Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Als Titelthema haben wir das Apostolische Schreiben von Papst Franziskus über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute gewählt. Datiert ist es auf den 19. März 2018, also das Hochfest des hl. Josef. Schon damit wollte der Papst ein Zeichen setzen. Denn für ihn ist das Streben nach Heiligkeit unmittelbar mit dem Blick auf „die schon vollendeten Gerechten“ in der Vereinigung mit Gott verbunden. Und dabei geht es ihm nicht nur um das Vorbild der Heiligen. Mit erfrischender Klarheit unterstreicht er die lebendige Gemeinschaft, in der wir mit den Heiligen verbunden sind. Sie bieten uns ihre Hilfe an, damit wir im Ringen zwischen Gut und Böse standhaft bleiben und mit Ausdauer dem Siegeskranz entgegengehen.

Dieses Thema wird insbesondere durch die Beiträge von Paul Josef Kardinal Cordes und Joachim Jauer veranschaulicht. Cordes zeigt am Beispiel der hl. Teresa von Avila und des sel. John Henry Newman das Wesen der Heiligkeit auf, die ihren Ausgang in der Ergriffenheit von der Majestät Gottes nimmt und in die vollkommene Hingabe an das Du Gottes einmündet. Jauer ruft das Zeugnis der beiden Frauen Elisabeth Schmitz und Margarete Sommer in Erinnerung, die vor 125 Jahren geboren und inzwischen unter die „Gerechten der Völker“ aufgenommen wurden. Außerdem widmet er seine Aufmerksamkeit den Opfern des militanten Atheismus der Kommunisten, wobei er dieser „größten Christenverfolgung der Geschichte“ durch den Blick auf einige Schicksale ein Gesicht verleiht.

„,Freut euch und jubelt‘ (Mt 5,12), sagt Jesus denen, die um seinetwillen verfolgt oder gedemütigt werden“, genau mit diesen Worten aus den Seligpreisungen am Anfang der Bergpredigt beginnt auch das genannte Dokument des Papstes „Gaudete et exsultate“. Doch mit seinem Aufruf zur Heiligkeit hat sich Franziskus wieder einmal zwischen alle Stühle gesetzt. Sein Schreiben passt in keines der verbreiteten Schemata.

Für die einen stellt das Dokument einen Affront gegenüber den Protestanten dar, obwohl Franziskus die Ökumene der Märtyrer hervorhebt, da ihr Erbe – wie bereits der hl. Johannes Paul II. formuliert hat – lauter spreche als die Faktoren der Trennung. Dennoch ist der Grundansatz des Schreibens tatsächlich nicht mit der reformatorischen Theologie vereinbar und weit entfernt von dem Ökumenischen Dokument „Communio Sanctorum – Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen“, das die Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands im Januar 2000 veröffentlicht hat.

Andere stört am Schreiben des Papstes, dass es so ausführlich auf den Teufel eingeht, wieder andere halten es für zu sehr an der „Orthopraxie“ statt an der „Orthodoxie“ orientiert, es lege also zu großen Wert auf das rechte Tun und vernachlässige die Glaubensinhalte. Wieder andere kommen nicht damit zurecht, dass er an Erscheinungsformen Kritik übt, die besonders bei konservativ ausgerichteten Gruppierungen anzutreffen sind. Und so wird das Dokument weitgehend totgeschwiegen, und zwar von allen Seiten.

Liebe Leser, wir halten den Aufruf des Papstes für ein richtungsweisendes Dokument. Wer ehrlich an das Schreiben herangeht, muss dem Papst einfach Recht geben und kann für diese einzigartige Hilfestellung nur dankbar sein. Wir möchten Ihnen das Schreiben ans Herz legen und beten dafür, dass Gott unserer Kirche Einheit schenke und sie tatsächlich im Glanz neuer Heiligkeit erstrahlen lasse. Mit der Bitte um Ihre großherzige Unterstützung sagen wir Ihnen zugleich ein aufrichtiges Vergelt’s Gott und wünschen Ihnen unter dem Schutz Mariens Gottes reichsten Segen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Gott will persönlich in unser Leben eingreifen

Heiligkeit bei den Heiligen ablesen

In den großen Männern und Frauen der Kirche, so Paul Josef Kardinal Cordes, hat Gott ein Gesicht bekommen. In Ihnen offenbart er seine persönliche Hinwendung zu den Menschen. Er sucht die Begegnung, tritt in ihr Leben ein, überrascht sie mit der Gegenwart seiner Herrlichkeit, wirbt um ihr Vertrauen und ihre Hingabe. Umgekehrt zeigt sich im Leben der Heiligen, „was geschieht, wenn ein Mensch im Vollsinn glaubt“. Heiligkeit übersteigt Moral und Vertrautheit mit der kirchlichen Lehre. Heiligkeit bedeutet, sich vollkommen an das Du Gottes auszuliefern, ihm freie Hand zu geben, damit Er in unserem Leben und durch uns Seine Geschichte des Heils schreiben kann.

Von Paul Josef Kardinal Cordes, Rom

„Es gibt nur eine Traurigkeit, die, kein Heiliger zu sein.“ Das sind Worte von Léon Bloy (†1917), dem unvergleichlichen Künder des Absoluten. In seinem Roman „Die arme Frau“ beschreibt er das Schicksal von Clothilde Maréchal im Paris der Jahre 1880. Ihr Leben ist wirklich bemitleidenswert. Dennoch versichert sie dem besorgten Priester, ihr Herz sei ungetrübt, ja glücklich. Dann nennt sie am Schluss des Buches den einzigen Grund, der solchen Seelen-Frieden mindern könnte: „Es gibt nur eine Traurigkeit, die, kein Heiliger zu sein.“ – Papst Franziskus hat diesen Satz des Franzosen in sein Apostolisches Schreiben „Über den Ruf zur Heiligkeit“ (Nr. 34) aufgenommen. Mit ihm verweist er auf die in Gott Vollendeten. Wohl geht der zitierte Léon Bloy in seinen vielen Werken kaum den Biographien der großen Männer und Frauen der Kirche nach. Aber seine Schriften sind durchzogen von ihren Spuren, auch wenn er kaum Namen nennt; und immer hat er die große Gemeinschaft der Heiligen vor Augen. Er ist ein machtvoller Führer zur Vollkommenheit.

Ansporn durch Zeugen

Heiligkeit will ja gelernt werden. Sie braucht Anweisung, Impulse, Leitlinien – je konkreter, umso besser. Darum muss der Christ den Blick nicht zuletzt auf die richten, die sich in der Geschichte erkennbar auf Gott eingelassen haben. Eine Befragung von Zeugen der Heiligkeit legt sich nahe. Handeln und Sprechen anderer sind uns ja oft ein Weg zur Orientierung. Eine uns allen geläufige menschliche Beobachtung legt das nahe. Wir haben fraglos vor Augen, wie ein Kind Vertrauen in die Lebens-Welt gewinnt, Neues annimmt, was es zuvor nicht prüfen konnte. Bislang Fremdes wird ihm durch andere vermittelt. So dies dann irgendwann den „Himmel“ betrifft, nennt die Soziologie diesen Vorgang „religiöse Sozialisierung“.

Derartige Erfahrung ist elementar: Wir wissen um Gott nicht ohne die Mitmenschen; unser Glaube und unser Christsein verdankt sich wesentlich anderen. Ein Kind übernimmt beides durch das Hineinwachsen in die religiöse Gemeinschaft. Später trägt dann dieses Anfängliche weitere geistliche Früchte, die sich nach der Kindheit in Gemeinschaft herausbilden. Ja, Gotteserkenntnis durch gläubige Begegnung bleibt das Grundgesetz allen Christseins. Unsre Kirche ist seit ihrem Beginn durch dies Prinzip bestimmt.

Gottes Werben

Und was fast noch wichtiger ist: Gott tritt dadurch als Handelnder in die Welt. Es wird evident, dass sich die Wahrheit über ihn nicht auf kluge, aber abstrakte Sätze beschränkt. Hinter dem Wissen um Gott steht eine lange Geschichte. Zunächst hatte die Kirche Worten und Taten der Augen- und Ohrenzeugen des Erlösungswerks sorgfältig festgehalten. Auf dieser Basis weckte Gottes Geist dann in der Glaubensgemeinschaft durch die Jahrhunderte hin neue Künder seines Heilstuns. Sie waren selbst von der Offenbarung entzündet und wurden ihren Zeitgenossen zu verlässlichen Stützen der Jüngerschaft. In der Kirche als Gottes Volk sind es demnach machtvolle Glaubensgestalten, die vom Urchristentum an bis heute das Vertrauen in den Vater Jesu Christi lebendig erhalten – bis hin zu Johannes Paul II. und Mutter Teresa.

In solchen Vorkämpfern bleibt Gottes nimmermüdes Werben um den Menschen präsent. Sie zeigen, was geschieht, wenn ein Mensch im Vollsinn glaubt. An ihnen ist abzulesen, dass Heiligkeit entschieden die Beachtung aller Moral übersteigt; der Aszet kann leicht in seiner Ich-Verschränkung verkapselt bleiben. Kirchliche Imperative und selbst die Vertrautheit mit der kirchlichen Lehre sind nur ein erster Schritt zu Gott. Alle biblischen Appelle zielen letztendlich darüber hinaus, eben auf die Auslieferung an das Du Gottes. ER will uns ein ganz persönliches Gegenüber sein. Erst in solcher Personalisierung kommt der Glaubensakt zu seiner Fülle: Ein Du, dem ich vertraue, ein Du zieht mich auf stille, geheimnisvolle Art an und weckt mein Verlangen, ohne mich dabei zu zwingen.

Fraglos lastet auf unserer Welt „ohne Gott“ die Dunkelheit der Gottesferne, und sein Anruf bleibt häufig verschüttet. Im Getöse des Diesseits gelingt es immer seltener, Gottes zarte Berührung und seinen leisen Ruf zu vernehmen. Doch wir Christen brauchen die Gefühl- und Gehörlosigkeit der modernen Welt nicht achselzuckend hinzunehmen. Wir dürfen ihr schon gar nicht zustimmen, als müsse der Mensch von heute ohne Gott auskommen. Denn „Gottes Fehl“ (Friedrich Hölderlin) muss für niemanden fortbestehen. Wer an der „Gott-Vergessenheit“ (Joseph Ratzinger) leidet, kann sich auf die Suche begeben. Eine geistige Begegnung etwa mit einem Zeugen des „Gott-bereiten Lebens“ zeigt den Weg.[1] Für diese Persönlichkeiten hatte Gott ein Gesicht bekommen; er ist nicht länger eine kalte, anonyme Urkraft, wie so viele „Christen“ heute „glauben“. Heilige Männer und Frauen belegen stattdessen, dass Gott unser Leben erkennbar ergreift und beeinflusst. Uns sind sie die wichtige Botschaft: Gott existiert. Heilsgeschichte kann sich auch in unsern Tagen ereignen. Ein Suchender kann den Herrn finden, weil der Vater, der Jesus „gesandt hat, ihn zieht“ (Joh 6,44).

Welche Winke halten diese Männer und Frauen für uns bereit? Nur zwei Heilige können hier befragt werden.

Teresa von Avila

Begonnen sei mit der großen spanischen Mystikerin Teresa von Avila († 1582). Der geachtete protestantische Hagiograph Walter Nigg nennt sie eine der größten Frauen der Weltgeschichte.[2] Eine erstaunliche intellektuelle Begabung und selten umtriebigen Aktivität zeichnen sie aus. Doch bei allem behielt sie ihre ruhende Mitte in Gott. Ihr turbulentes Leben führte sie zu einer innigen Auslieferung an ihn. Bezeichnend ist das Gebet, das man in ihrem Brevier fand:

„Nichts soll dich ängstigen,

nichts dich erschrecken,

alles geht vorüber,

Gott ändert sich nicht.

Die Geduld erreicht alles.

Wer Gott besitzt, dem mangelt nichts.

Gott allein genügt.“

Eine dramatische Episode von einer ihrer vielen Ordensgründungen füllt solch bewegende Sätze mit Menschlichkeit und Humor. Schon gezeichnet von der Schwäche des Alters, ist sie auf einem Eselskarren mit Habseligkeiten unterwegs nach Burgos in Altkastilien; dort soll ein Kloster entstehen. Sie berichtet davon in ihrem Tagebuch. Äußere Hindernisse hatten ihrem Mut schon zugesetzt. Ihre Spannkraft hatte abgenommen, und – was schlimmer war – Gott schien ihr nicht länger beizustehen. Ihre Worte: „Es schneite und war kalt. Aber am meisten Angst hatte ich wegen meiner angeschlagenen Gesundheit.“ Unüberwindlich waren dann die Erschwernisse in Pontenes am Fluss Arlazon. Die Karawane musste entlang des Ufers einen langen Umweg machen, um überhaupt eine Stelle zur Überquerung zu finden. Ihre Notizen: „Man konnte gar keinen Weg mehr erkennen; überall Wasser auf der einen und der andern Seite. Es war eine Verwegenheit, dies Übersetzen: besonders mit den Karren, denn im Moment einer Abweichung von der Furt wären sie mit ihrer Ladung verloren gewesen. Einer von ihnen war schon dabei unterzugehen.“

Der Heiligen war die Last nun wirklich unerträglich. Sie wandte sich mit demütiger Vertrautheit an ihren geliebten Gott und riskierte einen Vorwurf: „Musste, o Gott, nach so viel Schwierigkeiten auch dies noch sein?“ Gott aber habe ihr geantwortet: „Teresa, das ist die Art, in der ich mit meinen Freunden umgehe.“ Sie darauf: „Oh mein Gott, genau aus diesem Grund hast du so wenige!"[3]

Martin Luther, ein Antipode

Diese Episode reizt dazu, Teresa von Avila mit ihrem berühmten Zeitgenossen, dem Reformator Martin Luther, zu vergleichen. Auch sein Leben kreiste ja um Gott. Dennoch wurde er anscheinend zu einem Urahn der schon beklagten, modernen Gott-Vergessenheit.[4] Vor allem aber tritt vor der dunklen Folie von Luthers Gottesbild Teresas treuherzige Freundschaft mit Gott hervor.

