Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

„Weisse Rose“ nannte sich eine der bekanntesten Widerstandsbewegungen gegen das totalitäre Regime Adolf Hitlers. Vor 75 Jahren wurden die ersten drei Mitglieder der Gruppe hingerichtet. Zahlreiche Veranstaltungen widmeten dem Tod der Drahtzieher Hans und Sophie Scholl am 22. Februar 1943 ein ehrendes Gedenken. In den Medien wurde vor allem deren Kampf für die Freiheit hervorgehoben. „Freiheit“ stand auf ihren Flugblättern und Hans soll unmittelbar vor seiner Enthauptung ausgerufen haben: „Es lebe die Freiheit!“, während Sophie das Wort „Freiheit“ auf der Rückseite ihrer Anklageschrift hinterließ.

Fast ausnahmslos wurde beim Rückblick auf die Ereignisse während des Dritten Reichs nur beiläufig erwähnt, dass zusammen mit den Geschwistern Scholl auch deren Kommilitone Christoph Probst im Gefängnis München-Stadelheim unter dem Fallbeil starb. Doch ist es gerade sein Vermächtnis, das im Licht des christlichen Glaubens besonders hell aufstrahlt. Bewusst haben wir diesem Erbe unsere Oster-Ausgabe gewidmet. Denn wir können sein Leben und Sterben als einen wahrhaft österlichen Sieg verstehen.

Zunächst muss festgehalten werden, dass Christoph Probst an der Formierung der „Weissen Rose“ und der Entstehung der Flugblätter von Anfang an beteiligt war. Ganz persönlich hatte er sogar den Entwurf eines „siebten Flugblatts“ verfasst, der ihm letztlich das Leben kostete. Nur weil er Frau und drei Kinder hatte, hielten ihn seine Freunde bei den Aktionen im Hintergrund. Doch wie seine zahlreichen Briefe bezeugen, war er weniger ein Freiheitskämpfer, sondern zutiefst von der christlichen Offenbarung inspiriert. Die Botschaft der Liebe, deren Höhepunkt er in der Lebenshingabe des Gottessohnes am Kreuz erkannte, gab ihm die Kraft, gegen die Propaganda des Hasses und die Schreckensherrschaft der Nazis aufzustehen. Aufgrund besonderer Umstände war er als Kind nicht getauft worden. Nun hatte er sich als junger Familienvater intensiv auf die Sakramente vorbereitet. Dass er Taufe und Kommunion erst in den letzten Minuten vor seiner Hinrichtung empfing, ist absolut kein Makel, sondern lässt seinen Tod als wahres Pascha aufscheinen, als ein Sterben mit Christus und ein Hinübergehen mit ihm in die Herrlichkeit des Vaters – eben so, wie die Kirche seit ihren Anfängen die Spendung der Taufe in der Osternacht versteht.  

Die Kirche hat sich bislang in der Beurteilung des Lebenszeugnisses von Christoph Probst eher zurückgehalten. Einerseits möchte sie die Taufe mit Erstkommunion in der Todeszelle nicht überbewerten, was dieser heilsgeschichtlichen Sternstunde jedoch nicht gerecht wird, andererseits wartet sie nach altbewährter Tradition darauf, dass sich zunächst eine Verehrung dieses „Märtyrers“ unter den Gläubigen entwickelt. Genau dieses Ziel steht uns vor Augen, wenn wir versuchen, Christoph Probst durch die Veröffentlichung eines Lebensbildes bekanntzumachen. Es ist uns eine Freude, dass Frau Prof. Barbara Probst-Polášek, die einen Sohn von Christoph Probst geheiratet hatte, dazu den Leitartikel verfasste – mit ergreifenden Zitaten aus der Hinterlassenschaft ihres Schwiegervaters und einem eindrucksvollen Portrait der Künstlerin Marlies E. Glaser auf der Titelseite.

Frau Probst-Polášek setzt sich nachdrücklich für eine Seligsprechung von Christoph Probst ein, was wir nur begrüßen können. Im Rahmen der Arbeit des „Weisse Rose Instituts“ stellt sie überzeugendes Material bereit, mit dem sie versucht, Christoph Probst nicht politisch zu instrumentalisieren, sondern das tatsächliche Geheimnis seines Lebens zu ergründen.

Liebe Leser, möge Ihnen Gott Ihre hochherzige Unterstützung unseres Apostolats vergelten, auf die wir so sehr angewiesen sind. Von ganzem Herzen wünschen wir Ihnen auch auf die Fürsprache der Märtyrer der „Weissen Rose“ ein von himmlischem Licht erfülltes Osterfest.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Christoph Probst – Vollendung eines jungen Lebens

Ein österlicher Sieg

Frau Prof. Barbara Probst-Polášek (geb.1939), eine weltbekannte Konzert-Gitarristin, war in erster Ehe mit dem Violoncellisten Jan Polášek, in zweiter Ehe – nach ihrer Taufe auch kirchlich – mit Michael Probst (1940-2010) verheiratet. Es handelt sich dabei um einen Sohn von Christoph Probst (1919-1943), dem bekannten Mitglied der Widerstandsbewegung „Weisse Rose“. Frau Probst-Polášek hat sich intensiv mit der Geschichte ihres Schwiegervaters auseinandergesetzt. Sie ist fest davon überzeugt, dass sein Leben nur im Licht des Glaubens richtig verstanden werden kann. Eine solche Deutung wünscht sie sich im Übrigen auch für die gesamte Gruppe der „Weissen Rose“ und deren Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Gleichzeitig würde sie ein Seligsprechungsverfahren begrüßen, das von vornherein alle Mitglieder der „Weissen Rose“ in den Blick nähme. Gerade in ökumenischer Hinsicht hätte ihrer Meinung nach ein derartiges Vorgehen besondere Bedeutung.

Von Barbara Probst-Polášek

Christoph Probst ist als Widerstandskämpfer gegen Adolf Hitler und das nationalsozialistische Regime des Dritten Reichs in die Geschichte eingegangen. Am 22. Februar 1943 wurde er in München-Stadelheim wegen des Textentwurfs für ein siebtes Flugblatt der „Weissen Rose“ hingerichtet. Zusammen mit ihm fanden an diesem Tag auch Hans und Sophie Scholl den Tod. Das Erbe, das er hinterlassen hat, wird meist im Licht des politischen Widerstands gesehen und auf rein humanistische Werte eingeschränkt. Ich möchte nicht von einer politischen Vereinnahmung der Weissen Rose durch sozialistische Kreise sprechen. Der Akzent des Widerstands im Namen der Freiheit und des Gewissens ist sicher berechtigt, ja notwendig. Doch wird die Grenze zur Instrumentalisierung oft überschritten. Der geistesgeschichtliche Hintergrund wird bewusst verschwiegen und so das eigentliche Fundament der Widerstandkraft, welche die Mitglieder der „Weissen Rose“ entfaltet haben, verdunkelt.

Krönender Abschluss eines lebenslangen Reifungsprozesses

 Christoph Probst ist bereits mit 23 Jahren unter dem Fallbeil gestorben. Doch dieses junge Leben war zu einer wunderbaren Vollendung herangereift. Aufgrund familiärer Umstände war er zu diesem Augenblick noch nicht getauft. Er hatte sich aber zeitlebens mit den Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach der Wahrheit und der christlichen Offenbarung beschäftigt. Unmittelbar vor seiner Hinrichtung wurden ihm von Kaplan Heinrich Sperr,[1] der damals die Vertretung von Gefängnispfarrer Brinkmann übernommen hatte, die Sakramente der Taufe und der Eucharistie gespendet. Wie Kaplan Sperr bei Befragungen zu Protokoll gab, war er von der inneren Vorbereitung und Ernsthaftigkeit Christoph Probsts zutiefst beeindruckt. Auch seine Schwester Angelika bezeugte, dass sich Christoph schon über ein Jahr lang intensiv auf den Empfang der Taufe vorbereitet hatte. Seine drei Kinder waren bereits katholisch getauft. Doch für sich selbst wollte er diesen Akt mit großer Feierlichkeit begehen. So kam mit dem Todesurteil alles sehr schnell. Kaplan Sperr berichtete: „Er kniete am Boden, die Kerze hoch haltend zu meinen Worten: ,Nimm hin die brennende Kerze als Zeichen der Hingabe unseres Lebens an Gott‘. Er war innerlich tief erfüllt.“ Und während Kaplan Sperr den neugetauften Christoph zum Hinrichtungsraum begleitete, betete er mit ihm ein Vaterunser.

Man darf seine Taufe also nicht so verstehen, als hätte ein Häftling angesichts seines bevorstehenden Todes noch schnell einen Schritt der Bekehrung zu Gott getan und in den Sakramenten der Kirche Zuflucht gesucht. Nein, bei Christoph Probst war die Taufe zusammen mit der ergebenen Annahme des Todes der krönende Abschluss eines lebenslangen Reifungsprozesses. Wenn wir uns vorstellen, dass uns die Taufe von allem reinigt, was uns von Gott trennen könnte, so war dieses Sakrament in Verbindung mit der ersten heiligen Kommunion für Christoph Probst ein einzigartiges Geschenk der Gnade. Kaplan Sperr sagte, Probst sei mit der „stola candida“, also im weißen Gewand der Taufe, hinübergegangen in die Gemeinschaft mit Gott, ohne Hass, geläutert in Liebe und Lauterkeit. „Davon bin ich vollkommen überzeugt“, so Sperr. Deshalb habe er die Beerdigung am darauffolgenden Tag, also am 23. Februar 1943 nach 17 Uhr, auch in der liturgischen Farbe weiß vollzogen.

„Mein Leben war ein einziger Weg zu Gott“

Mittags war das Todesurteil gefällt worden, gegen 15 Uhr kam Christoph Probst im Gefängnis Stadelheim an und um 17 Uhr wurde das Urteil vollstreckt. Nach den Berichten von Kaplan Sperr hat Probst um einen katholischen Priester gebeten und den Wunsch geäußert, die Taufe und die heilige Kommunion zu empfangen. Zudem bestätigte Sperr, dass Christoph die Erlaubnis erhielt, sich noch von den Geschwistern Scholl zu verabschieden. Ein Aufsichtsbeamter namens Schneider habe die Begegnung in einer der Zellen möglich gemacht. Es hätten ein Gespräch und eine gegenseitige Umarmung stattgefunden.

In der verbleibenden Zeit bis zur Hinrichtung, nämlich zwischen 16 und 17 Uhr, habe Christoph außerdem noch vier Abschiedsbriefe geschrieben. Wir dürfen annehmen, dass sie an seine Mutter Katharina, seine Frau Herta, seine Schwester Angelika und seine Stiefmutter Elise gerichtet waren. Zunächst verfasste er zwei Briefe, danach empfing er die Sakramente und schrieb die beiden anderen Briefe nieder.

Nach der Hinrichtung durfte seine Mutter Katharina im Gefängnis Einblick in ihren Brief nehmen und ihn kurz durchlesen. Dann wurde er ihr wieder abgenommen. Kaplan Sperr nahm die Schriftstücke zunächst an sich. „Ich war mit den Briefen bereits außer dem Gefängnis“, so berichtet er und fährt fort: „Ein Beamter lief mir nach, etwa 20 m weit, da der Generalstaatsanwalt sie wollte.“ Die beschlagnahmten Briefe sind leider bis heute verschollen.

Allerdings hat seine Mutter Katharina anschließend diesen letzten Brief ihres Sohnes aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Ihr handschriftliches Protokoll ist uns erhalten. Es lohnt sich diese Worte vollständig wiederzugeben:

„Liebstes Mütterchen

Ich danke Dir, daß Du mir das Leben gegeben hast, wenn ich es recht überblicke so war es ein einziger Weg zu Gott. Da ich ihn aber nicht weit gehen konnte, springe ich über das letzte Stück hinweg. Mein einziger Kummer ist, daß ich Euch Schmerz bereiten muß. Trauert nicht zu sehr um mich, das würde mir in der Ewigkeit Schmerz bereiten. Aber jetzt bin ich ja im Himmel u. kann Euch dort einen herrlichen Empfang bereiten.

Eben erfahre ich, daß ich nur noch eine Stunde Zeit habe. Ich werde jetzt die heilige Taufe u. die heilige Kommunion empfangen. Wenn ich keinen Brief mehr schreiben kann, grüße alle Lieben von mir. A. H. L. H. Sag ihnen, daß mein Sterben leicht u. freudig war.

Ich denke an meine herrlichen Kinderjahre, an meine herrlichen Ehejahre. Durch alles mir schimmert Dein liebes Angesicht. Wie sorgsam u. liebreich warst Du.

Laß Dir Deine Lebensfreude nicht nehmen. Werde nicht krank. Wandere Deinen Weg zu Gott weiter.

Immer und ewig Dein Christel, Dein Sohn, Dein Lieber

Mutter liebste Mutter“

Und auf der Rückseite habe er noch dazugeschrieben: „Jetzt hast Du ja drei neue kleine Christel.“ Er wollte seine Mutter damit nicht nur trösten, sondern wohl auch seine Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass sie sich mit um seine drei Kinder kümmern werde.[2]

Ein leuchtendes Zeugnis des Glaubens

Hier ist deutlich vom „Weg zu Gott“, von der „Ewigkeit“, vom „Himmel“ und vom „herrlichen Empfang“ die Rede, den er seinen Lieben in der anderen Welt einmal bereiten möchte. Doch noch stärker wiegt ein Zeugnis, das er am 18. Dezember 1942 geschrieben hat, also nur zwei Monate vor seiner Hinrichtung, jedoch zu einem Zeitpunkt, da er von seinem nahen Tod noch nicht das Geringste ahnen konnte. Es ist ein Brief an Dieter Sasse, einen Halbbruder mütterlicherseits, dem er sehr verbunden war. Dieter war wegen eines Herzfehlers für kurze Zeit im südostfranzösischen Dijon behandelt worden, wurde danach aber nicht nach Deutschland zurückversetzt, sondern als wieder „arbeitsverwendungsfähig“ nach Pontarlier nahe der Schweizer Grenze geschickt. Schon am 13. Dezember 1942 hatte ihm Christoph einen langen Brief geschrieben und darin am Ende angekündigt: „Bald schreibe ich wieder!“ Und in diesem Brief, den er bereits fünf Tage später verfasste, sollte es nun um das bevorstehende Weihnachtsfest gehen, das Dieter eben nicht mit den Seinen zuhause feiern würde, da er sich im Rahmen seines Arbeitsdienstes mit Ausbildung in Frankreich befand. Christoph, der mit seinem Halbbruder in einer geistig und kulturell hochstehenden, feinen Familienatmosphäre aufgewachsen war, konnte mitfühlen, wie schwer es Dieter unter seinen Kameraden hatte, die einen rauen, oft wilden Umgang miteinander pflegten. 

Und so schenkte er ihm eine Betrachtung über das Weihnachtsgeheimnis, am Anfang mit der kleinen Zeichnung eines Weihnachtszweiges geschmückt. Es ist ein ergreifendes Glaubenszeugnis, in dem die grundlegenden christlichen Offenbarungswahrheiten aufleuchten: Gott, der alles aus Liebe erschaffen hat, der jeden liebt, aber auch von jedem geliebt werden will, der uns aus Güte seinen Sohn geschenkt hat, den einzigen Erlöser der Menschheit, „durch den wir wissen, dass unser Leiden, unser Leben einen Sinn hat, der uns ein Leben vorgelitten hat aus reinster Güte, der das Leid verständlich gemacht hat und geheiligt hat, der uns auf das Leben nach dem Tod gewiesen hat, der die Liebe predigte, die wahre Verbrüderung der Menschen, der uns das Brot des Lebens gebracht hat und an dem es keinen Zweifel gibt“. Einfühlsam vermittelt Christoph seine Gedanken und kombiniert sie geradezu kunstvoll zu einem Ganzen, das den Charakter familiärer Zuwendung und persönlichen Bekenntnisses besitzt. Es wird deutlich, dass er aus seinem tiefsten Herzen schöpfte und zum Ausdruck brachte, was im Lauf der Jahre sein eigen geworden war (Wortlaut des ganzen Briefes im Kästchen S. 6). Als er den Brief verfasste, befand er sich gerade in Lermoos nahe Innsbruck bei seiner Frau und seinen Kindern. Dort wohnte seine Familie während der Zeit, als er den letzten Teil seines Medizinstudiums in Innsbruck absolvierte. Von 17. Dezember 1942 bis 8. Januar 1943 wurde ihm Urlaub gegeben. Dieses Entgegenkommen der Behörden hängt wohl damit zusammen, dass die Nazis Kinderreichtum unterstützten.[3]

Sein Ideal christlicher Liebe und Familie

Christoph Probst stammte aus sehr „bunten“ Familienverhältnissen, um nicht zu sagen, aus einem unglaublichen Durcheinander. Und darin dürfen wir eine besondere Aktualität des Lebens von Christoph Probst für unsere heutige Zeit sehen. Umso erstaunlicher ist es nämlich, dass aus diesem konfusen Konglomerat von Beziehungen eine so lautere und liebesfähige Seele herauswachsen konnte, wie wir dies bei Christoph Probst beobachten können. Es lohnt sich, einen Blick in diese Verhältnisse zu werfen: Seine Mutter Katharina (1886-1963) war eine geborene „von der Bank“ und traf ihren Mann Hermann Probst (1886-1936), also den Vater von Christoph und seiner um ein Jahr älteren Schwester Angelika, in einem Berliner Salon, der von der Jüdin Elise Jaffe, geborene Rosenthal aus Regensburg, geführt wurde. Dort fanden geistige Gespräche mit Philosophen und Künstlern statt. Um die beiden zu verbinden, kaufte ihnen Elise Jaffe in Kochel am See ein Haus. Doch drang sie nach der Hochzeit von Hermann und Katharina immer mehr selbst in diese Ehe ein, trennte sich von ihrem eigenen Mann und heiratete schließlich Hermann Probst. Um den Kindern die Annahme der Situation zu erleichtern, wurde Elise einfach „Ömi“ genannt. Katharina flüchtete in eine Verbindung mit Eugen Sasse, dem Vater von Dieter, trennte sich aber wieder von ihm und heiratete in dritter Ehe Heinrich Kleeblatt. Hermann Probst war promovierter Chemiker, der sich als Sanskritforscher betätigte, indische Philosophie studierte und schließlich vor Buddha-Figuren meditierte. Katharina zog zu Eugen Sasse in das sog. Münter-Haus nach Murnau um, in dem der junge Christoph über drei Jahre lebte. Dieses Haus gehörte der berühmten Künstlerin Gabriele Münter, die dort mit dem russischen Maler Wassily Kandinsky gewohnt hatte. Deshalb wurde das Haus, das heute ein Museum ist, von den Einheimischen auch „Russenhaus“ genannt. Schon die Beziehungen des Vaters von Hermann Probst, er hieß Richard Karl Probst, zu seiner ersten Frau Clementine Génève sowie später zu seiner zweiten Frau Emilie waren äußerst belastet. Clementine starb, als Hermann zwei Jahre alt war, und Emilie ließ sich von Richard Karl, also dem Großvater von Christoph, ebenfalls wieder scheiden, was damals sehr ungewöhnlich war.

