenem Subjekt, das es empfängt und sich aneignet. Und umgekehrt kann dieses Volk Gottes ohne die Heilige Schrift gar nicht existieren, weil es in ihr seine Lebensgrundlage, seine Berufung und seine Identität findet. Von daher versteht es sich auch von selbst, dass der Lebensraum, in dem das Volk Gottes dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift in besonderer Weise begegnet, der Gottesdienst der Kirche ist. Die Liturgie ist der bevorzugte Ort, an dem das Wort Gottes verkündet wird. „Jeder Gottesdienst ist von seinem Wesen her von der Heiligen Schrift durchdrungen.“ So betont es ausdrücklich Benedikt XVI. in seinem bereits genannten Apostolischen Schreiben Verbum Domini.

Da der Gottesdienst der wichtigste Ort ist, an dem das Wort Gottes verkündet und der Glaube bekannt wird, gehört die Liturgie zu den Grundvollzügen der Kirche und stellt einen wichtigen Ort dar, den die kirchliche Tradition mit der Weisheit zum Ausdruck gebracht hat, dass das Gesetz des Betens auch das Gesetz des Glaubens ist: lex orandi – lex credendi.

Der Kanon der Heiligen Schrift, das Glaubensbekenntnis, der Gottesdienst und die apostolische Sukzession im Bischofsamt sind die vier Grundgegebenheiten der frühen Kirche. Sie verdeutlichen, dass man die Heilige Schrift nicht aus dem Gesamtgefüge des kirchlichen Glaubenslebens herauslösen kann, sondern dass sie in diesem Kontext zu interpretieren ist. Dafür Sorge zu tragen, ist die besondere und indiskutable Aufgabe des kirchlichen Lehramtes. Seine Verantwortung liegt darin, in der Kirche die Unversehrtheit, die Identität und Integrität der Heiligen Schrift zu garantieren und dafür zu sorgen, dass die Auslegung der Heiligen Schrift im Dienst des Glaubens der Kirche und seiner Verkündigung geschieht.

Erneuerung der Kirche

In krisenhaften Situationen hat sich die Kirche stets darauf zurückbesonnen, dass der Verkündigung des Wortes Gottes im Leben der Kirche der Primat zukommen muss. Denken wir nur an die beiden Gründer der Bettelorden, den hl. Franziskus und den hl. Dominikus. Beide wollten in erster Linie nicht neue Orden gründen, sondern die Kirche von Grund auf, nämlich vom Evangelium her, erneuern. Sie wollten das Evangelium wörtlich leben, und zwar in Gemeinschaft mit der Kirche und dem Papst. Indem sie auf diese Weise das Volk Gottes von innen her erneuern konnten, haben sie der Kirche bleibend ins Stammbuch geschrieben, dass die echten Reformatoren der Kirche die von Gottes Wort erleuchteten und geführten Heiligen sind.

Den Primat des Wortes Gottes in der Sendung des Bischofs und Priesters in den Mittelpunkt zu rücken, ist ein zentrales Anliegen von Benedikt XVI. gewesen. Bereits in einer seiner ersten Homilien, die er als junger Priester bei einer Primizfeier im Jahre 1954 gehalten hat, hob er die Predigt als erste und wichtigste Aufgabe hervor. Als er im Jahre 1977 zum Erzbischof von München und Freising ernannt wurde, hat er als Wappenspruch das dem dritten Johannesbrief entnommene Wort „Cooperatores veritatis“ (Mitarbeiter der Wahrheit) gewählt. In seiner Predigt bei seiner Amtseinführung als Papst im April 2005 hat er kein Regierungsprogramm im weltlichen Sinn vorgelegt, sondern eindringlich betont: „Das eigentliche Regierungsprogramm aber ist, nicht meinen Willen zu tun, nicht meine Ideen durchzusetzen, sondern gemeinsam mit der ganzen Kirche auf Wort und Wille des Herrn zu lauschen und mich von ihm führen zu lassen, damit er selbst die Kirche führe in dieser Stunde unserer Geschichte.“

Mit der Gründung eines neuen Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung im Jahre 2010 hat Benedikt XVI. dieses Grundanliegen konkretisiert und deutliche Akzente gesetzt.

Damit die Neuevangelisierung wirklich Fuß fassen und Feuer fangen kann, damit sie zur Herzmitte der Kirche wird, müssen die Bischöfe und Priester ihre primäre Aufgabe in der Verkündigung des Wortes Gottes erblicken und diesen Dienst mit ganzem Herzen wahrnehmen. Als glaubwürdige Stimme des Evangeliums können sie aber nur dann überzeugen, wenn sie sich selbst vom Wort Gottes treffen lassen und sich von ihm nähren. Sie müssen zunächst aufmerksame „Hörer“ des Wortes sein, damit sie dann auch glaubwürdige „Diener“ des Wortes sein können. Dies schulden sie allen Menschen, denen sie das Wort Gottes als „Wort des ewigen Lebens“ (Joh 6,68) verkünden. Das göttliche Wort erfahrbar zu machen, ist denn auch das innerste Anliegen der Neuevangelisierung.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Pro-life-Demonstrationen – Erlebnisse eines Bischofs

Bei Gott ist kein Ding unmöglich!

Der „Marsch für das Leben“ am 17. September 2016 in Berlin zählte 7500 Teilnehmer. Mit dabei waren fünf katholische Bischöfe: Erzbischof Koch von Berlin, Bischof Voderholzer von Regensburg sowie die Weihbischöfe Schwaderlapp, Heinrich und Wörner. Weihbischof Dr. Andreas Laun, der am selben Tag beim „Marsch fürs Läbe 2016“ in Bern war, sieht darin ein Zeichen der Hoffnung.

Von Weihbischof Andreas Laun

Als in Österreich 1975 die Fristenlösung beschlossen wurde, sammelten wir, die Christen, vor allem die Katholiken, für ein Volksbegehren fast eine Million beglaubigte Unterschriften. Ich erinnere mich an einen Sonntag in Wien, an dem ich zwei Notare gewinnen konnte, nach der 10-Uhr-Sonntagsmesse kostenlos für uns zu arbeiten und die entsprechenden Dokumente zu besiegeln!

Wollte jemand heute wieder versuchen, ein Volksbegehren in diesem Sinn zu starten, er würde scheitern. Das bestehende Gesetz hat bewirkt, was wir schon damals vorausgesagt haben: Das Gesetz verändert das Denken, die Leute gewöhnen sich daran. In den vergangenen Jahren sprachen sich sogar Bischöfe für das Gesetz aus oder bekundeten ihre peinliche Unkenntnis der Lehre der Kirche zum Thema Abtreibung, das man ja auch im Katechismus leicht nachlesen könnte!

Was kann, was soll, was muss man heute noch tun? Ähnlich liberale Gesetze gibt es heute in den meisten Ländern Europas?

Meine Antwort ist: Erstens kann kein Gesetz die Gewissen abschaffen. Und auch nicht das Wissen um die Wahrheit! Niemand von uns weiß, wann und wo dieser Sieg des Teufels in seiner Niederlage enden wird! Zweitens: Das Gebot der Stunde heißt: Nicht schweigen und bei jeder Gelegenheit sich zur Heiligkeit und Unantastbarkeit des unschuldigen menschlichen Lebens bekennen! Darum muss man auch sagen: Der Staat hat die Pflicht, dieses Leben zu schützen mit seinen Gesetzen. Wirklich schützen auch mit Strafgesetzen. Das lächerliche Lippenbekenntnis wiederholen: „Abtreibung ist zwar Unrecht, aber straffrei!“ genügt nicht! Wer würde diese Formel für den Diebstahl seines Autos gelten lassen!

Eine Form des „Nicht Schweigen!“ ist der Gang über die Straßen unserer Städte und Länder! Später einmal soll und darf es nicht heißen: „Und ihr Katholiken, ihr hattet eine klare Lehre, aber ihr wolltet es gar nicht so genau wissen, ihr habt geschwiegen und nicht gekämpft! Und das, obwohl ihr wusstet, was vor eurer Haustüre tagtäglich geschieht und es weder eine Gestapo noch eine Stasi gab, die euch bedroht hätten! Nur über das Unrecht eurer Vorfahren habt ihr euch immer entrüstet und so getan, als hättet ihr ,damals‘ natürlich Widerstand geleistet, und ihr habt euch um dieses Redens willen für gerecht gehalten, für schuldlos! Das Heute dürfe und könne man nicht mit dem ,Damals‘ vergleichen, obwohl die damaligen Diktaturen neben anderen Verbrechen auch genau das taten, was ihr heute tun oder geschehen lasst!“

Mein Traum ist es: In allen Städten Europas gehen die Christen auf die Straße, geführt von ihren gut erkennbaren, entsprechend gekleideten Bischöfen, vielleicht sogar mit dem Papst an erster Stelle, und verkünden zusammen mit vielen anderen und andersgläubigen Menschen guten Willens eindeutig und kraftvoll das 5. Gebot Gottes für die ungeborenen, für die eingefrorenen und dann auch für behinderte und sterbende Menschen! In diesem Sinn war ich schon „dabei“ in Wien, in Budapest, in Prag, in Berlin, in Paris, in München, in Bratislava, in Bern und anderen, kleineren Städten, meist ohne bischöfliche Mitbrüder. Aber jetzt gibt es schon erste Zeichen der Hoffnung, dass das Beispiel der US-Bischöfe bei uns Schule macht: Dort gehen die Bischöfe mit!!!

Es wäre ein Tag der Freude auf Erden und im Himmel, wenn dieser Traum wahr würde. Ich bin überzeugt, der Tag würde Früchte im Leben der Völker bringen, Kinder retten, ja er könnte die Gesetze des Todes zum Einsturz bringen! Unmöglich? Wer hätte vor wenigen Jahren noch für möglich gehalten, dass der Kommunismus „kippen“ und „die Mauer fallen“ wird? Wenn wir unsere Demonstrationen mit Gebet und Umkehr begleiten, gilt: Bei Gott ist kein Ding unmöglich!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Impulse für die Predigt bei Requien und Hochzeiten

Zeugen der Hoffnung

Msgr. Dr. Carlos Encina Commentz, Offizial der Apostolischen Pönitentiarie in Rom, ermutigt die Seelsorger, insbesondere zwei Gelegenheiten für die Verkündigung besser zu nützen: Beerdigungen und Hochzeiten. Denn zu diesen Anlässen kämen oft Fernstehende in die Kirche, die sonst nicht erreicht werden könnten. Beide Anlässe bieten seiner Meinung nach eine einzigartige Möglichkeit, von der christlichen Hoffnung Zeugnis abzulegen.

Von Carlos Encina Commentz

Was bedeutet das Wort „hoffen“? Zu „hoffen“ bedeutet, für sich selber etwas zu wünschen, etwas, was man noch nicht besitzt. Es ist legitim, dass wir uns verschiedene Güter wünschen, zum Beispiel eine gute Gesundheit, eine würdige Wohnung und genügend Einkommen. Es handelt sich dabei um die sogenannten „menschlichen Hoffnungen“. Auch sie gehören zum christlichen Leben, aber sie sind nicht das Ziel unseres Lebens.

Die Tugend der Hoffnung

Damit kommen wir zur christlichen Tugend der Hoffnung. Sie ist etwas anderes. Der Katechismus der Katholischen Kirche definiert diese Tugend folgendermaßen: „Die Hoffnung ist jene göttliche Tugend, durch die wir uns nach dem Himmelreich und dem ewigen Leben als unserem Glück sehnen, indem wir auf die Verheißungen Christi vertrauen und uns nicht auf unsere Kräfte, sondern auf die Gnadenhilfe des Heiligen Geistes verlassen“ (KKK, Nr. 1817).

Die Tugend der Hoffnung bewegt uns, unser Vertrauen auf Gott zu setzen. Gott wird uns in seiner unendlichen Barmherzigkeit und durch die Verdienste unseres Herrn Jesus Christus seine Gnade und die Heilsmittel schenken, damit wir in diesem irdischen Leben seinen Willen erfüllen und eines Tages die ewige Freude erlangen können. Die göttliche Tugend der Hoffnung schließt nicht aus, dass der Mensch für sich irdische Güter wünscht, die seine Bedürfnisse erfüllen können. Diese Güter dürfen aber nicht im Gegensatz zum ewigen Leben stehen.

Wenn wir die vier Evangelien aufmerksam lesen, können wir feststellen, dass alles, was Jesus sagt, eine Beziehung zum ewigen Leben hat. Jesus ist gekommen, damit wir das Leben haben (vgl. Joh 10,10). Er öffnet uns die Augen dafür, dass das irdische Leben nur eine Vorbereitung auf das wahre Leben im Himmel ist. Und er zeigt uns sehr deutlich, was wir tun müssen, um den Himmel zu erreichen, aber auch, wie wir Gefahr laufen, unserer Seele zu schaden und das ewige Leben zu verlieren.

Tabu-Thema unserer Zeit

Heutzutage ist die Hoffnung ein „Tabu-Thema“. Warum befassen sich die Menschen so ungern mit dem Thema Hoffnung? Ich denke, dies hat verschiedene Gründe:

1. Materialistische Einstellung

Ein Grund ist der Materialismus. Die Menschen legen sehr viel Wert auf das Materielle. Für viele ist nur das Sichtbare wichtig. Der Mensch ist aber nicht nur materiell. Er hat eine geistige Seele und das Geistige kann nicht sterben. Das Leben des Menschen brennt nicht herunter wie eine Kerze. Die Seele des Menschen ist ewig, sie wird niemals vergehen, sie kann gar nicht sterben. Nur was materiell ist, kann sterben und verwesen. Das Geistige ist unsterblich wie die Engel und wie Gott selbst. Jeder Mensch hat eine Seele, die Gott erschafft und ihm im Augenblick seiner Empfängnis schenkt. Schon der kleinste, fast unsichtbare Embryo hat eine unsterbliche Seele, die für die Ewigkeit geschaffen wurde. Es geht um das Leben eines Menschen, das allein Gott gehört. Deswegen ist es im Übrigen so wichtig, dass wir das Leben der Ungeborenen mit allen unseren Kräften verteidigen.