Luthers Gottsuche war ohne Zweifel von allergrößter Ernsthaftigkeit. Die Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ wurde zum Grundimpuls seiner Existenz. Doch ist sein Gottesbild erschreckend missgestaltet. Es verkennt den gütigen Vater, den uns Gottes Sohn Jesus Christus verbindlich geoffenbart hat. Nicht nur während der Gewitterangst des Jahres 1505, die Martinus ins Erfurter Kloster trieb, sondern auch noch 30 Jahre später quält ihn seine Furcht. 1534 deutet er als Lehrer in seiner Vorlesung den Psalm 90: „Mitten in dem Leben sind wir vom Tod umfangen…“ Seine Worte spiegeln, dass sein Gemüt eine tiefe Düsternis umgibt. Er kann dem hereinbrechenden Tod nicht entfliehen und hat die eigene Verderbtheit vor Augen. Das erfüllt ihn mit lähmendem Grauen. Er sucht nach Glaubensaussagen, die jedenfalls ihm persönlich den Weg zum Heil weisen. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Aber der Verzweifelte findet keinen Trost. In seiner kraftvollen Sprache gibt er dem Problem seine dramatische Spitze:

„Wir sind alle zum Tod gefordert, und es wird keiner für den anderen sterben, sondern ein jeglicher muss geharnischt und gerüstet sein, für sich selbst mit dem Teufel und Tode zu kämpfen … Es muss ein jeglicher auf seine Schanz [Kampfplatz] selbst sehen und sich mit den Feinden, mit dem Teufel und dem Tod selbst einlegen und allein mit ihnen im Kampf liegen; ich werde dann nicht bei dir sein und du nicht bei mir“.[5]

Luther hat vom Bild Gottes die Liebe amputiert. Für ihn ist Gott eine unergründliche Majestät, die dem Menschen Furcht und Schrecken einjagt. O-Ton Luther: „Er schlingt einen hinein, mit großem Eifer und Zorn…, er ist ein verzehrend, fressiges Feuer“.[6] Wie vor diesem „Keltertreter“ bestehen? Der Reformator hat seine Antwort: Es ist der nackte Glaube, der rechtfertigt. Jede Liebes-Hinwendung ist von der Bewegung des menschlichen Herzens auf Gott hin absolut fernzuhalten. Der Reformator findet mehrfach beißende Worte gegen die, die Gott Liebe zuwenden: dies sei den „schlüpfrigen und fliegenden Geistern“ nun „gewehret und das einmal gesteckt“.[7] Die schockierende Quintessenz wird uns schließlich nicht erspart: „Maledicta sit caritas“ – „Verdammt sei die Liebe“.[8]

John Henry Newman

Der zweite Widerpart zu Luther mag der englische Kardinal und Selige John Henry Newman († 1890) sein – auch er ein Kronzeuge der Faszination, die Gott ist und die er in Heiligen weckt. John Henry’s menschliche und religiöse Formung wurde in einem anglikanischen Internat im Londoner Stadtteil Ealing grundgelegt. Doch bis zum Alter von 21 Jahren lockerte sich seine Gottesbeziehung beträchtlich. In hartem Ringen erkannte er dann langsam die katholische Kirche als Hort der Wahrheit.

Er war fraglos ein Gigant des Wissens, der Kultur seines Jahrhunderts und nicht zuletzt der Theologie. Er brach aus seiner Studierstube aus und machte die Erfahrung anderer Länder. Beeindruckend ist sein geschriebenes Erbe: Über seine „Selbstverteidigung“ und die anderen autobiographischen Texte hinaus sind uns von ihm 20.000 Briefe erhalten. Die geplante Gesamtausgabe, die die „Tagebücher“ und unveröffentlichten Aufzeichnungen umfassen wird, ist auf 40 Bände geplant. Das beeindruckt, aber entmutigt auch, wollte jemand eine Synthese seines Lebens zu formulieren versuchen.

Dennoch zeigt seine geistige Hinterlassenschaft, dass auf den Wegen und Irrwegen seiner Erdentage sein Interesse sich zunehmend auf ein unzerstörbares Fundament hin ausrichtet: Zunehmend bestimmt ihn die Sehnsucht nach dem dreifaltigen Gott. Immer aufmerksamer trachtet er danach, sich auf den Weg der Vereinigung mit diesem Gott bringen zu lassen. Er sieht ein, dass abstrakte Theologie nicht ausreicht, und darum betont er die „religiöse Einbildungskraft“ (religious comprehensiveness). Diese klingt – davon ist er überzeugt – in den sachlichen Formulierungen der Theologie nur an, muss also aus ihnen noch erwachsen. Erst durch die religiöse Einbildungskraft können sie den suchenden Menschen wahrhaft ergreifen und ihn dazu bringen, aus der verwickelten Unordnung seiner Welt eine Ahnung Gottes zu gewinnen. Als Lehrer will er mit persönlichem Wissen und innerer Anteilnahme andere dazu anleiten, in das tiefer einzudringen, was sie bislang lediglich wussten.

Zur Erläuterung dieses Vorhabens wählt er das wohl größte Geheimnis unseres Glaubens; er wagt sich an die Lehre von der Dreifaltigkeit und benennt damit also ein Mysterium, das dem Religionspädagogen eher als ungeeignet zum Wecken seelischer Beteiligung gelten möchte. Er aber greift es auf, damit das Herz des Glaubenden angerührt wird. Er möchte es trotz der stark reflektierten Abstraktheit – „ein Gott in drei Personen“ – für die menschliche Einfühlung öffnen. Er nennt das Glaubensbekenntnis der Kirche, das Credo, einen

„Hymnus des Preisens, des Bekennens, einer tiefen, demütigen Huldigung, ähnlich den Lobgesängen der Auserwählten der Apokalypse … Kriegsgesang des Glaubens, mit dem wir zuerst uns selbst ermahnen, dann einer den anderen und dann alle, die innerhalb seiner Hörweite sind, in Hörweite der Wahrheit: Wer unser Gott ist und wie wir ihn anbeten müssen“.[9]

Solcher Lobpreis des Dreieinigen besteht im liebenden Verweilen bei den drei Personen und ist sich selbst genug. Der Beter braucht weiter nichts, als sie anzuschauen. Newman lehrt uns eine heute sicher seltene Gabe: die Selbstvergessenheit. In einer Predigt zum Dreifaltigkeitsfest des Jahres 1837 hatte er zunächst geäußert, dass dieser Tag gegenüber den anderen Festen des Kirchenjahres einen Ausnahmecharakter habe, da wir an solchen Daten generell unserer Erlösungstat durch Christus gedächten. „Aber heute feiern wir kein Werk der Barmherzigkeit Gottes uns gegenüber.“ Dies Fest solle die Christen nicht erinnern an das Gute, das Gott uns erwiesen habe. Dies Mal gehe es nicht um unsere Erwählung und Rettung:

„Vielmehr vergessen wir uns selbst und schauen lediglich auf Ihn, in Ehrfrucht und Schauer, und preisen doch voller Freude die Wunder – nicht Seiner Werke, sondern die Seiner eigenen Natur. Wir erheben Herz und Augen zu Ihm und sprechen von dem, was Er in sich selbst ist. Wir wagen von seinem ewigen und unbegrenzten Sein zu sprechen; wir betrachten direkt ein Geheimnis, das tiefe und unaussprechliche Geheimnis der Dreifaltigkeit in Einheit“.[10]

Es wundert nicht, dass ein Intellektueller wie der Selige bei solcher Hingabe an Gott nicht in affektiven Nebel abgleitet; schließlich hatte er gerade durch gründliches Studium und ausdauerndem theologischen Forschen – besonders der Kirchenväter – den Weg zur katholischen Kirche gefunden. Trotz seiner emotionalen Auslieferung behält er im Blick, dass uns Gottes Offenbarung in intellektuellen Inhalten hinterlassen wurde. Er verfällt nicht in den modernen Irrtum, Göttliches sei nicht in Worte zu fassen, so dass Gott selbst dann in geheimnisvolles Dunkel verschwindet: „Wir müssen um Gott wissen, bevor wir Liebe, Furcht, Hoffnung fühlen und Vertrauen in ihn. Verehrung muss ihren Inhalt haben…“.[11]

Es ist ja gerade Gottes staunenswerte Selbstoffenbarung, auf die wir bauen. Newman bleibt der theologischen Bestimmung treu, dass der Glaube eine klar umrissene Verstandeswahrheit als Fundament hat. Dennoch wird er auch der fühlenden Seele des Menschen gerecht, die sich nach Gott sehnt. „Solus cum solo“ – „Mein Gott mit mir“ ist das ihn treibende Ziel. „Der Befehl, der mich praktisch überwältigte, war: ‚Mein Sohn, gib mir dein Herz!‘“

Das A und O

Papst Franziskus warnt in seinem Apostolischen Schreiben „Über den Ruf zur Heiligkeit“ davor, die Imperative des Christseins „von der persönlichen Beziehung zum Herrn …zu trennen“ (Nr. 100). Hier liegt wirklich die größte aktuelle Falle der Kirche und all ihrer Glieder. Papst Benedikt hat sie angezeigt, als er die Enzyklika „Deus caritas“ – „Gott ist die Liebe“ schrieb. Er legt nämlich zunächst die Ermöglichung selbstloser Nächstenliebe dar, indem er mit wunderbaren Erwägungen von Gott als der Quelle der Liebe spricht – nicht in einem Halbsatz, sondern dadurch, dass er die Hälfte des Lehrschreibens der Gottesliebe widmet. Die Heiligen geben ihm Recht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] In einer Publikation habe ich mich ausführlich mit dem Problem der „Gott-Vergessenheit heute“ befasst: „Dein Angesicht, Gott, suche ich“, Media Maria 2017.
[2] Walter Nigg: Große Heilige, Zürich 1958, 204.
[3] S. Teresa di Gesù: Opere, Roma 1985, 1358, Fußnote 11.
[4] Vgl. Paul Josef Cordes: Dein Angesicht, Gott, suche ich, a.a.O., 129ff.
[5] Weimarer Ausgabe 10 II,1ff.
[6] Zitiert bei H. Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, Heidelberg 1955, 330.
[7] Ebd. 17, 2, 99.
[8] Ebd. 40, 1, 642.
[9] Abrufbar unter www.newmanreader.org/works/grammar
[10] John Henry Newman: Fifteen Sermons Preached before the University of Oxford Between A.D. 1826 and 1843, Oxford 1845, Sermon 23.
[11] John Henry Newman: Grammar of Assent, Oxford 1985, 83.

Zum Dokument des Papstes über den Ruf zur Heiligkeit

„Freut euch und jubelt!“

Papst Franziskus hat mit Datum vom 19. März 2018, dem Hochfest des hl. Josef, das Apostolische Schreiben „Gaudete et Exsultate“ – „Freut euch und jubelt“ über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute veröffentlicht. Pfarrer Erich Maria Fink misst dem Dokument eine zweifache Bedeutung bei. Einerseits sieht er darin eine ausgezeichnete Hilfe, um das derzeitige Pontifikat verstehen und schätzen zu lernen, andererseits ist es für ihn eine treffende Wegweisung, um in der heutigen Zeit den richtigen Weg für ein authentisch gelebtes Christentum zu finden. Nach Pfarrer Fink verdient das Schreiben eine viel größere Aufmerksamkeit, als es sie bisher gefunden hat.

Von Erich Maria Fink

Als ich 1986 zum Priester geweiht wurde, gab uns der Regens des Priesterseminars das bekannte Wort mit auf den Weg: „Werde, was du bist!“ Wir waren Neupriester geworden, mussten aber nun in unser neues Sein erst langsam hineinwachsen. Es begann die Aufgabe, Schritt für Schritt ein wirklicher Hirte zu werden, auf Jesus Christus zu schauen und nach seinem Vorbild im Weinberg des Herrn zu arbeiten. Für mich persönlich fing eine Schule des Lebens an, in der ich zunächst versuchen musste, die unbekannten Herausforderungen des Priesteramts überhaupt zu bewältigen. Als ich eine gewisse Selbstsicherheit erlangt hatte, konnte ich nach und nach seelsorgliche Erfahrungen sammeln. Vor allem das Russlandapostolat, das ich nach fünfzehnjähriger pastoraler Tätigkeit in Deutschland antreten durfte, öffnete mir auf eine ganz neue Weise die Augen für die Nöte und Bedürfnisse der Menschen, aber auch für das Heilsangebot und die heilende Liebe Gottes.

Papst Franziskus spricht mir aus dem Herzen

Mit seinem neuen Apostolischen Schreiben über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute spricht mir Papst Franziskus aus dem Herzen. Nach meiner ganzen seelsorglichen Erfahrung treffen seine Gedanken haargenau, worauf es im christlichen Leben wirklich ankommt. Ich kann das Dokument nur jedem wärmstens empfehlen. Es ist wiederum ein einzigartiges Geschenk des derzeitigen Pontifikats. Wenn wir uns nach diesen Sternen ausrichten, die Papst Franziskus am Firmament über unserem Leben in der Welt von heute aufleuchten lässt, finden wir zu einer authentischen Verwirklichung des Evangeliums. Seine Impulse können uns aus Einseitigkeiten herausführen, von Verhärtungen befreien, vor Verzerrungen und krankhaften Entwicklungen im geistlichen Leben bewahren, gleichzeitig aber zu einer frohen Hingabe an Gott und die Menschen befähigen.

Papst Franziskus beschreibt eine Heiligkeit, die sich im Geist der Demut und des vollkommenen Gottvertrauens entwickelt, die alles von Jesus Christus erwartet und nicht auf eigene Verdienste oder Kräfte setzt, die bereit ist, alles zu geben, ohne sich zu überfordern, die nichts Außergewöhnliches sucht, sondern danach strebt, sich im einfachen und alltäglichen Leben zu bewähren, die dem Kreuz nicht ausweicht und sich von allem, was das Leben mit sich bringt, geduldig führen lässt, die angesichts von Schwierigkeiten und Niederlagen nie aufgibt oder liegenbleibt, sondern immer wieder aufsteht und den Weg der Nachfolge fortsetzt, die sich der ständigen Angriffe des Teufels bewusst ist und sich mutig dem Kampf gegen alles Böse stellt, die gehorsam auf das Wort Gottes hört und aus den reichen Gnadenquellen der Kirche schöpft, die sich immer am Maßstab der Liebe Christi orientiert und mit missionarischem Eifer die Barmherzigkeit Gottes in die Welt zu bringen versucht.