Es ist fast ein Wunder, wie sich Christoph in diesen Situationen zurechtfinden und die ständigen Wechsel bewältigten konnte. An seine Stiefmutter Elise beispielsweise, seine Ömi, schrieb er zu Herzen gehende Briefe. Ein Abschnitt mag verdeutlichen, wie er sich als 16-Jähriger mit dem Thema „Liebe“ auseinandergesetzt hat. In einem Brief vom 13. Juni 1936 schrieb er an Elise: „Wenn es Dir schlecht geht, so denke nur immer an das Herrlichste, was uns armen Menschen vom Himmel gegeben ist, die Liebe. Oft habe ich mich in schweren Stunden nach etwas Absolutem, nach einem Fels, der aus all den Nebeln der Täuschungen herausragt gesehnt, an dem ich mich festhalten kann, weil alles um mich wandelbar und glitschig war. Erst neulich habe ich den Fels gefunden, es ist die Liebe. Nachher habe ich mich gewundert, daß man so etwas suchen muß, wo es so naheliegt. Alle anderen Begriffe sind an die Welt, an unser kleines Gehirn gebunden. Liebe herrscht überall auf jeder Welt und zwischen den Welten. Sie herrscht zwischen ‚Toten‘, die mehr Leben in sich haben als die Menschen der Welt, und den Lebenden, die vielleicht Tote sind."[4]

Und als er bereits im Gefängnis saß, also knapp sieben Jahre später, schrieb er an seine Schwester Angelika – jetzt im Blick auf seine eigene Familie: „Nun sitze ich zum ersten Mal im Leben in einer Zelle und weiss nicht was der nächste Tag bringt. … Wie schwer nur die Trennung von Frau und Kindern ist, weißt Du. Aber mein Vertrauen und meine Hoffnung sind stark und helfen mir. Ich habe das Gefühl, als wenn ich Euch besonders nah wäre, allen meinen Lieben, und weiss, dass diese Liebesbande unzerstörlich sind. Ich weiss, dass mir nun nichts mehr bleibt, als auf mich zu nehmen und zu tragen, was kommt.

Glaube aber nicht, dass ich es nicht tragen könnte, oder dass mir die Angst den Schlaf raubt. Die Kräfte wachsen mit der Belastung. Dass ich aber Euch Sorgen machen muss, ist mir fast unerträglich. Darum bitte ich Dich von Herzen, lass Dich nicht beunruhigen. Auch hier sind nette Menschen, und die Behandlung durch die geheime Staatspolizei ist nicht schlecht.

Ich bin so froh, dass es meiner lieben Herta wieder gut geht. Die Hauptsache ist ja, dass die kleinen süssen Unschuldswürmchen jetzt eine Mutter haben. Später brauchen sie dann den Vater mehr. An die Kinder denke ich ohne Unterlass, wie gern würde ich nun ganz für sie da sein."[5]

Märtyrer oder nur politischer Widerstandskämpfer?

Dass Christoph heiligmäßig gestorben ist, steht für mich außer Zweifel. Ich habe mir selbst zur Vorbereitung auf meine Taufe im Erwachsenenalter den christlichen Glauben durch intensive Beschäftigung mit den Schätzen der Kirche angeeignet. Getauft wurde ich zu Ostern 1967 und später am Grab des hl. Petrus in Rom von Bischof Dr. Josef Stimpfle gefirmt. Umso besser kann ich den Weg nachempfinden, den mein Schwiegervater gegangen ist. Umso wichtiger ist es mir aber auch, dass sein Tod mit den Augen des Glaubens gesehen wird. Und da scheint es mir sonnenklar, dass Christoph Probst, nur wenige Minuten nach dem Empfang der Taufe und der heiligen Kommunion hingerichtet, durch das eigene Lebensopfer hindurch unmittelbar in die ewige Gemeinschaft mit Gott eingegangen ist.

Damit ist natürlich noch nicht die andere Frage beantwortet, nämlich ob sein Tod als echtes Martyrium gedeutet werden kann. Ich freue mich darüber, dass das Lebensbild von Christoph Probst in das „Deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“ aufgenommen worden ist, das Prälat Prof. Dr. Helmut Moll im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz herausgegeben hat-[6] Darüber hinaus aber hält sich die katholische Kirche mit einer Bewertung der Gestalt von Christoph Probst sehr zurück. Es lässt sich meines Erachtens jedoch der Nachweis erbringen, dass der Widerstand bzw. der Versuch, die Stimme gegen Hitler zu erheben, bei Christoph Probst Ausdruck seines christlichen Menschenbildes und eindeutig durch seinen persönlichen Glauben motiviert war. Außerdem wäre es meiner Ansicht nach falsch zu behaupten, Christoph Probst habe überhaupt nicht „politisch“ gedacht und gehandelt, so als wäre seine Hinrichtung eher ein Missgeschick bzw. die Folge einer emotionalen Überreaktion auf Nachrichten im Auslandsradio gewesen. Für mich ist sein Tod ein christliches Blutzeugnis, Martyrium im vollen Sinn des Wortes.

Der Textentwurf für ein siebtes Flugblatt

Christoph Probst hatte 1939 an der Münchener Universität sein Medizinstudium begonnen, das ihm ein Herzensanliegen war. Dort studierte auch sein Freund Alexander Schmorell, mit dem er seit dem Schuljahr 1935 das Neue Realgymnasium München besuchte. Durch ihn lernte er Hans Scholl, Willi Graf und die anderen kennen. Im Frühjahr 1942 entschlossen sie sich, gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten aufzustehen. Oft nahm Christoph Probst an den nächtlichen Treffen in München teil. Doch waren Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf der Ansicht, er sollte sich aus Rücksicht auf seine Frau und Kinder von Aktionen fernhalten. Damit war er einverstanden. Aber er hatte klare Ansichten, die er in die vertraulichen Diskussionen einbrachte. Schon 1941 wandte er sich bei den Gesprächen gegen die Euthanasie, den Massenmord an vermeintlich „lebensunwertem Leben“, sowie gegen die Stigmatisierung der Juden durch den Judenstern. Während seine Freunde in den Sommersemesterferien 1942 zur Feldfamulatur an der Ostfront einrücken mussten, wurde er an die Universität Innsbruck versetzt. Zurückgekehrt von ihrem Einsatz im Osten und noch mehr überzeugt von der Ungerechtigkeit des Krieges bat ihn Hans Scholl im November 1942, „ihm etwas zu verfassen, um damit Propaganda zu betreiben“. So gab es jedenfalls Christoph bei seinem Verhör am 21. Februar 1943 zu Protokoll. Den Text hatte er in der Nacht vom 28. auf den 29. Januar 1943 geschrieben, als er gerade bei seiner Mutter in Tegernsee zu Besuch war. Zwei Tage später übergab er den Entwurf in München an Hans Scholl, der ihn bei seiner Festnahme knapp drei Wochen später noch immer in seiner Tasche trug. Dies war am 18. Februar, als Hans zusammen mit seiner Schwester Sophie das sechste Flugblatt verteilte.

Der Inhalt des Flugblattentwurfs war jahrzehntelang unbekannt. Erst 1990 tauchten das Verhörprotokoll der Gestapo sowie die Dokumentation des Textes wieder auf. Beide Schriftstücke waren in einem Geheimarchiv der DDR aufbewahrt worden und hatten so die Nachkriegszeit überlebt. In dem Entwurf, in dem Christoph Probst Hitler ungeschminkt einen „Mörder“ nennt, heißt es: „Soll den Sendboten des Hasses und des Vernichtungswillens alle Deutschen geopfert werden! Ihm der die Juden zu Tode marterte, die Hälfte der Polen ausrottete, Russland vernichten wollte, ihm der Euch Freiheit, Frieden, Familienglück, Hoffnung und Frohsinn nahm und dafür Inflationsgeld gab. Das soll das darf nicht sein! Hitler und sein Regime muss fallen, damit Deutschland weiter lebt“ (vollständiger Text auf S. 8).[7]

Was für ein Vermächtnis! Doch dieser kraftvolle Appell muss auf dem Hintergrund seiner tiefsten Überzeugung gesehen werden, nach der das Leben des Menschen seinen Ursprung in Gott hat und nur in der Liebe, die Gott selber ist, einen letzten Sinn finden kann. „Das politische Credo“ von Christoph Probst war, wie es sein Sohn Michael formulierte, „eine Botschaft der Liebe“.[8]

Seligsprechungsverfahren von ökumenischer Bedeutung

Ich denke, die katholische Kirche sollte für Christoph Probst den Seligsprechungsprozess einleiten. Mit der Veröffentlichung der Gesammelten Briefe im Jahr 2011 liegt ein Quellenmaterial vor, das einen tiefen Einblick in die Persönlichkeit und Lebensgeschichte von Christoph Probst gewährt.[9] Christiane Moll hat mit diesem Buch eine einzigartige Arbeit geleistet, die eine wertvolle Grundlage für die künftige Forschung und Beurteilung des Vermächtnisses von Christoph Probst darstellt.

Doch sollte meiner Meinung nach ein Verfahren begonnen werden, das von vornherein alle sieben Märtyrer der Weissen Rose in die Untersuchungen einbezieht. Daraus könnte ein großartiger Beitrag zur sog. Ökumene der Märtyrer entstehen.

Willi Graf, geb. 1918 und hingerichtet am 12. Oktober 1943 in München-Stadelheim, war katholisch und ist bisher das erste Mitglied der Weissen Rose, für den nach einer Bekanntmachung des Erzbistums München und Freising vom 27. Dezember 2017 ein Seligsprechungsprozess in Betracht gezogen wird.

Prof. Kurt Huber, geb. 1893 und hingerichtet am 13. Juli 1943, Philosoph, Volksmusikforscher und Musikpsychologe, war ebenfalls katholisch und wurde 1999 auch als Blutzeuge in das Deutsche Martyrologium aufgenommen. Er hatte am fünften Flugblatt mitgewirkt und das sechste entworfen.

Alexander Schmorell, geb. 1917 in Orenburg, Russland, und hingerichtet am 13. Juli 1943, war russisch-orthodox und wurde als „Alexander von München“ 2012 durch die „russisch-orthodoxe Kirche im Ausland“ bereits „verherrlicht“, also heiliggesprochen.

Hans Scholl (geb. 1918) und seine Schwester Sophie (geb. 1921), zusammen mit Christoph Probst am 22. Februar 1943 hingerichtet, waren evangelisch. Ihre Mutter war bis zu ihrer Eheschließung Diakonisse. Beide wollten nach dem Zeugnis von Kaplan Sperr zum katholischen Glauben konvertieren und noch vor ihrer Hinrichtung die hl. Kommunion empfangen, jedoch fehlten Zeit und Möglichkeit. Der evangelische Gefängnisseelsorger Dr. Karl Alt bereitete sie auf die Hinrichtung vor. In seinem Buch „Todeskandidaten“ schildert er die tiefe Glaubensgewissheit von Hans Scholl, der ihn gebeten habe, das „Hohelied der Liebe“ (1. Korinther 13) und den 90. Psalm vorzulesen und das Abendmahl mit ihm zu feiern.

Hans Leipelt, geb. 1921 und hingerichtet am 29. Januar 1945, hatte eine jüdische Mutter und war evangelisch getauft. Er führte die Arbeit der Weissen Rose fort und verbreitete das sechste Flugblatt in Hamburg mit dem Zusatz: „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter“. Auch er wurde vom evangelischen Seelsorger intensiv auf den Tod vorbereitet.

Ich selbst bin im Ostblock aufgewachsen und habe politischen Terror kennengelernt. Doch dann durfte ich eine vollkommen neue Erfahrung machen, das Erleben von Freiheit und Glauben in Bayern. Nun bin ich tief im katholischen Glauben verwurzelt und bete für die Seligsprechung meines Schwiegervaters, dieses christlichen Blutzeugen, der leider – wie auch die anderen Mitglieder der Weissen Rose – noch immer nicht in seiner Wahrheit strahlt.

Kontakt: Weisse Rose Institut e.V., Leopoldstr. 11, D-80802 München, Tel. 089-3303988-0, Fax:  089-3303988-10, E-Mail: info@weisserose.info, Webseite: weisserose.info

 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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[1] Vom 16.IX.53 (als Stadtpfarrer Heinrich Sperr).
[2] Alexander Schmorell, Christoph Probst: Gesammelte Briefe, Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand / Reihe B: Quellen und Zeugnisse, hrsg. von Christiane Moll, Lukas Verlag Berlin 2011, 944 Seiten (ISBN: 978-3-86732-065-8), 890f.
[3] Ebd., 848ff.
[4] Ebd., 575f.
[5] Ebd., 887f.
[6] Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Helmut Moll im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn, 6., erweiterte und neu strukturierte Aufl. 2015, 2 Bände, insg. CIX + 1828 Seiten (ISBN 978-3-506-78080-5).
[7] Damit Deutschland weiterlebt. Christoph Probst 1919-1943, hrsg. vom Christoph-Probst-Gymnasium Gilching, Gilching 2000, 183 Seiten (ISBN 3-00-007034-6), 110f.
[8] Ebd., 140.
[9] Vgl. Anm.1.

Eindrucksvolles Glaubenszeugnis

Am 18. Dezember 1942 hat Christoph Probst einen Brief an seinen Halbbruder Dieter Sasse geschrieben, der eine einfühlsame Betrachtung zum Weihnachtsfest enthält. Nachfolgend der Wortlaut des Schreibens, das ein wunderbares Glaubenszeugnis darstellt – zwei Monate vor seiner Hinrichtung, als er von seinem Tod noch nichts ahnen konnte.

Von Christoph Probst

Als Weihnachtsgeschenk möchte ich Dir ein schönes Stück meiner Sachen schenken, das Du Dir aussuchen sollst, wenn Du herkommst!! (Lermoos, am 18.XII.42)

Mein lieber Bruder!