2. Verdrängung des Todes

Ein zweiter Grund besteht darin, dass die Hoffnung mit dem Begriff vom Tod verbunden ist. Man denkt und spricht nicht gerne über den Tod. Ich erinnere an eine Episode aus dem Leben des hl. Philipp Neri. Von diesem berühmten Heiligen, der im 16. Jahrhundert in Rom gelebt hat, wird Folgendes berichtet: Eines Tages kam zu ihm ein junger Student, der seine Studien vollendet und gerade sein Diplom erhalten hatte. Überglücklich zeigte er Philipp Neri sein Diplom und schilderte ihm alles, was er nun vorhatte. Daraufhin fragte Philipp Neri bloß: „Und was dann?“ – „Dann werde ich mir ein Haus bauen“, antwortete der Student. „Und was willst du dann tun?“ – „Dann werde ich mir eine Praxis einrichten, als Rechtsanwalt.“ – „Und was dann?“ –„Dann werde ich eine gute Frau suchen und eine Familie gründen.“ – „Und was dann?“ Da wurde der Student nachdenklich und sagte: „Ja, dann werden wir alle alt sein und eines Tages müssen wir sterben.“ Und hierauf sagte Philipp Neri nichts mehr. Er ließ ihn einfach stehen. Und der Student begann zu begreifen, was ihm der Heilige sagen wollte: Das irdische Leben ist nicht alles.

Im Kreuzgang des Augsburger Doms gibt es zahlreiche Gräber von kirchlichen Würdenträgern. Ein Grabstein trägt die lateinische Inschrift, die mich sehr beeindruckt: „Quod tu es ego fui, quod ego sum et tu eris.“ Auf Deutsch könnte man übersetzen: „Was du jetzt bist, so war ich einst. Was ich jetzt bin, so wirst du sein“. Der Satz ist wie eine Mahnung des Begrabenen an den Besucher und erinnert uns daran, was auf uns zukommen wird.

3. Verlust des Glaubens an die Ewigkeit

Eine dritte Erklärung, warum man sehr wenig über die Hoffnung spricht, ist die, dass viele Menschen nicht mehr an den Himmel glauben oder ganz einfach so leben, als ob sie nie sterben würden. Und viele denken, dass nach dem Tod alles aus ist. Der hl. Paulus sagte: „Kein Auge hat es geschaut, kein Ohr hat es gehört, und in keines Menschenherz ist es gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“ (1 Kor 2,9). Umso mehr müssen wir bezeugen, dass Gott den Menschen guten Willens etwas ganz Außergewöhnliches vorbereitet, etwas so Herrliches, dass unsere Menschenworte dafür nicht ausreichen.

Orte der Verkündigung

Zu Beerdigungen kommt ein besonderes Publikum. Oft sind Menschen beim Requiem, die selten eine Kirche betreten. Viele gehen fast nie zum Gottesdienst und kennen die Antworten der Messe nicht. Die Predigt bei einem Requiem ist eine wunderbare Gelegenheit, um eine gute Katechese zu halten und über den katholischen Glauben zu sprechen. Sie sollte kein Lob auf den Verstorbenen sein, sondern ein Zeugnis über das Ewige Leben, über den Sinn des irdischen Lebens, über den christlichen Tod und über die Reinigung der Seele. Manche Seelsorger sagen nur wunderbare Dinge über den Verstorbenen, aber das ist nicht korrekt. Selbstverständlich kann man einige wenige Dinge über den Verstorben sagen, aber dies soll nicht das Hauptthema der Predigt sein.

Ähnlich ist es bei Hochzeiten. Oft nehmen Fernstehende teil, denen man sehr wichtige Dinge sagen kann. Es ist nicht der Augenblick, um über den Tod zu sprechen, aber man kann auf die Berufung zur Heiligkeit eingehen. Die Ehe ist ein Weg zur Heiligkeit, ein Weg, um heilig zu werden. Und dazu sind alle berufen. Jeder Mensch will glücklich werden. Aber dazu muss er den Willen Gottes erfüllen, nach dem Willen Gottes leben. Eine Trauung ist eine wunderbare Gelegenheit, um davon zu sprechen, dass der Mensch nur in Gott sein Glück finden kann, dass die Erwartungen an die Ehe nur mit Gott in Erfüllung gehen können.

Diese zwei Gelegenheiten – Requien und Hochzeiten – können wir nutzen, um über unsere christliche Hoffnung zu sprechen. Und vergessen wir dabei nicht die Worte des Apostels Paulus an Timotheus: „Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht…“ (2 Tim 4,2).

Die allerwichtigste Stunde

Die Stunde unseres Todes ist die allerwichtigste Stunde, die entscheidendste. Nach dem Tod kann man nicht mehr sündigen, aber auch nichts mehr verdienen. Es ist wichtig, dass wir uns selbst auf diese Stunde gut vorbereiten, aber auch unsere Verwandten und Bekannten, die am Sterben sind. Wir sollten mit ihnen offen über das ewige Leben sprechen und ihnen auch die Wichtigkeit der Sakramente erklären.

Ein Sakrament, das man gar nicht genug schätzen kann, ist die Krankensalbung. Leider kommt es häufig vor, dass Verwandte od. andere nahestehende Personen die „letzte Ölung“ nicht wünschen, damit der Kranke „nicht erschrecke“. Oft wartet man absichtlich den Bewusstseinsverlust des Kranken ab, bevor man einen Priester ruft. Diese Einstellung aber offenbart lediglich einen schwachen Glauben hinsichtlich des ewigen Lebens. Wie wertvoll ist es, wenn sich ein Sterbender durch persönliche Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, durch Reue und die Lossprechung von seinen Sünden, durch das Gebet, die heilige Ölung und den Empfang des Leibes des auferstandenen Herrn vorbereiten kann. Den Kranken dieser großen und wirksamen Stützen zu berauben, oder sie bis zum Verlust seines Sinnesgebrauchs zu verschieben, ist ein falsch verstandenes Mitleid und ein großer Mangel an Liebe. Denn es ist umgekehrt Zeichen wahrer christlicher Liebe, alles Mögliche zu tun, damit der Priester rechtzeitig kommt und dem Kranken unter den bestmöglichen Bedingungen diese mächtigen Hilfsmittel darreichen kann. Sie sind von Jesus Christus selbst dafür eingesetzt, den Sterbenden in der Prüfung, die er durchschreitet, zu stärken.

Das irdische Leben ist eine Vorbereitung auf das ewige Leben. Wir werden in der Ewigkeit leben, so wie wir auf Erden gelebt haben. Die Hoffnung hilft uns, auf dem wahren Weg zu wandeln, damit wir das Ziel unseres Lebens erreichen können.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Die Reformation hat das Weihepriestertum aufgegeben (Luther verstehen – Teil 4)

Das Priestertum aller Gläubigen

In einem vierten Beitrag zum bevorstehenden Reformationsgedenken geht Andreas Theurer auf die Frage des Priestertums ein. Er stellt fest, dass Martin Luther das Weihepriestertum ganz bewusst abgelehnt und durch ein neu definiertes „Priestertum aller Gläubigen“ ersetzt habe. Mit allen Konsequenzen habe er die sogenannte „Apostolische Sukzession“ aufgegeben, das heißt die Weitergabe der apostolischen Vollmacht durch das sakramentale Zeichen der Handauflegung durch Bischöfe in einer ununterbrochenen Linie von den Aposteln bis in die Gegenwart. Dieser Bruch mit der kirchlichen Tradition hat nach Theurer unter allen Auswirkungen der Reformation die weitreichendste Bedeutung für das praktische Leben der Kirche. Der verhängnisvolle Schritt beruhe nicht nur auf der Ablehnung der kirchlichen Überlieferung nach dem ohnehin unzulässigen Prinzip „Allein die Schrift“, sondern auch auf einer falschen Auslegung der biblischen Texte selbst. Notwendig sei eine Neubesinnung auf der Grundlage einer ehrlichen und sachlichen Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis unseres Herrn Jesus Christus.

Von Andreas Theurer

Die protestantische Theologie hebt das sogenannte „Priestertum aller Gläubigen“ hervor. Was ist darunter zu verstehen?

Der Begriff des Priestertums aller Gläubigen ist auch Katholiken durchaus geläufig, vor allem seit dem 2. Vatikanischen Konzil. Jedoch wird er evangelischerseits ganz anders verstanden und ist für die protestantische Pastoral von enormer Wichtigkeit. Das unterschiedliche Verständnis vom Priestertum hat wohl die größten praktischen Auswirkungen für das kirchliche Leben, welche von der Reformation ausgegangen sind.

Braucht es ein Weihepriestertum?

Während wir in der katholischen Kirche das Priestertum aller Gläubigen als die Berufung eines jeden Getauften und Gefirmten zur Mitwirkung an der priesterlichen Sendung der Kirche in die Welt verstehen, meinen die Protestanten damit, dass – wie Luther es einmal formulierte – jeder, der „aus der Taufe gekrochen“ sei, damit auch schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei. Die protestantische Theologie bestreitet also schon grundsätzlich, dass es so etwas wie ein Weihepriestertum überhaupt gibt. Nach ihrem Verständnis sind alle Christen „gleich“. Die verschiedenen Amtsträger, die sie natürlich auch haben, sind lediglich Inhaber einer besonderen Beauftragung, nicht eines besonderen Charismas oder gar eines „character indelebilis“, also einer unauslöschlichen Prägung, die man nach altkirchlichem Glauben mit der Weihe empfängt.

Oder genügt eine Beauftragung?

Deshalb haben protestantische Gemeinde- oder Kirchenleiter auch weder Priester- noch Bischofsweihe. In der Ordination empfangen sie zwar (meistens) unter Handauflegung und Gebet einen Segen und eine widerrufbare Beauftragung. Sie können aber dadurch kein bisschen mehr als jeder Laie, sie dürfen nur mehr. Und wenn ein Pfarrer zum Kirchenleiter gewählt wird und sich nun Bischof nennt, bekommt er deswegen trotzdem keine Bischofsweihe, sondern nur wieder unter Handauflegung und Gebet einen Segen und eine (heute meist zeitlich befristete) Beauftragung.

Ist das protestantische Abendmahl ein Sakrament?

Aus katholischer und protestantischer Sicht – und das macht die oben genannte enorme praktische Bedeutung dieses Sachverhalts aus – können diese Amtsträger also nicht mehr oder bessere Sakramente spenden, als jeder Laie. Hierin liegt auch aus altkirchlicher (d.h. nicht nur aus katholischer, sondern auch aus orthodoxer und altorientalischer) Sicht der Hauptgrund für die Unmöglichkeit, das protestantische Abendmahl als Sakrament anzuerkennen.

Wie wird die evangelische Sichtweise biblisch begründet?

Die protestantische Auffassung stützt sich hauptsächlich auf eine einzige Bibelstelle: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde…“ (1 Petr 2,9).

Nun ist die klassische protestantische Deutung dieser Bibelstelle, als würde sie die Abschaffung des Priestertums belegen, aus exegetischer Sicht ganz offensichtlich falsch. Denn Petrus zitiert hier – wie ein Blick ins Alte Testament beweist – wörtlich aus Ex 19,5-6 – wo ja im Zusammenhang gerade nicht die Abschaffung des besonderen Priestertums, sondern seine Einführung begründet wird! Zweifellos meinte Petrus, als er diese Stelle schrieb, nicht das, was Luther in sie hineinlas, sondern das glatte Gegenteil: gemeinsam mit den Schriftgelehrten des Alten Bundes bezog er Ex 19 auf die priesterliche Reinheit des Gottesvolkes, die Gott von ihm erwartet. So wie Mose nicht gleichzeitig die Einführung und die Abschaffung des besonderen Priestertums verkündete, so forderte Petrus auch nicht, dass alle Gläubigen priesterliche oder gar bischöfliche Funktionen ausüben sollten.

Gibt es sonst keine biblische Begründung für die protestantische Auffassung vom Priestertum aller Gläubigen? Nein. Im Gegenteil: Immer wieder berichtet die Apostelgeschichte, dass Paulus Amtsträger in den neu gegründeten Gemeinden einsetzte. Vereinzelt erinnert Paulus sogar selbst solche Gemeindeleiter daran, dass sie von ihm unter Handauflegung und Gebet einen Auftrag erhalten haben, den sie auch weitergeben sollen (1 Tim 4,12; 2 Tim 1,6; Tit 1,5).

Ist die Apostolische Sukzession notwendig?

Für die altkirchliche Sicht auf dieses Thema ist daher die Apostolische Sukzession entscheidend wichtig. Da Christus – auch ein Ausdruck seiner Menschwerdung – sein sakramentales Wirken an die Kirche gebunden hat, hängt die Wirklichkeit der Sakramente auch ganz konkret an der Wirklichkeit der sie spendenden Menschen. Das bedeutet, dass nur derjenige eine Weihe weitergeben kann, der sie auch selbst bekommen hat, und so weiter – bis zurück zu den Aposteln, die von Christus selbst die Vollmacht zur Sakramentenspendung empfangen haben (zum Beispiel die Beichte: Joh 20; oder die Eucharistie: 1 Kor 11,23; oder das kirchliche Amt: Clemens, Korintherbrief 44,1-2). Eine Apostolische Sukzession, die erst irgendwann später einsetzt (z. B. mit Martin Luther) oder eine nur priesterliche Sukzession verwirklichen diese gottgewollte Struktur nicht.

Von vielen – nicht nur protestantischen Kirchengeschichtlern – wird zwar bestritten, dass die Apostolische Sukzession wirklich auf die Apostel zurückgeht und stattdessen angenommen, sie sei nur eine spätere theologische Konstruktion. Dem möchte ich freilich mit einem einfachen Argument entschieden widersprechen: Wenn der heilige Clemens behauptet, dass Christus das Amt gestiftet und den Auftrag gegeben hat, es durch Handauflegung weiterzugeben, gibt es genau drei Möglichkeiten: er lügt, er irrt sich, oder es ist wahr. Um die ersten beiden Möglichkeiten zu behaupten, sehe ich bei keinem modernen Kritiker die moralische oder sachliche Berechtigung. Ich halte mich daher – mit der ganzen alten Kirche – an die dritte Möglichkeit.