Der Ruf an jeden

Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit großem Nachdruck die allgemeine Berufung zur Heiligkeit hervorgehoben. Eben darin sah der hl. Papst Johannes Paul II. eine der wichtigsten Aussagen des Konzils überhaupt. Papst Franziskus liefert dazu das entsprechende pastorale Konzept. Es ist erfrischend, wie konkret und einfach zugleich er dabei erklärt, worin Heiligkeit besteht.

So schreibt er: „Diese Heiligkeit, zu der der Herr dich ruft, wächst und wächst durch kleine Gesten. Eine Frau geht beispielsweise auf den Markt zum Einkaufen, trifft dabei eine Nachbarin, beginnt ein Gespräch mit ihr, und dann wird herumkritisiert. Trotzdem sagt diese Frau innerlich: ‚Nein, ich werde über niemanden schlecht reden.‘ Das ist ein Schritt hin zur Heiligkeit. Zu Hause möchte ihr Kind dann über seine Phantasien sprechen, und obwohl sie müde ist, setzt sie sich zu ihm und hört ihm mit Geduld und Liebe zu. Das ist ein weiteres Opfer, das heilig macht. Dann erlebt sie etwas Beängstigendes, aber sie erinnert sich an die Liebe der Jungfrau Maria, nimmt den Rosenkranz und betet gläubig. Das ist ein weiterer Weg der Heiligkeit. Dann geht sie aus dem Haus, trifft einen Armen und bleibt stehen, um liebevoll mit ihm zu reden. Das ist ein weiterer Schritt“ (Nr. 16).

Jeder sei berufen, an dem Platz, an dem er sich befinde, Heiligkeit zu leben. „Bist du ein Gottgeweihter oder eine Gottgeweihte? Sei heilig, indem du deine Hingabe freudig lebst. Bist du verheiratet? Sei heilig, indem du deinen Mann oder deine Frau liebst und umsorgst, wie Christus es mit der Kirche getan hat. Bist du ein Arbeiter? Sei heilig, indem du deine Arbeit im Dienst an den Brüdern und Schwestern mit Redlichkeit und Sachverstand verrichtest. Bist du Vater oder Mutter, Großvater oder Großmutter? Sei heilig, indem du den Kindern geduldig beibringst, Jesus zu folgen. Hast du eine Verantwortungsposition inne? Sei heilig, indem du für das Gemeinwohl kämpfst und auf deine persönlichen Interessen verzichtest“ (Nr. 14).

Und um zu zeigen, dass Heiligkeit ein weltumspannendes Phänomen sein kann und muss, zitiert er an verschiedenen Stellen die neuseeländische, westafrikanische, argentinische und kanadische Bischofskonferenz.

Ansporn durch die Heiligen

 Ohne jede Scheu vor ökumenischen Komplikationen kommt Papst Franziskus auf die Gemeinschaft der Heiligen zu sprechen. Gleich zu Beginn nennt er die „Wolke von Zeugen“, von der im Hebräerbrief die Rede ist (Hebr 12,1), und zwar von Zeugen, „die uns dazu anspornen, auf unserem Weg nicht stehen zu bleiben, und uns ermutigen, weiter dem Ziel entgegen zu gehen“. Und wie Franziskus betont, sind sie mehr als nur Vorbilder. „Die Heiligen, die bereits in der Gegenwart Gottes sind, unterhalten mit uns Bande der Liebe und der Gemeinschaft. Das Buch der Offenbarung des Johannes bezeugt dies, wenn es von den Märtyrern spricht, die für uns eintreten… (6,9-10). Wir können sagen: ‚Wir sind von den Freunden Gottes umgeben, geleitet und geführt. […] Ich brauche nicht allein zu tragen, was ich wahrhaftig allein nicht tragen könnte. Die Schar der Heiligen Gottes schützt und stützt und trägt mich‘“ (Nr. 3). Dabei zitiert er aus der Predigt von Papst Benedikt XVI., die dieser am 24. April 2005 bei der heiligen Messe zur Amtseinführung gehalten hat.

Und am Ende schreibt er liebevoll: „Mein Wunsch ist es, dass Maria diese Überlegungen kröne.“ Dabei betont er: „Sie ist die Heilige unter den Heiligen, die Hochgebenedeite, die uns den Weg der Heiligkeit lehrt und uns begleitet. Sie nimmt es nicht hin, dass wir fallen und liegen bleiben, und zuweilen nimmt sie uns in ihre Arme, ohne uns zu verurteilen. Das Gespräch mit ihr tröstet uns, macht uns frei und heiligt uns. Die Mutter braucht nicht viele Worte, sie hat es nicht nötig, dass wir uns anstrengen, um ihr zu erklären, was uns passiert. Es genügt, ein ums andere Mal zu flüstern: ‚Gegrüßet seist du, Maria …‘“ (Nr. 176).

Papst Franziskus bekennt sich eindeutig zur Rechtfertigung aus Gnade und nicht aufgrund von Werken, wie es eben zur Grundlage der reformatorischen Theologie geworden war (Nr. 52ff.). Doch habe dies die katholische Kirche schon lange vor dem hl. Augustinus gelehrt. Und der Primat der Gnade vor dem Willen schließe weder die Mitwirkung des Menschen aus, noch die reale Möglichkeit, heilig zu werden. So schreibt er: „Nur ausgehend von der in Freiheit aufgenommenen und in Demut angenommenen Gabe Gottes können wir mit unseren Bemühungen daran mitwirken, dass wir uns immer mehr verwandeln lassen“ (Nr. 56). Von einem „simul justus et peccator“ – „zugleich Gerechtfertigter und Sünder“, wie es Luther zum Grundprinzip seiner Theologie erklärt hatte, bleibt bei Papst Franziskus nichts mehr übrig. Vielmehr erinnert er schonungslos an die Ermahnungen des hl. Apostels Paulus, sich mit Hilfe der ungeschuldeten Gabe zu entwickeln und ein „lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer“ zu werden (vgl. Röm 12,1). 

Ein ständiger Kampf

Eine große Überraschung des Dokuments besteht darin, dass sich Papst Franziskus über ganze Passagen hinweg mit dem Thema „Teufel“ beschäftigt (Nr. 158-163). Für ihn ist der Weg zur Heiligkeit ein Ringen, das alle unsere Kräfte einfordert. Wir seien ständig dem Kampf zwischen Gut und Böse ausgesetzt. Dabei hätten wir nicht nur gegen „die Welt und die weltliche Mentalität“ bzw. „mit der eigenen Schwäche und den eigenen Lastern“ zu kämpfen. Vielmehr sei es „ein beständiger Kampf gegen den Teufel, welcher der Fürst des Bösen ist“. Er sei mehr als ein Mythos. „Der Teufel ist auf den ersten Seiten der Bibel gegenwärtig, an deren Ende aber steht der Sieg Gottes über den Satan“, so der Papst. Auch beziehe sich der Ausdruck des „Bösen“ am Ende des Vaterunsers „nicht auf etwas Böses im abstrakten Sinn, sondern lässt sich genauer mit ‚der Böse‘ übersetzen. Er weist auf ein personales Wesen hin, das uns bedrängt. Jesus lehrte uns, täglich um diese Befreiung zu bitten, damit die Macht Satans uns nicht beherrsche.“

Und Papst Franziskus lässt seine Überlegungen in die Ermahnung einmünden: „Das Wort Gottes lädt uns mit deutlichen Worten ein, ,den listigen Anschlägen des Teufels zu widerstehen‘ (Eph 6,11) und ,alle feurigen Geschosse des Bösen‘ (Eph 6,16) abzuwehren. Das sind keine romantischen Phrasen, denn unser Weg auf die Heiligkeit zu ist auch ein ständiger Kampf. Wer das nicht akzeptieren will, wird scheitern oder mittelmäßig bleiben. Für den Kampf haben wir die wirksamen Waffen, die der Herr uns gibt: der im Gebet zum Ausdruck gebrachte Glaube, die Betrachtung des Wortes Gottes, die Feier der heiligen Messe, die eucharistische Anbetung, das Sakrament der Versöhnung, die guten Werke, das Gemeinschaftsleben, der missionarische Einsatz“ (Nr. 162).

Spätestens hier wird verständlich, warum das Apostolische Schreiben im deutschsprachigen Raum so gut wie überhaupt nicht aufgegriffen wird. Jedenfalls passt es nicht in das Schema einer entmythologisierten Theologie.

Das Programm der Seligpreisungen

„Jesus erklärte mit aller Einfachheit, was es heißt, heilig zu sein, und er tat dies, als er uns die Seligpreisungen hinterließ (vgl. Mt 5,3-12; Lk 6,20-23). Sie sind gleichsam der Personalausweis des Christen“, so schreibt Papst Franziskus am Anfang des dritten Kapitels mit der Überschrift: „Im Licht des Meisters“.

Die darauffolgenden Betrachtungen über die Seligpreisungen nehmen einen breiten Raum ein. Zugleich sind sie sehr einfach geschrieben und enthalten keine schwergewichtigen theologischen Aussagen. Dennoch unterstreichen sie die entscheidenden Haltungen eines Christen, wenn er auf dem Weg zur Heiligkeit Fortschritte machen möchte.

Dem Papst wird nun von konservativer Seite vorgehalten, sein Apostolisches Schreiben gehe zu wenig auf die Bedeutung der Glaubensinhalte zur Erlangung des ewigen Heils ein. Deswegen verliere sich sein Schreiben letztlich in einem reinen Moralismus.

Tatsächlich betont Franziskus die gelebte Liebe als entscheidenden Maßstab für die Heiligkeit. Interessant ist dazu ein Zitat des hl. Bonaventura, das in einer Fußnote wiedergegeben wird: „So muss alle Geistestätigkeit aufhören, damit die Spitze der Liebe in Gott hinein getaucht und verwandelt wird. […] Weil hierin die Natur gar nichts und die eigene Anstrengung nur wenig zu vollbringen vermag, deshalb sollte man wenig Wert legen auf Forschung und viel auf Ergriffenheit; wenig auf das Reden, aber sehr viel auf die innere Freude; wenig auf Wort und Schrift, aber alles auf die Gabe Gottes, also den Heiligen Geist; wenig oder nichts sollte man auf das Geschöpf geben, alles aber auf das schöpferische Sein völlig, auf den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist (Itinerarium mentis in Deum, VII, 4-5)“ (Anm. 37).

Doch lehnt Papst Franziskus nicht die theologische Reflexion an sich ab, sondern setzt sich dabei mit der Ideologie des Gnostizismus auseinander, die auch heute in unterschiedlichen Formen die Menschen daran hindere, auf dem Weg zur Heiligkeit voranzukommen. Und so schreibt er: „Eine Sache ist der gesunde und demütige Gebrauch der Vernunft, um über die theologische und moralische Lehre des Evangeliums nachzudenken; etwas anderes ist es, danach zu streben, die Lehre Jesu auf eine kalte und harte Logik zu reduzieren, die al-les zu beherrschen sucht“ (Nr. 39).

Erscheinungsformen der Kirche

Auch mit den sog. „Neopelagianern“ geht Papst Franziskus hart ins Gericht. Man sollte sich die beiden Abschnitte ungekürzt zu Gemüte führen. Franziskus schreibt: „Dennoch gibt es Christen, die einen anderen Weg gehen wollen: jenen der Rechtfertigung durch die eigenen Kräfte, jenen der Anbetung des menschlichen Willens und der eigenen Fähigkeit; das übersetzt sich in eine egozentrische und elitäre Selbstgefälligkeit, ohne wahre Liebe. Dies tritt in vielen scheinbar unterschiedlichen Haltungen zutage: dem Gesetzeswahn, der Faszination daran, gesellschaftliche und politische Errungenschaften vorweisen zu können, dem Zurschaustellen der Sorge für die Liturgie, die Lehre und das Ansehen der Kirche, der mit der Organisation praktischer Angelegenheiten verbundenen Prahlerei, oder der Neigung zu Dynamiken von Selbsthilfe und ich-bezogener Selbstverwirklichung. Hierfür verschwenden einige Christen ihre Kräfte und ihre Zeit, anstatt sich vom Geist auf den Weg der Liebe führen zu lassen, sich für die Weitergabe der Schönheit und der Freude des Evangeliums zu begeistern und die Verlorengegangenen in diesen unermesslichen Massen, die nach Christus dürsten, zu suchen.

Oftmals verwandelt sich das Leben der Kirche, dem Antrieb des Heiligen Geistes entgegen, in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger. Dies geschieht, wenn einige christliche Gruppierungen der Erfüllung bestimmter eigener Vorschriften, Gebräuche und Stile übermäßige Bedeutung beimessen. Auf diese Weise pflegt man das Evangelium zu beschränken und einzuschnüren und man nimmt ihm so seine fesselnde Einfachheit und sein Aroma. Es ist vielleicht eine subtile Form des Pelagianismus, weil es das Leben der Gnade menschlichen Strukturen zu unterwerfen scheint. Dies betrifft Gruppen, Bewegungen und Gemeinschaften, und es erklärt, wieso sie oftmals mit einem intensiven Leben im Geist beginnen, aber später versteinert enden …oder verdorben (Nr. 57f.).

Verständlicherweise haben diese Aussagen heftige Reaktionen ausgelöst. Es wird gemutmaßt, wen der Papst konkret kritisiert haben könnte, vielleicht das „Opus Dei“, die „Petrusbruderschaft“ oder das „Neokatechumenat“. Und schon wendet man sich vom ganzen Dokument ab oder verwendet es sogar als neuerliches Argument gegen Papst Franziskus.

Ich finde die Aufzählung von unguten Haltungen und Erscheinungsformen durchaus berechtigt und hilfreich. Ja, ich muss zugestehen, dass ich mich in einigen selbst wiederfinden kann. Und ich bin dankbar, dass Papst Franziskus die Dinge so ehrlich beim Namen nennt.