Nun steht Weihnachten vor der Türe, ein recht ungerechtes Weihnachten, denn die einen dürfen es zu Hause verleben, während die anderen in die Ferne verbannt sind. Auch Du musst diese sonst so schönen Tage einsam verbringen und durch die Flut schöner Erinnerung werden sie recht schwermütig und traurig für Dich werden. Aber es gibt ein äusseres und ein inneres Weihnachten, das schöne Fest besteht zum geringsten Teil im Genuss materieller Freuden, im Schenken und Nehmen. Schließlich ist das ja nur die Aussenseite eines inneren Erlebnisses, die jährlich immer wiederkehrende Erinnerung der christlichen Menschheit an die Geburt des Christuskindes, ihres wirklichen Erlösers. Es ist schwer, besonders schwer, solange man noch jung ist, auf die einmalige große Freude des schönstes Festes zu verzichten. Wenn man es aber muss, so ist es das Schönste und Stärkste, was man tun kann, die innere Bedeutung dieser Tage zu erleben und zu feiern. Es soll auch so ein Freudenfest sein, an dem man voll Dankbarkeit der Güte des Schöpfers dankt, dass er uns Christus gesandt hat, durch den wir wissen, dass unser Leiden, unser Leben einen Sinn hat, der uns ein Leben vorgelitten hat aus reinster Güte, der das Leid verständlich gemacht hat und geheiligt hat, der uns auf das Leben nach dem Tod gewiesen hat, der die Liebe predigte, die wahre Verbrüderung der Menschen, der uns das Brot des Lebens gebracht hat und an dem es keinen Zweifel gibt. Es kommt auf das Leben jedes Einzelnen an, jeder Mensch ist Gott lieb, er will aber auch von jedem geliebt werden, denn die Liebe ist die Kraft der Welt, die alles Leben erzeugt, behütet und zur Seeligkeit führt, die Kraft, die Welten geschaffen hat. Du siehst ja wie weit man es durch den Hass bringt und gebracht hat: Zerstörung, Blut und Tod auch wird nicht Bleibendes und Gutes daraus. Was hat die Liebe dagegen geschaffen? Auf ihr ruhen Kulturen, Dome wuchsen aus ihrem Schooss, sie ist das Band von Mensch zu Mensch, das alle Freude des Lebens erst möglich macht, denn was wäre der Mensch alleine? Die Liebe war von Anbeginn der Welt an da, denn ein Gott hat ja die Welt erschaffen. Denke auch Du, lieber Dieter, an die Liebe, an die Verbrüderung der Menschen, an den Frieden. Schau, dass in Deinem Herzen Frieden sei an diesem Friedensfest und hoffe mit uns aus aller Kraft auf Frieden, wahres Leben, echte Freuden! Liebster, meine Gedanken sind immer wieder bei Dir, hoffen mit Dir und ich übertreibe nicht, wenn ich sage: leiden oft mit Dir. So wird auch unser Weihnachten ein stilles dankbares Fest sein, aber kein rauschendes, mit knallenden Sektkorken (die es ja gar nicht gibt) – vielleicht auch ein ein wenig trauriges Fest, da es so Viele traurig verbringen, Viele trostlos und in Lebensgefahr. Hoffentlich spürst Du ein wenig unsere liebenden Gedanken, unsere Wünsche, unsere Sehnsucht nach Dir, den wir so lieben.

Lermoos, wo ich nun sein kann, ist so schön mit den Erinnerungen unseres schönen Zusammenseins hier verwoben, wenn ich den Daniel [ein Berg in der Nähe] sehe, denke ich an unsere gemeinsame schöne Tour da hinauf und nie denke ich an Dich ohne Vorfreude auf unsere zukünftigen gemeinsamen Tage und Erlebnisse in tiefer unauslöschlicher Bruderschaft. Mögen auch Dir schöne Stunden bevorstehen – pass auf, bald lichtet sich die Situation! Es grüsst Dich, der Dir so gerne helfen würde, immer Dein Christel.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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Das „siebte Flugblatt“

Die in einem Geheimarchiv der DDR entdeckten Verhörprotokolle der Gestapo brachten auch den Textentwurf für ein siebtes Flugblatt der Weissen Rose zu Tage. Erst 1990 wurde er publiziert. Hans Scholl trug den von Christoph Probst handgeschriebenen Entwurf bei sich, als er am 18. Februar 1943 verhaftet wurde. Es war ihm nicht mehr gelungen, das bereits in Schnitzel zerrissene Blatt zu verzehren. So konnte die Gestapo Christoph Probst anhand von Schriftproben als Verfasser überführen. Nachfolgend die Wiedergabe des Textes im Verhörprotokoll, auf deren Grundlage Christoph Probst zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde.

Von Christoph Probst

Geheime Staatspolizei                                            München, den 21. Febr. 1943.

Staatspolizeileitstelle München

S.Nr.    . 13226/43 II A/Sondk.

P r o b s t   Christoph aus der Pol.Haft vorgeführt und zum Text seines Manuskripts befragt, erklärt folgendes:

Auf Grund der mir vorgelegten Unterlagen – Maschinenschriftübersetzung – und Photokopie des Originals, bin ich in der Lage die Lücken wie folgt zu ergänzen:

Stalingrad!

200000 deutsche Brüder wurde geopfert für das Prestige eines militärischen Hochstplers. Die menschlichen Kapitulationsbedingungen der Russen wurden den geopferten Soldaten verheimlicht. General Paulus erhielt für diesen Massenmord das Eichenlaub. Hohe Offiziere haben sich im Flugzeug aus der Schlacht von Stalingrad gerettet. Hitler verbot den Eingekesselten sich zu den rückwärtigen Truppen zurückzuziehen. Nun klagt das Blut von 200 000 dem Tod geweihten Soldaten den Mörder Hitler an. Tripolis! Es ergab sich bedingungslos der 8. Englischen Armee. Und was taten die Engländer, sie liessen das Leben der Bürger in den gewohnten Geleisen weiter laufen. Belassen sogar Polizei und Beamte in ihren Stellen. Nur eines machten sie gründlich, sie säuberten die grösste italienische Kolonialstadt von allen falschen Rädelsführern und Untermenschen. Mit tödlicher Sicherheit kommt die vernichtende, erdrückende Übermacht von allen Seiten herein. Viel weniger als Paulus kapitulierte, wird Hitler kapitulieren. Gäbe es doch für ihn dann kein Entkommen mehr. Und wollt Ihr Euch genau so belügen lassen wie die 200000 Mann, die Stalingrad auf verlorenem Posten verteidigten? Dass ihr maserkriert, sterilisiert oder Eurer Kinder beraubt werdet? Roosevelt, der mächtigste Mann der Welt, sagt am 26. Januar 1943 in Casablanca: Unser Vernichtungskampf richtet sich nicht gegen die Völker, sondern gegen die politischen Systeme. Bedarf es da noch eines Nachdenkens um die Entscheidung zu fällen. (Folgenden Satz kann ich nur noch dem Sinne nach feststellen:) Es handelt sich nunmehr um Millionen Menschenleben. Soll Deutschland das Schicksal von Tripolis erfahren.? Der Text folgt jetzt wieder einwandfrei im Original weiter:

Heute ist ganz Deutschland eingekesselt wie es Stalingrad war. Soll den Sendboten des Hasses und des Vernichtungswillens alle Deutschen geopfert werden! Ihm der die Juden zu Tode marterte, die Hälfte der Polen ausrottete, Russland vernichten wollte, ihm der Euch Freiheit, Frieden, Familienglück, Hoffnung und Frohsinn nahm und dafür Inflationsgeld gab. Das soll das darf nicht sein! Hitler und sein Regime muss fallen, damit Deutschland weiter lebt. Entscheidet Euch, Stalingrad und der Untergang, oder Tripolis und die hoffnungsvolle Zukunft. Und wenn Ihr Euch entschieden habt, dann handelt.

Ich habe mich bemüht, den Text in seinem Ursprung so lückenlos als möglich wiederzugeben. Eine weitere Erklärung will ich dazu nicht mehr anführen.

                                                                       Christoph Probst

Aufgenommen:

Geith

Krim.Sekr.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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Weggefährten berichten

Erinnerungen an Christoph Probst

In dem bemerkenswerten Buch „…damit Deutschland weiterlebt. Christoph Probst 1919-1943“, das vom Christoph-Probst-Gymnasium Gilching herausgebracht worden ist, findet sich eine äußerst aufschlussreiche Zusammenstellung von Erinnerungen an Christoph Probst. Nahestehende Menschen, unmittelbare Weggefährten haben im Jahr 2000 die nachfolgenden Zeugnisse abgelegt. Ein Auszug (vgl. S. 143-148).

Zusammengestellt von Peter Schubert (†)

Dr. Erich Schmorell, Bruder von Alexander Schmorell:

Wenn man Christel in seiner ganzen Breite und Tiefe kennen lernen wollte, müsste man seine Briefe alle lesen. Sie sind manchmal fast zu ausführlich gehalten, weil er sich mit jedem Thema gründlich auseinandersetzt. Aber, was ich vor allem herausheben will, in den Briefen ist nichts enthalten, was man unter den Tisch wischen müsste. Es sind hauptsächlich Briefe an seine Familienangehörigen, und da ist immer wieder beeindruckend, wie sehr er dieses enge Familienleben schätzt. Vor allem nach dem Tod seines Vaters, der ihm außerordentlich nahegeht, sind einige Briefe erhalten, wo er die Ömi, die zweite Frau seines Vaters, tröstet und sich mit dem Gedanken des Todes, des Jenseits auseinandersetzt. Er habe den Vater nur irdisch verloren, und er bleibt uns im Jenseits erhalten. Und dann die sehr eindrucksvollen Briefe, die er an seinen fünf Jahre jüngeren Bruder schreibt. Es ist wunderschön, wie er ihn zu Beginn seiner Militärzeit tröstet. Hier kommt auch seine politische Auffassung zum Vorschein. Er sagt, wir müssen einfach das Schwierige, das uns auferlegt ist, irgendwie ertragen. Denn dieser ganze Krieg und das Nazitum berührt uns nur an der Außenseite. Er sagt natürlich nicht Nazitum, sondern er umschreibt es, man spürt es heraus. Es berührt uns eigentlich nur von außen, unser Inneres bleibt davon völlig verschont.

Dieter Sasse, Halbbruder:

Aus Christophs Briefen spricht seine Persönlichkeit. Ich habe selten einen Menschen gekannt, der so wenig ich-bezogen war, sondern ganz auf das ,Du‘ hin. Und er konnte wunderbar mit Menschen umgehen, er konnte trösten und die Briefe, die er mir geschrieben hat, legen Zeugnis ab von seiner erstaunlichen Reife in seinen jungen Jahren.

Ich muss zugeben, dass ich mit dem Militär anfangs Schwierigkeiten hatte. Sehr jung eingezogen, mit 18 und diesem rauhen Ton und Umgang noch nicht gewachsen, wurden wir nach Frankreich verlegt. Dahin richtet er nun seine Briefe und es ist soviel Liebe und Verständnis für den jüngeren Bruder darin. Er vertritt die Auffassung, dass er dies als ein Durchgangsstadium sieht, dass er eine bessere Zukunft erwartet (sprich: natürlich nach dem verlorenen Krieg). Und auch seine christliche Einstellung spricht aus diesen Briefen. –

Ich habe erlebt, dass Christoph, als er nach der Schule zum Militär eingezogen wurde, oft so deprimiert war, gar nicht der fröhliche, wie wir ihn kannten, sondern unter den ganzen Verhältnissen litt.

1942 wurde ich zu den Gebirgsjägern in Garmisch eingezogen. Christel war damals Sanitätsfeldwebel und war tätig im Luftwaffenerholungsheim am Eibsee. Er kam sehr oft abends mit dem Fahrrad zu mir und wir sind auf dem Kasernenhof herumspaziert, wo uns niemand hören konnte, und haben Gespräche geführt. Da kam eben seine Haltung schon sehr deutlich zum Ausdruck. Wir alle haben gehofft, ja wir wussten, dass der einzige Ausweg, um die Nazibande loszuwerden, nur der verlorene Krieg ist. In einem dieser Gespräche sagte Christel: „Ich halt‘ das nicht mehr aus. Wenn niemand etwas tut, dann tu ich was.“ Ich habe einen Schrecken gekriegt und gesagt: „Christel, um Gottes willen, mach doch keinen Unsinn! Das ist viel zu gefährlich.“ Ich habe das allerdings nicht so ernst genommen. Wir haben uns herzlich verabschiedet und ich kam nach Frankreich. –

Jeder Versuch, seine Motive auf die eine oder andere Schiene zu schieben, sei es rein christlich oder rein politisch, stimmt nicht. Sondern man muss es sich als ein Ganzes vorstellen. Christel hat aus einer moralisch-ethischen Verpflichtung heraus gehandelt, aber er hat sich, nachdem er von unseren Eltern freireligiös erzogen wurde, auf die katholische Taufe vorbereitet. Er war ja eigentlich immer religiös.

Herta Siebler-Probst, Ehefrau/Witwe:

Christoph kam aus München immer mit diesem ernsteren ,Münchengesicht‘ zu mir aber es löste sich, wie er dann eben locker und fröhlicher wurde, als er mit mir und den Kinder spazieren ging. Er war fast wie zweierlei Mensch. Es war, wie wenn etwas von ihm abgefallen wäre von dieser Spannung, die bei den Gesprächen mit den Münchner Freunden entstanden war. Ich durfte ja nicht nach München kommen, wegen der Luftangriffe. Es war für ihn wie eine Erlösung, eine Befreiung, wenn er nach Ruhpolding kam.

Dr. Erich Schmorell:

In der offiziellen Beurteilung der Weissen Rose ist Christel immer etwas im Hintergrund. Deswegen ist mir so wichtig, dass Christel bei der Entstehung der ersten Flugblätter immer dabei war. Wenn er nach München kam, war er dabei und informiert.

Lieselotte Fürst-Ramdohr, Freundin von Alexander Schmorell:

Alex Schmorell und Hans Scholl haben die ersten vier Flugblätter herausgebracht. Alex fragte Christel dazu um seine Meinung. Ich weiß noch, wie er in meiner Wohnung das vierte Flugblatt immer zitierte. Christoph übte an diesem Flugblatt scharf Kritik, weil es zu gefühlsmäßig wäre. Die Flugblätter müssten jeden erreichen, nicht nur die intelligenten Leute, sondern auch die Menschen auf der Straße. Christel hatte immer Einfluss auf die Flugblätter.

Herta Siebler-Probst:

Es gab ein paar Bemerkungen, wo man ahnte, dass irgendwie eine Betätigung stattfand. Es war nur diffus, nicht greifbar. Ich wusste nur durch meinen Vater Harald Dohrn, dass sich eine Gruppe traf, wo Theodor Haecker aus seinen Schriften vorlas. Da wurde diskutiert. Diese Sachen wusste ich.

Christel sagte auch mir, es müsse etwas geschehen, da habe ich noch geantwortet: „Aber du doch nicht!“ Ich kam nicht auf die Idee, dass tatsächlich etwas geschah in der Zwischenzeit.

Einmal, es war wohl während des Kessels von Stalingrad, hat es ihn furchtbar mitgenommen und erschüttert, dass man 80.000 Soldaten so einfach dem Tode oder der Gefangenschaft preisgegeben hatte. Eines Sonntags besuchte uns Christel aus Innsbruck in Lermoos in unserer primitiven Wohnung. Er fragte mich beim Kochen: „Kann ich hier ein bisschen was schreiben?“ Ich fragte ihn dann: „Was schreibst du so eifrig?“ und er antwortete nur: „Ja nichts“, und hat die Blätter vom Tisch genommen. Ich nehme an, dass das das letzte Flugblatt war, das der Hans (Scholl) in der Tasche mit sich herumgetragen hat.

Dieter Sasse:

Ich habe natürlich erst nach Christophs Tod über die Aktivitäten der Weissen Rose erfahren. Christel und wohl auch die anderen Mitglieder haben nichts darüber den Verwandten gesagt, weder die Mutter noch ich hatten irgendeine Ahnung, er hat nur einmal im Brief einen guten Freund, Hans Scholl, erwähnt. –

Eines Tages erhielt ich in Frankreich ein Telegramm von der Angelika Probst: „Mutter schwer erkrankt. Erbitte Sonderurlaub!“ Ich konnte damit nicht viel anfangen, habe acht Tage Sonderurlaub bekommen, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass die Mutti so schwer erkrankt ist. Ich ging am Abend in die Kirche des Ortes, in dem ich stationiert war, sah ein Messbuch liegen, schlug es auf und lese: „Il n’est pas mort, i lest passé dans une autre vie.“ – „Er ist nicht tot – er ist in ein anderes Leben hinübergegangen.“

Ich konnte zu diesem Zeitpunkt damit nichts anfangen. Als ich in München am Hauptbahnhof ankam, nahm mich die verweinte Angelika in Empfang und sagte: „Es ist nicht mit Mutti, es ist mit Christel.“ Und da erst erfuhr ich, was schon ein paar Tage vorher geschehen war. Und die Bedeutung dieses zufällig aufgeschlagenen Satzes wurde mir jetzt klar.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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Clara Fey – eine neue Selige für uns heute

„Die Kinder zu Jesus führen“

Über 100 Jahre hat sich das Bemühen um die Seligsprechung von Clara Fey (1815-1894) hingezogen. Am 5. Mai 2018 ist es nun so weit. Angelo Kardinal Amato, der Präfekt der Heiligsprechungskongregation, wird sie im Aachener Dom zur Ehre der Altäre erheben. Die in Aachen geborene Clara Fey, die die Kongregation der „Schwestern vom armen Kinde Jesus“ gegründet hat, ist eine Perle spiritueller Schönheit und Menschlichkeit. Dass sie gerade unserer Zeit als Leitstern geschenkt wird, dürfte kein Zufall sein. Ihre ganze Schaffenskraft schöpfte sie aus einer lebendigen Beziehung zu Jesus Christus, immer auf die Gegenwart des dreifaltigen Gottes vertrauend. Sr. Ingrid Mohr ist Mitglied ihrer Kongregation.

Von Sr. Ingrid Mohr P.I.J.

