Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Auf der „MEHR-Konferenz“ in Augsburg, welche dieses Jahr fast 11.000 Besucher angezogen hat, ist das sog. „Mission Manifest“ präsentiert worden. Man könnte meinen, die Autoren hätten bewusst eine Bühne gewählt, die ihnen eine große Breitenwirkung garantiert. Doch ist es in der Tat umgekehrt.

Die Früchte des Gebetshauses Augsburg sind unbestreitbar. Der Ansatz, den der Gründer Dr. Johannes Hartl von Anfang an verfolgt hat, ist zu einem prophetischen Zeichen geworden. Es weist in aller Deutlichkeit darauf hin, dass die Evangelisierung ein Werk des Heiligen Geistes ist. Kirche wächst nicht durch das Organisieren und den Aufbau von Strukturen – so sehr auch diese Rahmenbedingungen notwendig sind –, sondern durch die Anrufung Gottes, das Flehen um sein Kommen, die ehrliche Bitte um das Einbrechen seiner Gnade in unsere Geschichte. Und so hat Dr. Hartl, Germanist, Philosoph und Theologe, zusammen mit seiner Frau ein Werk ins Leben gerufen, das einfach das Gebet in den Mittelpunkt stellt. Nach einem Bekehrungserlebnis im Alter von 14 Jahren machte Hartl erste Erfahrungen mit längeren Gebetszeiten. Immer mehr erwachte in ihm der Wunsch, das Wort des hl. Apostels Paulus zu verwirklichen, der im ersten Brief an die Thessalonicher dazu aufruft: „Betet ohne Unterlass!“ (5,17). Gleichzeitig erinnert seine Initiative an das Wort des Propheten Jesaja, in dem der Herr spricht: „Alle, die an meinem Bund festhalten, bringe ich zu meinem heiligen Berg und erfülle sie in meinem Bethaus mit Freude. … Denn mein Haus wird ein Haus des Gebets für alle Völker genannt“ (Jes 56,6f.).

Mit der Bezeichnung „Gebetshaus“ waren die Weichen gestellt. Seit September 2011 wird dort tatsächlich ununterbrochen gebetet, Tag und Nacht. Die Bewegung, die daraus erwachsen ist, organisiert seit zehn Jahren die MEHR-Konferenz, die mit 100 Teilnehmern begonnen hat und inzwischen Tausende von Menschen verschiedener Konfessionen erreicht. Nach der letztjährigen Konferenz machten sich Bernhard Meuser, der Leiter der YOUCAT-Foundation, und Johannes Hartl darüber Gedanken, wie dieser Geist für einen neuen Aufbruch in unseren Pfarreien fruchtbar gemacht werden könnte. Es dürfe doch nicht sein, dass unsere Jugendlichen in Freikirchen abwandern müssten, um so etwas erleben zu können! Und sie holten weitere Mitstreiter ins Boot, um ein Konzept für eine kirchliche Erneuerung zu erarbeiten. Herausgekommen ist das „Mission Manifest“, das wir in diesem Heft vorstellen.

Die Autoren scheuen sich nicht, von Mission zu sprechen und darin den entscheidenden Schlüssel für die Zukunft der Kirche in unseren Ländern zu sehen. Es ist ein pfingstliches Ereignis, wie sich die verschiedensten Leute, denen die Neuevangelisierung ein Anliegen ist, mit den zehn Thesen des Manifests identifizieren können und dadurch zusammengeführt werden. Dass der Herder Verlag bereit war, dieses Buch herauszubringen, ist ein schönes Zeichen. Ebenso das Engagement, mit dem sich Medien wie kath.net hinter die Initiative stellen. Pointiert schreibt der Herder Verlag zu diesem Buch, es sei „vielleicht die letzte Chance für das Christentum, zu überleben“. Jedenfalls ist es ein wertvoller Impuls, der Hoffnung macht und eindeutig in die richtige Richtung weist. Und es ist im Inhalt wie im Ton genau dasselbe, das uns Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ – „Die Freude des Evangeliums“ ans Herz legt.