Wir machen es uns wohl zu leicht, wenn wir Papst Franziskus nun einen religiösen Agnostizismus oder unorthodoxen Moralismus vorwerfen, nur um uns dem Anspruch des Schreibens entziehen zu können. Vielmehr sollten wir dem Papst das Recht zugestehen, den Zustand der Kirche zu untersuchen und reinigend einzuwirken. Und in aller Demut sollte jeder prüfen, inwieweit auch er von bestimmten Haltungen Abstand nehmen und neue Akzente setzen müsste.

Es gilt grundsätzlich: Jeder muss sich hinterfragen lassen, jeder muss geschliffen werden, jeder bedarf der Korrektur. Oft schleichen sich in unserem Leben Fäden ein, die an falschen Punkten festgemacht sind. Zunächst bleiben sie vielleicht sogar unsichtbar. Aber irgendwann werden sie zu einem Netz. Und selbst wenn es uns am Anfang noch gar nicht groß stört, so kann es uns doch einfangen wie ein Spinnennetz und schließlich vollkommen lähmen oder außer Gefecht setzen. Je früher wir uns befreien, umso geringer ist der Schaden.

Ausblick

Mit seinem Apostolischen Schreiben hat Papst Franziskus meiner Ansicht nach einen Leuchtturm errichtet, an dem sich die ganze Kirche orientieren sollte. In ihm strahlt der katholische Glaube unverfälscht auf. Jeder kann für seine christliche Sendung entscheidende Impulse empfangen, aber auch verstehen lernen, worum es Papst Franziskus in all seinen Entscheidungen geht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2018
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Zum 125. Geburtstag von Elisabeth Schmitz und Margarete Sommer

„Gerechte unter den Völkern“

Vor 125 Jahren wurden zwei deutsche Frauen geboren, die posthum von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ erhielten. Beide überlebten die Nazi-Zeit, obwohl sie sich mit ihrem Engagement für die verfolgten Juden in große Gefahr begeben hatten. Leider sind sie in Deutschland weitgehend unbekannt. Es handelt sich um die Katholikin Margarete Sommer aus Berlin (21.07.1893-30.06.1965, geehrt 2003) und um die Protestantin Elisabeth Schmitz aus Hanau (23.08.1893-10.09.1977, geehrt 2011). Sommer, die über Strafgefangenenfürsorge promoviert hatte und im Fach Sozialfürsorge dozierte, rettete mit Hilfe eines ganzen Netzwerks unzählige Menschen vor der Vernichtung. Seit 1932 war sie Mitglied einer Dominikanischen Laiengemeinschaft. Schmitz war eine echte Widerstandskämpferin, die von Anfang an erahnte, dass die Nazi-Politik zum Holocaust führen wird, und mit prophetischen Denkschriften aufzurütteln versuchte. Der bekannte Journalist und Schriftsteller Joachim Jauer ruft im Jubiläumsjahr die Verdienste dieser beiden Frauen in Erinnerung und stellt die Frage nach dem persönlichen Engagement jedes Einzelnen angesichts der Herausforderungen in unserer Zeit.

Von Joachim Jauer

„Hüter Israels, hüte den Überrest Israels, damit Israel nicht untergeht.“ Gesang in der Sabbatfeier, siebzig Jahre nach dem Holocaust. Unerschütterlicher Glauben der Überlebenden an der Klagemauer der Shoa.

Dokument des Grauens und der Versöhnung

Eine jüdische Legende aus uralten Zeiten berichtet, dass unsere Welt auf sechsunddreißig Gerechten ruhe, die niemand von gewöhnlichen Menschen äußerlich unterscheiden könne. Doch, „wenn es dazu kommt, dass nur ein einziger von ihnen fehlt, würde das Leid der Menschen alles bis auf die Seelen der Kinder vergiften und die Menschheit würde an einem Aufschrei ersticken“. Dies schrieb der Franzose André Schwarz-Bart 1959. Die Deutschen haben seine Eltern und seine beiden Brüder in Vernichtungslager deportiert. Sein Buch heißt „Der Letzte der Gerechten“. Es ist die Geschichte des Gerechten Erni Levy, der als „letzter seiner Familie von Gerechten“ gemeinsam mit einer Gruppe jüdischer Kinder in die Gaskammer von Auschwitz verschleppt worden war. Diese Leidenschronik der verfolgten Juden – „unsere älteren Brüder und Schwestern“, wie der polnische Papst Johannes Paul II. sagte –  ist nicht allein ein Dokument des Grauens, sondern vor allem ein Buch der Liebe und Versöhnung – auch der Versöhnung mit Deutschland, erklärte der Autor Schwarz-Bart – schon damals 1959.

Zwei deutsche Frauen unter den „Gerechten der Völker“

Israel nennt Menschen, die den verfolgten und drangsalierten Juden geholfen haben, die jüdisches Leben gerettet haben, gerecht, „Gerechte der Völker“. Es ist die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel an Nicht-Juden vergibt. Auch im Volk der Täter gab es Helfer. Sie blieben in der deutschen Erinnerungskultur bis heute meist unbekannt. Wohl, weil es störend wäre, an sie in besonderer Weise zu erinnern. Denn dann müssten sich viele fragen, warum sie damals nicht gerecht gehandelt haben. Das alles ist nicht überwundene Vergangenheit. Denn auch heute gilt es, angesichts der Verzweifelten, die unter Einsatz ihres Lebens über das Mittelmeer fliehen, gerecht zu handeln.

In der Holocaust-Gedenkstätte „Yad Vashem“ in Jerusalem werden die „Gerechten der Völker“, die damals Menschen unter Einsatz ihres Lebens retteten, geehrt. Yad Vashem bedeutet übersetzt „Denkmal und Name“.

Zwei Frauen, die Protestantin Elisabeth Schmitz und die Katholikin Margarete Sommer, haben in Berlin zahlreichen Juden zur Ausreise ins sichere Ausland verholfen. Sie haben unter Lebensgefahr Verfolgte versteckt und Netzwerke der Hilfe organisiert. Sie und ihre ungezählten anonymen Helfer haben tausende Menschenleben gerettet.

6000 untergetauchte Juden überlebten allein in Berlin

Etwa 25.000 Menschen erhielten in Israel den Ehrentitel, gerecht gehandelt zu haben, darunter 600 Deutsche. 600 von rund siebzig Millionen, die vor dem „Anschluss“ Österreichs in Hitlerdeutschland lebten. Unbekannt und zahlreich aber sind die Menschen, die im umfangreichen Netzwerk der Nächstenliebe von Margarete Sommer oder von Elisabeth Schmitz das Überleben von Verfolgten sicherten. Es sind die anonym gebliebenen „Gerechten“. Dazu zählen neben den Christen auch zahlreiche, einfach menschlich handelnde Unbekannte.

Der Versuch einer Rechnung macht die Größe des Kreises der Helfer deutlich. Als die Nazis 1933 ihre Diktatur errichteten, lebten in Berlin über 150.000 Juden, das waren etwa 3,8 Prozent der Bevölkerung. Den Terror des NS-Regimes haben in Berlin nicht einmal 6000 jüdische Bürger überlebt. Zeugen aus dem Kreis von Frau Sommer berichteten, dass jeder untergetauchte Jude 25 bis 30 verschiedene Verstecke, also viele wechselnde Helfer brauchte. Die genaue Zahl der Singles aber auch der zahlreichen Familien mit Kindern, die sich aus 25 Verstecken pro Person ergibt, ist nicht zu errechnen, doch sie ist bei knapp 6000 Überlebenden allein in Berlin enorm hoch. Einer, der in Berlin versteckt überlebte, war der spätere Rundfunk- und Fernsehstar Hans Rosenthal.

Die Katholikin Margarete Sommer verliert ihren Lehrauftrag

„Wer auch nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“. Das sagt der Talmud, das Werk zur Auslegung der jüdischen Thora, also der fünf Bücher Mose und ihrer Regeln für das tägliche Leben frommer Juden. Die deutschen „Gerechten der Völker“, die der Staat Israel ehrt, kamen aus der Sozialdemokratischen oder Kommunistischen Partei, aus der bürgerlich-demokratischen Opposition oder aus den Reihen engagierter Christen, unter ihnen Elisabeth Schmitz und Margarete Sommer. Beide wurden posthum ausgezeichnet.

Margarete Sommer, geboren 1893 in Berlin, war eine von nur 3500 Studentinnen im deutschen Kaiserreich. Der Zugang zur Universität blieb damals mit wenigen Ausnahmen Männern vorbehalten. Sie studierte Philosophie, Nationalökonomie, Geschichte und Rechtswissenschaft und wurde mit einer Arbeit über Strafgefangenenfürsorge promoviert. Ihr soziales Engagement war bereits in ihrer Doktorarbeit vorgezeichnet. Zunächst unterrichtete sie einige hundert junge Frauen im Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus. Margarete Sommer wurde als Dozentin für Fragen der Sozialfürsorge mit dem NS-Gesetz „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ konfrontiert. Sie weigerte sich, dem Gesetz zufolge für die Zwangssterilisation behinderter Menschen zu werben, und wurde daher gezwungen, ihren Posten im Pestalozzi-Fröbel-Haus zu kündigen.

Die Protestantin Elisabeth Schmitz wird mit 45 pensioniert

Elisabeth Schmitz, wie Margarete Sommer Jahrgang 1893, stammte aus Hanau. Sie hatte neben Geschichte und Germanistik auch Theologie studiert und wurde Lehrerin. Als promovierte Studienrätin am Berliner „Luisen-Oberlyzeum“ erfuhr sie, dass jüdische oder NS-kritische Lehrer aus ihrer Schule entlassen wurden, auch sie bekam Schwierigkeiten. Weil sie den Lehrplan „Formung des nationalsozialistischen Menschen“ nicht erfüllen wollte, wurde sie in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, mit gerade 45 Jahren.

Fromme Juden beten täglich, morgens nach dem Erwachen und abends vor dem Schlafengehen, zu dem einen Gott: „Höre, Israel, Adonai ist unser Gott, Adonai ist der einzige Gott. Darum sollst du den Ewigen, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern erzählen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um dein Handgelenk binden. Sie sollen als Merkzeichen auf deiner Stirn sein.“

Margarete Sommer wird Leiterin des „Hilfswerks“ für verfolgte Juden

Für die verfolgten und drangsalierten Juden betete der katholische Priester Bernhard Lichtenberg öffentlich an jedem Abend in der Berliner Bischofskirche St. Hedwig – tausend Meter von der Reichskanzlei Hitlers entfernt. Lichtenberg, ein erklärter Kriegsgegner, predigte auch gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus. Er leitete mit Unterstützung des Berliner Bischofs Graf Preysing ein „Hilfswerk“ für die verfolgten Juden. Dompropst Lichtenberg protestierte öffentlich gegen den landesweiten antijüdischen Pogrom am 9. November 1938, der von den Nazis verächtlich „Reichskristallnacht“ genannt wurde. Lichtenberg mahnte: „Draußen brennt die Synagoge. Das ist auch ein Gotteshaus!“ Der Priester rief die Katholiken zum Gebet für die Juden auf: „Handelt auch in diesen unchristlichen Zeiten nach dem strengen Gebot Jesu Christi: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Denn: „Die Taten eines Menschen sind die Konsequenzen seiner Grundsätze. Sind die Grundsätze falsch, so werden die Taten nicht richtig sein“. Der mutige Priester, auch er ein „Gerechter unter den Völkern“, wurde im Oktober 1941 verhaftet, kam in Strafhaft und starb auf dem Weg in ein Konzentrationslager. Schon lange war Margarete Sommer mit Bernhard Lichtenberg gut vernetzt. Sie übernahm nach seiner Verhaftung die Leitung des „Hilfswerks“.

Sie schickt Informationen über die Nazi-Verbrechen nach Rom

Margarete Sommer plädierte wie der katholische Bischof von Berlin Graf Preysing für öffentlichkeitswirksame Schritte des Episkopats gegen die Nazi-Propaganda. Sie forderte aktiven Einsatz für die „unveräußerlichen Rechte aller Menschen“, denn sonst, sagte sie, würden die Bischöfe „vor Gott und den Menschen“ durch „Schweigen schuldig“. Sie schickte geheime Informationen über die Nazi-Verbrechen ins Ausland, einige mit dem handschriftlichen Vermerk: Ging durch Kurier nach Rom. Ob es einen Kurier mit Antwort aus Rom gab, ist nicht bekannt geworden. Dem Vatikan hatte sie mehrere präzise Informationen über die Verfolgung der Juden, zunächst über den Zwang, den „Judenstern“ zu tragen, dann über die gefährdeten sogenannten „jüdischen Mischlinge und Mischehen“ übermittelt. Sie gab erste Berichte über Deportationen und Vernichtungslager weiter. Sie schrieb, „dass sowohl die Alten aus den Heimen und Pensionen wie auch aus eigenen Wohnungen und möblierten Zimmern abtransportiert werden. Auch völlig Sieche und Kranke wurden, teilweise sogar auf Bahren, in Möbelwagen verladen und dann in die Sammelstelle getragen. Bei einem dieser Transporte ist es in Berlin zu Unruhen gekommen, da die Bevölkerung in scharfer Weise Stellung genommen hatte gegen die unmenschliche Art des Transports. Gerüchteweise verlautet, dass es –  dort im Osten – unzählige Todesopfer durch eine Flecktyphusepidemie gegeben habe“.

Sie wird eine entschiedene Gegnerin des NS-Regimes

Dass Margarete Sommer über die Gräueltaten und Massenerschießungen berichtete, war in Hitlerdeutschland „Hoch- und Landesverrat“. Sie hat nach Aussagen von Zeitzeugen nie von „Widerstand“ gesprochen, sondern gesagt, dass ihre ganze Arbeit täglich die „Gegnerschaft zum NS-Regime“ beweist. Doch sie leistete tatsächlich Widerstand, indem sie den verfemten Juden half. Das bedeutete ständigen Bruch der Gesetze des nationalsozialistischen Staates. Über ihre Privatadresse in Kleinmachnow bei Berlin vermittelte sie Hilfspakete von Angehörigen in das Konzentrationslager Oranienburg-Sachsenhausen.