Ein besonderer Tag erwartet uns: die Seligsprechung von Clara Fey am 5. Mai 2018 im Hohen Dom zu Aachen. Mit ihr sind es drei Aachener Schulfreundinnen und spätere Ordensgründerinnen, die Selige des Himmels sein werden: Franziska Schervier, Pauline v. Mallinckrodt und Clara Fey.

Nachdem Papst Franziskus im vergangenen Jahr das Dekret zu Clara Feys Seligsprechung unterzeichnet hatte, sagte Bischof Dr. Helmut Dieser: „Mit dieser Entscheidung wird die Gründerin des Ordens der Schwestern vom armen Kinde Jesus für ihren Glauben, ihre Spiritualität und ihr Werk der tätigen Nächstenliebe gewürdigt.“

Schauen wir also ein wenig auf das Leben und Wirken dieser Frau. Geboren wurde sie am 11. April 1815 in Aachen. Sie war das vierte der fünf Kinder eines wohlhabenden, angesehenen und sozial engagierten Ehepaares, das gläubig und tief verwurzelt war in der Liebe zur Kirche. Joseph, der Älteste, wurde Redemptorist, Andreas Diözesanpriester, Constantia starb mit 21 Jahren an Typhus, Netta, die Jüngste, heiratete.

Es war die Zeit der Industrialisierung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gravierende soziale Probleme mit sich brachte. Die Maschinen verdrängten auch in Aachen die bis dahin weitverbreitete Heimarbeit. Viele Menschen waren gezwungen, den Lebensunterhalt in der Tuch- und Nadelindustrie zu verdienen. Bei äußerst schlechten gesundheitlichen Bedingungen und endlosen Arbeitszeiten mussten meist Vater und Mutter für einen kärglichen Lohn arbeiten, der selten für den Broterwerb der Familie ausreichte. Daher waren zahlreiche Kinder sich selbst überlassen, gingen in keine Schule und trieben sich bettelnd auf den Straßen herum. Andere mussten schon im Alter von sieben, manche sogar mit nur vier Jahren täglich 12 bis 14 Stunden in den Fabriken arbeiten. Weder der Staat noch die Stadt schienen ein Auge für diese Kleinen zu haben.

Aber es gab auch Menschen, die mutig gegen das Elend angingen. So trafen sich die Geschwister Fey in ihrem Elternhaus regelmäßig mit befreundeten Priestern, Freundinnen Claras und anderen engagierten Laien, um die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten und zu überlegen, wie man helfen könne. Clara fand durch diese Treffen ihre von Gott zugedachte Lebensaufgabe. Schon bald begann sie mit einigen Freundinnen, sich armer Kinder anzunehmen und ihnen Pflege, Erziehung und Unterricht zu geben. Diese jungen Frauen setzten ihre ganze Kraft und ihr Vermögen ein, um die unhaltbare Situation zumindest ein wenig zu entschärfen. 1837 entstand unter Führung der knapp 22-jährigen Clara eine kleine Armenschule. Claras Bruder Andreas sowie einige andere Priester halfen nach Kräften mit, denn die Verwahrlosung vieler Kinder ließ auch ihnen keine Ruhe. Als Clara und ihre Weggefährtinnen mit der Arbeit begannen, stießen sie auf manches Unverständnis bei den Vornehmen der Gesellschaft. Sogar der Pfarrer meinte: „So junge Mädchen müssen ein Spiel haben; lasst sie nur, wenn sie es müd‘ werden, dann hören sie von selbst auf.“ Aber es kam anders; die Zahl der betreuten Kinder und der Helferinnen wuchs rasch an. Da manche von ihnen kein gutes Zuhause hatten und teilweise nicht einmal ein Dach über dem Kopf, begannen Clara und ihre Freundinnen, die meistgefährdeten zu sich zu nehmen und das Leben mit ihnen zu teilen. Claras Freundinnen Franziska Schervier und Pauline v. Mallinckrodt wendeten sich nach einiger Zeit anderen Notleidenden zu; Franziska den Kranken, Pauline den Blinden.

Aus der vom Gebet getragenen apostolischen Arbeit Claras und ihrer Helferinnen entwickelte sich durch Gottes weise Vorsehung die Kongregation der „Schwestern vom armen Kinde Jesus“ mit Clara Fey als Gründerin. Das geschah am 2. Februar 1844. Noch heute ist am Gründungshaus in Aachen eine Tafel angebracht, die an jenes bedeutsame Ereignis erinnert.

Im Namen der Kongregation fand Clara den apostolischen Auftrag ausgedrückt: die christliche Erziehung der Kinder und Jugendlichen, vor allem der benachteiligten. In ihrer Bescheidenheit nannte sie es einfach: „Die Kinder zu Jesus führen“. Sie wollte die Kleinen zu lebenstauglichen Menschen heranbilden und in ihnen eine persönliche Beziehung zu Jesus wecken. Ihren Mitschwestern legte Clara immer wieder ans Herz: „Lieben wir die Kinder, weil Jesus sie liebt, und lieben wir Jesus in ihnen!“ Viele junge Frauen schlossen sich der Gemeinschaft an, so dass mehr und mehr Schulen und Kinderheime übernommen oder gegründet werden konnten. Schon nach wenigen Jahren wurden die Schwestern auch nach Österreich und Luxemburg gerufen.

Natürlich konnte das Kreuz in der jungen Gemeinschaft nicht fehlen. Besonders spürbar wurde es während des Kulturkampfes unter Bismarck (1871-1887). Seine Regierung beschloss 1872 die Ausweisung aller Ordensleute aus Preußen, die in Unterricht und Erziehung tätig waren. So sahen sich Clara Fey und ihre Schwestern gezwungen, 24 der bis dahin 27 gegründeten Häuser zu schließen und die Heimat zu verlassen. Rund 12.000 Kinder und Jugendliche blieben schutzlos zurück. Zu Beginn jener schweren Zeit schrieb die glaubensstarke Ordensgründerin ihren Schwestern: „Gott hat uns ein großes Kreuz auferlegt in dem, was uns bevorsteht. Wir müssen das wissen und uns stärken im Glauben und Vertrauen auf den Herrn.“ Unter schwierigsten Bedingungen suchte Clara in anderen europäischen Ländern für die knapp 700 ausgewiesenen Schwestern ein Dach über dem Kopf und apostolische Tätigkeiten. Mit großem Gottvertrauen und inniger Verbundenheit mit Gott meisterte sie zusammen mit ihren geistlichen Töchtern die harte Prüfung. In dieser äußerst schwierigen Situation galt wieder einmal, dass Gott auch auf krummen Zeilen gerade zu schreiben versteht: der Kulturkampf trug dazu bei, dass es zu 12 Neugründungen im Ausland kam – in Belgien, England, Frankreich, Luxemburg, in den Niederlanden, in Österreich und Südtirol. Das Generalmutterhaus wurde ins grenznahe niederländische Städtchen Simpelveld verlegt. Mit dem Ende des Kulturkampfes 1887 konnten die Schwestern in die Heimat zurückkehren. Die neu gegründeten Häuser im Ausland blieben bestehen und ehemalige in Deutschland wurden wiederbelebt. Clara Fey selbst blieb in Simpelveld.

Woher kam dieser Frau die Kraft für alles, was die große Aufgabe von ihr verlangte? Sie liebte das Wort Jesu aus dem Johannesevangelium, das für jeden Christen gilt: „Manete in me – Bleibt in mir“ (Joh 15,4). Tief durchdrungen von Liebe zu Gott lebte Clara Fey im Bewusstsein seiner Gegenwart und erneuerte diesen Gedanken an Ihn sehr häufig, unabhängig von dem, was geschah oder was sie gerade tat. Nicht nur uns Schwestern kann sie Mut machen für den Alltag, wenn sie daran erinnert: „Gott ist nie ferne von uns; wir sind überall von Ihm umgeben. Wie das Einatmen der Luft, so soll der Gedanke an Gott das beständige Atemholen unserer Seele sein.“

Dem Beispiel unserer Gründerin folgend bemühen wir Schwestern uns auch heute, den Gedanken an die Gegenwart Gottes wachzuhalten und stets mit Ihm verbunden zu bleiben. Dazu ist uns die tägliche Zeit der stillen Anbetung vor dem Allerheiligsten besonders wichtig. In unserem Aachener Mutterhaus schauen wir dabei den eucharistischen Herrn in einer Custodia, die aus 200 Professringen unserer verstorbenen Mitschwestern gearbeitet wurde. In jeden dieser Ringe sind die Worte aus dem Hohenlied eingraviert: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“ (Hld 2,16). Sie bilden ein Programm, das unser ganzes Leben mit Freude, Zuversicht und Dankbarkeit erfüllen kann und soll.

Clara Fey starb am 8. Mai 1894 in Simpelveld. Mit ihrem Tod vollendete sich das Leben dieser großen Frau. Ihre Sensibilität für die Nöte ihrer Zeit und ihre Antwort darauf – aus tiefer Gottes- und Nächstenliebe heraus – hatten sie ein Werk gründen lassen, das unzähligen Kindern und Jugendlichen zum Segen wurde. Bei ihrem Tod zählte die Kongregation bereits weit über 1000 Mitglieder. Beigesetzt wurde sie auf dem Simpelvelder Klosterfriedhof. 1934 erfolgte die Umbettung ihrer sterblichen Überreste in die Klosterkirche. Im Jahr 2012 wurden sie von dort in Claras Heimatstadt Aachen übertragen, wo sie in der Bischofsgruft des Domes ihre vorläufige Ruhestätte fanden. Am Tag nach der Seligsprechung, werden die Reliquien nach einem Pontifikalamt im Dom in feierlicher Prozession in die nahe Kind-Jesus-Kapelle übertragen.

Heute leben und arbeiten die „Schwestern vom armen Kinde Jesus“ in Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Indonesien, Kolumbien, Lettland, Luxemburg, in den Niederlanden, in Österreich, Peru und Spanien. Sie üben ihre apostolische Arbeit aus in Kindergärten, Grund- und Realschulen, in Gymnasien, in der Katechese, in Gemeinde- und Familienpastoral, bei Immigranten, Arbeits- und Obdachlosen, in Gesundheitszentren, Armenküchen sowie anderen Aktivitäten, in denen sie vorwiegend die Ärmsten der Gesellschaft betreuen. Sie dienen diesen Aufgaben mit ihrem Sein, ihrer Arbeit und ihrem Gebet. Durch ihre Seligsprechung wird Clara Fey für mehr Menschen als bisher bekannt und ihnen Vorbild und Fürsprecherin bei Gott sein.

Der verstorbene Aachener Bischof Klaus Hemmerle sagte in einem Impuls über das Johannesevangelium zu Leben und Botschaft Clara Feys: „Das innere Bleiben tut not, damit wir leben, atmen, wir selbst sein, uns frei über uns hinauswagen und verschenken können. ,Manete in me – Bleibt in mir!‘ Das Wort kann mit uns gehen. Es gibt ein Sich-Festhalten, Augenblick für Augenblick, am Wort und an der Liebe, das sich erweisen wird als innere Ruhe und Kraft zur Freiheit und Gelassenheit. Bleib in ihm, kehr zu ihm zurück! Mutter Clara Fey, Gründerin der Schwestern vom armen Kinde Jesus, war ganz und gar orientiert auf den Dienst an Jesus in den Kleinen und Geringen; aber sie hat darin eine nicht nur aktive, sondern zugleich kontemplative Berufung entdeckt. Nur dieser ‚innere Raum‘ ließ sie und die Ihren Wohn- und Bleiberaum eröffnen für die ortlosen, ausgesetzten Kinder. Bei Jesus bleiben, in ihm bleiben, in den tausend Funktionen und Abläufen, die uns jeder Tag zumutet, ist auch für uns der Ansatz, um einen Ort zu finden und anderen anzubieten, an dem Leben möglich ist.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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200 Jahre in unserer Mitte

Heiliger Bruder Konrad

Vor 200 Jahren, am 22. Dezember 1818, wurde der hl. Bruder Konrad von Parzham geboren. Es handelt sich um das niederbayerische Parzham bei Bad Griesbach im Rottal nahe Passau. Aus diesem Anlass wird im Bistum Passau, besonders aber in Altötting ein Jubiläumsjahr mit zahlreichen Veranstaltungen und Ausstellungen begangen. Denn durch sein Wirken an der Pforte seines Klosters in Altötting hat der hl. Konrad dem altehrwürdigen Marienwallfahrtsort eine zusätzliche, unverwechselbare Prägung verliehen. Zu seinem Fest am 21. April (gest. am 21.4.1894) findet der Höhepunkt der Jubiläumsfeiern mit Bischof Dr. Stefan Oster statt. Br. Georg Greimel OFM Cap (geb. 1958) ist Seelsorger für die Marianische Männerkongregation im Bezirk Altötting.

Br. Georg Greimel OFM Cap

Das Leben des hl. Bruder Konrad (1818-1894)

Wir feiern den 200. Geburtstag des hl. Bruder Konrad von Parzham. Das gibt uns Anlass, darüber nachzudenken, was dieser Heilige für die Kirche und für die Welt bedeutet. Beim Vorbereiten der Ausstellungen zum Jubiläumsjahr wurde mir neu bewusst, wie wichtig ein Blick in die Geschichte ist. Denn wir leben aus der Geschichte und ihrem Geist, der durch bedeutende Menschen geprägt und beseelt worden ist.

Politisch gesehen waren die Jahrzehnte vor und nach der Geburt von Johannes Birndorfer, so hieß er vor dem Klostereintritt, eine Zeit gewaltiger Umbrüche. In Bayern kam mit der durch Minister Montgelas ab 1802 durchgeführten Säkularisation das reiche Ordensleben fast vollkommen zum Erliegen. Die Säkularisation, die zum Staatsziel erklärt worden war, hatte einschneidende Folgen für das katholische Leben im Land. Um die Souveränität des Staates auszuweiten, musste die Kirche zurückgedrängt und deren Besitz verstaatlicht werden. Der Zugriff auf das Vermögen der Kirche und besonders der Klöster war in den Augen der Politik notwendig, um eine moderne Staatsentwicklung zu fördern. Zudem brauchte man dieses Geld während der Napoleonischen Kriege, um Kriegsschulden auszugleichen. Am Ende wurde auf dem Wiener Kongress 1814-1815 eine politische Neuordnung Europas beschlossen. Johannes Birndorfer wird am 22. Dezember 1818 als Sohn eines angesehenen Rottaler Bauern in die Zeit nach der Säkularisation und den Napoleonischen Kriegen hineingeboren. Er war das elfte von zwölf Kindern – vier Geschwister waren bereits im Kindesalter verstorben.

Die Säkularisation, diese Zeit der Enteignung der Kirche und der Zurückdrängung des Glaubens, war mit einem Aufklärungsschub und einer Tendenz zur Modernisierung verbunden. Doch blieben die Bauern noch Bauern. Gerade der Bauernstand hatte sich in der Zeit der Säkularisierung als Trutzburg erwiesen und den Glauben bewahrt. Auch von den napoleonischen Wirren ließ sich das gläubige Volk nicht wegspülen. Doch obwohl Johannes Birndorfer in dieser bayerisch-bäuerlichen Tradition verwurzelt war, ist er nicht einfach aus seiner Zeit und aus seinem Jahrhundert heraus zu erklären. Es gibt noch etwas anderes, von dem er erfasst war. Sehr früh in seiner Kindheit muss er die Erfahrung gemacht haben, dass Gott ihm sehr nahe ist.

Er arbeitet fleißig, arbeitet sich hoch bis zum ersten Knecht und Hoferben. Andererseits kommt er vielen vor wie jemand von einer anderen Welt. Er macht den Eindruck, als nähme er an den Strömungen seiner Zeit nicht teil. Auf dem Schulweg betet er den Rosenkranz, er sucht die Stille, wallfahrtet regelmäßig zu den umliegenden Kirchen und Kapellen – bis nach Passau und Altötting. Gleichzeitig ist er informiert, liest zeitgemäße geistliche Literatur und wird Mitglied in mindestens neun Bruderschaften.

Einschneidend für Johannes Birndorfer war die große Volksmission in Ering am Inn 1838, durchgeführt von sieben Weltpriestern und einem Franziskaner aus Eggenfelden. Nach diesen geistlichen Tagen ging er noch mehr in sich. Dort fand Johannes wohl auch seinen zukünftigen geistlichen Begleiter, den Benefiziaten Franz X. Dullinger aus Aigen am Inn. Neun Jahre lang pilgerte Johannes zu ihm hinunter und ließ sich von ihm geistlich führen und begleiten. Er ging seinen Weg und ging den Dingen auf den Grund, pilgernd, betend und viel Zeit im Schweigen verbringend. So wird er ein unverwechselbares Individuum, als Mensch, als angehender Hoferbe und schließlich als Kapuziner. 1849 fiel der Entschluss, bei den Kapuzinern in Altötting einzutreten.