Liebe Leser, aufrichtig wünschen wir Ihnen eine gesegnete Fastenzeit. Möge sie jeder von uns zu einer neuen Entscheidung für Jesus Christus und zur Entfachung eines glühenden Missionseifers nützen! Vergelt’s Gott für Ihre großherzige Unterstützung unseres Apostolats!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

10 Thesen für ein Comeback der Kirche

Das „Mission Manifest“

„Mission Manifest“ ist die Bezeichnung für einen Aufruf engagierter Katholiken, der Krise des kirchlichen Lebens in unseren Pfarreien mit neuem missionarischen Schwung entgegenzutreten. In zehn Thesen formulieren sie ihre Vision und laden dazu ein, das Manifest zu unterschreiben und mitzumachen. Die Verfasser sind Michael Prüller, Markus Wittal, P. Karl Wallner OCist, Sophia Kuby, Maxi Oettingen, Marie-Sophie Maasburg, Johannes Hartl, Bernhard Meuser, Martin Iten, Katharina Fassler-Maloney und P. Hans Buob SAC. In einem gleichnamigen Buch[1] sind die Thesen weiter entfaltet, um in allen, die dem heutigen Glaubensabfall nicht gleichgültig gegenüberstehen, ein Feuer zu entfachen. Es bildet die offizielle Grundlage für eine Glaubenskampagne, an der sich fast 100 Gemeinschaften und Bewegungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligen.

Von Bernhard Meuser, Johannes Hartl und Karl Wallner (Hg.)

Nach menschlichem Ermessen wird die Kirche in Deutschland, Österreich und der Schweiz in wenigen Jahren kaum mehr eine gesellschaftlich wahrnehmbare Rolle spielen. Das ist weniger schade um die Kirche als schlimm für die Menschen, die Gott verlieren oder Jesus nie kennenlernen. Wir sind katholische Christen in Österreich, Deutschland und der Schweiz, die unter der „Erosion des Glaubens“, von der Papst Franziskus spricht, leiden. Wir wissen: Unsere Heimatländer sind Missionsländer geworden. Wir sind bereit für Mission. Wir wünschen, dass unsere Länder zu Jesus finden.

Wir laden alle ein, die sich verbindlich mit uns hineinbegeben wollen in eine Welle des Gebets. Wir möchten diejenigen zusammenführen, die den Mut zu ungewöhnlichen Schritten haben. „Das Gebot der Stunde“, sagt auch Papst Franziskus, „ist die pastorale Neuausrichtung, also dafür zu sorgen, dass die Strukturen der Kirche alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ,Aufbruchs‘ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet“. Viele Bischöfe sind diesem Aufruf gefolgt und haben ihn sogar noch verstärkt. Unsere Initiative von unten möchte sie unterstützen.

These 1: Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehren.

Es ist nicht mehr genug, katholisch sozialisiert zu sein. Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben. Sie ist ja weniger eine Institution oder Kulturform als eine Gemeinschaft mit Jesus in der Mitte. Wer Jesus Christus als seinem persönlichen Herrn nachfolgt, wird andere für eine leidenschaftliche Nachfolge Jesu entzünden.

These 2: Wir wollen, dass Mission zur Priorität Nummer eins wird.

Und zwar durch eine Fokussierung der finanziellen und personellen Ressourcen der Kirche auf die Evangelisierung. „Die Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch!“ Der finale Auftrag Jesu an seine Freunde lautet: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19). Eine Kirche, die nicht freudig und überzeugend auf alle zugeht, hat keine Mission; sie verliert ihr Warum und Wozu. Sie steht für nichts. Und sie schrumpft, statt zu wachsen. Für unsere Länder heißt das: „The church will send or the church will end.“

These 3: Wir glauben, dass die Chancen nie größer waren als jetzt.

Das Defizit an privater und gemeinsamer Hoffnung in der Welt wird von Tag zu Tag größer. Viele suchen und geben sich mit kleinen Antworten zufrieden. Dabei ist die denkbar größte Hoffnung bereits in der Welt. Das Evangelium hat nichts von seiner Attraktivität verloren. Wir Christen sind dazu da, diese Hoffnung zu teilen, statt sie für uns zu behalten. Wo das geschieht, wird es für Menschen unserer Zeit verlockend, Christ zu sein. Weltweit nehmen 200 Millionen Christen sogar Verfolgungen in Kauf, weil sie von Jesus, ihrer einzigen Hoffnung, nicht lassen können.