Nach dem Krieg erklärte sie ihr Handeln: „Gesetz und Recht haben sich damals nicht gedeckt. Deshalb war das Gesetz des Staates dem höheren Gesetz des Rechtes, nämlich dem Gesetz des Gewissens untergeordnet.“

Das „Hilfswerk“ kooperiert mit dem evangelischen „Büro Pfarrer Grüber“

In Berlin versuchte neben dem katholischen „Hilfswerk“ das evangelische „Büro Pfarrer Grüber“ den verfolgten Juden zu helfen. Das Büro war 1938 auf Wunsch der Bekennenden Kirche, also des regimekritischen Teils der evangelischen Kirchen, gegründet worden. Es verhalf mehr als eintausend Juden zur sicheren Emigration. Offiziell sollten – wie beim katholischen „Hilfswerk“ – getaufte und in die jeweilige Kirche eingetretene Juden unterstützt werden. Tatsächlich galt die Hilfe aber jedem jüdischen Bürger, der sich bei den christlichen Helfern meldete.

Ging es zunächst um Wohnungs- und Arbeitssuche für die Entrechteten oder um Unterstützung bei der Emigration ins schützende Ausland, so war nach 1941 die Hauptaufgabe, jüdisches Leben zu retten. Katholisches Hilfswerk und evangelisches Büro Grüber halfen, gehetzte Menschen, die bei ihnen anklopften, irgendwo unterzubringen. Nachts kamen die Verfolgten zu Dutzenden ins Haus. Die Menschen wurden bei zuverlässigen Gemeindemitgliedern oder in den Laubenkolonien am Rande der Stadt versteckt.

Das evangelische „Büro Pfarrer Grüber“ und das katholische „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat“ waren Nachbarn in der Berliner Oranienburger Straße, in der Nachbarschaft von Berlins größter Synagoge. Beide arbeiteten geheim zusammen und kooperierten ebenso geheim mit den Vertretern der Jüdischen Gemeinde. Nur wenige Einzelheiten über die Verstecke der Verfolgten sind überliefert. Zeitweilig waren mindestens vier untergetauchte Juden in der Krypta der Herz-Jesu-Kirche untergebracht. Einer von ihnen war Mitglied der KPD und ehemaliger Offizier des „Rot-Front-Kämpferbundes“. Auch er überlebte, unterstützt von Margarete Sommer.

Elisabeth Schmitz engagiert sich mit Pfarrer Helmut Gollwitzer

Es ist nicht bekannt, ob Elisabeth Schmitz aktive Kontakte zum „Büro Grüber“ gehabt hat. Sicher ist, dass sie schon früh im Kirchenvorstand der „Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche“ war und so vor allem mit Pfarrer Helmut Gollwitzer in enger Verbindung stand, alle engagiert in der Bekennenden Kirche. Insgeheim hatte Elisabeth Schmitz bereits an einer Denkschrift  „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ gearbeitet. Das war eine Sammlung von Erlebnisberichten über die alltäglich gewordene Not der Verfolgten, über das brutal-bürokratische Verhalten von Ämtern und Behörden, das widerwärtige Spionieren und Denunzieren durch Nachbarn und Kollegen. Sie wagte es, etwa 200 Exemplare dieses Kompendiums an führende Mitglieder der Bekennenden Kirche zu verschicken. Ihre Denkschrift wurde jedoch auf der Bekenntnissynode 1935 nicht besprochen. Und das, obwohl sie schon so früh wörtlich betonte „dass es keine Übertreibung ist, wenn von dem Versuch der Ausrottung des Judentums in Deutschland gesprochen wird“. Wenige haben das damals so klar gesehen und davor geradezu prophetisch gewarnt wie Elisabeth Schmitz: Ausrottung des Judentums, Vernichtung der jüdischen Rasse.

Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels hat 1943 im Berliner Sportpalast gesprochen. Vor einem fanatisierten Publikum hat er den „totalen Krieg“ angekündigt und auch die „radikalste Ausschaltung des Judentums“ angedroht. „Deutschland jedenfalls hat nicht die Absicht, sich dieser jüdischen Bedrohung zu beugen, sondern vielmehr die, ihr rechtzeitig und wenn nötig vollkommen und mit der radikalsten Ausschaltung des Judentums entgegenzutreten“ (Beifall).

Ihre warnenden prophetischen Appelle finden kein Gehör

Angesichts dieses wahnsinnigen Programms der Nazis wandte sich Elisabeth Schmitz Hilfe suchend an den berühmten Theologen Karl Barth, der sich von der Schweiz aus für die Bekennende Kirche einsetzte. Doch auch der lehnte ein öffentliches Wort zu der sogenannten Judenfrage ab. Auch mit einem Nachtrag zu ihrer Denkschrift, in dem sie die „Nürnberger Rassegesetze“ scharf kritisierte, fand Frau Schmitz kein Gehör. An Helmut Gollwitzer schrieb sie bereits 1938, nachdem die Nazis in der Nacht vom 9. zum 10. November Ausschreitungen und Gewalt gegen Juden und jüdische Einrichtungen organisiert hatten und Synagogen landesweit brannten: „Als wir 1933 schwiegen, als wir schwiegen zu den Stürmerkästen, zu der satanischen Hetze in der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte ‚Gesetze‘, zu den Methoden von Buchenwald – da und tausendmal sonst sind wir schuldig geworden an diesem 9. November 1938.“ – „Denn hier geht es um die Existenz von Hunderttausenden, es geht um das nackte Leben. Und es geht um die Haltung der Christen, der Gemeinde, der Kirche. Es geht um die Schuld des Volkes und um die Sünde der Kirche. Und sollte es nicht auch gehen um Zittern und Furcht und Schrecken vor dem, der ein eifriger Gott ist, und von dem die Losung sagt: ‚Der Herr ist Richter über die Völker‘?“

Elisabeth Schmitz hat gewarnt, wörtlich, „dass mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet“. Doch ihre Schriften wurden erst lange nach dem Krieg bekannt.

Deutschland weicht der Frage nach dem persönlichen Widerstand aus

Das westliche Nachkriegsdeutschland tat sich mit der Aufklärung der NS-Verbrechen schwer. Richter und Staatsanwälte, die bereits während der braunen zwölf Jahre in der Justiz tätig waren, vergaßen, verschleppten, übersahen, ermittelten unzureichend oder gar nicht. Im Osten hatten sich die deutschen Kommunisten der Siegermacht Sowjetunion angedient, gaben sich selbst als Sieger über den „Hitler-Faschismus“ aus, steckten – oft ohne Ansehen der Person – Schuldige ebenso wie Unschuldige in ihre Zuchthäuser oder ließen sie in Straflager der Sowjetunion abtransportieren. Die SED behauptete wahrheitswidrig, der „Faschismus sei mit Stumpf und Stiel ausgerottet“. Aber auch gewendete Nazis fanden in dieser Partei Unterschlupf. Wolf Biermann, der ehemals rote Dichter, reimte: „So gründlich haben wir geschrubbt mit Stalins hartem Besen, dass rot verschrammt der Hintern ist, der vorher braun gewesen.“

Beide deutsche Staaten wollten die zwölf Hitler-Jahre möglichst vergessen. Und dabei vergaßen sie auch, an den Widerstand der vielen Unbekannten zu erinnern. Ja, es gab das Gedenken an den bekannten Widerstand, den mutigen Offizier von Stauffenberg mit den Verschwörern vom 20. Juli, den „Rote Kapelle“ genannten Kreis um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, die aufrechte Gruppe „Weiße Rose“ der Geschwister Scholl, Christoph Probst und Alexander Schmorell. Aber dabei lernten die Deutschen in West und Ost, dass deren Widerstand gescheitert war und stets zum Opfergang unter das Fallbeil oder den Galgen wurde. So rettete sich eine ganze Generation, die der Täter, der Mitläufer oder Mit-Schweiger vor den Fragen nach ihrem persönlichen Widerstand mit der Antwort, dass solches Aufbegehren gegen Hitler das Leben kostete. Und je mehr die Nach-Geborenen von den Nazi-Verbrechen erfuhren, desto dankbarer wurden sie, dass sie all dem nicht ausgesetzt waren, dass sie sich in den Jahren der Diktatur nicht entscheiden mussten, dass ihr Mut nicht gefordert war. Wie erfolgreich Menschenleben rettender Widerstand sein konnte, zeigte einem großen Publikum sehr viel später erst der Film „Schindlers Liste“.

Der Gerechte wirkt kein Wunder, er selbst ist das Wunder

Margarete Sommer und Elisabeth Schmitz, zwei „Gerechte der Völker“, sind in Deutschland heute fast vergessen. „Der du Wohlgefallen am Gebet findest und Verzeihung durch das Flehen gewährst“, singen Juden in der Sabbatfeier, „erweise Wohlgefallen und verzeihe der armen Generation, die ohne Helfer ist“. Die höchste Ehrung haben die beiden Frauen in Israel erfahren. Die jüdische Überlieferung von den sechsunddreißig Gerechten lehrt: „Wenn es dazu kommt, dass ein einziger unter ihnen, den Gerechten, fehlt, würde die Menschheit an einem Aufschrei ersticken“. Der Gerechte wirkt kein Wunder, er selbst ist das Wunder. Das haben Elisabeth Schmitz, Margarete Sommer und ihre ungezählten unbekannten Helfer vorgelebt, als „Gerechte unter den Völkern“, als Jüngerinnen und Jünger des „Gerechten aus Nazareth“.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2018
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Die politische Debatte um Werbung für Abtreibung ist zutiefst unmenschlich

Deutscher Ärztetag sagt „Nein“

Der Bundesverband Lebensrecht (BVL), in dem die Bewegungen KALEB e.V. und Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA) organisiert sind, rufen zu einem deutlichen Signal an die Politik auf. Denn die derzeitige Debatte über die Aufhebung des Werbeverbots für Abtreibungseinrichtungen sei ganz offensichtlich von den unmenschlichen „Lügen der Abtreibungslobby“ geprägt. Selbst der Deutsche Ärztetag habe sich gegen eine Legalisierung ausgesprochen. Die Abgeordneten, welche die Tötung Ungeborener als Unrecht betrachten, wie es auch im Gesetz verankert ist, und Abtreibung nicht als Menschenrecht anerkennen wollen, seien in der Minderzahl. Umso mehr bräuchten sie jetzt unsere ganze Unterstützung.

Von Cornelia Kaminski

Zeugnis einer dreifachen Mutter

Ich bin so dankbar für jede von Ihnen“ – das schrieb uns dieser Tage eine junge Mutter, die auf Grund des persönlichen Zuspruchs von KALEB e.V. und der Patenschaftsunterstützung durch die Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA) „Ja“ sagen konnte zu ihrem ungeborenen Kind. Der Ehemann wollte kein weiteres Kind. Sie selbst sah sich mit den bereits vorhandenen zwei Kindern und der Perspektive, allein dazustehen, völlig überfordert. „Meine Situation in den ersten Wochen der Schwangerschaft war sehr schwer,“ schreibt sie. „Ich hatte viele Ängste, wollte mein Baby abtreiben und hatte auch für mich nur wenig Lebenswillen. Ich hatte so viel falsch gemacht.“ In dieser Notsituation traf Jana (Name geändert) auf Beraterinnen, die ihr nicht nur Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten vermittelten und finanzielle Unterstützung zusicherten, sondern die ihr durch ihr Handeln auch einfach klar machten, was gelebtes Christentum bedeutet. „Ich wurde wieder aufgebaut, unterstützt und in Liebe angenommen“, fährt die junge dreifache Mutter fort. „Heute kann ich sagen, dass ich Hoffnung und Zuversicht für unsere Zukunft habe. Jeden Tag erinnert mich meine Tochter an die Gnade, die ich erfahren habe.“

Sind Kinder „empfindungsfreie Zellformationen“?

Geschichten wie diese können die ehrenamtlichen Mitarbeiter von KALEB und ALfA, beide organisiert im Bundesverband Lebensrecht (BVL), viele erzählen und es gibt sicher noch weit mehr davon. Jana gehört zu den über 100.000 Frauen, die jedes Jahr in Deutschland vor der Frage stehen, ob sie sich ein Leben mit dem Kind, das in ihnen heranwächst, vorstellen können oder nicht. Die wenigsten von ihnen gehen leichtfertig an die Entscheidung heran, viele leiden jahrelang darunter, sich gegen ihr Kind entschieden zu haben. Diese Wahrnehmung ist nur schwer in Einklang zu bringen mit der Respektlosigkeit, mit der über das menschliche Leben im Mutterleib mancherorts gesprochen wird.

Das sei lediglich „Schwangerschaftsgewebe“, so zum Beispiel Frau Hänel, die wegen der Werbung für Abtreibungen auf ihrer Webseite im Dezember verurteilt wurde. Das sei eine „empfindungsfreie Zellformation“, so Michael Schmidt-Salomon, Sprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Das sind Äußerungen, die für eine Frau, die zum Beispiel durch eine Fehlgeburt ihr Kind verloren hat, kaum erträglich sind, die aber die gesellschaftliche Einstellung bezüglich des Werts ungeborenen menschlichen Lebens sehr negativ beeinflussen.

Niemand braucht Werbung für Abtreibungseinrichtungen

Was daher alle Frauen im Schwangerschaftskonflikt brauchen, ist eine umfassende, zugewandte Beratung, die ihnen eine tatsächliche Perspektive eröffnet. Sie brauchen Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Erreichbarkeit. Was sie nicht brauchen, sind Unwahrheiten, die sie spätestens bei einer weiteren Schwangerschaft wieder einholen: dann nämlich, wenn die „empfindungsfreie Zellformation“ plötzlich im Ultraschallbild erkennbar ist und fröhlich im Bauch der Mutter Purzelbäume schlägt. Auch schon mit 12 Wochen. Und was tatsächlich niemand braucht, ist Werbung für Abtreibungseinrichtungen.

Dennoch wird gerade darüber im Deutschen Bundestag debattiert. Die Stimmen mehren sich, das Werbeverbot für Abtreibungen abzuschaffen. In diesem Jahr gilt es daher ganz besonders, laut und deutlich zu sagen, dass Abtreibungen keine Lösung sind. Für niemanden. Nicht für die Eltern – häufig leidet auch der Vater enorm darunter, nicht für sein ungeborenes Kind einstehen zu können –, nicht für die Ärzte (immer weniger möchten mit Abtreibungen ihr Geld verdienen), und schon gar nicht für die betroffenen ungeborenen Kinder.