Die Stationen seines Ordenslebens sind schnell aufgezählt. In Altötting wurde Bruder Konrad in das Ordensleben eingeführt. Doch während dieser Zeit wurde er von Ende Mai bis Mitte September 1851 nach Burghausen geschickt, um dort einen kranken Pater zu pflegen. Es folgte das Noviziatsjahr in Laufen, das am 4. Oktober 1852 mit der Ordensprofess endete. War Bruder Konrad als Kandidat bereits dem Pförtner als Gehilfe zugeteilt gewesen, wurde ihm jetzt das Amt des ersten Pförtners in Altötting St. Anna übertragen. Vom 34. bis zum 75. Lebensjahr versah er diesen anspruchsvollen Dienst an der belebtesten Pforte der bayerischen Kapuzinerprovinz. Erst drei Tage vor seinem Tod beendete er seinen Pfortendienst. Am 21. April 1894 gab er sein Leben seinem Schöpfer zurück, mit dem er ein Leben lang ein sehr vertrautes, inniges Verhältnis gepflegt hatte. Er starb im Ruf der Heiligkeit und wurde in der Klostergruft bestattet.

Ausstellungen

Zum 200. Geburtsjahr des hl. Bruder Konrad gibt es in Altötting drei Ausstellungen:

„Bruder Konrad – Geburt und Taufe“ befindet sich im Kreuzgang des St.-Konrad-Klosters. Informationen rund um Ort und Zeit der Geburt verbinden sich mit katechetischen Hinweisen zum Sakrament der Taufe. Dabei ist auch der fast gleichzeitigen „Geburt“ des berühmt gewordenen „Liedes der Lieder“ Stille Nacht eine Tafel gewidmet.

„Bruder Konrad – Sein Leben“ ist in der Vorhalle zum Romanischen Portal in der Stiftspfarrkirche zu besichtigen. Ein Leben in einem äußerst interessanten Jahrhundert, politisch und religiös, wird in Streiflichtern dargestellt. Stationen – verbunden mit geistlichen Impulsen – zeigen ein konsequent gelebtes Leben in einer Zeit, die Europa verändert hat. Die Ausstellung mag anregen, sich sowohl mit den äußeren Umständen als auch mit dem Leben des Heiligen zu beschäftigen.

„Bruder Konrad – Kunst und Schriften“ in der Bischöflichen Administration „Haus Papst Benedikt XVI.“ gibt einen kleinen Einblick in die schriftlichen Zeugnisse über Bruder Konrad und von ihm selber. Zahllose Künstler haben den Kapuzinerheiligen als Motiv gewählt. Literatur aus dem 19. Jahrhundert, Biografien in verschiedenen Sprachen, Andachten u.a.m. zeugen von der geistlichen Bedeutung des heiligen Pförtners.

Renovierung der St.-Konrad-Kirche

Anlässlich des Jubiläumsjahres wird die St.-Konrad-Kirche umfassend renoviert und neu gestaltet. Nach der räumlichen Umgestaltung und veränderten Anordnung der „liturgischen Orte“ wie Zelebrationsaltar, Tabernakel und Ambo sowie des Bruder-Konrad-Schreins werden die Besucher die Kirche des hl. Bruder Konrad anders betreten. Die Neugestaltung soll der würdigen Feier der Liturgie dienen und die Verehrung des Heiligen fördern. Der Verehrung wird auch das neu eingerichtete Lucernar dienen. Es wird im Altarraum an der Stirnseite zu finden sein – neben dem neuen Relief der „Zwölf Tore des himmlischen Jerusalem mit dem Lamm“. Dort können die Konrad-Verehrer in Zukunft ihre Gebete und Anliegen, ihre Bitten und ihren Dank mit einer Andachtskerze verbinden.

Eine weitere Neuigkeit wird der Besucher beim Betreten der Kirche vorfinden. Im Mittelgang finden sich in Bodenplatten eingelassen kurze Texte. SUCHEN UND SCHWEIGEN setzt sich fort in acht weiteren „Anrufungsplatten“, die parallel zu den Bruder- Konrad-Fenstern mit ihren kurzen Zitaten stehen. Sie führen bis hinter den Konrad-Schrein und enden vor dem himmlischen Jerusalem. Dort wird das Ziel erreicht mit einem Wort, das die Bestimmung aller Christen ausdrückt: „MIT GOTT VEREINT“.

Im Leben von Bruder Konrad verbindet sich die Suche nach dem Wichtigen mit einem recht schweigsamen Charakter. So mag der Heilige anregen, beim Betreten der Kirche still zu werden. Da tut sich Bruder Konrad aber nicht unbedingt leicht – angesichts unserer geschwätzigen Generation, in einer Zeit des unendlichen Diskutierens, in der so Vieles zerredet wird.

Aber auch wir mögen eintreten und SUCHEN UND SCHWEIGEN. Wenn ein Altöttinger, ein „Kirchenbesucher“ oder ein einsamer Wallfahrer die Kirche betritt, wird er also zuerst mit diesem Hinweis am Boden konfrontiert. Jeder kommt anders an. Der eine weiß genau, was er hier erwartet, in welchen Anliegen er Hilfe braucht oder wofür er Gott und dem hl. Bruder Konrad danken möchte. Ein anderer ist tatsächlich auf der Suche, ist orientierungsschwach in geistlichen Dingen oder gar ratlos in schwierigen Lebenssituationen. Wenn aber Wallfahrer in großen Scharen betend und singend in die Bruder-Konrad-Kirche einziehen, haben sie schon gefunden, was sie suchten, die Nähe Gottes und ihres verehrten Heiligen. Sie sind am Ziel ihrer Wallfahrt angekommen. Die Freude darüber wird sich in der heiligen Feier ausdrücken.

Das Jubiläumsjahr

Das Leitwort des Wallfahrtsjahres in Altötting lautet: „Jesu Kreuz – unser Buch“ – in Anlehnung an das Wort des hl. Bruder Konrad: „Und das Mittel, das ich gebrauche, mich in der Demut und Sanftmut zu üben, ist kein anderes als das Kreuz. Dies ist mein Buch. Nur ein Blick auf das Kreuz lehrt mich in jeder Gelegenheit, wie ich mich zu verhalten habe. Da lerne ich Geduld und Demut, Sanftmut und jedes Kreuz mit Geduld zu ertragen. Ja, es wird mir süß und leicht. Ich kann Ihnen nicht mehr schreiben. Da komme ich an kein Ende“ (Brief vom 28. April 1872).

Das Jahr ist geprägt von Ausstellungen, gottesdienstlichen Feiern und Wallfahrten. Auch ein neues Bruder-Konrad-Buch ist erschienen: Niklaus Kuster: Konrad von Parzham. Menschenfreund und Gottesmann, topos taschenbücher, Band 1115, Verlag Butzon & Bercker 2018.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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„Einer muss ja die Wahrheit sagen!“

Pater Richard Henkes

P. Richard Henkes SAC ist ein großes Vorbild, nicht nur aufgrund seines leidenschaftlichen Engagements für die sterbenskranken Mithäftlinge im KZ, sondern auch wegen seines Mutes, die Stimme gegen das Unrechtsregime der Nazis zu erheben. Anlässlich seines Todestags haben die pallottinischen Gemeinschaften in Vallendar und Limburg mit Gedenkfeiern an sein Leben und Wirken erinnert.

Von Angela Marlier

Am 22. Februar 1945 starb der Westerwälder Pallottinerpater Richard Henkes im KZ Dachau an Flecktyphus. Infiziert hatte er sich bei seiner wochenlangen aufopfernden Pflege todgeweihter Mithäftlinge. Als er sich zum Dienst in der „Typhus-Baracke“ meldete, war ihm das damit verbundene Risiko für sein eigenes Leben bewusst. Für ihn gab es jedoch keine Alternative: im Namen der Nächstenliebe war es für ihn Bedürfnis und Verpflichtung, seine erkrankten Mithäftlinge bis zu ihrem letzten Atemzug zu begleiten. Die Liebe zum Nächsten war ihm wichtiger als der Schutz des eigenen Lebens.

Der 1900 in Ruppach geborene Richard Henkes strebte schon als Schüler im Studienheim Schönstatt (1912-1919) nach Wahrheit und Freiheit. Im Jahr 1925 wurde er zum Priester geweiht und war ab 1926 als begeisterter und begeisternder Lehrer tätig. Ab 1931 wirkte er in Katscher, Frankenstein und Branitz im östlichen Teil des damaligen Deutschen Reiches.

Nach einer Predigt am 7. März 1937 in Ruppach gegen die Nazis wurde er bei der Gestapo angezeigt. Man leitete eine Untersuchung gegen ihn ein, die mit einer Verwarnung endete. Ebenfalls 1937 wurde er wegen einer Äußerung gegen Adolf Hitler in Katscher angezeigt. Der drohenden Verurteilung vor einem Sondergericht in Breslau entging er durch die Amnestie beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich.

Am 8. April 1943 wurde er wegen einer Predigt in Branitz verhaftet, in Ratibor gefangen gehalten und am 10. Juli 1943 ins KZ Dachau eingeliefert. Dort ließ er sich Ende November/Anfang Dezember 1944 freiwillig in der Zugangsbaracke 17 zur Pflege und Seelsorge Typhuskranker einschließen, steckte sich dabei an und starb.

Seit 2003 läuft der Seligsprechungsprozess. Am 23. Januar 2007 konnte der damalige Limburger Bischof Franz Kamphaus mit einem Pontifikalamt in der St. Marienkirche der Pallottiner in Limburg den Abschluss des Bischöflichen Erhebungsverfahrens feiern. Inzwischen wurde die sogenannte „Positio“, das Grundsatzdokument für eine Seligsprechung, erarbeitet, bei der Kongregation für die Heiligsprechungen eingereicht und von den prüfenden Historikern und Theologen angenommen.

Auf der Homepage www.pater-richard-henkes.de finden sich ausführliche Informationen über Pater Richard Henkes SAC und dessen Weg zur Seligsprechung.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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P. Franz Reinisch hat den sicheren Tod in Kauf genommen

GEFÄHRLICH – Musical über einen Aufrechten

Wilfried Röhrig (geb. 1955) ist von Beruf Religionslehrer. Daneben schreibt er Gedichte und Meditationen, textet und komponiert Lieder und Singspiele. Mit seiner Familie ist er in der Schönstatt-Familienbewegung und hat nun ein modernes Musical über den Pallottinerpater Franz Reinisch geschaffen. Das Stück trägt den Titel: „GEFÄHRLICH Franz Reinisch – Musical über einen Aufrechten“.  Denn Pater Reinisch hatte aus Gewissensgründen den Fahneneid auf Hitler verweigert und war deshalb wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und am 21. August 1942 in Brandenburg-Görden enthauptet worden.

Von Angela Marlier

Anlässlich einer Pressekonferenz am Freitag, den 2. Februar 2018, in der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar informierte der Autor des Reinisch-Musicals „GEFÄHRLICH Franz Reinisch – Musical über einen Aufrechten“ über die Entstehungsgeschichte des Stückes, das am 20. Oktober 2018 um 19 Uhr in der Pilgerkirche in Vallendar-Schönstatt aufgeführt wird.

„Ich habe gemerkt: Da geht es nicht nur um eine interessante Lebensgeschichte von damals. Da geht es um mich, um uns. Die Lebensgeschichte von Franz Reinisch ist eine Folie, auf der ich mein Leben lesen kann. Die ‚Welt‘ von Franz Reinisch und meine ‚Welt‘ begegnen sich. Dabei werden gemeinsame Fragen deutlich: Was ist meine Berufung und wie komme ich ihr auf die Spur? Wie gehe ich um mit Propaganda und Populismus? Wie gehe ich um mit sozialem Anpassungsdruck?“

Röhrig rollt Reinischs Lebensweg musikalisch von hinten auf. Basierend auf der wahren Geschichte des abenteuerlichen Weges der Urne mit der Asche des 1942 Hingerichteten von Brandenburg-Görden über Berlin nach Schönstatt fast vier Jahre später schafft der Autor den Rahmen für das Portrait eines Mutigen, der seinem Gewissen folgte und den sicheren Tod in Kauf nahm.

Zweiundzwanzig Lieder hat Röhrig für seine Darsteller und einen Chor geschrieben. Einen Ausschnitt aus diesem breitgefächerten Repertoire präsentierte einer der Solisten des Musicals, Amin Jan Sayed, im „Franz Reinisch Saal“ der Hochschule.

Die Schönstatt-Bewegung Deutschland wird in Zusammenarbeit mit dem „Franz Reinisch Forum“ der Pallottiner das Musical in der Pilgerkirche in Vallendar zur Aufführung bringen. Der Postulator des im Bistum Trier laufenden Seligsprechungsprozesses für Reinisch, Prof. P. Dr. Heribert Niederschlag SAC, begleitet von Beginn an das Musicalprojekt. Die Schönstatt-Bewegung unter der Leitung von P. Ludwig Güthlein ISch, der sich der Pallottiner Franz Reinisch besonders verbunden fühlte, hat sich im vergangenen Jahr dazu bereit erklärt, das Musical in Vallendar zu veranstalten.

Tickets sind ab Juni in der Pilgerzentrale Schönstatt, Am Marienberg 1, 56179 Vallendar, Tel. 0261/962640, erhältlich. Der Einlass zur Aufführung „GEFÄHRLICH Franz Reinisch – Musical über einen Aufrechten“ am 20. Oktober 2018 ist um 18 Uhr.

 

Hintergrund

In Vallendar-Schönstatt fand der Tiroler Pallottinerpater Franz Reinisch seine spirituelle Heimat. Sein Gewissen verbat es ihm, den Fahneneid auf Hitler zu leisten – eine einsame Entscheidung, die er in der Kapelle von Schönstatt fällte und die ihn am 21. August 1942 auf das Schafott brachte. Am 28. Mai 2013 wurde in Trier der Seligsprechungsprozess für Pater Franz Reinisch offiziell eröffnet.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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Zur Kritik an Papst Franziskus

Er hat ein Feuer in seinem Herzen

In seiner Predigt am 18. Januar 2018 nahm Pfr. Dr. Richard Kocher, Programmdirektor von Radio Horeb, zur Art und Weise Stellung, wie Papst Franzskus den Petrusdienst ausübt. Der Gottesdienst, der aus der Kirche St. Anton in Balderschwang über Radio und Fernsehen übertragen wurde, fand eine starke Resonanz. Zunächst ging Kocher auf die zunehmende Kritik an Papst Franziskus ein, erörterte dann den für uns ungewohnten Stil des Papstes anhand seiner Herangehensweise an die Vaterunser-Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“ und legte schließlich ein leidenschaftliches Plädoyer für ihn ab. Das Bekenntnis Kochers zum derzeitigen Pontifikat ist keine blinde Papsttreue, sondern ein wertvoller Dienst an der Einheit der Kirche. Dabei tritt er für ein ehrliches Bemühen ein, wirklich zu verstehen, was den Papst bewegt und wie er die Kirche im Geist des Evangeliums erneuern will. Im Vordergrund steht die Barmherzigkeit Gottes, aber auch unsere Mitwirkung an der Vermittlung der unverdienten Erlösungsgnade.

Von Richard Kocher

Die Herausgeber von „Kirche heute“, eine Zeitschrift, die viele Pfarrhaushalte erreicht, wurden aufgefordert, sich klarer zu positionieren im Hinblick auf Papst Franziskus.[1] Aufforderungen dieser Art erhalten nicht wenige christliche Radio- und Fernsehmacher – auch wir. Fast jede Woche kommen irgendwelche Stellungnahmen zu Papst Franziskus bei mir an, meistens auch verbunden mit einer Liste, was der Papst angeblich alles falsch macht. Ich wurde auch gebeten, Farbe zu bekennen, mich zu positionieren. Da ich noch nie Schwierigkeiten hatte, in den Ring zu steigen, mache ich das auch. Nicht in dem Sinn, dass der Papst es nötig hätte, von mir „verteidigt“ zu werden. Wer bin ich, dass ich das tun könnte und sollte?

Das hohe Gut der Einheit steht auf dem Spiel

Es geht um ein hohes Gut: um die innere Einheit der Kirche. Kein geringerer als Kardinal Müller hat gesagt: „Wenn aber die römische Kurie als ungerecht wahrgenommen wird, kann eine schismatische Dynamik in Gang kommen, die schwer einzufangen ist."[2] Angeblich, so hört man es, verfolgt auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. die Entwicklung, die derzeit in der katholischen Kirche in dieser Hinsicht erfolgt, mit großer Sorge.

Ja, die Situation ist ganz schön heftig. In der Tagespost erschien ein Artikel mit dem Titel „Rücktritt nach Kritik an Papst Franziskus“:[3] Der amerikanische Kapuziner Thomas Weinandy war der Berater der US-Amerikanischen Bischofskonferenz und Mitglied der Internationalen Theologenkommission des Vatikans; er ist zurückgetreten und hält Papst Franziskus vor, „chronische Verwirrung“ zu stiften. Wer Mitglied in dieser Internationalen Theologenkommission des Vatikans ist, ist ein „Schwergewicht“; nur die Besten der Besten sind dort vertreten. Papst Franziskus würde sich auszeichnen durch einen „Mangel an Klarheit“.