Von protestantischer Seite wird im Anschluss an Luther oft eingewandt, dass die Apostolische Sukzession in einer Sukzession der wahren Lehre bestehe. Wo das reine Evangelium gepredigt wird, da sei auch die Apostolische Sukzession verwirklicht, eine Übertragung des Weiheamtes sei dazu nicht nötig. Das ist sicher ein schöner Gedanke, aber er entspricht definitiv nicht der Auffassung der Kirchenväter. Bei Irenäus geht der Argumentationsgang genau umgekehrt: Bei Bischöfen, die für ihren Amtssitz eine Apostolische Sukzession (als Abfolge von Bischöfen seit der Apostelzeit) vorweisen können, da darf auch mit reiner Lehre gerechnet werden – im Unterschied zu den Führern der neuentstandenen Irrlehren.

Braucht die Kirche das Petrusamt?

Besonders deutlich wird der Unterschied in der Lehre von der Kirche zwischen den Konfessionen in der Frage nach der Rolle der Bischöfe und des Papstes. Bezüglich des Bischofsamtes gibt es im weltweiten Protestantismus noch eine gewisse Bandbreite: Die riesige Mehrheit, darunter die deutschen Protestanten und natürlich auch fast alle Freikirchen, lehnen das Bischofsamt als Weiheamt entschieden ab. Einige wenige, darunter die schwedischen Lutheraner (und sowieso die Anglikaner) legen dagegen großen Wert auf die Bischöfe und ihre Weihe. Beim Papstamt sind sie sich aber alle einig: Es sei unbiblisch und gegen Gottes Willen. Sie sind der Meinung, dass die Verheißung Jesu an den Apostel Simon „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18f.) nur ihm persönlich oder nur seinem Glauben gelte und seit seinem Tod eigentlich bedeutungslos sei.

Mit den Orthodoxen sind die Protestanten übrigens auch nur darin einig, dass sie dem Papst den Jurisdiktionsprimat über die ganze Kirche bestreiten. Dass der Patriarch von Rom aber den Ehrenvorrang vor allen Patriarchen der Kirche hätte, (wenn er aus orthodoxer Sicht rechtgläubig wäre,) geben auch – anders als die Protestanten – die Theologen der Ostkirchen zu. Von den Konzilien wiederum werden faktisch nur die ersten vier (325, 381, 431, 451) anerkannt und selbst diese nur mit ihren dogmatischen Beschlüssen, nicht aber die sonstigen Regeln („canones“), die sie erlassen haben.

Ist die Kirche unsichtbar?

Eine letzte Frage, die ich im Zusammenhang der Ekklesiologie (Lehre von der Kirche) kurz anschneiden möchte: Ist die Kirche sichtbar oder unsichtbar? Aus Sicht der meisten heutigen Protestanten besteht die Kirche Jesu Christi aus allen Gläubigen aller Konfessionen. Zu welcher Kirchenorganisation man gehört, ist nicht von großer Bedeutung, solange man den Glauben an Jesus Christus teilt und sich von seinem Kreuzestod die Vergebung der Sünden und das ewige Heil erhofft. Aus katholischer (und altkirchlicher) Sicht ist die Zugehörigkeit zur Kirche als Organisation jedoch durchaus wichtig. Wenn man auch nicht ausschließen kann, dass Menschen außerhalb der katholischen Kirche (und sogar außerhalb des Christentums) gerettet werden können, so gilt doch als normaler Weg zum Heil, dass man in die katholische Kirche eintritt, bzw. in ihr bleibt (Lumen Gentium 14). Und diese Kirche ist eine sichtbare Gemeinschaft. Sie ist heilig (auch wenn nicht alle Amtsträger heiligmäßig und rechtgläubig sind) und hat Strukturen, die heilsvermittelnd (nicht heilschaffend!) sind. Sie ist nicht nur eine mehr oder weniger gelingende menschliche Organisation, sondern eine göttliche Stiftung, in deren Sakramenten das Wirken Gottes zuverlässig gegenwärtig ist. Natürlich gibt es auch zu dieser Frage im Protestantismus eine gewisse Bandbreite zwischen konservativen Lutheranern und Freikirchlern, wobei erstere dem katholischen Kirchenbild deutlich näher stehen.

Ist ein ökumenischer Durchbruch in der Amtsfrage möglich?

In der vorigen Folge habe ich darauf hingewiesen, dass das „Sola Scriptura“ die Quelle aller Differenzen zwischen altkirchlicher und protestantischer Theologie ist. Das zeigt sich auch hier: Weil die Lehre von der Kirche (in der Lutherübersetzung steht für dieses Wort konsequent „Gemeinde“) und ihren Ämtern im Neuen Testament nicht dogmatisch entfaltet ist, hält man sie im Protestantismus für nachrangig, bzw. variabel und versucht, anhand der wenigen Bibelstellen zum Thema ein Modell von Gemeinde zu erkennen, das man für das urchristliche hält, also: ohne Weiheämter, dafür mit demokratischen Strukturen bis in die höchsten Ebenen und gewählten Ältestenräten als höchsten Beschlussgremien (weil griech. presbyteros wörtlich übersetzt wird mit „Ältester“, anstatt im übertragenen Sinn als „Priester“, wie es – das verrät ja schon das Wort – auch in der Alten Kirche gemeint war!).

Ein echter Durchbruch in der „Amtsfrage“ ist also ohne Abkehr vom „Allein die Schrift“ nicht zu erwarten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Pater Werenfried und der Ungarn-Aufstand vor sechzig Jahren

In der Hölle von Budapest

Volker Niggewöhner, Ansprechpartner für Öffentlichkeits- und Medienarbeit bei „Kirche in Not“, erinnert an den Ungarnaufstand vor 60 Jahren. Weitsichtig und entschlossen hatte Pater Werenfried van Straaten auf diesen Widerstand gegen das kommunistische Regime reagiert. Umgehend organisierte er im Westen einen öffentlichen Gebetssturm und eine umfassende Hilfe der europäischen Katholiken für die Verwundeten und Flüchtlinge. Nur mit dem Rosenkranz „bewaffnet“ reiste er nach Budapest und traf den eben freigelassenen Jozsef Kardinal Mindszenty. Ein bewegendes Zeitdokument.

Von Volker Niggewöhner

Am 23. Oktober 1956 versammelten sich auf den Straßen Budapests 250.000 Demonstranten, darunter tausende Studenten, um vor dem Parlament friedlich für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Im Laufe des Abends wandelte sich die friedliche Demonstration zum Straßenkampf. Aus den Reihen der Staatssicherheit war in die Menge geschossen worden. In den folgenden Tagen weiteten sich die Demonstrationen zu Kämpfen in ganz Ungarn aus. Die Bilanz: über 20.000 Tote, 200.000 Verletzte und etwa eine halbe Million Flüchtlinge.

Die 1947 von Pater Werenfried van Straaten gegründete Ostpriesterhilfe (heute „Kirche in Not“) hatte sich bis dahin nur um die aus dem Osten vertriebenen Deutschen gekümmert. Als Pater Werenfried vom Aufstand der Ungarn hörte, handelte er schnell.

Am 26. Oktober 1956 gegen 22 Uhr meldete das Radio, dass die ersten 250 Verwundeten an die österreichisch-ungarische Grenze gebracht wurden. Sofort machte Werenfried sich auf zum Berater der ungarischen Abteilung des Hilfswerks und beriet mit ihm, wie man dort helfen könne. Noch in derselben Nacht startete eine beispiellose Aktion für die aufständischen Ungarn.

Es begann mit einer Revolte des Gebets

Gegen Mitternacht fuhr Pater Werenfried von seinem belgischen Prämonstratenser-Kloster aus nach Brüssel und begann mit sechzig Freunden der Ostpriesterhilfe in den Straßen der belgischen Hauptstadt den Rosenkranz zu beten. Sie zogen vor das Gebäude der ungarischen Botschaft und beteten für die Menschen in Budapest. Dasselbe wiederholten sie vor den Gesandtschaften von Bulgarien, Polen und der Sowjetunion. Es war eine spontane Initiative, die einen Gebetssturm entfachte, an dem sich hunderttausende Menschen in Belgien beteiligten.

In der Zwischenzeit wurden, wie von den Demonstranten gefordert, die ungarischen Grenzen geöffnet. Dadurch konnten Medikamente und Hilfsgüter der Ostpriesterhilfe eingeführt werden. Pater Werenfrieds Organisationstalent und Einfluss hatten es ermöglicht, dass bereits am nächsten Morgen ein Flugzeug mit Blutplasma und zweieinhalb Tonnen Medikamenten Richtung Ungarn abheben konnte. Auch aus anderen Ländern schickten Mitarbeiter der Ostpriesterhilfe Hilfspakete mit Flugzeugen und Autos.

Treffen mit dem Primas im umkämpften Budapest

Pater Werenfried beschloss, nach Ungarn zu reisen – ohne gültigen Reisepass und ohne Visum, aber mit seinem Rosenkranz, wie er in seinem Lebensbericht betonte. Er nahm das Flugzeug nach Wien und reiste mit österreichischen und ungarischen Kollegen weiter nach Budapest. Zeitgleich kündigte sich die Freilassung von Kardinal Jozsef Mindszenty an. Der Bischof von Esztergom und Primas von Ungarn galt als Gallionsfigur des Widerstandes gegen den Kommunismus und war 1949 in einem Schauprozess wegen „Umsturzes und Spionage“ zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Am 30. Oktober erreichten Pater Werenfried und seine Freunde Budapest. Die Stadt bot einen entsetzlichen Anblick. Ausgebrannte russische Panzer und zerstörte Häuser gaben Zeugnis von den erbitterten Kämpfen in der Hauptstadt. Während sie noch unterwegs waren, wurde Kardinal Mindszenty freigelassen. „Drei Stunden nach seiner Befreiung stand ich mit dem Präsidenten des österreichischen Caritasverbandes und einigen anderen in einem kleinen Zimmer bei Kardinal Mindszenty. Wir waren die ersten Priester aus dem freien Westen, die er zu Gesicht bekam. Es war noch vollauf die Revolution …“, notiert Pater Werenfried van Straaten in seinem Buch „Sie nennen mich Speckpater“.[1]

Die Botschaft des Kardinals

Er berichtete dem Kardinal von der geistlichen und materiellen Hilfe der Ostpriesterhilfe und sagte der katholischen Kirche in Ungarn weitere Unterstützung zu. Der sichtlich bewegte Primas veranlasste, dass die karitative Hilfe der westeuropäischen Kirche über ganz Ungarn verteilt werden sollte. Er schrieb einen Dankbrief und bat Pater Werenfried beim Abschied: „Herr Pater, wenn Sie jetzt in den Westen zurückkehren, sagen Sie bitte Ihren Freunden, dass sie uns nicht vergessen. Sagen Sie Ihnen, dass sie beten, viel beten, noch mehr beten … denn ein schwerer Kampf steht uns noch bevor.“ Als die Delegation die Stadt am 2. November verließ, waren bereits zwanzigtausend Tote durch die von der Sowjetunion eingesetzten Panzer und Waffen zu beklagen.

Nach seiner Rückkehr ließ Pater Werenfried den Dankbrief des Kardinals übersetzen und in der Presse veröffentlichen. Durch die Aktion „Fonds Mindszenty“ kamen acht Millionen D-Mark zusammen, mit denen auch den ungarischen Flüchtlingen in Westeuropa geholfen wurde.

Der Westen hat wieder beten gelernt

Doch der kostbarste Beitrag für die Unterstützung der Ungarn „war die Sturmnovene des Rosenkranzes, die monatelang die Gewissen wachgehalten und trotz des äußerlichen Scheiterns des Aufstandes zweifellos Wunder der Gnade und des Segens in Ungarn verursacht hat“, schrieb Pater Werenfried. Von Brüssel aus weitete sich das solidarische Gebet auch auf andere belgische Städte und schließlich auf weitere europäische Länder aus.

In seinen Erinnerungen zog Pater Werenfried eine Gesamtbilanz des Ungarischen Volksaufstands: „Der ungarische Aufstand mit seinem Gefolge von Zehntausenden von Flüchtlingen hat ganz sicher Unzähligen die Augen und Herzen für das Leid der verfolgten Kirche geöffnet. Der christliche Westen hat wieder beten gelernt für die 60 Millionen unterdrückten, von einem teuflischen Regime geschundenen … Brüder in Ungarn und in anderen Satellitenstaaten. … Die Tatsache des ungarischen Aufstandes war zwar eine Blamage für den Kommunismus, aber deshalb noch nicht die Bestätigung der einen lebendigen Gemeinschaft der Kirche. Denn Ost und West sind einander entwachsen. Es war die Proletarier-Elite der ungarischen Volksdemokratie, die im Namen der Freiheit, der menschlichen Persönlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit gegen die marxistische Lügendiktatur revoltierte. …

„Wir Christen müssen qualitativ besser werden“

Diese jungen Konterrevolutionäre sind unsere Brüder, die der Kirche geraubt wurden oder vielleicht niemals zu ihr gehörten, die aber dennoch bei uns zu Hause sind und die wir unaufhörlich in unser Gebet und unsere Liebe einschließen müssen. Machen wir uns keine Illusionen! Was nach dem Kommunismus kommt, kann nicht ohne weiteres von der Kirche annektiert werden. … Zuerst müssen wir qualitativ besser werden! … Millionen Rebellen in Osteuropa haben den Marxismus innerlich überwunden. Wir können nur in Wahrheit mit ihnen wiedervereinigt werden, wenn wir unseren Materialismus überwinden.