Dringlicher Appell gegen weitere Aufweichung des Lebensschutzes

Die momentan geführte politische Debatte um Werbung für Abtreibung ist daher zutiefst unmenschlich. Und sie ist nur Teil einer tiefer gehenden Kampagne, in der es um weit mehr geht als den § 219a. Wenn selbst der Deutsche Ärztetag erklärt, dass er keine Legalisierung der Werbung für Abtreibung befürwortet, wird deutlich, dass die eigentlichen Drahtzieher nicht Mediziner sind, die sich zu Unrecht mit einem Bein im Gefängnis sehen, wenn sie für Abtreibungen werben.

Denjenigen, die nun die Abschaffung des § 219a fordern, ist der gesamte Kompromiss, der die Abtreibung in Deutschland zwar nicht für rechtmäßig, aber dennoch straffrei erklärt, ein Dorn im Auge. Die gesamte Beratungsregelung gehöre abgeschafft, da sie Frauen bevormunde. Stattdessen sei Abtreibung ein Menschenrecht, so z.B. Pro Familia im Informationsblatt „Pro Familia Position: Das Recht der Frau auf selbstbestimmte Entscheidung“ (Mai 2012). So auch Gesine Age-na, die frauenpolitische Sprecherin der Grünen. Sie hält den § 218 für frauenfeindlich und fordert seine komplette Abschaffung. Damit würden in Deutschland ohne jede Beschränkung Kinder vorgeburtlich getötet werden. Auch noch in den letzten Tagen der Schwangerschaft.

Viele Abgeordnete und Politiker im Bundestag haben hingegen bereits erklärt, dass sie weiterhin an der staatlichen Aufgabe, das Leben eines jeden Menschen – auch des ungeborenen – zu schützen, festhalten werden.  Aber sie sind in der Minderheit. Und sie brauchen daher dringend die Unterstützung der Menschen in Deutschland: ein deutliches Signal an die Politik, dass eine weitere Aufweichung des Lebensschutzes mit ihnen nicht zu machen ist, ein dringlicher Appell, anstelle von Werbung für Abtreibung Hilfe und Zuwendung zu bieten.

Von ganzem Herzen danke ich für die Unterstützung

„Ich habe sie gesehen und war überglücklich“, schreibt Jana über den Moment, als sie ihre Tochter das erste Mal im Arm halten konnte. „Sie ist ein wunderbares Kind. Von ganzem Herzen möchte ich mich für die vielfältige Unterstützung bedanken, die ich durch Gespräche, Ermutigungen und ganz besonders Ihre finanzielle Hilfe erfahren habe.“

Für Mütter wie Jana organisiert der Bundesverband Lebensrecht den „Marsch für das Leben“. Für ihre kleine Tochter. Für werdende Eltern, die Gefahr laufen, die Lügen der Abtreibungslobby zu glauben. Und für all die anderen jungen Eltern, die verzweifelt sind, und denen so mancher nichts Anderes zu bieten hat, als Abtreibungen als einfache Lösung, ja als „Menschenrecht“ darzustellen.  Setzen wir dagegen gemeinsam ein deutliches Zeichen für das Recht auf Leben aller Menschen!

www.bundesverband-lebensrecht.de

www.facebook.com/marschfuerdasleben/

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2018
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Fatima und die junge Bundesrepublik (Teil 9)

Europa nach dem Vorbild Karls des Großen

Der europäische Einigungsprozess, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit großem Elan begonnen hatte, ist ins Stocken geraten. Heute sieht sich die Europäische Union mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Die anfängliche Euphorie ist Ängsten gewichen, welche die europäische Idee zugunsten nationaler Interessen mehr und mehr verdrängen. Wir spüren die Notwendigkeit, die Weichen neu zu stellen, sollte das „europäische Projekt“ vor dem Scheitern bewahrt werden. Ein Blick auf das Europa Karls des Großen kann uns dabei Orientierung geben. Schon die Gründungsväter des Vereinten Europas haben verstanden, dass die europäischen Nationen ohne christliche Seele keinen inneren Zusammenhalt finden würden. So haben sie den Akzent auf die geistige und geistliche Erneuerung des gesellschaftspolitischen Lebens gesetzt, aber nicht nur nach einem Katalog christlicher Werte, sondern im Geist eines lebendigen und vertrauensvollen christlichen Glaubens. Im 9. Teil ihrer Artikelserie über die junge Bundesrepublik weisen Prof. Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea auf ein interessantes Detail hin, nämlich die Parallele des Blicks auf Maria in der karolingischen Zeit und in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Nach dem Untergang Roms unter dem „Migrationsdruck“ der Völkerwanderung führte Karl der Große das christliche Abendland zu seiner ersten Blüte der Frömmigkeit und der Kultur. Warum orientierten sich die europäischen Gründungsväter Konrad Adenauer (1876-1967), Robert Schuman (1886-1963) und Alcide De Gasperi (1881-1954) an Karls Europa? Öffnet Karls Erbe auch heute Wege zu geistlicher und geistiger Erneuerung? Und warum stand Maria am Anfang Europas? In den Triebkräften der „Karolingischen Wiedergeburt“ zeigt sich, was christliches Leben zu allen Zeiten und immer wieder aus seinen Krisen führt.

Sacrum Imperium und Europa

Aus der Begegnung zwischen dem Papst und dem Pater Europae, dem Vater Europas, wie Karl schon zu Lebzeiten genannt wurde, erwächst das spannungsreiche Gefüge aus politischem und kirchlichem Handeln, das „Sacrum Imperium“ – „Heiliges Reich“ genannt wird und abendländisches Staatsdenken kennzeichnet. Der Philosoph Alois Dempf (1891-1982) formuliert seine Leitidee: „Christus ist König und Prophet, ihm untersteht das weltliche und das geistige Schwert, das er auf Erden durch die geistliche und weltliche Macht führen lässt – so zwar, dass sich die beiden Gewalten gegenseitig bedingen und begrenzen und auf Christus hin relativieren.“

Bereits 1928 gibt Dempf diesem Kerngedanken der Christdemokratie eine europäische Wendung: „Die Katholiken Europas müssen sich einigen unter der Idee des Königtums Jesu Christi, einen anderen Ausweg aus der gegenwärtigen Lage gibt es nicht."[1]

In den Zwischenkriegsjahren steht Dempf in persönlichem Austausch mit den späteren Gründungsvätern des modernen Europa, mit Konrad Adenauer, Robert Schuman und dem politischem Lehrer Alcide De Gasperis, Don Luigi Sturzo (1871- 1959), mit denen ihn Widerstand gegen den Totalitarismus verbindet. Die Präsenz dieser Vorstellung bei der Konzeption des modernen Europa belegt Dempfs Zueignung seines Werkes „Sacrum Imperium“ an Don Sturzo, den er erwartungsvoll „VENTURI SAECULO AUCTOR“ – „Stifter des kommenden Zeitalters“ nennt. Für Schuman, De Gasperi und Sturzo laufen Seligsprechungsprozesse. Adenauer lässt Dempf nach dem Krieg auf CDU-Parteitagen sprechen. Dempfs Tochter berichtet von Begegnungen mit der späteren Märtyrerin Edith Stein, die 1999 eine der drei Patroninnen Europas wird.

Aachen als geistiges Zentrum

In Aachen, seiner Lieblingspfalz, schafft Karl das geistliche und geistige Zentrum der karolingischen Renaissance, in der antike Zivilisation, das junge Christentum der germanischen Völker und die römische Kirche eine erste Hochblüte des christlichen Abendlandes hervorbringen. Ein noch heute sichtbares Zeugnis bietet Karls beeindruckender Bezirk aus Pfalz und Pfalzkapelle, dem Herzen des heutigen Aachener Doms. Fußend auf überlieferten Zahlensystemen repräsentieren die Proportionen des Domes das gesamte arithmetische, geometrische und astronomische Wissen dieser Zeit in tief durchdachter christlicher Symbolik.

Geistiger Motor der Erneuerung ist die Aachener Hofschule, an die Karl die bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit ruft, unter ihnen als herausragende Erscheinung den Angelsachsen Alkuin von York. Eine besondere Persönlichkeit ist auch der Franke Einhard, einer der ersten Schüler des Klosters Fulda, Karls Schwiegersohn und Nachfolger seines Lehrers Alkuin. An Karls Hof erkennen die germanischen Stämme, dass ihren Dialekten eine gemeinsame Sprache zugrunde liegt, für die sich der Name theodisk – deutsch durchsetzt. Durch die Cappella Carolina kam der Gregorianische Choral in das Frankenreich und begann von Aachen aus – nicht von Rom – seinen Siegeszug durch Europa. Bis heute ist der Gregorianische Choral das Herz der katholischen Kirchenmusik.

Karls Aachener Marienkirche

Patronin der Pfalzkapelle ist die Gottesmutter, die Schutzherrin des Sacrum Imperium von Anfang an. Karl macht ihre Kirche zum prächtigsten Bau nördlich der Alpen, ausgestattet mit römischem und ravennatischem Marmor und zahlreichen Reliquien. Ihr größter Schatz sind die vier Aachener Heiligtümer, unter ihnen ein Kleid Mariens. Seit 1239 werden sie alle sieben Jahre dem eigens für sie geschaffenen Marienschrein entnommen, neben dem Karlsschrein eine der bedeutendsten Goldschmiedearbeiten der Christenheit, und der Verehrung dargeboten. Die Heiligtumsfahrt machte Aachen neben Santiago de Compostela zum meistbesuchten Marienwallfahrtsort der Christenheit.

Die persönliche Marienverehrung Karls des Großen zeigt sich auch in seinem Einsatz für die Lehre von Mariä Himmelfahrt. Auf der Mainzer Synode des Jahres 813, an der Karl und Alkuin teilnehmen, wird dieses Fest in seinem Reich eingeführt. In der Ostkirche ist es mindestens bis ins 5. Jahrhundert am 15. August nachweisbar. Bis heute ist Mariä Himmelfahrt das Patronatsfest der Aachener Marienkirche. Eine Verbindung zwischen der karolingischen Wiedergeburt und dem geistigen Wiederaufbau nach 1945 zeigt die Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel im Jahre 1950. Pius XII. weist darauf hin: „Diese Aussage findet sich, um ein treffliches Beispiel zu nennen, in dem Sakramentar, das Unser Vorgänger Hadrian I. an Kaiser Karl den Großen schickte."[2]

Das Erbe Karls des Großen

Die karolingische Wiedergeburt war nur in Einheit mit dem Papsttum möglich, das zuvor allerdings selbst einen Niedergang überwinden musste. Zuvor hatte Bonifatius das Ordensleben und die Bistümer erneuert. Eine zentrale Aufgabe erfüllt aber auch der Laie Karl. „Stark ausgebildet war bei Karl ein Verantwortungsgefühl in religiösen Fragen; ein christlicher Herrscher hat auch dafür zu sorgen, dass Glaube und Glaubensausübung rein erhalten bleiben“, kennzeichnet der Historiker Horst Fuhrmann (1926-2011) sein Wirken.[3] Im Bewusstsein seiner Verantwortung für den Glauben und die Frömmigkeit seiner Untertanen habe Karl sich frühzeitig um eine gründliche Ausbildung der Priester bemüht.

Karls Sorge zeigt sich besonders am Beispiel des heiligen Ludger, der als junger Schüler Bonifatius begegnete. Karl, der Ludger um 775 in Monte Cassino persönlich kennenlernt, überträgt ihm die Friesen- und Sachsenmission. 793 gründet Ludger das Missionsbistum Münster und führt das heute noch bestehende Pfarrsystem ein: „Die einst so verhasste Lehre schlug nun bei dem Sachsenstamme tiefe Wurzeln und wurde innerlich so ergriffen, dass die Kirche auf dieses Neuland mit besonderer Freude weisen konnte."[4] Die heute verbreitete Vorstellung von Karl als „Sachsenschlächter“ sieht Fuhrmann als Folge des Nationalsozialismus.

Wesentlich waren die Wiederherstellung der Liturgie, ihre würdige Zelebration, die Pflege des Gregorianischen Chorals sowie die künstlerische Gestaltung der liturgischen Bücher, Geräte und Kirchen. Aus der Liturgie stammen sogar Impulse zur geistigen Durchdringung des naturwissenschaftlichen und mathematischen Wissens der Zeit und seine Darstellung in der kirchlichen Architektur. Aus all diesen Quellen erwuchs das abendländische Bildungsideal. Und nicht zuletzt war Karls männliche und starke Marienfrömmigkeit, trotz aller seiner nicht bestreitbaren Sünden der Promiskuität und Grausamkeit im Kriege, eine gar nicht überschätzbare Triebkraft seines umfassenden Wirkens.

Der Auftrag Karls des Großen

War die „karolingische Renaissance“ ein zeitgebundenes Phänomen? Karls Renovatio, seine umfassende Erneuerung, war offenbar nur seine Version des Mottos „Instaurare omnia in Christo“ – „Alles in Christus erneuern“, unter das der heilige Papst Pius X. (1835-1914) sein Reformprogramm stellte. 1954, im Jahr der Marienweihe der jungen Bundesrepublik, hat Pius XII. gerade diesen Reformpapst heiliggesprochen, an dessen Grab Konrad Adenauer als Bundeskanzler betete.

Nachdenken über Karl den Großen kann auch den heute zu leistenden Wiederaufbau befruchten, etwa durch die Wiederentdeckung der liturgischen Schätze und ihrer Prägekraft für das Leben jedes einzelnen Gläubigen und die Pflege des Gregorianischen Chorals.