Ein Zeitungstitel „Streit um Franziskus: Wie katholisch ist der Papst?"[4] wäre noch vor einigen Jahren völlig undenkbar gewesen. Bernd Hagenkord SJ, der Verantwortliche von Radio Vatikan der deutschen Sektion, war vor Weihnachten beim Verband katholischer Publizisten und Publizistinnen in Österreich zum 60. Gründungsjubiläum und ist auf die Frage eingegangen, ob Papst Franziskus Irrlehren verbreiten würde.[5] Das muss jetzt auch schon jemand vom Vatikan beantworten. Sie merken, das ist jetzt nicht einfach so eine Randfrage. Hagenkord richtet aber auch folgende Botschaft an die Vertreter eines liberalen zentraleuropäischen bürgerlichen Katholizismus mit folgenden Worten: „Franziskus tickt auch anders. Da muss man genau hinsehen."[6] Dass der Papst einfach nur „liberal“ sei, das könne man so nicht behaupten.

Dann hat das Domradio einen Kirchenhistoriker, Professor Dr. Wolf, auf Sendung gebracht. Es „hätte sich [in der Vergangenheit] nie jemand herausgenommen zu sagen: Wir werfen dem Papst Häresie vor. Was dahintersteckt, ist schon klar: Nach der alten Tradition im Kirchenrecht verliert ein häretischer Papst sein Amt von selbst. Das ist der letzte Hintergrund, auf den diese Argumentation der Konservativen zielt. Wenn ein Papst häretisch ist, kann er nicht Papst sein. Das ist schon eine neue Qualität in der Auseinandersetzung."[7]

Zum Schluss: Auch in unserer Zeitung, der Augsburger Allgemeinen mit fast einer Million Auflage, der Titel: „Feindbild – Papst Franziskus“.[8] – Es geht nicht nur um Streitigkeiten „in der Kirchenführung, sondern längst auch unter den Gläubigen“.[9] Es sind zwei Lager, die unversöhnlich um den richtigen Kurs der katholischen Kirche streiten. Ein weiterer Titel eines Zeitungsartikels lautet: „Franziskus hinterlässt ein Trümmerfeld."[10] Ich möchte es jetzt damit bewenden lassen. Aber es soll schon deutlich zeigen, dass das kein Spaß mehr ist und die Sorge um die Einheit der Kirche berechtigt ist.

Auseinandersetzung um die Änderung einer Vaterunser-Bitte

Zunächst ein Hinweis auf die Herangehensweise des Papstes. Die französischen Bischöfe haben beim Vaterunser die vorletzte Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“ anders formuliert. Viele haben ja auch ihre Schwierigkeit damit: Ist Gott der Versucher, der die Leute reinrasseln lässt, sie auf die Probe stellt? Die Franzosen haben übersetzt: „Führe uns in der Versuchung“.

Der Papst hat dann bei dem Sender „TV 2000“, ohne dass er gefragt worden wäre, dazu Stellung genommen. Er führt aus: Ja, es ist gut, dies so zu übersetzen. Weil ich des Italienischen mächtig bin und heute alles im Netz dokumentiert ist, habe ich mir das Video angeschaut und merkte sofort die Intention des Papstes. Denn sinngemäß hat er gesagt, man solle sich Gott nicht vorstellen, als ob es ihm Freude mache, seine Kinder in Versuchung zu führen. Das erledige der Satan. Gott sei der, der uns führt und leitet in schweren Zeiten, aber man solle ihn nicht als Versucher darstellen. Mit anderen Worten: Es ging ihm darum, ein dämonisches Gottesbild abzuwehren. Das ist so weit gut und richtig.

Daraufhin haben die Bibelgelehrten des deutschsprachigen Raumes, die keineswegs Revoluzzer sind, den Papst kritisiert. Auf der ersten Seite konnte man in der Augsburger Allgemeinen die Überschrift lesen: „Papst irrt“, in der FAZ: „Heilige Einfalt“. Daraufhin hat dann Kurienkardinal Walter Kasper einen ausführlichen Leserbrief an die FAZ geschrieben. Worum geht es? Was werfen die Theologen dem Papst vor? Thomas Söding, der in Bochum lehrt, war einer von ihnen, der andere auch ein renommierter Exeget in München. Beide haben sich geäußert, weil der Sachverhalt leider nicht einfach ist, sondern komplex. In Genesis 22,1 heißt es ausdrücklich: „Gott stellte Abraham auf die Probe.“ Jetzt haben wir ein Problem! In der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, der Septuaginta, ist es genau das gleiche Wort wie beim Vaterunser; es ist also Gott selbst, der in Versuchung führt. Oder nehmen wir jetzt die Verkündigung des Engels an Maria. Der Engel kommt menschlich gesehen zur verkehrten Zeit zu Maria, in der Verlobungszeit. Alle geistlichen Autoren, die über den hl. Josef schreiben, sind sich einig, dass dieses Ereignis für ihn die größtmögliche Krise ausgelöst hat. Er sieht keine Chance mehr, sich aus der Affäre zu ziehen, als einfach „abzuhauen“. Gott hat Umstände herbeigeführt, die man gar nicht anders als Versuchung bezeichnen kann. Es kommt auch darauf an, was man unter Versuchung versteht; diese muss nicht unbedingt negativ sein. Wir leben nun einmal in einer gefallenen Schöpfung; in einer solchen sind die Mächte der Finsternis stark. Da muss ich mich bewähren und Prüfungen bestehen können. Deshalb lässt Gott Prüfungen zu, aber nicht wie einer, der die Statik der Brücke prüft, indem er nochmal ein Gewicht draufstellt und sagt: „Vielleicht packt er das auch noch“ und sich irgendwie freut, wenn er Menschen prüfen kann. Das wäre eine verkehrte Sicht der Dinge; aber es geht schon auch darum, dass wir Prüfungen bestehen. Der Apostel Paulus hatte ja ständig diese Argumentationsketten: „Bewährung bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen“ (Röm 5,3 ff.).

Was für ein Segen ist Abraham und der ganzen Menschheit daraus erstanden, dass er diese Prüfung bestanden hat. Auch Jesus Christus wurde vom Satan versucht und der Vater hat es zugelassen. Und deshalb haben die Theologen diese Kritik eingeworfen und gesagt: So einfach ist es nicht; diese Wirklichkeit der Versuchung muss man auch bedenken. Der Papst ist weder einfältig noch irrt er sich. Er hat etwas Richtiges eingebracht, aber man muss es in einem umfassenden Kontext sehen. Das scheint mir ein Problem von ihm zu sein. Eine Änderung des Vaterunsers muss gut durchdacht sein, denn das ist immerhin das Gebet des Herrn. Es ist nicht irgendein Gebet aus der frühen Christenheit; es geht ja um sehr viel, das Vaterunser richtig zu verstehen.

Zum Vergleich die Vorgehensweise von Papst Benedikt XVI.

Benedikt hat auch an einer neuralgischen Stelle etwas geändert, etwas, das wir täglich in der hl. Messe hören: die Wandlungsworte. Er hat die in einigen Sprachen verwendete freie Übersetzung „für alle“ wieder durch die ursprünglichen biblischen Worte „für viele“ ersetzen lassen. Neue exegetische Erkenntnisse hätten ergeben, dass wir das richtig übersetzten müssen: „für die Vielen“. Ich weiß noch, wie es in den 70er Jahren Tumult verursacht hat, als man von „für viele“ auf „für alle“ gewechselt ist. Jetzt wieder das Ganze retour.

Wie ist Benedikt dabei vorgegangen? Er hat an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, damals Erzbischof Zollitsch, einen fünfseitigen Brief geschrieben, der an Brillanz und Gedankenschärfe kaum zu überbieten ist, und darin dargelegt, alle Aspekte würdigend, warum diese Änderung sinnvoll ist. Zu den deutschen Bischöfen sagte er: Jetzt braucht es eine Katechese; ihr müsst dies den Leuten vermitteln. Also den Menschen dies nicht einfach vorlegen, sondern vermitteln. So würde ich mir das von Papst Franziskus auch wünschen. Er hat eine andere Herangehensweise, die nicht falsch ist, aber oft wäre es wünschenswert, wenn bei wirklich wichtigen Angelegenheiten alles gründlich durchdacht ist und erst dann vorgelegt wird, damit nicht solche Reaktionen kommen. Es ist ja auch nicht gerade schön, wenn auf der ersten Seite der Zeitungen steht: „Papst irrt“ oder „Heilige Einfalt“. Das verunsichert unsere Leute. Darum ist es wichtig, wenn gerade bei solchen neuralgischen Dingen wie bei der Änderung des Vaterunsers dies in einem größeren Kontext erfolgen würde. Ähnliches könnte man zu „Amoris laetitia“ sagen, ohne dass ich das hier näher ausführen kann.

Papst Franziskus ist sicher auch kein Diplomat. Kurz vor Weihnachten die Dusche aufzudrehen und die Kardinäle mit eiskaltem Wasser zu übergießen, wo sich alle schon auf Weihnachten freuen: ja, da kann man sich streiten, ob das so gut ist. Aus seiner Biographie, das sagt er selber, weiß man, dass er ziemlich autoritär sein kann. Er greift richtig durch, wenn er etwas für richtig und wichtig erachtet. Das ist ein anderer Führungsstil als wir ihn von den bisherigen Päpsten gewohnt sind.

Papst Franziskus hat ein Feuer in seinem Herzen

Dennoch ist meine Position zu Papst Franziskus, dass ich Gott dankbar bin für diesen Mann. Das sage ich nicht einfach nur, weil das Petrusamt neutestamentlich fundiert ist; ich sage es aus tiefster Überzeugung. Dieser Mann ist trotz all dem, was zu kritisieren ist, ein Geschenk Gottes an unsere Kirche. Warum? Weil er ein Feuer in seinem Herzen hat, das mich berührt. Das, was er fertiggebracht hat, habe ich in meinem Leben nur bei dem Buch „Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn erlebt. Ich lese Seiten aus diesem Werk, die sich meinem Gedächtnis einprägen, ohne dass ich sie auswendig lerne.

Ähnlich ist es mir mit „Evangelii gaudium“ ergangen. Dieses Apostolische Schreiben von Papst Franziskus ist mit geistlichem Feuer geschrieben worden. Ganze Sätze haben sich mir eingeprägt, die ich auswendig zitieren kann: „Ich bin eine Mission auf dieser Erde, und ihretwegen bin ich auf dieser Welt. Man muss erkennen, dass man für die Mission gebrandmarkt ist. Geschäft wie bisher geht nicht mehr: ‚Business as usual‘ muss aufhören in der katholischen Kirche. Wir brauchen neuen Missionseifer. Alles muss auf den Prüfstand. Ohne längere Zeiten der Anbetung … erlischt der Eifer.“ Da ist Feuer in diesem Schreiben und ich bin froh, dass das von der obersten Stelle der Kirche kommt. Wie ist das denn bei uns aufgenommen worden? Wenn wir ehrlich sind, so gut wie gar nicht! Ich bin so dankbar, dass der Papst sagt, wir müssen jetzt endlich mal in die Gänge kommen. Jedes Jahr treten Hunderttausende aus unserer Kirche aus und es scheint so, als ob uns das gar nicht groß berührt.

Seine Enzyklika „Laudato si‘“ ist eine Magna Charta für den Umweltschutz, für den richtigen Umgang mit der Schöpfung; für mich ist diese genauso wichtig wie „Rerum Novarum“ von Papst Leo XIII. am Ende des 19. Jahrhunderts, eine Enzyklika, die damals bahnbrechend war.

Ich habe kürzlich einen Aufsatz gelesen, in dem es um Zukunftsfilme geht: die „Matrix-Trilogie“, die „Tribute von Panem“, „Elysium“, das Remake von „Blade Runner“, die Trilogie „Maze Runner“ usw. Diesen Filmen ist gemeinsam, dass die Erde verwüstet und fast unbewohnbar ist. Dann schreibt der Redakteur: Nur einer hat die richtige Vision, dass wir alles tun müssen, das Lebenshaus dieser Erde zu schützen, ganz anderes damit umgehen müssen, ja sogar in der Wirtschaft eine Rezession in Kauf nehmen müssen, um das Steuer noch herumzuwenden, und das ist Papst Franziskus in „Laudato si‘“.

Warum wird immer nur auf das Schreiben „Amoris laetitia“ geschaut und nicht auch das andere gewürdigt? Das ist eine großartige Vision, ein zukunftsweisendes Werk. Wir werden von furchtbaren Umweltkatastrophen heimgesucht, wenn nicht bald eine Wende geschieht. Jetzt müssen wir das Steuer herumreißen, sonst wird die Schöpfung zerstört werden!

Die „Option für die Armen“ stellt die Peripherie in das Zentrum. Die Globalisierung der Gleichgültigkeit: Milliarden Menschen leben in größter Not. Wen berührt das noch? Entwicklungsminister Dr. Müller sagt in seinem Buch „Unfair“, dass die globalen Regulierungssysteme nicht aufeinander abgestimmt sind, und das wohl „willentlich und absichtlich“! Man könnte es also anders machen, wenn man wollte. Das darf uns doch nicht in Ruhe lassen, wenn die Kirche ein mystischer Leib ist und wenn es so vielen Milliarden Menschen auf dieser Erde schlecht geht, obwohl man es anders machen könnte und der Hunger nicht sein müsste. Der Papst erhebt seine Stimme, Gott sei Dank, endlich.

Überzeugendes Vorbild für eine dienende Kirche

Nach dem Vorbild des hl. Franziskus führt er ein schlichtes Leben. Er ist für eine dienende Kirche. Kirchliche Ämter sind nicht Belohnung für persönliche Qualitäten, sondern Dienstämter, um dem Volk Gottes zu dienen, nicht um sich wichtig zu machen. Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts! Seine persönliche Schlichtheit und Bedürfnislosigkeit: Wie es heißt, putzt er die Räume seiner Wohnung selber; durchaus ein Vorbild auch für mich! Ein Beispiel für seine Empathie: Ein Schweizergardist steht immer vor seiner Wohnung, damit sich nicht ein Verrückter Zugang verschafft und den Papst bedrohen könnte. Papst Franziskus fragt diesen: „Warum stehen Sie denn hier?“ – „Das ist meine Anweisung, mein Oberster hat mir das so gesagt.“ – „Ich bin doch der Oberste.“ – „Ja, das stimmt, natürlich sind Sie der Chef, der Papst.“ Der Papst holt ihm einen Stuhl. „Setzen Sie sich hin.“ – „Nein, geht nicht, dann bekomme ich Schwierigkeiten.“ – „Setzen Sie sich.“ Seitdem sitzt der Schweizergardist vor seinem Zimmer. Er kann ihn ja auch so bewachen. Der Papst hat ihm auch noch einen Kaffee gebracht. Das ist Franziskus! Und wir sehen ständig, wie er mit Kindern umgeht, mit Schwachen, mit Kranken; welche Liebe er für sie hat.

Auch seine Fähigkeit, die modernen Kommunikationsmittel zu nutzen, ist zu benennen. Xavier Soteras, der Programmdirektor von Radio Maria Argentinien, war oft mit ihm zusammen, als er noch Erzbischof von Buenos Aires war, und sagte: „Der Mann ist ein Gigant! Wir saßen auf den Schultern eines Riesen und haben von dort in das Land hinausgeschaut.“

Radio Maria in Argentinien hat 237 UKW-Sender; nur durch die Vermittlung von Bischof Bergoglio konnte es so wachsen. Er hat uns auch vor drei Jahren persönlich in einer Privataudienz empfangen, als die Weltkonferenz der Weltfamilie von Radio Maria stattfand, und hat uns für unseren Dienst gedankt.

Unerschrockener Zeuge

Wer von uns hätte den Mut, sich in einer Hochburg der Mafia in Sizilien hinzustellen, die Mafiosi direkt anzusprechen und zu sagen: „Ihr seid auf dem verkehrten Weg. Noch ist Zeit umzukehren; wenn ihr das nicht tut, kommt ihr in die Hölle!“ Kein Papst der letzten Jahrzehnte hat es gewagt, die Hölle derart wieder in die Verkündigung hineinzunehmen wie er. Papst Franziskus muss ja damit rechnen, dass ihn ein Scharfschütze erschießt. Aber er hat keine Angst. Er steht hin!

Man kann gewiss manche Dinge an Papst Franziskus kritisieren. Da gibt es Angriffsflächen wie jetzt beim Vaterunser; das ist richtig. Er liefert auch manche Kanten, wo man sich einhaken kann. Aber insgesamt ist sein Pontifikat ein großes Geschenk für die Kirche!