Der Aufstand ist gescheitert. Die Bresche im Eisernen Vorhang ist wieder geschlossen. Aber mitten unter uns leben Flüchtlinge, viele junge Menschen, die uns am eigenen Leib zeigen, wie der Mensch aussieht, der durch die Schule des Kommunismus gegangen ist. … Er ist selbst nicht dafür verantwortlich, dass er an seiner Seele Schaden gelitten hat. Aber auf jeden Fall ist er ein Menschentyp, dem wir Rechnung tragen müssen; denn so wird nach der Befreiung der Mensch aussehen, dem wir im Osten überall begegnen werden und mit dem wir wieder zu einer Einheit zusammenwachsen müssen.

Lasst uns oft beten für unsere Brüder im Osten, auf dass der Herr sie bald befreien und in Frieden zu uns führen möge. Aber lasst uns auch beten für uns selbst, dass der Herr uns reinigen und dass unsere Unchristlichkeit der Wiedervereinigung mit den in Leid Geläuterten und nach Wahrheit Suchenden nicht im Wege stehen möge.“

Obwohl die Begegnung mit Kardinal Jozsef Mindszenty nur kurz war, prägte sie Pater Werenfried nachhaltig. Sie war nicht nur der Anfang für eine umfangreiche Ungarnhilfe, sondern auch der Beginn einer engen Freundschaft mit dem Kardinal. Nach dessen Tod im Jahr 1975 durfte er auf der Beerdigung Mindszentys sogar die Grabrede halten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Eine ausführliche und spannende Schilderung der Ereignisse in Ungarn hat Pater Werenfried van Straaten in dem autobiografischen Buch „Sie nennen mich Speckpater“ gegeben. Darin schreibt er auch über andere Brennpunkte der Welt und die Entwicklung des von ihm gegründeten Hilfswerks. Das Buch kann für 5,– Euro bezogen werden bei: KIRCHE IN NOT, Lorenzonistr. 62, 81545 München, Tel. 089/6424888-0; E-Mail: kontakt@kirche-in-not.de

Die Engelerscheinungen 1916 im Vorfeld der Ereignisse von Fatima (Teil 1)

„Ich bin der Engel des Friedens“

An der Gebetsstätte Marienfried bei Pfaffenhofen a. d. Roth fand vom 18. bis 20. Juli 2016 ein vielbeachtetes Fatima-Symposium statt. Es war als Vorbereitung auf das hundertjährige Jubiläum der Marienerscheinungen im kommenden Jahr gedacht. Gleichzeitig setzte es einen besonderen Akzent auf die Engelerscheinungen im Jahr 1916. Pfarrvikar Christian Stadtmüller (geb. 1979) aus Würzburg behandelte eingehend die Bedeutung dieser Erscheinungen, welche zur Gesamtheit der Fatimabotschaft gehören. Stadtmüller, dem die Präsenz in der Schule, die Jugendarbeit sowie der Kranken- und Verkündigungsdienst wichtig sind, erschließt nachfolgend die Worte des Engels bei seiner ersten Erscheinung für die pastorale Arbeit von heute. Im nächsten Heft werden wir seine Ausführungen über die beiden weiteren Engelerscheinungen veröffentlichen.

Von Vikar Christian Stadtmüller

Die Bedeutung der Botschaft von Fatima erschließt sich in ihrer Gesamtheit. Dazu gehören auch die Engelerscheinungen im Jahr 1916. Die Engel gehören zur unsichtbaren Welt, als deren Schöpfer wir Gott im Credo bekennen. Unsichtbare Welt bedeutet für uns in unserer technisierten und materiellen Welt eine Herausforderung an sich. Wir neigen dazu, alles, was nicht durch die Wissenschaft zu beweisen ist, als nicht real zu bezeichnen. Doch eines muss uns klar sein: Unser menschliches Forschen und Denken kann die Wirklichkeit niemals bis zum Ende ergründen. Denn je intensiver wir Dinge verstehen wollen, umso offensichtlicher werden die schier unendlichen Geheimnisse zwischen Himmel und Erde, umso augenfälliger wird unser kleiner Horizont. Das gilt für unseren Glauben, für Gott und schließlich auch für das große Geheimnis der Ereignisse in Fatima.

Engel als Realität

Die Offenbarung, nach der wir unser Leben ausrichten sollen – und nicht umgekehrt! – lehrt uns, dass es Engel gibt. Auf die Frage, was ein Engel ist, hat Papst Benedikt einmal in einer Predigt geantwortet: „Die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche lassen uns zwei Aspekte erkennen. Der Engel ist einerseits ein Geschöpf, das vor Gott steht und mit seinem ganzen Sein auf Gott ausgerichtet ist. Alle drei Namen der Erzengel enden mit dem Wort ‚El‘, was ‚Gott‘ bedeutet. Gott ist in ihre Namen, in ihr Wesen eingeschrieben. Ihr wahres Wesen ist das Dasein vor Ihm und für Ihn. Genau daraus erklärt sich auch der zweite Aspekt, der die Engel kennzeichnet: Sie sind Boten Gottes. Sie bringen Gott zu den Menschen, sie öffnen den Himmel und öffnen so die Erde. Gerade weil sie bei Gott sind, können sie auch dem Menschen sehr nahe sein. Gott ist in der Tat jedem von uns näher, als wir es uns selbst sind. Die Engel sprechen zum Menschen von dem, was sein wahres Sein ausmacht, von dem, was in seinem Leben so oft zugedeckt und begraben ist. Sie rufen ihn auf, wieder zu sich zu kommen, indem sie ihn von Gott her berühren."[1]

Ganz auf Gott ausgerichtet zu sein, bedeutet, Gott anzubeten, ihn zu verherrlichen und ihm zu dienen. Weil die Engel Gott dienen wollen („serviam!“) ist es ihre tiefste Sehnsucht, den Willen Gottes zu erfüllen. Weil Gott es will, wenden sie sich uns Menschen zu. Im Buch der Psalmen wird dieser Auftrag an die Engel deutlich: „Denn er“ – Gott – „befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen“ (Ps 91,11). Die Dienerin Gottes Lúcia dos Santos schreibt, „dass Gott in seiner übergroßen Güte und Barmherzigkeit jedem von uns einen Engel gegeben hat, der uns begleitet, hilft und schützt."[2] Damit bringt sie ins Wort, was uns die Kirche im Katechismus mit den Worten des hl. Basilius lehrt: „Einem jeden der Gläubigen steht ein Engel als Beschützer zur Seite, um ihn zum Leben zu führen."[3]

Geschichtliches Umfeld der Erscheinungen

Die unsichtbare Welt ist also keine Metapher, kein abstraktes Denkkonstrukt, sondern eine Wirklichkeit unseres Glaubens. Vielleicht ist gerade unsere Zeit besonders berufen, sich des Glaubens an die Engel zu vergewissern. Wir werden versucht durch eine durch und durch auf den Materialismus fixierte Welt. Versucht, die Gnade des Glaubens zu verlieren, sich nur dem Diesseitigen anheim zu stellen, das Jenseitige, das Transzendente zu vernachlässigen. Auf die Engel weist uns in dieser Situation der große katholische Schriftsteller Reinhold Schneider hin, der schreibt: „Je mehr eine Zeit die Farbe des Abgrunds annimmt und Wesen und Kräften den Raum des Handelns gewährt, die das entsetzliche Siegel der Zerstörung tragen, umso gewisser ist es, dass die Stunde der Engel gekommen ist und die Heerschar des Feindes allein aus der Höhe überwältigt werden kann. Es ist die dringendste Aufgabe eines angefochtenen Geschlechts, die Engel herabzuflehen, sich mit ihnen auf das innigste zu verbinden und damit die himmlische Heerschar auf eine ganz neue Art mit der Erde zu verbünden. … Das Geschlecht, das von der Macht der Engel weiß und sich ihnen anbefiehlt, kann nicht verloren gehen."[4]

Nach einer spannungs- und konfliktreichen Phase wurde 1910 das Königreich Portugal begraben und der 5. Oktober zum Geburtstag der ersten Republik, die wiederum von Chaos und Anarchie geprägt war.[5] Zu Beginn der Auseinandersetzungen noch neutral, trat Portugal 1916 in den Ersten Weltkrieg ein. Unzählige treue katholische Portugiesen wurden Zeugen des Abfalls von Gott, der immer verderblichere Ausmaße annahm. Unzählige mussten erleben, wie ein aggressiver Atheismus sich ausbreitet. Unzählige blieben diesem diabolischen Phänomen nicht gleichgültig gegenüber, sondern sie haben gebetet. Unzählige haben zu ihrem Engel gebetet. In diese Situation hinein spricht der Himmel, spricht Gott durch den Engel zu den Menschen. Der Himmel gibt Antwort: „Ich bin der Engel des Friedens!"[6]

Die erste Engelerscheinung im Jahr 1916

Insgesamt drei Mal ist im Jahr 1916 den seligen Seherkindern und Lúcia derselbe Engel erschienen.[7]

Über die erste Engelerscheinung schreibt Schwester Lúcia: „Es war im Frühjahr 1916. … Ich nehme dies wenigstens an, denn als Kind habe ich mich nicht um Daten gekümmert. Vielleicht habe ich damals nicht einmal das Monatsdatum gewusst. Eines Tages also … sahen [die drei kleinen Hirten von Fatima] in einer gewissen Entfernung, wie ein junger Mann näher kam. Er sah aus wie von Licht gemacht."[8]

In einem ihrer Briefe, in denen sie dem Bischof von den Ereignissen berichtet, schreibt Lúcia etwas ausführlicher über die Begleitumstände dieser ersten Engelerscheinung, die beachtenswert sind: „Wir hatten ein Weilchen schon gespielt, als plötzlich, obwohl es sonst ein ruhiger Tag war, ein starker Wind die Bäume schüttelte. Wir blickten nach oben und sahen dann jene Gestalt. … Wie sie sich uns näherte, konnten wir ihr Aussehen erkennen: ein Jüngling von 14 bis 15 Jahren, weißer als der Schnee."[9]

Vielleicht fragen wir uns, warum dieser eben geschilderte Umstand von Bedeutung ist. Der von Lúcia beschriebene – völlig unerwartete – starke Wind verweist uns auf ähnliche Situationen der Heilsgeschichte. Im ersten Buch der Könige wird von der Begegnung des Elija mit Gott berichtet: „Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus“ (1 Kön 19,11b). In der Apostelgeschichte beschreibt der hl. Lukas, wie sich das Pfingstfest – die Sendung des Heiligen Geistes – ereignete: „Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daher fährt und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren“ (Apg 2,2). In der Neuzeit erinnert der aufkommende Wind an die Erscheinung Unserer Lieben Frau in Lourdes. Bernadette Soubirous ging „zum Holz- und Knochensammeln, um von dem Erlös ein wenig Brot kaufen zu können. Als sie gegenüber der Grotte von Massabielle die Schuhe ausziehen wollte, um durch den Mühlenkanal zu waten, hörte sie zwei aufeinanderfolgende Windstöße („coups de vent“), ohne dass sich die Bäume bewegten."[10]

In Psalm 104 betet die Kirche: „Du fährst einher auf den Flügeln des Sturmes. Du machst dir die Winde zu Boten“ (Ps 104, 3b.4a). Und das hebräische Wort für Geist („ruach“) kann auch mit „Wind“ übersetzt werden.[11] Wo der Wind sich in der Weise erhebt, wie wir es bei Elija, im Abendmahlssaal, in Lourdes und auch in Fatima beobachten konnten, geschieht Außergewöhnliches, wird eine übernatürliche Atmosphäre geschaffen, die das Böse vertreiben und Frieden bringen möchte. So werden wir in der ersten Erscheinung – zunächst unabhängig davon, was der Engel gesagt hat – mit der Existenz der unsichtbaren Welt konfrontiert. Der Engel als reiner Geist erinnert uns daran, dass wir wie er für die Ewigkeit geschaffen worden sind. Lúcia beschrieb den Engel „wie aus Licht gemacht"[12] und „die Sonne machte ihn durchsichtig, als wäre er aus Kristall."[13] Der Engel ist ein Abglanz der Majestät Gottes und seiner Heiligkeit. Der Engel mahnt gleichsam einen Vorrang der Ewigkeit gegenüber der Zeit, eine Priorität des Geistes über die Materie an. Der Engel bringt uns quasi in Habachtstellung für das, was er als Bote Gottes, was „Engel“ aus dem Griechischen übersetzt heißt, zu sagen hat.

Lúcia schreibt über die erste Erscheinung: „Als er bei ihnen ankam, sagte er: Fürchtet euch nicht, ich bin der Engel des Friedens. Betet mit mir. Dann kniete er sich auf den Boden, beugte sich vor, bis seine Stirn den Boden berührte, und sprach dreimal die folgenden Worte: Mein Gott, ich glaube, ich bete an, ich hoffe und ich liebe dich. Ich bitte dich um Verzeihung für jene, die nicht glauben, nicht anbeten, nicht hoffen und dich nicht lieben. Dann erhob er sich und sagte abschließend: Betet so; die Herzen Jesu uns Mariens hören aufmerksam auf die Stimme eures Flehens."[14] Damit hat der Engel des Friedens das Programm von Fatima bereits umrissen. Die Haupttugenden Glaube, Hoffnung und Liebe sind, wie zu Beginn des Rosenkranzes, der Eröffnungsakkord der Botschaften von Fatima: „Ich glaube, ich bete an, ich hoffe, ich liebe!“ Im Blick auf die Bedeutung der Erscheinungen von 1916 erscheint es lohnenswert, sie Schritt für Schritt zu betrachten.

1. „Fürchtet euch nicht!“

„Fürchtet euch nicht!“ das klingt in unseren Ohren wie der Nachklang, wie ein Echo des Evangeliums:

Als Zacharias [den Engel] sah, erschrak er und es befiel ihn Furcht. Der Engel aber sagte zu ihm: Fürchte dich nicht, Zacharias! Dein Gebet ist erhört worden. Deine Frau Elisabeth wird dir einen Sohn gebären; dem sollst du den Namen Johannes geben“ (Lk 1,12f.).

„Der Engel trat bei [Maria] ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden“ (Lk 1,28ff.).

„Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist“ (Mt 1,20).

„Der Engel … sagte zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat“ (Mt 28, 4ff.).

Der Engel von Fatima tritt in die Welt hinein, wie es Gabriel tat, um Maria die Menschwerdung Gottes in ihrem Leib anzutragen. Wer mit Gott – mit dem Ewigen – in Berührung kommt, der braucht sich nicht zu fürchten, der darf wie und mit Maria sprechen: „Ich bin die Dienerin des Herrn“ (vgl. Lk 1,38) – Ich bin der Diener des Herrn. Ich darf dem vertrauen, was der Himmel mir durch den Boten sagen lässt.

2. „Betet mit mir!“

Der Engel des Friedens, wie er sich selbst den Kindern vorstellt, fordert sie auf, mit ihm zu beten. Er lädt ein, die Haltung der Engel, die voller Majestät und Herrlichkeit erscheinen, vor Gott einzunehmen. Der hl. Johannes führt uns dieses unablässige Geschehen der unsichtbaren Welt in seiner apokalyptischen Schau vor Augen: „Alle Engel standen rings um den Thron. … Sie warfen sich vor dem Thron nieder, beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Herrlichkeit, Weisheit und Dank, Ehre und Macht und Stärke unserem Gott in alle Ewigkeit. Amen“ (Offb 7,11f.). Das Einswerden mit den Engeln versetzt den Menschen in die Atmosphäre der Ewigkeit, der Berührung mit Gott. In der heiligen Messe werden wir Tag für Tag in der Präfation des Hochgebetes daran erinnert. Gott tut Großes an den Menschen und in der Welt, er schenkt uns Jesus. „Durch ihn loben die Engel deine Herrlichkeit, beten dich an die Mächte, erbeben die Gewalten. Die Himmel und die himmlischen Kräfte und die seligen Serafim feiern dich jubelnd im Chore. Mit ihrem Lobgesang lass auch unsere Stimmen sich vereinen und voll Ehrfurcht rufen."[15] „Betet mit mir!“ ist Einladung und Appell zugleich.

3. „Mein Gott!“

Der Inhalt des Gebetes und die Haltung des Gebetes sollen übereinstimmen, denn die „Kirche glaubt so, wie sie betet."[16] Die Kirche verneint eine sich einschleichende Gleichgültigkeit gegenüber der Gebetshaltung und erklärt im Katechismus: „Es gilt das alte Prinzip: ‚lex orandi, lex credendi‘ (oder, wie Prosper von Aquitanien im 5. Jahrhundert sagt: ‚legem credendi lex statuat supplicandi‘)“.[17] Das heißt übersetzt: „Das Gesetz des Betens soll das Gesetz des Glaubens bestimmen.“ Als hervorragender Lehrer macht der Engel des Friedens die Erfüllung dieser Notwendigkeit vor: „Dann kniete er sich auf den Boden, beugte sich nieder, bis seine Stirn die Erde berührte, und sprach …: Mein Gott!"[18]

Unmissverständlich wird in der Haltung des Betenden deutlich, mit wem er kommuniziert. Es geht um den Allerhöchsten, um das Zentrum der Welt. Gottes Majestät und Größe werden durch die Haltung und den Ausruf „Mein Gott!“ deutlich. Es geht nicht um einen Freund, um eine sympathische Macht, sondern um Gott.

4. „Ich glaube“

1997 hat Schwester Lúcia ihr letztes Buch geschrieben. In ihm meditiert sie die Ereignisse im Tal der Iria und formuliert 20 Aufrufe der Botschaft von Fatima. Der Karmelit P. Jesus Castellano Cervera hat als Konsultor der Glaubenskongregation im Heiligen Jahr 2000 – am Skapulierfest – das Werk vorgestellt und es selbst als „wie ein Katechismus von Fatima"[19] bezeichnet. Der erste Aufruf, natürlich basierend auf der ersten Botschaft des Engels, ist der Aufruf zum Glauben:

„Der Glaube ist die Grundlage des ganzen geistlichen Lebens. Durch den Glauben kommen wir zur Annahme der Existenz Gottes, seiner Macht, seiner Weisheit, seiner Barmherzigkeit, seines Erlösungswerkes, seines Verzeihens und seiner Vaterliebe. Durch den Glauben kommen wir zur Annahme der Kirche Gottes, die durch Jesus Christus gegründet wurde, und zur Annahme der Lehre, die sie uns vermittelt und durch die wir gerettet werden. Es ist das Licht des Glaubens, das unsere Schritte leitet und uns den schmalen Weg zum Himmel führt. Durch den Glauben sehen wir Christus in den andern; voll Liebe, Dienst- und Hilfsbereitschaft, wenn sie unsere Hilfe brauchen. Und durch den Glauben kommen wir auch zur Gewissheit der Gegenwart Gottes in uns und dass seine Augen stets auf uns gerichtet sind. Es sind Augen des Lichtes, allmächtig und unermesslich. Es breitet sich überallhin aus, sieht alles, durchdringt alles mit einer einmaligen und nur der Sonne Gottes eigentümlichen Klarheit. Im Vergleich zu ihm ist das Licht der Sonne, die wir sehen und die uns wärmt, nicht mehr als ein blasser Widerschein, ein schwacher Funke aus dem Licht des Unendlichen, der Gott ist."[20]

„Glauben“ heißt für Christen die Wirklichkeit Gottes anzuerkennen, nicht als ein abstraktes Denkmodell, sondern als Realität und diese als Person. „Heute gibt es in großen Teilen der Welt eine merkwürdige Gottvergessenheit. Es scheint auch ohne ihn zu gehen."[21] So sagte Papst Benedikt XVI. in seiner Predigt bei der Eröffnungsmesse des Weltjugendtages 2005 in Köln. Die „großen Teile der Welt“ reichen bis hinein in die Kirche, sodass man bei mancher ehrlichen Überlegung zum Resultat kommen kann, es scheint auch in der Kirche „ohne ihn zu gehen“. An Gott zu glauben, bedeutet, ihn ernst zu nehmen als ein Gegenüber. Glaubenszweifel und -schwächen begleiten freilich nicht selten das Leben des Christen. Papst Franziskus beispielsweise bekannte vor kurzem eigene, immer wieder auftauchende Glaubenszweifel.[22] Ganz auf der Linie des Engels von Fatima, der einlädt: „Betet mit mir: Mein Gott, ich glaube.“ riet Benedikt XVI. den Jugendlichen: „Sucht Gemeinschaft im Glauben, Weggefährten, die gemeinsam die große Pilgerstraße weitergehen, die uns die Weisen aus dem Orient zuerst gezeigt haben. Das Spontane der neuen Gemeinschaften ist wichtig; aber wichtig ist auch, dabei die Gemeinschaft mit dem Papst und den Bischöfen zu halten, die uns garantieren, dass wir nicht Privatwege suchen, sondern wirklich in der großen Familie Gottes leben, die der Herr mit den zwölf Aposteln begründet hat."[23]

Die Botschaft und die daraus entstandene Bewegung von Fatima mit ihren Wallfahrten und unzähligen Gebetsgruppen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten als Quelle und Stütze des Glaubens für Gemeinschaften und Einzelne erwiesen.

5. „Ich bete an“

Die Anbetung, die der Engel den Seherkindern ans Herz legt, ist etwas, was allein Gott gebührt. In der Wüste fordert der Teufel Jesus heraus und versucht ihn: „Wenn … du mich anbetest, wird dir alles gehören“ (Lk 4,7b). Jesus aber „beruft sich auf das Buch Deuteronomium und sagt: ‚Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen‘ (Lk 4,8)."[24] Die Anbetung Gottes zeigt sich in der Ehrfurcht, wie der Glaubende Gott begegnet. Die Exklusivität der Anbetung ist dabei von herausragender Rolle. „Gott anbeten heißt“, so lehrt der Katechismus, „wie Maria im Magnificat ihn zu loben, ihn zu preisen und sich selbst zu demütigen, indem man dankbar anerkennt, dass er Großes getan hat und sein Name heilig ist. Die Anbetung des einzigen Gottes befreit den Menschen von der Selbstbezogenheit, von der Sklaverei der Sünde und der Vergötzung der Welt."[25]

„Gott anzubeten“ nennt Schwester Lúcia „eine Pflicht und eine Vorschrift, die der Herr uns aus Liebe aufgeladen hat, um uns Gelegenheit zu bieten, durch ihn gesegnet zu werden. Dies zeigt klar die folgende Episode: Als Mose das Volk Israel ins Gelobte Land führte, verweilte er mit ihm am Fuß des Berges Sinai. Weil er von Gott eingeladen wurde, stieg Mose auf die Spitze des Berges, um aus den Händen Gottes die Gesetzestafeln zu empfangen. Während er dort sich in der Gegenwart Gottes aufhielt, machte das Volk sich ein goldenes Kalb und betete es an. Gott wurde sehr erzürnt über diese Sünde des Volkes und ließ Mose wissen, er würde dieses götzendienerische Volk vernichten. Was macht Mose? Er trat für sein Volk ein: ‚Sofort verneigte sich Mose bis zur Erde und warf sich zu Boden. Er sagte: Wenn ich deine Gnade gefunden habe, mein Herr, dann ziehe doch mein Herr mit uns. Es ist zwar ein störrisches Volk, doch vergib uns unsere Schuld und Sünde und lass uns dein Eigentum sein‘ (Ex 34,8-9). So wirkte er, ausgestreckt in Anbetung vor Gott, Verzeihung für das Volk und die Erneuerung des Bundes mit Gott."[26]

6. „Ich hoffe“

Hoffnung hat mit Sehnsucht und Vertrauen zu tun. Die Kirche lehrt die Hoffnung als jene göttliche Tugend, „durch die wir uns nach dem Himmelreich und dem ewigen Leben als unserem Glück sehnen, indem wir auf die Verheißungen Christi vertrauen und uns nicht auf unsere Kräfte, sondern auf die Gnadenhilfe des Heiligen Geistes verlassen."[27] Gleichwohl darf dieses Vertrauen auf den Heiligen Geist nicht verwechselt werden mit einer einhergehenden Lauheit. Der hl. Josemaría Escrivá bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Ja, es stimmt! In deiner Seele wirkt Gott alles allein, du trägst von dir aus nichts dazu bei. Und doch – du musst mitwirken mit der Gnade."[28]

7. „Ich liebe“

„Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16). Die Liebe Gottes wird vor allem konkret und erfahrbar in Jesus Christus. Der Evangelist Johannes schreibt: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt … das ewige Leben hat“ (Joh 3,16). Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika Deus caritas est die Bedeutung der Liebe herausgestellt: „Mit der Zentralität der Liebe hat der christliche Glaube aufgenommen, was innere Mitte von Israels Glauben war, und dieser Mitte zugleich eine neue Tiefe und Weite gegeben. Denn der gläubige Israelit betet jeden Tag die Worte aus dem Buch Deuteronomium, in denen er das Zentrum seiner Existenz zusammengefasst weiß: ,Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft‘ (6,4-5) …."[29]

„Zweifellos“ schreibt Schwester Lúcia, „gibt es unter allen Geschöpfen keines, das von Gott so geliebt wurde wie Unsere Liebe Frau, aber wir alle waren seit Ewigkeit im Geiste Gottes gegenwärtig in seinem schöpferischen Plan. Er schuf alles andere aus Liebe zu jedem von uns, weil er uns von jeher gegenwärtig hatte und uns liebte. Wir stehen bei Gott in Schuld für seine ewige Liebe, und nur im Laufe der Jahrhunderte können wir diese Schuld bezahlen, ohne sie je ganz zu begleichen, weil die Liebe Gottes immer mit größerer Stärke vorausging und sich fortsetzte. Deswegen verdient niemand, noch irgendetwas, so wie er die Erwiderung unserer Liebe."[30] Schwester Lúcia stellt zum einen heraus, dass Liebe niemals als eine Einbahnstraße verstanden werden kann und im Sinn des Gebots Jesu niemandem so viel Liebe gebührt wie Gott.

8. „Ich bitte dich um Verzeihung für jene“

Direkt nach dem Wesentlichen im Leben des Menschen, seine Beziehung zu Gott, spricht der Engel vom Gegenteil, der Leugnung Gottes – von der Sünde. Für jene, die nicht glauben, nicht anbeten, nicht hoffen und Gott nicht lieben, bittet der Engel um Verzeihung. So wird deutlich, dass jedes Defizit im Glauben, im Anbeten, im Hoffen und Lieben eine Sünde ist. Das Gegenüberstellen der Gegensätze macht die Freiheit des Menschen deutlich, Gott zu lieben oder eben nicht, und zeigt gleichzeitig die Möglichkeit auf, stellvertretend für andere um Verzeihung zu bitten.

9. „Die Herzen Jesu und Mariens hören aufmerksam auf die Stimme eures Flehens“

Schon bei seiner ersten Erscheinung im Frühjahr macht der Engel die Adressaten der Gebete der Seherkinder deutlich und schlägt damit zugleich eine Brücke zu seiner zweiten Erscheinung sowie zu den Marienerscheinungen im Jahr 1917.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Benedikt XVI: Predigt am 29.09.2007.
[2] Lúcia dos Santos: Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, Fatima 2002, 56.
[3] Katechismus der Katholischen Kirche (kurz KKK) 336.
[4] Reinhold Schneider, zitiert in Karl Braun: Fatima-Predigten, Kißlegg 2010, 41.
[5] Vgl. www.planet-wissen.de/kultur/suedeuropa/geschichte_portugals/index.html
[6] Schwester Lúcia spricht über Fatima, Fatima 82004, 83.
[7] Vgl. Schwester Lúcia spricht über Fatima, 82, Fußnote 12.
[8] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 63f.
[9] Schwester Lúcia spricht über Fatima, 82.
[10] René Laurentin: Lourdes, Marienlexikon, Bd. 4, St. Ottilien 1992, 161.
[11] Vgl. A. Schmitt: Geist, LThK, Bd. 4, Freiburg im Breisgau 2006, Sp. 370.
[12] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 64.
[13] Schwester Lúcia spricht über Fatima, 83.
[14] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 64.
[15] Die Feier der heiligen Messe, Kleinausgabe, Freiburg im Breisgau 21988, 419.
[16] KKK 1124.
[17] Ebda.
[18] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 64.
[19] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 8.
[20] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 64.
[21] Benedikt XVI.: Predigt bei der Eröffnung des Weltjugendtages 2005.
[22] Vgl. www.domradio.de/themen/papst-franziskus/2016-06-20/papst-bekennt-glaubenszweifel
[23] Ebda.
[24] KKK 2096.
[25] Ebda.
[26] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 77.
[27] KKK 1817.
[28] Josemaría Escrivá: Im Feuer der Schmiede, Köln 1987, 73.
[29] Benedikt XVI.: Deus caritas est, w2.vatican.va/content/benedictxvi/de/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20051225_deus-caritas-est.html
[30] Die Aufrufe der Botschaft von Fatima, 85.