Karls Initiativen zur „Reinigung und Verbesserung der liturgischen Texte“ scheinen besonders vorbildlich zu sein, wie die Debatten um das pro multis/pro omnibus, die sechste Vater-unser-Bitte oder die „Interkommunion“ zeigen, „steht doch die Reinheit des Glaubens und die Ordnung des kirchlichen Lebens auf dem Spiel“. Karolingisch gedacht ist aber auch die Wiedererrichtung des Ordenslebens, der Auf- und Ausbau von Priesterseminarien und katholischen Schulen, die dies auch tatsächlich sind, und nicht zuletzt die Erneuerung marianischer Frömmigkeit. Im Sinn von Karls Renovatio wäre es auch, alle Erkenntnisse der Naturwissenschaft geistig zu durchdringen und in den Kosmos der Christenheit einzufügen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] In: D. u. W. Koch (2013): Konrad Adenauer. Der Katholik und sein Europa, Kißlegg 32018, 49f.
[2] Pius XII. (1950): Munificentissimus Deus.
[3] H. Fuhrmann (1989): Einladung ins Mittelalter, München, 73.
[4] G. Schnürer (1924): Kirche und Kultur im Mittelalter, Bd. 1, Paderborn 21927, 396.

Zeugnisse von Kindern aus Kriegs- und Krisengebieten

„Ich spüre, dass Gott uns nie verlassen hat“

Ferienzeit, Sommerspaß, unbeschwert die Kindheit genießen: Für Kinder hierzulande ist das weitgehend selbstverständlich. Für Millionen ihrer Altersgenossen weltweit ist das jedoch ein unerreichbarer Wunschtraum. Sie leben in Krieg, Armut, Elend und Gefahr. Die Mitarbeiter des päpstlichen Hilfswerks „Kirche in Not“ stoßen bei ihrer Projektarbeit in über 140 Ländern immer wieder auf beeindruckende Zeugnisse kindlichen Glaubens. Drei Berichte aus unterschiedlichen Weltregionen haben wir aufgezeichnet.

Von Tobias Lehner

Jad Abed aus Syrien: „Ich habe jetzt einen Fürsprecher im Himmel“

Jad Abed ist zehn Jahre alt und lebt in Aleppo. Seine Heimatstadt wurde zum Inbegriff von Krieg und Terror. Seit eineinhalb Jahren schweigen dort die Waffen weitgehend, während andernorts noch Krieg tobt. Aleppo ist schwer gezeichnet. Abeds Schule wurde von Bomben verwüstet. Er berichtet: „Ich bin in der fünften Klasse. Unsere Klassenzimmer befinden sich jetzt in einem Keller ohne Heizung und Strom.“ Jad ist begeisterter Basketballer und singt gerne. „Kirche in Not“ hat die Kirchengemeinden unterstützt, damit sie auch während des Krieges Sport- und Freizeitprogramme anbieten konnten. „Ich glaube, dass böse Menschen nicht singen“, sagt Jad, „deshalb war Musik während des Krieges sehr wichtig.“

Jad hat seinen besten Freund während der Kämpfe verloren. „Er starb durch einen Bombenangriff, als er auf den Schulbus wartete. Ich habe jetzt einen Fürsprecher im Himmel.“ Auch das Wohnhaus seiner Familie wurde von Raketen getroffen. „Dabei stürzte ein Teil des Hauses ein“, berichtet Jad. „Mein Vater holte mich und meine Mutter heraus. Viele Bilder und Erinnerungsstücke sind verbrannt. Ich hoffe, dass nicht alle meine Spielzeuge kaputt sind.“ Heute lebt Jad mit seinen Eltern in einer Notunterkunft und wird durch die Kirchengemeinde versorgt. „Kirche in Not“ hilft dabei in vielfältiger Weise. „Mein Vater bekommt jeden Monat ein Lebensmittelpaket von der Kirche“, erzählt Jad. „Meine Eltern bekommen auch etwas Geld, damit sie die Schulgebühren für mich bezahlen können.“

Noch wichtiger aber als diese Hilfe ist Jad, dass er in der Kirche Antwort auf seine Fragen bekommt: „Ich habe angefangen, schwierige Fragen zu stellen. Ich fragte, ob Gott wirklich existiert, warum er uns ausgewählt hat, in diesen schwierigen Zeiten zu leben. Die Kirche antwortet auf diese Frage in der Sonntagsschule und bei einigen Aktivitäten und Spielen. Sie zeigen uns, wie sehr Gott uns liebt.“

Dolly Sarwar Bhatti aus Pakistan: „Warum kommen nicht mehr Christen, um unsere Not zu lindern?“

Die 11-jährige Dolly Sarwar Bhatti kommt aus Karatschi, der größten Stadt Pakistans. Ihr Heimatland gehört zu den gefährlichsten Brennpunkten der Christenverfolgung weltweit. Ein rigides Blasphemiegesetz stellt jede kritische Äußerung gegen den Islam unter Todesstrafe. Immer wieder kommt es zu Lynchjustiz an Christen; eine Situation, unter der auch Dolly und ihr Bruder leiden: „Christen in Pakistan leben nicht sicher. Deshalb dürfen wir niemals ohne unsere Eltern aus dem Haus. Wir spielen nicht auf der Straße.“

Auch vor der Kirche, die Dolly mit ihrer Familie regelmäßig besucht, stehen immer zwei Aufseher. „Kirche in Not“ fördert aufgrund der Gefahrenlage in Pakistan ebenfalls Maßnahmen, die der Sicherheit von Gläubigen und kirchlichen Gebäuden dienen. Außerdem unterstützt das Hilfswerk den Neubau von Kirchen und religiösen Zentren, christliche Bildungsprogramme und den Unterhalt von Ordensgemeinschaften.

Trotz ihres jungen Alters hat Dolly in der Schule bereits Diskriminierung erlebt: „Die muslimischen Kinder bezeichnen die christlichen Mädchen als „cheap“ (billig). Sie trinken nicht aus demselben Wasserhahn wie wir und setzen sich nie neben uns.“ Seit einem Jahr jedoch kann sie die Schule gar nicht mehr besuchen: „Mein Vater wurde schwer krank und verlor seine Arbeit. Wir konnten das Schulgeld nicht mehr bezahlen. Das war der traurigste Augenblick in meinem Leben.“ Denn trotz der Schikanen lernt Dolly gern und träumt von ihrem großen Berufswunsch: „Ich möchte gern Flugbegleiterin werden. Ich habe noch Hoffnung, dass mein Leben erfolgreich sein wird, weil ich eine gute Schülerin und Tochter Gottes bin.“

Der Glaube an Gott sei in aller Gefahr ihre große Kraft, erzählt das Mädchen: „Ich lese regelmäßig in der Bibel und gehe jeden Nachmittag mit meiner Mutter in die Kirche. Es sind Augenblicke der Freude und des Glücks, weil ich weiß, dass Gott Gutes für uns tut und uns hilft.“ Jeden Tag betet auch die Familie gemeinsam. „Ich spüre, dass Gott uns nie verlassen hat, obwohl wir schwierige Zeiten durchmachen.“ Denn ob sie im nächsten Schuljahr wieder zum Unterricht gehen kann, ist fraglich.

Dass die Politiker in Pakistan nichts unternehmen, um armen Kinder einen Schulbesuch zu ermöglichen, macht Dolly traurig. Auch vermisst sie die Solidarität der Christen in anderen Ländern der Welt. „Ich habe lange geglaubt, dass es im Westen nur Muslime gibt. Denn wenn es dort auch Christen gibt, warum kommen nicht mehr von ihnen, um unsere Not zu lindern?“

Laís Maria Pereira da Silva aus Brasilien: „Ein ,kugelsicherer‘ Glaube“

„Sobald es zu einer Schießerei kommt, laufen wir in das nächstgelegene Haus. Hier kennt jeder jeden, und so hat auch jeder Verständnis für die Angst, die man in solch einem Moment hat.“ Wenn Laís Maria Pereira da Silva von der Gewalt erzählt, die sie tagtäglich umgibt, kann der Gegensatz zum übrigen Erscheinungsbild und Temperament der 12-Jährigen nicht größer sein. Laís ist ein aufgewecktes Mädchen, das es nach eigenen Angaben liebt, „zu laufen und zu tanzen“. Doch die Gefahr läuft mit: „Immer, wenn wir auf der Straße sind, habe ich Angst, mich oder eine meiner Freundinnen könnte eine Kugel treffen.“

Laís lebt in einem Stadtteil von Río de Janeiro namens „Complexo da Maré“. Er umfasst 17 verschiedene Gemeinden mit insgesamt 130.000 Einwohnern. Eine eigene Stadt in der Metropole – und eines der gefährlichsten Pflaster Ríos. Die Elendsviertel werden von kriminellen Gruppen kontrolliert, die mit Drogenhandel ihr Geld verdienen.

Blutige Straßenkämpfe sind an der Tagesordnung – und wehe dem, der unbeteiligt zwischen die Fronten gerät. So wie Laís´ Cousin Ian: „Er spielte gerade im Innenhof unseres Hauses, als plötzlich ein Feuergefecht begann. Er wurde von einem Schuss am Kopf getroffen. Meine Tante lief die Treppen herunter und sah ihren Sohn, der blutüberströmt dalag.“ Der Junge war damals 12 Jahre alt. Mehrere Operationen konnten zwar sein Leben retten, aber seither ist Ian gehbehindert und kann nicht richtig sprechen. Die Erinnerung an jenen Schicksalstag hat der junge Mann verloren – in der Familie jedoch ist alles präsent, ebenso wie die Gewalt nach wie vor überall präsent ist. „Die Bandenmitglieder eröffnen auf der Straße das Feuer“, erzählt Laís. Dann müssen wir uns auf den Boden werfen – auch wenn wir im Haus sind. Denn wir sind nirgendwo sicher.“

Die Gewalt macht für Laís nicht nur den Alltag zum Überlebenskampf, sondern verdüstert auch ihre Zukunft. Denn aus Sicherheitsgründen muss der Unterricht oft ausfallen. Dennoch träumt Laís davon, eines Tages Medizin zu studieren. „Ich will anderen Menschen helfen und dazu beitragen, dass meine Familie in ein besseres Viertel umziehen kann – mit Gottes Hilfe.“ Um den Beistand und die Barmherzigkeit Gottes erfahrbar zu machen, unterstützt „Kirche in Not“ die Arbeit verschiedener Missionsgemeinschaften, die sich der Menschen in den Elendsvierteln annehmen. Eine davon ist die „Allianz der Barmherzigkeit“ mit über 2000 Freiwilligen und rund 350 Sozialarbeitern.

Eine solche „Lektion der Barmherzigkeit“ erteilt auch die 12-jährige Laís. Der Glaube gebe ihr und ihrer Familie Kraft und einen Blick für die Nöte der anderen Menschen, obwohl alles um sie herum „zum Verzweifeln“ sei. „Selbst mitten in einem Schusswechsel kann man einen ,kugelsicheren Glauben‘ bewahren und für andere ein Zeichen der Hoffnung sein.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2018
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Größte Christenverfolgung der Geschichte darf nicht ausgeblendet werden

Zeugen für Gott

Der militante Atheismus der Kommunisten setzte alles daran, die christliche Kultur zu beseitigen. In seinem gesamten Einflussbereich wurden die Gläubigen gleich welcher Konfession brutal unterdrückt. Was die Sowjets in Russland und all ihren Satelliten-Staaten angestoßen hatten, entwickelte sich zur größten Christenverfolgung in der Geschichte. Doch, wie Joachim Jauer mit Besorgnis feststellt, werde die Erinnerung an diese Ereignisse in unserer zunehmend kirchenfernen Gesellschaft bewusst ausgeblendet. Es sei bedauerlich, dass das Thema in den Medien kaum noch eine Rolle spiele. Umso erfreulicher seien drei Bücher, welche das katholische Osteuropa-Hilfswerk Renovabis in den vergangenen Jahren herausgegeben hat. Es handelt sich zunächst um zwei Bände mit dem Titel „Zeugen für Gott“. Darin werden beispielhaft die Schicksale von 37 Christen vorgestellt, die unter den Repressionen der roten Diktaturen zu leiden hatten. Diese beiden Bände werden in einem ergänzenden Buch systematisch aufgearbeitet, das den Titel trägt: „Es gibt keinen Gott!“ – Kirchen und Kommunismus – Eine Konfliktgeschichte. Jauer, der als langjähriger DDR- und Osteuropa-Korrespondent und ZDF-Studioleiter in Berlin bekannt geworden ist, bietet eine aufschlussreiche Hinführung zu den Publikationen.

Von Joachim Jauer

Am 12. April 1961 umkreiste der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin als erster Mensch in einer Raumkapsel die Erde. Er war gewissermaßen in den Himmel aufgestiegen. „Ich bin in den Weltraum geflogen, aber Gott habe ich dort nicht gesehen“, hat er nach seinem Raumflug berichtet. Für die kommunistische Propaganda sollte das als Beweis dafür gelten, dass Gott nicht existiert.

Im Dezember 1974 stand der Katholik Petras mit vier weiteren Christen vor dem Obersten Gericht der Litauischen Sowjetrepublik, angeklagt wegen „Ausübung illegalen Handwerks“, gemeint war die Herstellung von Gebetbüchern. Der Angeklagte Petras vor Gericht: „Wenn es, wie das hohe Gericht behauptet, keinen Gott gibt, weshalb kämpfen Sie gegen ihn?“

Gefährlichster Gegner für die Kommunisten

Religion galt den Kommunisten als gefährlichster Gegner ihrer marxistisch-leninistischen Ideologie, die als neue Staats-Religion Ersatz für den Glauben an Gott sein sollte. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion – KPdSU – behauptete, sie garantiere Gewissensfreiheit. Der bedeutende russische Schriftsteller Michail Bulgakow hat diese Garantie in seinem Roman „Der Meister und Margarita“ karikiert. Als der Satan Moskau besucht, versichert ihm ein Bürger: „Es ist richtig, wir glauben nicht an Gott. Aber darüber, dass es keinen Gott gibt, kann man frei und offen sprechen.“

Die Kommunisten bekämpften die Kirche bis in die Häuser und Hütten der Gläubigen. An die Stelle der in der Orthodoxie traditionellen Ikone mit dem Bild des Hausheiligen wurden Porträts der staatlich verordneten Schutzpatrone, Lenin oder Stalin, gesetzt. Bei organisierten Demonstrationen wurden stets riesige Bilder der Staats- und Parteiführer gezeigt, die neuen Heiligen von Sozialismus und Fortschritt. Die Aufmärsche wurden als profane Feste Ersatz für kirchliche Prozessionen. Später pilgerten zum einbalsamierten Diktator Lenin in seinem Mausoleum an der Kreml-Mauer Millionen.