Ich möchte am Schluss zur Besinnung aufrufen. Am 10. Juli 1992 war der mündliche Teil meiner Doktorprüfung, das sog. Rigorosum. Einer der Fragenden war Walter Kardinal Brandmüller, Professor für Kirchengeschichte. Thema war das große abendländische Schisma. Fast vierzig Jahre hat es gedauert. Zwei Päpste haben in Europa um den Vorrang gekämpft. Und offiziell von der Kirche kanonisierte Heilige standen in unterschiedlichen Lagern: der eine bei dem Papst, der andere bei dem anderen. Auf dem Konzil von Konstanz hat man beide abgesetzt und einen neuen Papst gewählt. Jedoch sind die beiden nicht zurückgetreten und so hatte man drei Päpste. Am 11. November 1417 hat in Konstanz dieser Wahnsinn aufgehört; Martin V. ist gewählt worden. In der Kirche sind die unglaublichsten Dinge passiert; wie da gekämpft und auch mit Intrigen vorgegangen wurde. Aber die Kirche hat das alles überlebt! Da ist doch das, worüber wir uns derzeit streiten, geradezu „Peanuts“! Wenn man das weiß, sieht man manches mit anderen Augen. Die Kirche wird nicht untergehen, denn sie ist auf den Felsen Petri gebaut. Auf diese Zusage können und dürfen wir uns verlassen. Ich bitte Sie mit allem Nachdruck, diesen Grund nicht zu verlassen! 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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[1] Vgl. Kirche heute, Nr.12/Dezember 2017, 3.
[2} Kardinal Müller, der Papst und die Lagerbildungen, in: PUR-Magazin, Nr.12/Dezember 2017, 18-19, hier: 19.
[3] Katrin Krips-Schmidt: Rücktritt nach Kritik an Papst Franziskus, in: Tagespost v. 4.11.2017.
[4] PUR-Magazin: Streit um Franziskus: Wie katholisch ist der Papst?, Nr. 8-9/Aug.-Sept. 2017.
[5] Vgl. Vatikan: Medienreform liegt im Plan, v. 04. 10.2017, URL: de.radiovaticana.va news/2017/10/04/vatikan_medienreform_liegt_im_plan/1340688 (Stand: 30.01.2018).
[6] Ebd.
[7] „Er setzt sich der Kritik aus“ (19.10.2017), URL: www.domradio.de/themen/papst-franziskus/2017-10-19/kirchenhistoriker-ueber-den-haeresievorwurf-papst-franziskus (Stand: 30.01.2018).
[8] Julius Müller-Meiningen: Feindbild Franziskus, in: Augsburger Allgemeine (2.11.2017).
[9] Ebd.
[10] Moritz Schwarz: Franziskus hinterlässt ein Trümmerfeld, in: Junge Freiheit (29.12.2017).

Quellgrund christlicher Humanität

Das Beispiel der Fußwaschung

Humanität ohne Gott ist eine Tragödie. So hat es Henry de Lubac zum Ausdruck gebracht. Denn ein Gutmenschentum, das sich vom Schöpfer losgesagt hat, entwickelt sich früher oder später zu einer Manipulation des Menschen und damit zu seinem versteckten Feind. Dr. Karl Braun, Erzbischof em. von Bamberg, verweist auf das Beispiel, das uns Jesus mit seiner Fußwaschung gegeben hat. Im Licht der Eucharistie und der Hingabe des Gottessohnes am Kreuz entfaltet er den Quellgrund christlichen Dienens und einer in Gott verankerten Humanität.

Von Erzbischof em. Karl Braun

Die Eucharistie im Blick auf die Fußwaschung deuten

Der Evangelist Johannes spricht im Evangelium (Joh 13,1-15) nicht von der Eucharistie, er berichtet vielmehr von der Fußwaschung der Jünger. Damit weist er uns darauf hin: Wir verstehen die heilige Eucharistie nicht voll und ganz, wenn wir sie nicht von der Fußwaschung her deuten. Von dort, vom Abstieg in das gegenseitige Dienen, steigen wir auf zur Höhe des Abendmahles; von der Bereitschaft, sich hinunterzubücken in den Staub und die Banalität menschlicher Armseligkeiten ernstzunehmen, führt der Weg zur Feier der Eucharistie. Sie folgt auf die Fußwaschung, und beide erklären sich gegenseitig als Zeichen der radikalen Hingabe Jesu. So erfassen wir dann auch besser die Aufforderung des Herrn: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe“ (Joh 13,15).

Unser Helfen ist mehr als bloßer Humanismus

Diesem Beispiel folgen wir im Dienst an den Mitmenschen. Vor allem an denen, die in Not sind und der Hilfe bedürfen – leiblich, geistig und geistlich.

Angesichts der Forderungen, von jeglicher Differenzierung bei den Hilfeleistungen abzusehen, sei festgestellt: Wir sind zu einer Liebe berufen, die ausnahmslos allen gilt. Die Kirche soll allen helfen. Doch als deren Glieder wissen wir uns auch in besonderer Weise den christlichen Schwestern und Brüdern verbunden. Es gibt eine die Liebe nicht verletzende Rangordnung der Nähe und Ferne, wenn äußere Umstände dies gebieten. In diesem Sinn gilt das Wort des Apostels Paulus: „Tut allen Menschen Gutes, besonders aber denen, die mit uns im Glauben verbunden sind“ (Gal 6,10). In diesem Zusammenhang steht auch die Feststellung: „Nicht ein blauäugiger, sondern ein realistischer Idealismus wird notwendig sein“ angesichts der Gesamtkomplexität weltweiter Notsituation (Bischof Egon Kapellari), soll die diesbezügliche Solidarität und Empathie nicht in Aggression und Depression umschlagen.

Unser Helfen versiegt nicht im Horizontalismus, in einseitiger Fixierung auf irdische Belange. Es geht uns nicht um einen naiven Humanismus im Sinn des Slogans: „Seid nett zueinander“. Unsere Zuwendung zu den anderen, unser hilfsbereites Engagement hat eine tiefere Prägung. Es ist gezeichnet vom Kreuzestod des Herrn, durchstrahlt von seinem österlichen Wetterleuchten des endgültig Positiven.

Wir begnügen uns nicht mit „Gutmenschentum“

Gewiss muss das unterscheidend Christliche in seiner Glaubenstiefe nicht immer und überall betont werden. Aber die Frage nach dem, was das Christliche in unserer „Menschenfreundlichkeit“ ausmacht, ist dennoch berechtigt und aktuell. Denn statt der von Jesus Christus inspirierten und letztlich auch wieder auf ihn zielenden „Nächstenliebe“ ist heute auch unter Christen von „Mitmenschlichkeit“ die Rede. So treten dann das soziale Element des christlichen Wirkens und dessen horizontaler Aspekt mehr hervor als deren Beziehung zu Christus, dem Sohn Gottes. Er ist kein Sozialrevolutionär und um Welten mehr als „der gute Mensch von Nazareth“, er ist unendlich bedeutsamer als ein Entertainer, ein freundlicher Mitspieler bei unserem Helfen. Er lässt sich nicht einordnen in die Schublade eines allgemeinen „Gutmenschentums“, einer Menschlichkeit ohne Beziehung zu Gott, eines „Humanismus der Nettigkeit“ (Bischof Stefan Oster): „Seid nett zueinander“.

Christliche Menschenfreundlichkeit gründet im Beispiel Christi

Es ist ja schön und gut, wenn wir angesichts eines kaum mehr fassbaren Ausmaßes an Unbarmherzigkeit, Bosheit und Grausamkeit in unserer verwirrten Welt nett und freundlich zueinander sind. Doch das ist für uns Christgläubige zu wenig, zumal wir wissen, dass der Antichrist am Ende der Zeiten mit der verlockenden Maske des Guten auftritt, ja dass er sogar wortwörtlich die Forderung der Nächstenliebe propagiert, aber gleichzeitig das erste Gebot, nämlich das der Gottesliebe, verdunkelt und bekämpft. Vorläufer dieses Kampfes zeigen sich im atheistischen Materialismus bzw. im materialistischen Atheismus und in der neoliberalen „Neuen Weltordnung“ mit einer geplanten einheitlichen „Weltreligion“, die von gottfernen Mächten gesteuert werden und zusehends den Menschen manipulieren.

Die Besonderheit christlicher „Menschenfreundlichkeit“ gründet in der Hingabe Christi „für uns“ und in unserer Zugehörigkeit zu Christus. Unser Gutsein wächst aus dem Mitlieben mit Christus, an dessen Liebe wir uns orientieren. Diametral dem gegenüber steht mitmenschliches Helfen, das sich bewusst von Gott distanziert und einzig auf das Tun des Menschen vertraut. Diese Haltung, eine „Tragödie des Humanismus ohne Gott“ (Henry de Lubac), bewirkt über kurz oder lang die Enthumanisierung des Lebens. Sie zerstört erbarmungslos die Menschlichkeit in eben dem Namen der Menschlichkeit, der zu dienen sie vorgibt. Denken wir nur an geschäftstüchtige Abtreibung, verharmlosendes Gender-Mainstreaming, das längst kein theoretisches Glasperlenspiel mehr ist, an gezielt tötende Euthanasie und an die aggressive Infragestellung und ideologische Zugrunderichtung von Ehe und Familie.

Gott in Jesus Christus – Quellgrund unseres Dienens

Dürfen wir solche, mit dem christlichen Glauben unvereinbare Befunde einfach wie ein unabänderliches Schicksal hinnehmen? Müssen wir uns nicht dem entgegenstellen und in Wort und Tat bezeugen: Der Mensch allein kann nicht die Basis unserer mitmenschlichen Zuwendung sein. Die Wahrheit dessen, was der Mensch ist und worin seine Berufung liegt, ist uns durch Christus kundgetan. In ihm leuchtet „das Große Gebot“ auf, „sich in den Dienst der Brüder zu stellen“.[1] Unser Dienen ist letztlich Zeichen unserer Liebe zu Gott. Mitmenschlichkeit, abgetrennt von ihrem Angelpunkt und Quellgrund, von Gott in Jesus Christus, entbehrt der ihr vom Herrn zugedachten Vollkraft – der Kraft zur „Trotzdemliebe“ – und kann rasch verblassen. Die caritativen und sozialen Dienste der Kirche sollen deshalb grundlegend von dieser christusbezogenen Überzeugung durchwirkt sein. Andernfalls wäre christlich geprägtes Helfen überflüssig und bedeutete kaum mehr als ein religiös eingefärbtes Gutmenschentum mit freundlich erwiesenen Streicheleinheiten. Christliche Liebestätigkeit erschiene so wie eine Variante im allgemeinen Wohlfahrtswesen – ähnlich einer der vielen humanitären „Nichtregierungsorganisationen“, kaum zu unterscheiden von einer konsensorientierten Moralagentur mit Satzungen und Mitgliedsbeiträgen.

Mit dieser Feststellung sollen keinesfalls das Wirken und die Verdienste anderer helfender Institutionen, Organisationen und Initiativen in Frage gestellt werden. Mit ihnen – wie mit allen Menschen guten Willens – arbeiten wir bereiten Herzens beim Aufbau einer humanen Gesellschaft zusammen und erweisen allen Menschen Ehre.[2] Als Christen geht es uns dabei nicht bloß um eine Tugend, die einen Menschen auszeichnet oder nicht. Unser Helfen steht in einer lebendigen Beziehung zu Jesus Christus, zum Evangelium und zur Eucharistie, deren Einsetzung wir am Gründonnerstag begehen. Sie ist – wie Papst Benedikt XVI. betonte –, „sozusagen die Kernspaltung im Innersten des Seins – der Sieg der Liebe über den Hass, der Sieg der Liebe über den Tod. Nur von dieser innersten Explosion des Guten her, die das Böse überwindet, kann die Kette der Verwandlungen ausgehen, die allmählich die Welt umformt.[3]

Dasein für die anderen – Maßstab ewigen Glücks und Ursache währender Freude

Die Einsetzung der Eucharistie steht zwischen Fußwaschung und Kreuzestod Christi. Von daher prägt und trägt die Eucharistie unsere Hinwendung zum Nächsten. Wenn wir uns deshalb mit dieser Energiequelle verbinden – durch die Mitfeier der heiligen Messe und die eucharistische Anbetung –, vermögen wir guten Mutes den anderen „die Füße zu waschen“, ihnen zur Seite zu stehen und so ein Plus vor alles Negative ihres Schicksals zu setzen.

Deshalb rufen wir in Erinnerung an diesen geheimnisvollen Abend voll Schatten und Licht: Jesus Christus, du hast das Dienen zum Maßstab, zum Entscheidenden unseres Christseins und ewigen Glücks gemacht (Mt 25,34f.41f.).[4] kräftige unsere Hilfsbereitschaft durch die heilige Eucharistie. Erfülle uns mit deiner Freude, wenn wir uns aufmachen, um einander so zu tun, wie du uns getan hast (vgl. Joh 13,15).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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[1] Zweites Vatikanisches Konzil, Kirche in der Welt von heute, 57.
[2] Vgl. Regula Benedicti 4,8: „honorare omnes homines“ (vgl 1 Petr 2,17).
[3] Predigt auf dem Marienfeld (Köln) am 21. August 2005.
[4] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Kirche in der Welt von heute, 27. 

Fatima und die junge Bundesrepubik (Teil 5)

Die Marienweihe Deutschlands im Kalten Krieg

Die atomare Bedrohung Deutschlands während des Kalten Krieges war eine Realität. Angriffspläne der Sowjetunion hatten entsprechende Abwehrstrategien der NATO herausgefordert. Auf diesem Hintergrund richtet das Ehepaar Koch in seinem fünften Beitrag der Artikelserie über den Aufstieg der Bunderepublik nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Blick auf die Marienweihe Deutschlands im Jahr 1954. Gleichzeitig hebt es das Engagement Konrad Adenauers hervor, der in seiner Grußbotschaft das Ereignis in den großen Rahmen seines christlichen Sendungsbewusstseins hineingestellt hat. Wenn er von der Entschlossenheit sprach, „das gemeinsame Erbe der europäischen Völker zu verteidigen, die Freiheit zu sichern und die christliche Idee überall zur Geltung zu bringen“, so waren dies nicht nur fromme Floskeln des Bundeskanzlers zu einem Fest der katholischen Kirche oder die von einem Sachbearbeiter der Regierung zurechtgelegten Worte. Nein, in dieser Botschaft spiegelt sich erneut die tiefste Überzeugung Adenauers wider, mit der er als gläubiger Katholik auf der politischen Bühne angetreten war, ein Auftrag, der sein ganzes Wesen erfüllte und dem er sich in all seinem Handeln verpflichtet fühlte.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Die Weihe Deutschlands an das Unbefleckte Herz Mariens ist der Höhepunkt des Marianischen Jahres 1954. Es war zugleich das 1200. Todesjahr des hl. Bonifatius, des „Apostels der Deutschen“. Dessen übernationalen Wirken widmet Papst Pius XII. aus diesem Anlass eine eigene Enzyklika: „Aber wenn auch Bonifatius in besonderer Weise der Apostel Deutschlands ist, machte dennoch der Eifer, der in ihm für die Verbreitung des Himmlischen Königreiches brannte, an den Grenzen dieser Nation keinen Halt."[1]

„Es ist mein aufrichtiger Wunsch, dass vom diesjährigen Katholikentag in der Stadt des heiligen Bonifatius ein starker christlicher und abendländischer Impuls ausgehe“, nimmt Bundeskanzler Konrad Adenauer in seinem Grußwort den päpstlichen Gedanken auf. „So soll die Tagung von Fulda bekunden, dass wir bereit sind, das gemeinsame Erbe der europäischen Völker zu verteidigen, dass wir entschlossen sind, die Freiheit zu sichern und die christliche Idee überall zur Geltung zu bringen.[2]

Der Weiheakt wird am Abend des 4. September 1954 von Joseph Kardinal Frings als Vorsitzendem der Fuldaer Bischofskonferenz mit 100.000 katholischen Laien und Geistlichen auf dem Domplatz vor dem Gnadenbild des Franziskanerklosters Frauenberg vollzogen. Dieses spätmittelalterliche Madonnenbild mit seiner ausgesprochen mütterlich-jungfräulichen Ausstrahlung zeigt Maria mit ihrem Sohn und stellt die Fatima-Frömmigkeit in die lange Tradition deutscher Marienminne.