Weg zur Reinheit des Herzens

Das Wesentliche ist einfach

Pfarrer Dr. Peter Dyckhoff (geb. 1937) hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das sog. „Ruhegebet“ zu verbreiten. In Publikationen, Glaubenskursen und Exerzitien führte er unzählige Menschen in diese altchristliche Gebetsform ein. Doch noch immer erfasst ihn selbst ein Staunen vor dem Geheimnis des Ruhegebetes und er fragt sich: „Wie ist es möglich, dass eine so einfache Gebetweise eine so große Wirkung zeigen kann?“ Und so legte er nach all den Jahren noch einmal ein Buch vor, in dem er auf diese Frage eine Antwort zu geben versucht.[1] Er schildert kurz, was ihn zu dieser Veröffentlichung bewogen hat.

Von Peter Dyckhoff

Unterschiedliche Erfahrungen

Viele Menschen haben niemals gelernt zu beten, oder haben es durch ihre Lebensumstände wieder verlernt zu beten. Andere klagen darüber, ihr Gebet zeige keine Wirkung, und geben es wieder auf. Es gibt aber auch viele Menschen, die von der Kraft des Betens überzeugt sind, da sie wunderbare Erfahrungen mit dem Gebet gemacht haben.

Ich gab die religiöse Praxis auf

Aus meinem Leben kenne ich beide Seiten. Ein harter Schicksalsschlag traf meine Familie, und ich war gezwungen, von heute auf morgen sowohl mein berufliches als auch mein privates Leben zu ändern. Nach dem plötzlichen Unfalltod meines Vaters übernahm ich die Geschäftsführung, die viel Verantwortung mit sich brachte. Diese Tätigkeit – ich war noch jung und kam von der Universität – lag mir in keiner Weise. Mein Versagen konnte ich nicht zugeben und griff stattdessen zu Alkohol und Tabletten. Meine inständigen Gebete – so glaubte ich –, die ich zum Himmel schickte, brachten keine Veränderung in mein Leben. Aus Verzweiflung gab ich die religiöse Praxis meines Glaubens auf und wandte mich äußeren trügerischen Dingen zu. Es war wie ein Sterben mitten im Leben.

Ich übte mich im Loslassen

Die christliche Lehre erlebte ich als Anforderung an mich, etwas zu leisten und Erwartungen zu erfüllen. Durch meinen allmählichen Abstieg – es vergingen zehn Jahre – kam ich in Bereiche, die nicht mehr tragbar waren. Tief unten angelangt, erreichte mich eines Tages die Einladung, an einem Kursus zur Einübung in das Ruhegebet teilzunehmen. Ich sah dies als Chance und sagte zu. Bereits während des Kurses durfte ich erfahren, dass keine Leistung gefordert war, sondern dass ich mit all meiner Last, meinem Schatten und meinen Sünden vor Gott treten durfte. Durch Hingabe im Gebet lernte ich, mich im Loslassen zu üben.

Ich kehrte zu meiner Priesterberufung zurück

In den darauf folgenden Wochen geschah eine Wandlung mit mir, die zu einem tief greifenden grundlegenden Glauben führte. Ganz allmählich durfte ich mich dem „Geheimnis des Glaubens“ nähern – eine Erfahrung, die zu den wesentlichsten Erfahrungen in meinem Leben gehört. Durch das Ruhegebet fielen mehr und mehr dunkle Schatten von mir ab, und ich durfte erleben, wie es in mir – ich möchte sagen, in meiner Seele – lichter wurde. Mein gesamtes Leben änderte sich von Grund auf und mein Wunsch, Priester zu werden, den ich bereits als Jugendlicher in meinem Herzen hegte, wurde verwirklicht.

Entdeckung des Geheimnisses des Ruhegebets

Da das Ruhegebet – ich bete es seit 45 Jahren regelmäßig zwei Mal am Tag – der Anstoß der sowohl äußerlichen als auch innerlichen Wandlung war, frage ich nach den vielen Jahren der Praxis: Was ist das eigentliche Geheimnis des Ruhegebetes? Dieser Frage möchte ich nachgehen, um vielen Menschen den Zugang zu dieser alten und so einfachen Gebetsweise zu eröffnen und um allen Menschen, die das Ruhegebet beten, Unterstützung und Ermutigung auf ihrem Lebens- und Glaubensweg zu geben.

Als Priester hatte und habe ich in besonderer Weise die Möglichkeit, auf das Ruhegebet und seine wunderbaren – allerdings individuell verschiedenen – Auswirkungen hinzuweisen. Bischof Dr. Josef Homeyer erlaubte mir, in der Diözese Hildesheim ein kleines Bildungshaus zu erreichten, das den Namen „Haus Cassian“ trug. Johannes Cassian (360-435) war der Erste, der die Hesychastische Gebetsweise, das Ruhegebet, aufzeichnete und somit bis heute im Original zugänglich macht.

Verbreitung der altchristlichen Gebetsform

Da im Lauf der Jahre das Interesse am Ruhegebet zunahm, bildete ich Lehrende des Ruhegebetes aus, die Kurse zur „Einübung in das Ruhegebet“ und darüber hinaus Vertiefungskurse anbieten sowie regelmäßige Gebetstreffen durchführen. Im Internet stellen sich unter www.ruhegebet.com die Lehrenden vor und nennen ihre Angebote zum Ruhegebet.

Wie ganz von selbst wurde die Verbreitung des Ruhegebetes zu meiner Lebensaufgabe. Es wurde mir ermöglicht, im Jahr 2012 die „Stiftung-Ruhegebet“ (www.Stiftung-Ruhegebet.de) zu gründen, so dass sich hoffentlich die Verbreitung des Ruhegebetes und seine Pflege nach meinem Tod fortsetzen. Vielen Menschen in Bedrängnis durften wir bisher helfen, indem wir sie in die Praxis des Ruhegebetes einwiesen. Aber auch Menschen, die ihr Leben erfüllender leben und vor allem ihren Glauben vertiefen möchten, erlernen und praktizieren diese Gebetsweise mit großem Gewinn.

Urform des Jesus- oder Herzensgebets

Das Ruhegebet entspringt christlichen Quellen und stellt die Urform des späteren auf dem Berg Athos und in Russland gepflegten Jesus- oder Herzensgebetes dar. Diese Quelle christlichen Lebens hat bis heute ihre Bedeutung und Aktualität nicht verloren. Unsere zum Teil müde gewordene und gleichzeitig gefährdete christliche Gegenwart ist letztlich von tiefer Sehnsucht nach Verankerung im Glauben und Gotteserfahrung erfüllt und sucht nach leicht gangbaren Wegen. Durch das Beten des Ruhegebetes wird die Reinheit des Herzens zu einem andauernden Zustand, der einen entscheidenden Wendepunkt auf dem geistlichen Weg des Christen darstellt. Diese Art des Betens bedeutet jedoch auch eine große Herausforderung: Die meisten Menschen können nur sehr schwer begreifen, dass die Wahrheit und das Wesentliche so einfach sind.

Stärkung von Geist und Körper

Die aus dem Ruhegebet gewonnene Ruhe kann nicht nur helfen, den Alltag kraftvoller und sicherer zu bestehen, sondern sie schenkt auch das Gefühl der letzten Geborgenheit in Gott. Die Grundhaltung in diesem Gebet ist die eines Empfangenden, der sich vertrauend und „willenlos“ auf Gott verlässt. Die sich ausbreitende tiefe Ruhe wird zum Schutz gegen neue Störfaktoren, leitet eine Entgrenzung auf Gott ein und stabilisiert Geist und Körper.

Einer Welt, die von zerstörerischen Kräften bedroht ist, aber zutiefst die Sehnsucht nach Frieden und göttlicher Nähe verspürt, kommt das Ruhegebet in seiner Einfachheit und gleichzeitig großen Wirksamkeit entgegen. Bei der enormen Reizüberflutung, der wir ständig ausgesetzt sind, muss zur Ruhe der Nacht eine weitere, geistige Erfahrung der Stille kommen, damit wir nicht krank werden. Es muss Zeiten der Stille und des Schweigens geben, in denen wir uns von allem Sichtbaren und Hörbaren lösen und uns dem „Unsichtbaren“ zuwenden. Wenn wir unser Leben entsprechend einrichten, werden wir von dem Zuviel und der damit verbundenen Dunkelheit befreit, so dass uns das Licht, Christus, einleuchten kann.

Erleuchtung von Herz und Verstand

Doch wo bleibt in unserem Leben Raum und Zeit für das Gebet, für das Schweigen und die Ruhe, von der Gott am siebten Schöpfungstag spricht und uns bittet, diesen Tag der Ruhe zu heiligen? Die Praxis des Ruhegebetes möchte helfen, unser Leben tragfähiger zu gestalten, eine umfassendere Einsicht zu gewinnen und Jesus Christus als das wegweisende Licht bewusst zu erleben. Wenn wir mit ihm diesen Weg gehen, werden unser Herz und unser Verstand von seiner Wahrheit durchdrungen sein.

Staunend über die Wandlung, die sich durch das Ruhegebet in vielen Menschen vollzieht, möchte ich die Frage stellen: Wie ist es möglich, dass eine so einfache Gebetsweise wie das Ruhegebet eine so große Wirkung zeigen kann? Welches Geheimnis liegt dem Ruhegebet zugrunde?

Schrittweise wird der Betende in das Geheimnis des Ruhegebetes eingeführt, doch letztlich bleibt dieser Versuch Fragment, da uns als in dieser Welt lebende Menschen noch der letzte Zugang zum „Geheimnis des Glaubens“ fehlt.

Das Wesentliche bewahren

Da ich mit vielen Menschen diesen Gebetsweg gemeinsam gegangen bin und weiterhin gehe, weiß ich umso mehr um unsere Vergesslichkeit. Wesentliches, das wir einmal eingesehen und erlebt haben, wird schnell wieder vergessen, und es schieben sich allzu schnell und allzu leicht andere unwesentliche Dinge in den Vordergrund. Dieser Tendenz, die dem Alltag eigen ist, möchte ich entgegenwirken. Damit das Vergessen bei dem so kostbaren Gut des Ruhegebetes nicht geschieht, habe ich es für erforderlich gehalten, Wesentliches, um es zu festigen, mehrmals zu wiederholen. Dadurch soll das Vergessen von Wesentlichem vermieden werden.

Möge das „Geheimnis des Ruhegebetes“ dazu beitragen, dass viele Menschen diesen neuen wunderbaren Gebetsweg entdecken und denen tiefere Einsicht und Erkenntnis gewähren, die das Ruhegebet bereits beten. Mögen viele den großen Wert dieses alten christlichen Gebetsweges entdecken, der den Betenden zu Jesus Christus führt, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Peter Dyckhoff: Geheimnis des Ruhegebetes, Herder, geb. mit Schutzumschlag und Leseband, 432 S., ISBN 978-3-451-37528-6.

Heiligkeit ist die völlige Hingabe an Gott

„Das Ganze für das Ganze“

Im Buch „Geheimnis des Ruhegebetes"[1] von Pfarrer Dr. Peter Dyckhoff (vgl. S. 20) geht es um mehr als nur um die Anleitung zu einer besonderen Gebets- oder Meditationsform. Letztlich verbirgt sich hinter dem Ruhegebet nichts anderes als die tiefste Form der Hingabe an Gott im Staunen, in der Anbetung und in der Huldigung gegenüber seinem Schöpfer. Im Licht verschiedener großer Vorbilder erschließt Dyckhoff den Weg zur christlichen Heiligkeit. Nachfolgend ein gekürzter Abschnitt aus dem genannten Buch.

Von Peter Dyckhoff

Das Staunen über die Menschwerdung Gottes ist Anbetung im wahrsten Sinn des Wortes: Anbetung des wahren Gottes und seines erhöhten Sohnes Jesus Christus. In Christus wird immer zugleich Gott selbst angebetet, „zur Ehre Gottes, des Vaters“.

Staunen, Anbeten und Huldigen geschieht immer in persönlicher Gemeinschaft mit Christus, dem Erhöhten, und mit seinem Geist. Dabei vollzieht sich ein Leerwerden für Gott – alles, was nicht zu uns gehört und den Weg zu Gott versperrt, löst sich allmählich auf, sodass wir zu Empfangenden der Gnade und Liebe Gottes werden.

Niklaus von Flüe

„Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir. Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.“

Niklaus von Flüe (1417-1487) versteht es, mit nur wenigen Worten das auszudrücken, was das Entscheidende beim Gebet der Hingabe ist: Das eigene Ich wird freigegeben, indem sich der Betende von allen selbstgemachten Zielen löst. Durch Selbsthingabe verlagert sich ganz von selbst das eigene Ich in das Geheimnis des lebendigen Gottes. Im Innehalten und Staunen über die Selbsthingabe Gottes in Liebe an die Welt und in der Anbetung des Dreieinigen Gottes wird der Mensch vom Geheimnis des Glaubens berührt, dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi. Indem sich das Geheimnis des Glaubens im Menschen offenbart, macht er die Erfahrung eines Heiligtums, das tief in seiner Seele gegründet ist und in dem der Mensch mit Gott allein ist.