„Gnadenloser Krieg gegen die Geistlichen“

Der Kampf der Kommunisten gegen die in Russland beheimatete orthodoxe Kirche begann unmittelbar nach dem Putsch, der allgemein Oktober-Revolution genannt wird. In den ersten 20 Jahren von Lenins und Stalins Diktatur wurden nach „allgemeinen Schätzungen 300.000, wahrscheinlich jedoch bis zu 500.000 orthodoxe Kleriker oder Gläubige verhaftet, mindestens ein Drittel von ihnen erschossen. Etwa 400 Bischöfe wurden nach Verbannung oder Haftstrafen zum Tod durch Erschießen verurteilt“.

Ein bis 1990 von der Kommunistischen Partei schamhaft unter Verschluss gehaltener Brief Lenins an Molotow legte die Linie der Christenverfolgung fest: „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir gegen die Geistlichen einen entscheidenden und gnadenlosen Krieg führen müssen. Wir müssen ihren Widerstand mit so viel Grausamkeit brechen, dass sie dies mehrere Jahrzehnte lang nicht vergessen werden. Je mehr … Geistliche … wir erschießen können, umso besser.“ (Catherine Merridale: Steinerne Nächte, Karl Blessing Verlag 2001).

Ikonen wurden verbrannt oder geschändet, Kirchen zu Viehställen, Toiletten, Kinos oder Badeanstalten umfunktioniert. Im Jahre 1914, zu Zarenzeiten, gab es in Russland ca. 50.000 Kirchengebäude. 1939 blieben nur 1.277 übrig. Bis weit in die 60er Jahre machte die Partei KPdSU immer wieder Versuche, das Absterben der Religion zu beschleunigen.

Brutale Christenverfolgung der Sowjets wird ausgeblendet

In unserer wachsend kirchenfernen Gesellschaft wird an diese brutale Geschichte kaum erinnert, obwohl die Christenverfolgung der Sowjets den Satelliten-Staaten Moskaus nach dem Ende des II. Weltkriegs als Vorbild diente und auch dort ungezählte Opfer forderte. In Standardwerken über den Kommunismus wird – meist am Rande – auch die Verfolgung der Religionen im Sowjetreich behandelt, doch wer heutzutage im Internet nach Büchern unter dem Stichwort „Kommunismus und Christenverfolgung“ sucht, erhält in den ersten Seiten ganz überwiegend Hinweise auf „Christenverfolgung in islamischen Ländern“, „Sukzessives Verschwinden des Christentums in den islamisch geprägten Ländern“, Bücher über den Holocaust aber auch viele Titel über „Christenverfolgung im Römischen Reich“. Und natürlich fehlt das mehrfache Angebot von „Quo vadis?“ nicht. Das Thema Christenverfolgung im 20. Jahrhundert, also die zwischen Rom und heutigem Islam, wird auch auf dem Büchermarkt weitgehend ausgeblendet. Und das, obwohl im vergangenen Jahrhundert mehr Christen für ihren Glauben starben als in den neunzehn Jahrhunderten zuvor.

Erschütternde Porträts geben den Zeugen ein Gesicht

Der Spezialist für Ostkirchenkunde, Professor Thomas Bremer, hat gemeinsam mit dem Geschäftsführer beim katholischen Osteuropa-Hilfswerk Renovabis, Burkhard Haneke, zwei Bände über den „Glauben in kommunistischer Zeit“ herausgegeben. Sie enthalten 37 Schicksale von Menschen aus 23 mittel- und osteuropäischen Ländern, Porträts von Christen verschiedener Konfession, die unter den Repressionen der roten Diktaturen gelitten haben. Es ist den Verfassern „darum gegangen, den Zeugen für Gott ein Gesicht zu geben.“ Die erschütternden Porträts enthalten „persönliche Berichte und Interviews der Glaubenszeugen, Akten aus Gerichtsverhandlungen und Urteile sowie Vermerke in Geheimdienstdokumenten“. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes wird in den beiden Bänden aufgearbeitet, wie gläubige Menschen im staatlich verordneten Atheismus terrorisiert wurden. Ergänzt werden die beiden Bände mit den Porträts Verfolgter durch eine historische Gesamtdarstellung unter dem Titel: „Es gibt keinen Gott!“ – Kirchen und Kommunismus – Eine Konfliktgeschichte.

37 Porträts: Selbst eine gelungene Auswahl von Schicksalen Verfolgter wirft immer auch die Frage auf, warum diese Personen und nicht andere vorgestellt werden. Im Fall der beiden Bände „Zeugen für Gott“ ist den Herausgebern eine repräsentative Übersicht gelungen, über den Psychoterror der Folterknechte und das Martyrium von Christen verschiedener Konfession, das von Moskau bis Bukarest, von Litauen bis Jugoslawien reichte. Auch innerkirchlicher Streit der russischen Orthodoxie, zwischen gefügigen Mitläufern und konsequenten Gegnern des Regimes, wird dokumentiert. Denn unter dem Druck kommunistischer Verfolgung zerfiel die ehrwürdige russische Staatskirche in verschiedene Fraktionen, radikale und aufrecht standhafte Priester und Gläubige, Kleriker, die in Kompromiss und Anpassung Rettung der Kirche erhofften, und Opportunisten, die schließlich zu Verrätern wurden.

Erzbischof Jermogen Golubew – unerschrockener „Verteidiger des Rechts“

Der orthodoxe Erzbischof von Taschkent, Jermogen Golubew, der in zahlreichen Eingaben an staatliche Behörden und kirchliche Amtsträger gegen die Unterdrückung der Christen eintrat, gehörte zu den Standhaften. 1931 wurde er wegen „antisowjetischer Tätigkeit“ zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, als Schwerstkranker aber vorzeitig entlassen. „Die unrechten Beschränkungen der Kirche, ihrer Geistlichen und Gläubigen“ hätten ihn nicht „unberührt gelassen“. Erst nach 1945 durfte er wieder als Priester arbeiten. Nach seiner Weihe zum Bischof begann Jermogen Golubew sich der Willkür der Behörden und des Parteiapparats deutlich zu widersetzen. Er wurde zum „Verteidiger des Rechts“, indem er die Gesetze und Verordnungen gründlich studierte und die ihm zugeordneten Geistlichen über ihre „Rechte“ aufklärte. Mit zahlreichen „Anfragen“ und Protesten wollte er, dass der Staat sich an seine eigenen Gesetze hielt, Gesetze, die angeblich Glaubensfreiheit garantierten.

Kompromissbereiten Amtsbrüdern galt er als Querulant. Die orthodoxe Bischofskonferenz ließ sich von verleumderischen Berichten der Partei beeinflussen, der Mönch und Erzbischof Golubew führe ein ausschweifendes Luxusleben. Unter dem Druck des staatlichen „Rates für religiöse Angelegenheiten“ entließ das Patriarchat Jermogen Golubew Anfang der 60er Jahre als Erzbischof von Taschkent. Er wurde zunächst in ein Kloster und dann in den Ruhestand versetzt. Dort setzte er seinen jahrelangen Kampf gegen die „antireligiöse Arbeit im Land“ fort. Vorübergehend durfte Golubew in einer anderen Diözese wieder als Bischof amtieren, bis er 1978, wiederum in ein Kloster verbannt, starb.

Systematische Kirchenverfolgung in der DDR

Die Palette der Verfolgung war vielfältig. Neben der Ermordung oder Inhaftierung von Christen gab es eine Vielzahl von Maßnahmen gegen Gläubige: Verbannung, Verweigerung von Oberschule und Studium, Benachteiligung im Beruf. „Die Verfolgung von Christentum und Religion überhaupt durch kommunistische Regimes im 20. Jahrhundert ist von ihrem Umfang her die gewaltigste Christenverfolgung der Geschichte. Sie war systematisch angelegt, wurde zwischen den einzelnen Staaten weitgehend koordiniert.“ So kommentiert der Herausgeber Thomas Bremer.

Den Kampf der SED gegen die Kirchen mag man im Vergleich zu den Massakern an Christen besonders in der jungen Sowjetunion nicht Christenverfolgung nennen. Denn in ihren „Maßnahmen“ vor allem gegen die evangelische Kirche bediente sich die DDR-Staatspartei verfeinerter aber ebenso wirksamer Methoden. Gehörten 1949 noch über 90 Prozent der Menschen in der gerade gegründeten DDR einer Kirche an, so hinterließ die SED im Lutherland eine weitgehend konfessionslose Gesellschaft.

Der überzeugte Katholik Dietmar Bartel folgt seinem Gewissen

In Band II der „Zeugen für Gott“ wird Dietmar Bartel aus Erfurt vorgestellt, dessen Biographie stellvertretend für zahlreiche vergleichbare Schicksale von überzeugten Christen – evangelisch wie katholisch – gelten darf. Bartel, Chef in einer Baumschule, hat als junger Katholik den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee verweigert und auch den sog. Ersatzdienst als „Bausoldat“ abgelehnt. Von einem Militärgericht wurde er zu einem Jahr und 10 Monaten verurteilt. Er kam in ein Lager des Strafvollzugskommandos beim Stahlwerk Maxhütte. Nach seiner Entlassung empfing ihn der Direktor seines Volkseigenen Betriebs, ein Genosse, mit den Worten: „Kollege Bartel, Sie haben durch Ihre Zeit im Gefängnis das Recht auf Menschenführung verwirkt.“ Fortan hatte er keine Leitungsfunktion mehr.

Opfergang des evangelischen Pastors Oskar Brüsewitz

Es hätte dem Band gut getan, wenn in die Reihe der Porträts auch der Opfergang des evangelischen Pastors Oskar Brüsewitz aufgenommen worden wäre. Brüsewitz hat sich im August 1976 durch Selbstverbrennung vor der Michaeliskirche in Zeitz das Leben genommen. Er verstand diese Tat nicht als Selbstmord, sondern als einzig möglichen Protest gegen die Kirchenverfolgung in der DDR. Er beklagte auch mangelnde Hilfe und Regime-freundliche Anpassung der zuständigen Kirchenleitung, er protestierte gegen den „scheinbar tiefen Frieden, der auch in die Christenheit eingedrungen“ sei, während „zwischen Licht und Finsternis ein mächtiger Krieg“ herrscht.

Die Auslöschung des Klosterlebens in Moldawien

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurden zahlreiche Dokumente entdeckt, die die Maßnahmen zur Christenverfolgung belegen. Zum Beispiel Berichte über die zwangsmäßige Schließung des Frauenklosters mit mehr als 200 Nonnen in Retschula, Moldawische Sowjetrepublik. Als den Frauen im Juni 1959 befohlen wurde, ihr Kloster zu räumen, läuteten sie ununterbrochen die Glocken. An die 300 Dorfbewohner eilten zu Hilfe, bewaffnet mit Heugabeln, Stöcken und Steinen.

„In der Kirche haben wir mit Tränen in den Augen auf den Knien gebetet, damit der Herr unser Kloster und uns vor der Erniedrigung errette“, wird ein Kronzeuge der Ereignisse zitiert. Die Armee rückte an, doch die Gläubigen widerstanden, sie wollten nicht zulassen, dass die Kirche entweiht wird. „Ein Mensch wurde erschossen, andere Verteidiger verletzt. Soldaten und kommunistische Aktivisten verhafteten alle, die sich in der Kirche befanden.“ Die Verteidiger des Klosters und der Kirche erhielten zwischen fünfzehn und vier Jahren Haft. Die Gemeinschaft der Nonnen wurde aufgelöst, die Schwestern wurden „sozial nützlicher Arbeit“ zugeführt. – Von 25 Klöstern mit rund 2000 Nonnen und Mönchen, die es noch 1944 in Moldawien gab, existierte 1962 nur noch ein Kloster mit 50 Schwestern.

Beseitigung jahrhundertealter christlicher Kultur

Der militante Atheismus der Kommunisten hat von Moskau ausgehend in ganz Ost- und Mitteleuropa die jahrhundertealte Kultur des Christentums zu beseitigen versucht. Mit Ausnahme des konsequent katholischen Polen ist ihnen das flächendeckend gelungen. Die Bücher „Zeugen für Gott“ vermitteln authentische Aussagen von Christen, die Haft und Folter für ihren Glauben ertragen haben. Die Opfer-Porträts in beiden Bänden liefern dazu erschütterndes Anschauungsmaterial.

Der Folgeband „Es gibt keinen Gott“ versteht sich als Analyse der Konfliktgeschichte Kirchen und Kommunismus. Er beschreibt als Ausgangspunkt des atheistischen Angriffs auf das Christentum den marxistischen Religionsbegriff, informiert über die Kirchenpolitik der Sowjets und die Reaktion der Kirchen, insbesondere der orthodoxen, und registriert die Marginalisierung des Christentums in den späten Jahren des Kommunismus.

Enttäuschend, dass unter den „Millionen von Diskriminierten, Verfolgten und Opfern“, von denen das Buch handelt, mindestens zwei Prominente fehlen: der tschechische Geheimbischof Felix Maria Davidek, der durch mehrere – heute umstrittene – Priester- und Bischofsweihen seiner Kirche im Untergrund das Überleben sichern wollte, und der polnische Priester Jerzy Popieluszko, der als geistlicher Unterstützer der verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc von Geheimpolizisten erschlagen worden war.

„Die Wahrheit wird immer wieder auferstehen!“

Die Erforschung der Langzeitwirkung der systematischen Christenverfolgung durch die roten Diktaturen ist nicht nur eine akademische Aufgabe für Historiker, sie hilft ganz unmittelbar, die religiöse Verfassung des vereinten Europas heute zu verstehen. Sie würde auch den Blick auf die schmerzhaften Erfahrungen unserer europäischen Nachbarn lenken, Biographien wie die des slowakischen Katholiken Silvester Krcméry. Der junge Arzt stand 1954 vor dem Militärgericht in Trencin, angeklagt wegen staatsfeindlicher Propaganda. Er war zuvor gefoltert worden. In seiner Verteidigungsrede sagte er: „Ihr habt die Macht, aber wir haben die Wahrheit. Die Mächtigen denken, man könne die Wahrheit zerstören. Töten. Kreuzigen. Aber die Wahrheit wird immer wieder auferstehen.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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