Der mütterlichen Sorge Mariens anvertraut

„Kardinal Frings hat die Kirche Gottes in Deutschland der mütterlichen Sorge Marias anvertraut“, erinnert Josef Ratzinger als Münchener Erzbischof die Deutsche Bischofskonferenz inmitten der postkonziliaren Revolution.[3] Frings sei in der Adventszeit gestorben, die seit alters her die eigentliche Marienzeit der Kirche sei: „Mir scheint, dass wir darin einen Ausdruck für Weg und Richtung seines Lebens sehen dürfen.“

Mit Rücksicht auf die interkonfessionelle Situation in Deutschland schwächt Frings die Formulierungen des Weihegebets gegenüber dem päpstlichen Vorbild aus dem Jahr 1942 ab. Zwar knüpft Kardinal Frings in seiner Vorrede zum Weiheakt an die ‚Botschaft von Fatima‘ an, scheint aber den Sühnegedanken im Weihegebet nicht völlig klar auszudrücken. Rudolf Graber, der spätere Bischof von Regensburg von 1962 bis 1981, bedauert, dass die Deutschlandweihe nicht vor dem Marienbild der Kölner Peregrinatio Mariae vollzogen wurde.[4]

Walter Dirks, Mitgründer der hessischen CDU und der Frankfurter Hefte, kommentiert am Abend des Weihetages über alle deutschen Sender: „Die Menschen, welche dieses Weihegebet sprechen, geloben nichts für andere, sondern nur etwas für sich selbst; sie bieten ihr eigenes Leben an, und in diesem ihrem eigenen Leben besonders ihre Verantwortung und ihre Arbeit für unser Volk, für Deutschland. … Wenn Sie es so verstehen, verehrte Hörer – und ich meine, Sie dürfen es so verstehen –, dann werden auch die Nichtkatholiken unter Ihnen dieses feierliche kultische Ereignis von heute Abend, diesen Höhepunkt des deutschen Katholikentages von 1954, nicht als ein neues Moment der Absonderung empfinden, sondern als eine Stärkung unserer Verbundenheit."[5]

Dennoch führen massive Proteste der Protestanten zu Spannungen innerhalb der interkonfessionell verfassten CDU. Vermittlungsversuche unternimmt der stellvertretende Parteivorsitzende Herman Ehlers, Bundestagspräsident und evangelischer Christ: Man könne nicht so tun, „als ob man von der katholischen Kirche fordern könne, dass sie nicht mehr katholisch sei. Man kann auch nicht erwarten, dass sie die in den letzten Jahrzehnten besonders gewachsenen marianischen Formen ihrer Frömmigkeit nicht pflege."[6]

Maria – Befreierin der Gefangenen

Der Passus des Weihegebetes „Lass heimkehren unsere Schwestern und Brüder, die noch in der Fremde sind“ bezieht sich auf das ungewisse Schicksal zehntausender Kriegsgefangener und Zivilisten, darunter viele Naturwissenschaftler und Ingenieure, die auch im zehnten Jahr nach Kriegsende immer noch in der Sowjetunion festgehalten und zu harter Arbeit gezwungen wurden. Die Gefangenenbefreiung war das vornehmliche Ziel von Adenauers Moskau-Reise, zu der er am 8. September 1955 aufbricht.

Wie der Wallfahrtspriester der Ranftkapelle, der Einsiedelei des hl. Klaus von Flüe in der Schweiz, berichtet, sei Adenauer vor seinem schweren Gang nach Moskau inkognito eine ganze Nacht lang am Grabe des Bruder Klaus gewesen, um Kraft zu sammeln. Adenauers Fahrer bestätigt die Fahrt. Er sei beim Warten auf Adenauer im Auto eingeschlafen, bis ihn sein Chef am frühen Morgen geweckt habe. Bemerkenswert ist das mündlich überlieferte Zeugnis, Adenauer habe auch in der Nacht vor Beginn der entscheidenden Verhandlungen vor einer Kopie des Gnadenbildes von Fatima in der französischen Botschaft in Moskau gebetet.[7]

Erstaunlich ist aber auch die Koinzidenz der wesentlichen Daten der Gefangenenbefreiung mit Marienfesten: Ankunft in Moskau am Fest Mariä Geburt (8. September), Zusage der Freilassung am Fest Mariä Namen (12. September), Eintreffen der ersten Heimkehrer am Rosenkranzfest (7. Oktober). Einer der dankbaren Heimkehrer schenkt Adenauer eine russische Marienikone, die er unter den Trümmern eines Hauses fand. Sie habe ihn durch die Schrecken des Krieges und der Gefangenschaft wieder nach Hause geführt. Der Besucher seines Wohnhauses sieht diese Ikone noch heute in Adenauers Sterbezimmer.

Die Marienweihe im Fulda Gap

Aufgrund geografischer Besonderheiten galt bis zum Ende des Kalten Krieges das Gebiet östlich von Fulda als wahrscheinlichster Durchbruchspunkt sowjetischer Panzerarmeen mit dem Ziel der Rhein-Main Air Base, des amerikanischen Hauptquartiers bei Frankfurt. Heute erinnert ein interessantes Dokumentationszentrum im ehem. US-Beobachtungsstützpunkt Point Alpha bei Fulda an diesen Hot Spot des Kalten Krieges.[8]

Zur Verteidigung des im NATO-Jargon sog. Fulda Gap, der Lücke bei Fulda, zwischen Thüringer Wald und Harz war der Einsatz taktischer Atomwaffen vorgesehen. In einem Zeitraum von weniger als zwei Stunden sollte die V. US Army Corps mit über hundert taktischen Kernwaffen die erwarteten massiven Vorstöße hochmobiler Angriffsverbände der 8. Sowjetischen Gardearmee von Nachschub abschneiden, so dass sie aufgerieben werden konnten.

Im September 1954, im Monat der Weihe Deutschlands an das Unbefleckte Herz Mariens, fand die Übung Battle Royal statt, mit 137.000 beteiligten Soldaten die größte NATO-Übung der Geschichte, in der diese Operationen im Großraum Fulda geübt wurden.[9] Die militärtaktisch rationale Vorgehensweise wäre im Kriegsfall durch vergleichbare Operationen in der Norddeutschen Tiefebene und bei Passau ergänzt worden. Die Folgen für Deutschland sind nicht vorstellbar, wären jene NATO-Pläne verwirklicht worden.

Maria, die Retterin unseres Landes?

Natürlich kann zwischen dem Weiheakt von Fulda und der Verhinderung eines Atomkriegs im Herzen Deutschlands mit unvorstellbaren Auswirkungen kein ursächlicher Zusammenhang in einem geschichtswissenschaftlichen Sinne erwiesen werden. Ein gläubiges Herz erschaudert jedoch bei dem Gedanken, die unbefleckt empfangene Gottesmutter selbst habe zu entscheidender Stunde des „Kalten Krieges“ im militärstrategisch zentralen Fulda Gap Deutschland unter ihrem Mantel geborgen – und zwar im Marianischen Jahr 1954, als Ihr unser Land geweiht wurde.

Möglicherweise hatte die „Marienweihe im Fulda Gap“ und das von Marienfrömmigkeit geprägte politische Geschick des ersten Bundeskanzlers für Deutschland und für die gesamte europäische Christenheit eine Bedeutung, die den Siegen Mariens von Lepanto am 7. Oktober 1571 oder vom Kahlenberg am 12. September 1683 nicht nachsteht.

„Wenn wir in diesem Jahre zur Krippe treten, dann wollen wir es dankerfüllten Herzens tun“, schließt Adenauers Weihnachtsansprache in diesem Jahr, die vor innerer Dankbarkeit für die Bewahrung des Friedens geradezu vibriert. „Wir wollen vor allem Gott danken dafür, dass er unserem Lande den Frieden erhalten hat. Ein schweres, ein sorgenvolles Jahr geht in den nächsten Tagen zu Ende, aber wir können in Frieden Weihnachten feiern, in Frieden dem Jahre 1955 entgegensehen."[10]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] PIUS XII. (1954): Ecclesiae fastos, vom 5.6.1954, www.vatican.de
[2] D. u. W. KOCH (2013): Konrad Adenauer – Der Katholik und sein Europa, Kißlegg 42018, 186.
[3] J. RATZINGER (1979): Predigt am 6.3.1979, in: Maria – Kirche im Ursprung, hrsg. von Josef Ratzinger et al., Freiburg i.Br., 13.
[4] R. GRABER (1954): Die Marienweihe Deutschlands in Fulda, in: Maria Königin in Christi Reich, 1954, Nr. 9, 1.
[5] Der Katholik und sein Europa, 188.
[6] Ebd., 189.
[7] Ebd., 191f.
[8] Gedenkstätte Point Alpha, pointalpha.com
[9] BROADHURST (1954): Battle Royal – A Combined Exercise with an Atomic Accent, in: Flightglobal, Oct. 1, 1954, 510ff., online: www.flightglobal.com/pdfarchive/view/1954/1954%20-%202743.html
[10]Weihnachtsansprache am 25.12.1954, online: www.konradadenauer.de/dokumente/weihnachtsansprachen/weihnachtsansprache6 

Irak – das verschwundene Paradies

Christen kehren ins zerstörte Mossul zurück

Erzählt Nadia Younis Butti von ihrem Elternhaus in Mossul, spricht sie zuerst von den Zitronen-, Orangen- und Feigenbäumen. Sie wuchsen üppig im riesigen Garten. Ihre Eltern, syrisch-orthodoxe Christen, hatten Haus und Grund liebevoll gepflegt. Nadias Lieblingsplatz war der Schaukelstuhl im Garten – so konnte sie sich an der blühenden Pracht erfreuen. Doch am 17. Juli 2014 begann die Vertreibung aus dem Paradies: Die Truppen des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) hatten Mossul besetzt. Nadia erzählt: „Wehen Herzens bin ich weggegangen“ – nach Erbil, wie über hunderttausend andere Christen aus Mossul und der angrenzenden Ninive-Ebene.

Von Jaco Klamer und Tobias Lehner

Seit Sommer 2017 ist ihre Heimatstadt aus den Fängen der Islamisten befreit. Nadia Younis Butti ist zurückgekehrt – trotz der Gefahr, die noch überall präsent ist. „Ich habe gerade mit einem Polizisten gesprochen. Ein Kollege von ihm wurde diese Woche erschossen. Solche Morde passieren hier immer noch ständig“, sagt Nadia und seufzt. Grund: Viele Bewohner Mossuls hätten drei Jahre lange mit dem IS kollaboriert, vor allem die sunnitischen Muslime – denn auch der IS setzt sich aus Sunniten zusammen. „Die Befreiung Mossuls geschah durch die irakische Armee, die wiederum von zahlreichen schiitischen Muslimen aus dem Iran unterstützt wird.“ Die Rivalität der beiden islamischen Glaubensrichtungen führe immer wieder zu Gewalt. „In Mossul begegnen die Menschen einander mit großem Misstrauen. Sie sehen sich nicht als Verbündete.“ Und zwischen allen Stühlen: die Christen.

Kloster ohne Gebete

„Der Islamische Staat wird immer im Irak bleiben.“ Diese Worte, von unbekannter Hand auf eine Mauer gesprüht, stechen Nadia sofort ins Auge, als sie zum ersten Mal nach der Rückkehr die Klosteranlage St. Georg (Mar Gurguis) betrachtet – oder was davon noch übrig ist. Es wurde von den islamistischen Truppen schwer zerstört. Einst war die Klosteranlage aus dem 17. Jahrhundert ein geistliches Zentrum für die Christen der Stadt. „Immer im Sommer und im Herbst fanden hier große Treffen statt“, erinnert sich Nadia. „Wir durften im Kloster übernachten und es gab neben den Gottesdiensten auch viele weitere Angebote. Ich denke voller Freude an diese sorglose Zeit zurück.“ Auch Nadias Bekannter Yohanna Youssef Towaya, der sie heute begleitet, teilt ihre positiven Erinnerungen: „Einst konnten sich die Christen frei in diesem Kloster versammeln. Dieser Ort war Teil unserer Identität“. Yohanna arbeitete als Professor an der Universität von Mossul, später in Karakosch.

Schweigend sehen er und Nadia sich die zusammengeschossene Kuppel von St. Georg an. Sie gehen durch die Gänge des Klosters, welche die einstige Pracht nur noch erahnen lassen. Marmorplatten sind von Wänden, Boden und Bögen gerissen. Selbst vor dem Altar der Kirche machten die IS-Kämpfer nicht Halt: Er wurde dem Erdboden gleichgemacht. Auch Gräber und Grabsteine wurden verwüstet. In einer Nische steht eine Heiligenstatue: Sie ist enthauptet. Auf einer anderen Wand des Gotteshauses ist ein Pfeil aufgemalt. Er zeigt Richtung Mekka, diente so den Islamisten zur Orientierung für ihre Gebete.

Nahe beim Eingang finden Nadia und Yohanna verwitterte Gebetbücher. Yohanna schlägt auf und rezitiert ein bekanntes Morgengebet der chaldäisch-katholischen Kirche: „Unser Herr und Gott, wir bitten Dich um Erlösung der Unterdrückten, Befreiung der Gefangenen, Genesung der Verwundeten … Rückkehr der weit Entfernten, … Hilfe für die Bedürftigen. Handle in Deiner Güte und Barmherzigkeit jetzt und allezeit und in Ewigkeit.“ „Amen“, flüstert Nadia in dem leeren Kloster, in dem drei Jahre lang kein Gebet mehr zu hören war.

Ob in der Kirche jemals wieder die Liturgie der Mönche gefeiert wird, ist unsicher: „Die Mönche haben Zuflucht in Alkosch in der Ninive-Ebene gefunden. Dort hat der Überlieferung nach der alttestamentliche Prophet Nahum seine Weissagungen zur Zerstörung der Stadt Ninive niedergeschrieben.“

Zuflucht in der „Arche Noah“

Durch das zerstörte Mossul geht es weiter zu Nadias Elternhaus. Sie schluckt, als sie den Vorgarten betritt. Die Bäume sind verkümmert, die Rosensträucher eingegangen. Sie habe ihr Haus nicht mehr wiedererkannt, als sie es im Sommer 2017 mit ihrer Mutter zum ersten Mal wieder in Augenschein nahm, erzählt Nadia: „Unser Hab und Gut lag überall herum. Alles war voller Staub. Die Fenster eingedrückt. Ein wunderschönes Gemälde mit Maria, Josef und dem Jesuskind, das im Wohnzimmer hing, lag zerstört im Dreck.“ Nadia ist das Haus zu groß – und es hängen zu viele schmerzliche Erinnerungen daran. So hat sie es vermietet, an eine muslimische Familie mit drei Kindern. Im Kleinen funktioniert das Zusammenleben der Religionen.

So auch in der Heilig-Geist-Kirche, der nächsten Etappe von Nadia und Yohanna. Das Gotteshaus, das in seiner markanten Form an die Arche Noah erinnert, ist zur Zufluchtsstätte für vier Familien aus Zumar im Nordirak geworden. Auch dort gab es schwere Kämpfe mit dem IS. So haben die Bewohner aus dem zerstörten Zumar eine vorläufige Bleibe gefunden im noch mehr zerstörten Mossul. „Wegen des Kriegs konnten unsere Kinder drei Jahre lang nicht zur Schule gehen“, erzählt der 36-jährige Muslim Khalil Hasan Mahammad. Derweil toben seine Kinder durch das Kirchenschiff. Jede Familie bewohnt einen Raum in der Kirche und dem anliegenden Gebäude. Wie lange die Notlösung noch andauert, weiß keiner. „Der Krieg mit dem IS ist zwar vorbei“, erzählt Khalil, „aber jetzt haben die Kurden unser Dorf erobert und uns noch nicht erlaubt, zurückzukehren.“

So versucht sich der Familienvater zwischenzeitlich in Mossul nützlich zu machen und ein wenig Geld zu verdienen. „Ich habe zwar ein gelähmtes Bein, aber ich helfe gern mit beim Wiederaufbau zerstörter Häuser“, sagt Khalil. In der Tat: Überall sind Aufräumarbeiten im Gange.

Christus in der zerstörten Kirche

Anders in Mor Afraim, der Pfarrkirche von Nadia. „Ich kann nicht glauben, was der IS meiner Kirche angetan hat“, flüstert sie, während sie das Gotteshaus betritt. Es hat ein ähnliches Schicksal erlitten wie das Kloster St. Georg. Die Kirche ist ausgeraubt, beschädigt und mit Koranversen und Schmähungen beschmiert. „Hier saß ich mitten unter meinen Freunden, als die heilige Messe gefeiert wurde. In den Räumen nebenan haben wir uns nach dem Gottesdienst getroffen. Ich bin tieftraurig, wenn ich daran zurückdenke.“

Letztlich, so erzählt Nadia, habe bereits ab der Jahrtausendwende eine Entwicklung begonnen, die dann 2014 in die Katastrophe führte: „Viele Muslime haben sich radikalisiert. Ab 2008 wurden immer mehr Christen bedroht, entführt oder getötet. Auch ich habe einen Brief erhalten, in dem es hieß, ich müsse die sogenannte ,Kopfsteuer‘ an die Islamisten zahlen, sonst würde ich später mit meinem Leben bezahlen.“ Ein bekannter Priester aus ihrer Umgebung sei entführt und regelrecht abgeschlachtet worden. Nicht umsonst haben die Vereinten Nationen und die Europäische Union von Völkermord an den irakischen Christen gesprochen.

Das Leid ist noch nicht zu Ende. „Der Wiederaufbau unserer Kirche wird viel Geld und Energie kosten“, sagt Nadia. „Und vor allem: Für wen bauen wir sie wieder auf? Viele Christen sind ins Ausland gegangen, andere zögern mit der Rückkehr.“ Nach Aussage des chaldäisch-katholischen Patriarchen Louis Raphael Sako sind erst 60 christliche Familien nach Mossul zurückgekommen. Positiver ist die Lage in den christlichen Ortschaften der Ninive-Ebene, die schon länger befreit sind: Dort sind bereits über ein Drittel der Bewohner zurück, rund 31.000 Menschen. Das weltweite päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ organisiert und unterstützt zusammen mit den örtlichen Kirchen den Wiederaufbau. Ein Schritt, der jetzt auch in Mossul ansteht.

Denn Glaube und Hoffnung haben auch in Trümmern überlebt. Nadia zeigt in der Pfarrkirche nach oben: „Die Kuppel mit dem großen Bild Christi hat die Angriffe des IS relativ gut überstanden. Jesus in dieser zerstörten Kirche über mir zu sehen, erfüllt mich mit großer Freude.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2018
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