Thomas von Kempen

Vor der Anbetung und der Offenbarung des Heiligtums, des Ortes der Gottesbegegnung in uns, müssen wir das Loslassen und Hingeben üben. In der „Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen steht das Wort: „Gib das Ganze für das Ganze.“ In unendlicher Liebe zu uns Menschen gibt Gott in seinem an das Kreuz genagelten Sohn Jesus Christus das Ganze. Gott will nicht, dass wir ihm einen Teil, eine bestimmte Abgabe, eine Steuer, entrichten, sondern er möchte von uns Ganzhingabe. Er möchte nicht, dass ich ein Abgebender bin, sondern dass ich zu einem Hingebenden werde.

Charles de Foucauld

Die reifsten Gebete großer Beter haben alle die gleiche Aussage zum Inhalt: „Vater, ich überlasse mich dir.“ So betet Charles de Foucauld (1858-1916):

„In deine Hände lege ich meine Seele. Ich gebe sie dir, mein Gott, mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich dich liebe und weil diese Liebe mich treibt, mich dir hinzugeben, mich in deine Hände zu legen, ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen. Denn du bist mein Vater.“

Auf das hin, was in diesem Gebet steht, sind wir unterwegs. Können wir es jetzt schon lebenswahrhaftig und bis auf den Grund unseres Herzens beten? Oder nehmen wir immer noch etwas von dem Ganzen aus, weil wir uns nicht ganz geben und uns nicht ganz auf Gott verlassen können? Wenn wir auch jetzt nur Einzelheiten geben, so muss sich unser Geben doch immer mehr zum Ganzen hin öffnen. Letztlich kann keiner von sich sagen, dass er sich Gott ganz hingegeben hat. Man hat sich nicht hingegeben: Man gibt sich hin. Sich hinzugeben ist der Inhalt eines jeden Hingabegebetes und somit das Werk eines jeden Tages; es beginnt jeden Tag von neuem.

Ignatius von Loyola

Ignatius von Loyola (1491-1556) sagt: „Keiner von uns ahnt, was Gott aus ihm machen würde, wenn wir uns ihm ganz überließen.“ Vielleicht wird uns die völlige Hingabe an Gott erst in unserem Sterben geschenkt, wenn wir dazu die Gnade erhalten und wahrhaft sagen können: „Jetzt lasse ich mich fallen!“ oder: „Jetzt gebe ich das Ganze für das Ganze“. Nur durch, mit und in Christus, der sich ganz hingegeben hat, wird unser Geben letztlich auch ganz.

Abraham

Mitten in unserem Leben werden wir immer wieder und manchmal sogar auf die äußerste Probe gestellt, um das zu werden, wofür wir geschaffen sind: als Ebenbild Gottes. Abraham ist es durch die Hingabe an Gott geworden. Seinem einzigen Sohn Isaak schenkte er seine ganze Liebe und in ihm erblickte er seine Zukunft. Gott selbst hatte sie ihn in seinem Sohn schauen lassen.

Nach anfänglichem inneren Ringen gab Abraham im Gehorsam gegen Gott seinen Sohn zum Opfer hin. Doch Gott ließ es nicht zur Verwirklichung eines solchen Opfers kommen. Er wollte Abraham prüfen und ihm die Möglichkeit geben, Gott selbst ähnlich zu werden, denn Gott hat es verwirklicht: Er hat seinen eingeborenen Sohn hingegeben. Gott ist Liebe und Liebe kann alles schenken. So wird Gott selbst in seinem Sohn Mensch und gibt am Ende sein ewiges Wort, das Antlitz seiner selbst, für uns Menschen hin. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat (Johannes 3,16).

Abraham ist willens, sich Schritt für Schritt von Gott führen zu lassen. Er lässt sich herausrufen aus allem Bisher und zieht in das Land, das Gott ihm zeigt. Dafür bekommt er einen solchen Glauben geschenkt, dass er bereit ist, seinen Sohn, auf dem die ganze Verheißung für Abraham ruht, Gott hinzugeben. Nachdem Abraham sich schrittweise von Gott in das Geheimnis des Glaubens führen ließ, überflutete ihn der Segen Gottes. Wenn wir Gott etwas hingeben oder Gott nimmt es uns – und sei es das Allerliebste –, dürfen wir gewiss sein, dass er es uns gewandelt zurück gibt: vermehrt, unendlich vermehrt und verklärt.

Novalis – Friedrich von Hardenberg

Alles, was wir erhalten, ist letztlich dazu bestimmt, dass wir es einmal wieder abgeben. Doch dies darf nicht auf einmal geschehen, sondern schrittweise. Von vielen Menschen wurde dieser Opfergedanke jedoch zu einer falschen Philosophie entwickelt, die zur völligen Entsagung und zur Abtötung führt.

Alles Endliche besteht aus einem Kommen und einem Gehen und ist daher jeweils nur eine Phase wie eine Welle, die sich erhebt und sich dann wieder auflöst. Die Wirklichkeit ist – um in diesem Bild zu sprechen – der Ozean, der einen bleibenden Wert hat. Das Ewige und Bleibende ist Gott, der Fels, der jedoch mit uns geht – auch in unser Leid und in unseren Tod hinein. Die Veränderung von allem Endlichen ist die eine Wirklichkeit; die andere ist die Nichtveränderung, also Gott, der als unbewegter Beweger in allem gegenwärtig ist und die Veränderung dirigiert.

Der Gläubige sieht die eine Wahrheit der ganzen Schöpfung in allem. Er sieht in der ständigen Veränderung das göttliche Element der Nicht-Veränderung, das alles durchdringt. „Alles Sichtbare ist in einen Geheimniszustand erhobenes Unsichtbares“ (Novalis, 1772-1801).

Gehen wir einen konkreten Glaubens- und Gebetsweg, dürfen wir sicher sein, dass wir uns dem liebenden Entgegenkommen Gottes immer mehr öffnen und gleichzeitig von ihm tiefer in das Geheimnis des Glaubens eingeführt werden. Dies geschieht nicht intellektuell, sondern durch Erfahrung auf der Ebene einer anderen Dimension, die nicht mehr mit Worten aussagbar ist. Was der Glaubende in Gott hinein loslässt, empfängt er gewandelt, gesegnet und für immer zurück.

Henry Kardinal Newman

Henry Kardinal Newman (1801-1890) sagt: „Der Wahrheit kann man sich nur nähern durch Huldigung.“ Die Worte „Staunen“, „Anbeten“ und „Huldigen“ haben den gleichen Klang. Ihr Ziel ist das Göttliche, der einzig wahre Gott und sein erhöhter Sohn. In Christus wird immer zugleich Gott selbst angebetet. Jesus Christus, der die Wahrheit ist, sendet uns, wenn wir ihn hingebungsvoll darum bitten, den in die Wahrheit einführenden Geist. Durch wahrhafte Anbetung, die immer mit Hingabe verbunden ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass wir des „Heiligen“ innewerden. Das still vor Gott Verharren – ohne eine besondere Aktivität unsererseits – wird zur Anbetung, die wiederum die menschliche Antwort auf die Erfahrung des Heiligen ist. Diese Erfahrung hat eine innere Dimension, die man kaum in Worte fassen kann: das demütig-dankbare, sich hingebende Anerkennen Gottes als des Herrn und Schöpfers, Retters und Befreiers.

Das Ruhegebet

Staunen, Anbeten und Huldigen hilft als Erstes dem Betenden, sich aus der Versklavung an die Dinge zu lösen und sich direkt dem Schöpfer zuzuwenden. Diese Weise des Betens entspricht dem Gebet der Hingabe, dem Ruhegebet, bei dem keine Inhalte aufgenommen werden, sondern nur der Name Gottes sanft und leise angerufen wird, um dann ganz der Stille Raum zu geben. Wir lassen uns selbst los und geben uns hin, um leer zu werden, damit der Herr unsere Innerlichkeit füllen und erfüllen kann. Dabei steht nicht mehr das eigene Ich im Mittelpunkt, sondern das Geheimnis des lebendigen Gottes, das sich uns offenbaren möchte.

Indem wir uns von allen selbstgemachten Zielen lösen und auch unsere bewusste Gedankentätigkeit aufgeben, werden wir vom Geheimnis des Guten berührt, das uns zum Besseren hin verwandelt. Bei diesem innerseelischen Geschehen ist der Mensch im Heiligtum seiner Innerlichkeit mit Gott allein. Wenn wir aus dieser Quelle leben, werden wir reich beschenkt und bekommen die Glaubenskraft, unseren Alltag erfolgreich, das heißt im Sinne des Schöpfers, zu bestehen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Peter Dyckhoff: Geheimnis des Ruhegebetes, Herder, geb. mit Schutzumschlag und Leseband, 432 S., ISBN 978-3-451-37528-6.

Methoden einer neuen Evangelisierung (Teil 3)

Wege zum Menschen

„Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach ‚missionarisch‘…“, so betont das Zweite Vatikanische Konzil (Ad gentes, Nr. 2). Von diesem Grundsatz geht P. Johannes Paul Chavanne OCist aus und ermutigt dazu, die Schwerpunkte in der pastoralen Arbeit neu zu setzen. Ziel muss die Evangelisierung von Menschen sein, die nicht im christlichen Glauben beheimatet sind oder sich von der Kirche entfernt haben. Nachdem er im letzten Beitrag die entscheidenden Inhalte einer neuen Verkündigung in unserer Zeit entfaltet hat, zeigt er nun Wege einer zeitgemäßen Evangelisierung auf. Welche Methoden können uns helfen, um mit den Menschen in Kontakt zu kommen und ihnen die frohe Botschaft zu vermitteln?

Von P. Joh. Paul Chavanne OCist 

Bei der Evangelisierung kommt alles darauf an, dass wir einen Weg zu den Menschen finden. Es geht um einen echten Kontakt mit echten Menschen. Das und nur das kann zum „Menschenfischen“ im Sinn des Evangeliums werden.

Und da man Menschfischer eben nicht nur theoretisch sein kann, möchte ich einige praktische Anregungen geben und „Methoden“ einer neuen Verkündigung aufzeigen. Ich setzte das Wort bewusst in Anführungsstriche, da solche „Methoden“ ja einerseits nie vollständig angegeben werden können und auch jeder und jede seine eigenen „Methoden“ wird finden müssen.

1. Gebet

Gebet ist für uns selbst wichtig: Bevor wir über Gott reden, müssen wir zuerst immer wieder mit Gott reden. „Gebet ist Glaube in Aktion."[1] Gebet ist Glaube in Konkretion. Gebet ist Ausdruck des Glaubens, Realisierung des Glaubens und Stärkung des Glaubens. Ohne Gebet, ohne Betrachtung, ohne Innerlichkeit kann es keine geistliche und auch keine missionarische Fruchtbarkeit geben! Das Gebet ist Quelle der Kraft und der Freude aller, die zu Gott gehören. Durch das Gebet bringt man zum Ausdruck, dass Gott Person ist, die Wirklichkeit ist, hört und erhört. Und im Gebet lernen wir, dass in der Kirche nicht alles von unseren Fähigkeiten und unserem Tun abhängt, sondern dass das Entscheidende Gottes Initiative ist.

Gebet bewirkt etwas: Gott will mehr, dass die Evangelisierung vorankommt, als wir es selber wollen. Deshalb ist Gebet wie es der hl. Papst Johannes Paul II. einmal sagte, „höchste pastorale Priorität“. Gott hört unsere Bitten. Er ist es, der zuerst handelt im Werk der Menschenfischer! Und wenn wir Menschen für Gott gewinnen wollen, dann müssen wir sie von Gott für Gott gewinnen.

Gebet ist dann auch Zeugnis für andere. Wo sehen heute Menschen andere Menschen beten? Auf uns im Kloster hat es Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch so ausgesagt: Der Dienst des Gebetes ist ein „Dienst an den Menschen und ein Zeugnis für sie. Jeder Mensch trägt im Innersten seines Herzens die Sehnsucht nach der letzten Erfüllung, nach dem höchsten Glück, also letztlich nach Gott, sei es bewusst oder unbewusst. Ein Kloster…“ – wir können ergänzen: eine betende Gemeinschaft – „bezeugt, dass diese urmenschliche Sehnsucht nicht ins Leere geht."[2] Gebet ist Zeugnis für Gott. Bei uns in Heiligenkreuz ist das Chorgebet, das immer in Latein und im gregorianischen Choral gehalten wird – und immer öffentlich ist –, fast immer voll!

Schließlich denke ich, dass Hinführung zum Glauben vor allem auch Hinführung zum Gebet sein muss. Das Gespräch über Gott muss zu einem Gespräch mit Gott und so auch zu einer Erfahrung werden. – Wir sollten Gebetsschulen gründen! Mit den Kindern muss man heute einfach die liturgischen Antworten und auch die liturgischen Haltungen üben! Das macht ihnen sehr viel Spaß. Den Rosenkranz lernen Kinder und Jugendliche nur, wenn man es ihnen beibringt. Bei unserer Jugendvigil im Stift Heiligenkreuz, zu der jeden Monat mehr als 200 Jugendliche kommen, wird ganz bewusst Gebet eingeübt: ein Gesätzchen Rosenkranz, Stille vor dem Allerheiligsten, freie Fürbitten, freier Dank, geistliche Lieder…

Das ist ganz praktisch. Den jungen Menschen bieten wir so konkrete Bezugs- und Anhaltspunkte zum Glauben und zum Leben der Kirche. Wir dürfen auf Gottes Gnade vertrauen!

2. Gemeinschaft

Glaube lernt man nicht aus Büchern, sondern von Menschen, die aus ihm heraus leben und ihn bezeugen. Menschen müssen Glauben als gelebten Glauben kennen lernen und erfahren. Es wurde und wird immer wieder von „Lernorten des Glaubens“ gesprochen. Wo gibt es die? Sind es die Pfarrgemeinden? Was kann man suchenden Menschen empfehlen? Ich denke, dass die neuen geistlichen Gemeinschaften hier sehr viel bieten. Hier treffen vor allem junge Menschen andere junge Menschen, die ihnen einfach praktisch vorleben, was es heißt, heute als Student, als Mensch in einer Familie, als Mensch im Berufsleben, als Christ zu leben.

Meine Meinung ist es auch, dass man Priestern, die es möchten, leicht eine vita communis ermöglichen sollte. Auch sie brauchen die gegenseitige Stütze, das Miteinander-Sein und Miteinander-Beten. Ich denke, dass solche Gemeinschaften große pastorale Fruchtbarkeit entfalten können.

3. Einfachheit

Ich meine, dass es wichtig ist, ganz einfach zu sein und einfach zu sprechen – und auch einfach zu leben. Nicht banal, aber so, dass es die Menschen verstehen! Das ist eine hohe Kunst: Dinge, die anspruchsvoll sind, so darzulegen und zu erklären, dass sie einfach verstanden werden können. Das erst zeigt, ob man eine Sache wirklich verstanden hat. Glaube ist einfach! Verkündigung – auch die Predigt der Priester – soll einfach und verständlich sein. Und dabei doch auch klar und anspruchsvoll. Hier kann man einfach an Jesus Maß nehmen. Wir sollen ja ihn verkünden, nicht uns. Aber auch an eigentlich allen großen Lehrern der Kirche, bis hinauf zum jetzigen Papst, kann man sich orientieren. Mein Eindruck ist auch immer wieder, dass es notwendig ist, über Grundlagen des Glaubens zu sprechen und sie darzulegen und auszulegen. Auch bei scheinbar sehr eifrigen Christen sind oft solche Grundlagenthemen mit vielen – vielleicht nicht offen gestellten – Fragen verbunden.

Ich selber lasse mich in meiner Predigt immer wieder auch von populärer Kultur inspirieren. Manchmal höre ich mir volkstümliche Musik im Radio an und dann übernehme ich so manche Zeile aus einem Liebeslied und baue das in meine Predigt ein. Ich denke mir: Das ist die Sprache, die die Menschen verstehen.

4. Medien

Über das Thema Medien in der Verkündigung der Kirche sollte man noch mehr nachdenken. Nur ein paar Anmerkungen. Eine Geschichte: In einer Pfarre in Wien habe ich – noch bevor ich Priester wurde – die Jugend betreut. Einmal habe ich einem jungen Mädchen empfohlen, gute Literatur zu lesen. Ihre Antwort: Ich lese nicht. Darauf habe ich gesagt: Das stimmt nicht. Ich weiß etwas, was Du liest: Facebook-Nachrichten. Darauf hat sie gesagt: Das stimmt. – Das kann uns gefallen oder nicht, aber es ist die Realität: wir leben in einem Medienzeitalter! Und wir wollen Menschenfischer in diesem Zeitalter sein.

Ich weiß, dass die neuen sozialen Medien auch viel Fragwürdiges enthalten. Und es ist auch nach der Nachhaltigkeit dieser Medien zu fragen. Kardinal Sarah hat das in seinem Buch „Gott oder Nichts“ (ISBN 978-3-86357-133-7) schön auf den Punkt gebracht: „Wozu dient es, dass der Twitter-Account des Papstes von hunderttausenden Menschen verfolgt wird, wenn die Menschen ihr Leben nicht konkret ändern?"[3] Ja, es gibt hier vieles, was man kritisieren kann und was auch noch ungeklärt ist. Und klar ist auch, dass Medien nie die persönliche Begegnung von Mensch zu Mensch ersetzen können.

Trotzdem, die sozialen Netzwerke sind die Orte, an denen vor allem junge Menschen sich austauschen, sich informieren und ihre Meinung bilden. Und auch dieser Bereich soll, wie alle Bereiche der Gesellschaft, mit dem Geist des Evangeliums wie von einem Sauerteig (vgl. Lk 13,21) durchdrungen werden. Wir dürfen diese Entwicklung nicht verschlafen und dieses große und weite Feld der „digitalen Kultur“ nicht allen anderen politischen, weltanschaulichen und auch religiösen Gruppierungen überlassen, die darin – jeder, der sich ein bisschen damit beschäftigt, weiß das – höchst aktiv sind. Wir sind es den jungen Menschen schuldig, auch hier anwesend und ansprechbar zu sein und ihnen gute Inhalte, die sie anregen und weiterbringen, anzubieten! Inkulturation des Glaubens ist auch im digitalen Zeitalter notwendig! Wir sollten die Medien sehr bewusst und professionell einsetzen.

Ohne jetzt auf praktische Dinge einzugehen, möchte ich berichten, was Erzbischof Claudio Maria Celli, der Präsident des Päpstlichen Rates für die sozialen Kommunikationsmittel war, erzählt hat. Man hat Papst Benedikt XVI. gefragt, ob man für den Vatikan einen Kanal auf der Video-Plattform YouTube aufmachen soll. Seine Antwort: „Ja, denn ich will da sein, wo die Menschen sind."[4] – Ich weiß nicht, wie viele Bischöfe aus unseren Breiten auf Facebook mit Menschen kommunizieren – allzu viele sind es nicht!

Stift Heiligenkreuz nutzt neue und alte Medien bewusst. Beim Ausbau der Hochschule wurde ein Medienkompetenzzentrum, das „Studio 1133“, eingerichtet. Ziele sind, einerseits den Theologiestudenten und zukünftigen Priestern Medienkompetenz zu vermitteln und andererseits evangelisierend in den neuen Medien zu wirken! Auf unserem YouTube-Kanal sind Videos mehr als zwei Millionen Mal abgerufen worden. Auf Facebook sind wir mit knapp 13.000 Menschen in Verbindung. Man muss oft an einem Sonntag in einer Kirche predigen, um so viele Menschen zu erreichen!

5. Anwesend-Sein

Es ist heute zu wenig, in der Kirche auf die Menschen zu warten, bis sie kommen. Wir müssen zu den Menschen gehen. Wenn wir wollen, dass der Glaube im Leben der Menschen anwesend ist, dann muss die Kirche mit allem, was sie glaubt und wofür sie steht, im Leben der Menschen anwesend sein. Mir scheint, dass der Glaube aus dem Leben vieler ganz einfach auch deshalb verschwindet, weil die Kirche einfach nicht mehr im Leben da ist. Und wo die Kirche und mit ihr der Glaube anwesend ist, da wird der Glaube auch zum Thema für die Menschen.

Das heißt, dass wir – und hier besonders die Priester – im Leben der Menschen anwesend sein müssen: am Sportplatz, bei kulturellen Veranstaltungen, bei Freizeitaktivitäten, auch im Leben der Alten und Kranken, im Leben der Familien – immer authentisch! Ganz bei Gott, aber auch ganz bei den Menschen. Meine Erfahrung ist, dass das sehr geschätzt wird und dass sich Seelsorge dann meistens ganz von selber ergibt.

6. Freude

Haben wir Freude an unserem Glauben? Erlebt man in einem durchschnittlichen Sonntagsgottesdienst in unseren Breiten Freude? Strahlen wir Christen Freude aus? Es muss nachdenklich machen, wenn es bei uns Christen an Freude fehlt, ist doch die Freude eine der Früchte des Heiligen Geistes und auch Frucht der Liebe.[5]

Eine millionenschwere Spaß- und Unterhaltungsindustrie lebt von der Sehnsucht der Menschen nach Freude. Wir sollten uns also daran erinnern, dass „Evangelium“ „frohe Botschaft“ heißt, dass die Engel zu Weihnachten eine „große Freude“ verkünden (Lk 2,10) und dass Jesus uns das, was er uns gesagt hat, deshalb gesagt hat, damit seine Freude in uns ist und damit unsere Freude vollkommen wird (vgl. Joh 15,11). Wer Freude anzubieten hat, der hat Zukunft, denn zu dem werden die Menschen kommen. Wenn wir eine Ausstrahlung haben wie „sieben Tage Regenwetter“, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn Menschen anderswo nach Freude suchen.

7. Caritas

„Glaubhaft ist nur Liebe“ heißt ein Buch von Hans Urs von Balthasar.[6] Ich denke, dass es wichtig ist, immer und überall auch klar zum Ausdruck zu bringen, dass der Gott, den wir verkünden, sich als „Liebe“ offenbart hat. Nicht Proselytismus zieht an, sondern die Ausstrahlung, die daher kommt, dass wir absichtslos den Menschen Gutes wollen und dass Evangelisierung letztlich nichts anderes ist, als die Weitergabe von Gottes Liebe, die uns selbst getroffen hat und die wir auch anderen mitteilen wollen.

Solidarität und Nächstenliebe besonders zu denen, die am Rand stehen, ist ein Fundament des Christentums und muss ein Merkmal jedes Christen sein.

8. Glaubwürdigkeit

Eine Botschaft ist nur dann glaubwürdig, wenn die, die diese Botschaft überbringen, glaubwürdig sind. Wir können den Glauben nur dann in anderen wecken und vertiefen, wenn wir ihn selber haben. Und wir werden das Licht des Glaubens nur dann weitertragen, wenn es uns selber erleuchtet.

Daraus folgt, dass nur wenn wir das Leben in der Nachfolge Jesu selber als Freude und als Befreiung empfinden und leben, wir auch andere dafür begeistern können. Wenn wir es selber als mühsame Last empfinden, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich andere davor scheuen, es interessant zu finden.

9. Senfkorn

Jesus beschreibt das Reich Gottes mit einem Senfkorn, dass dann wächst und zu einem Baum wird (vgl. Mk 4, 26-29). Ich denke, dass wir vielleicht zu schnell immer gleich große Erfolge sehen wollen. Wir zählen immer: Wie viele waren heute da? Wie viele waren am Sonntag in der Kirche? Wie viele sind als katholisch gemeldet? Wie viele wurden getauft?

Aber man darf das Reich Gottes nicht mit einer politischen Partei gleichsetzen. Im Augenmerk Gottes steht immer der Einzelne, nicht der Prozentsatz. Wir sollten vielleicht mehr an dieses Senfkorn denken. Es ist am Anfang klein, aber es trägt die Kraft in sich, zum Baum zu werden. So ist die Situation von uns Christen heute bei uns in Europa. Wenn wir Geduld haben, wird daraus wieder ein Baum. Wo echte, authentische Nachfolge Jesu gelebt wird, da ist sie auch glaubwürdig und anziehend.[7] Da hat sie die Kraft zu wachsen.

10. Heiligkeit

Erzbischof Christoph Kardinal Schönborn hat vor einiger Zeit einmal – ich glaube es war 2011 – die Exerzitien für unseren Konvent im Stift Heiligenkreuz gehalten. Unter anderem hat er davon berichtet, dass er in den Päpstlichen Rat für die Förderung der Neuevangelisierung berufen wurde. Bei einer der ersten Gespräche, bei denen er dabei war, ging es unter anderem um die Frage: „Was ist Neuevangelisierung?“ Ich hoffe, ich gebe ihn hier richtig wieder. Aber so weit ich mich erinnern kann, sagte er sinngemäß: „Wir wissen es auch nicht genau. Aber im Kern ist Neuevangelisierung nichts anderes als persönliche Heiligung.“ Ich denke, das stimmt. Heilige Menschen sind das beste Argument für den Glauben. Heilige sind Interpreten des Evangeliums ins Hier und Heute. Heilige sind die eigentlichen Übersetzer des Glaubens in ihre konkrete Situation und Zeit hinein. Deshalb wird an ihnen immer sichtbar, dass diese Botschaft des Evangeliums lebbar ist und dass sie wahr ist. Sie schreiben die Heilsgeschichte weiter, deshalb geht von ihnen Heil aus und es bilden sich um sie ganz von selbst „Entwicklungsräume“ des Glaubens. Durch solche Menschen, an denen das Licht Gottes gleichsam reflektiert, gewinnt der Glaube eine angreifbare, erfahrbare Gestalt und daher auch eine Überzeugungskraft, der sich niemand entziehen kann.

Die Geschichte der Kirche ist voll von solchen Gestalten. Wir sollten darum beten, dass Gott uns heute einen hl. Franziskus, einen hl. Pfarrer von Ars, einen hl. Padre Pio, einen hl. Don Bosco und eine hl. Katharina von Siena und eine hl. Mutter Teresa schenken möge. Und vielleicht können wir in dieses Gebet dann auch hinzufügen: Herr, wenn Du willst, dann steh‘ ich Dir ja auch zur Verfügung!

Ich bin mir sicher, dass Gott so ein Gebet erhören wird, weil es Seinem Willen entspricht, diese Welt mit sich zu versöhnen und sie so zu heilen und zu retten. Ihm zur Ehre und allen Menschen zum Heil!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2016
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Joseph Ratzinger: Die Neuevangelisierung, in: Joseph Ratzinger: Gesammelte Schriften 8/2, 1231-1242, hier: 1235.
[2] Benedikt XVI.: Ansprache bei seinem Besuch im Stift Heiligenkreuz am 9. September 2007, in: Die österreichischen Bischöfe: Papst Benedikt XVI. in Österreich. Apostolische Reise aus Anlass des 850-Jahr-Jubiläums von Mariazell, Wien 2007, 67-72, hier: 68.
[3] Robert Sarah: Gott oder Nichts. Ein Gespräch über den Glauben, Kißlegg 2015, 245.
[4] So Erzbischof Claudio Maria Celli auf der Tagung „Gott im Web. Neuevangelisierung, Internet und Social Media“ der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz in Kooperation mit dem Amt für Öffentlichkeitsarbeit der Erzdiözese Wien bei seinem Vortrag am 28. April 2012 in Heiligenkreuz.
[5] Katechismus der Katholischen Kirche, 736, 1832, 1829.
[6] Hans Urs von Balthasar: Glaubhaft ist nur Liebe, Einsiedeln 2000.
[7] Vgl. dazu Joseph Ratzinger: Neuevangelisierung, 1233.

Neuen Kommentar schreiben

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder! Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare gegebenenfalls nicht für die Veröffentlichung freizugeben oder in Abstimmung mit den jeweiligen Autoren zu kürzen.