These 4: Wir sprechen alle Menschen in unseren Ländern an und machen keinen Unterschied

(wie Jesus keinen Unterschied gemacht hat). Wir gehen auf Christen, Nichtchristen, Andersgläubige und Menschen, die nicht mehr glauben, zu. Es gibt keinen Menschen, für den Jesus nicht gestorben ist und der Jesus nicht kennenlernen sollte. Gott ist „die Liebe“ (1 Joh 4,16) und will, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). Das wollen wir auch.

These 5: Wir glauben, dass unsere Mission so kraftvoll sein wird, wie es unsere Gebete sind.

Ein missionarischer Neuaufbruch kann nicht anders beginnen als mit einem Neuaufbruch in Fasten und Gebet. Gott, der alle Menschen leidenschaftlich liebt, hat gehandelt und wird auch jetzt handeln, wenn wir ihn persönlich und rückhaltlos anrufen. Es werden Wunder geschehen. Gott wird den Menschen über den Weg laufen – und sei es in Träumen und inneren Eingebungen. „Haben wir keine Scheu, Gott selbst um die schwierigsten Dinge zu bitten (wie die Bekehrung großer Sünder oder ganzer Völker“ (Charles de Foucauld).

These 6: Wir danken allen Christen außerhalb der katholischen Kirche, die heute schon mit Hingabe missionieren, taufen und Menschen zu Jesus führen.

Wir Christen in der katholischen Kirche sehen ihre Treue zur Heiligen Schrift und ihre entschiedene Nähe zu Jesus. Wir haben Wertschätzung für die positiven Impulse der Reformation. Wir wollen demütig lernen – auch und gerade von den Freikirchen – und mit allen unseren Geschwistern in der Ökumene kooperieren, um selbst missionarischer zu werden. Wir wissen, dass die Welt nur zu Christus findet, wenn wir die Einheit wiederfinden und sie in Gebet und Mission schon heute einüben (vgl. Joh 17,21).

These 7: Wir müssen die Inhalte des Glaubens neu entdecken

und sie klar und mutig verkündigen, sei es nun „gelegen oder ungelegen“ (2 Tim 4,2). Wir haben sie durch Gottes Offenbarung empfangen, finden sie gefasst im Urdokument der Heiligen Schrift und lebendig überliefert im Verstehen der Kirche, wie es der Katechismus lehrt. Die Geheimnisse des Glaubens müssen vollständig, ganzheitlich, in rationaler Klarheit und in der Freude der Erlösten verkündigt werden. Sie müssen leuchten. Wer anderen Menschen den Glauben verkünden will, darf nicht dilettieren; er muss zuerst an sich arbeiten – an seinem Leben, an seiner Liebe und an seinem Wissen. Der missionarische Aufbruch erfordert eine neue Lernbewegung des Glaubens, denn wir haben verlernt, was es heißt, missionarisch zu sein.

These 8: Wir wollen missionieren, nicht indoktrinieren.

Die Mission Jesu zu überbringen, hat stets den Charakter einer Einladung; Mission ist die Sehnsucht, die eigene Freude mit anderen zu teilen; ein freies, respektvolles Angebot an freie Menschen. Mission bedeutet, den Menschen die Füße zu waschen, nicht den Kopf. Sie überredet nicht, übt keinen Druck aus und ist mit Zwang oder Gewalt unvereinbar. Christen sind nicht nur tolerant gegenüber Andersdenkenden – sie engagieren sich sogar aktiv für Religionsfreiheit. Den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens vertreten wir ohne jede Aggression. Wir können unmöglich schweigen von der Hoffnung, die uns erfüllt (1 Petr 3,15).

These 9: Wir brauchen eine „Demokratisierung“ von Mission.

Nirgendwo steht, dass die Mission, die Jesus uns gegeben hat, sich auf Spezialisten, professionelle Verkündiger, Theologen, Kleriker oder Mitglieder von Ordensgemeinschaften beschränkt. Missionarisch zu sein, ist der Auftrag Christi an alle Getauften. Mission beschränkt sich auch nicht auf bestimmte („nichtchristliche“) Länder, Kulturen und /oder Religionen. Mission ist jederzeit und überall. Sie ist die große, oft vergessene Querschnittsaufgabe aller Christen in allen Ländern und Kulturen.

These 10: Wir müssen uns selbst zur Freude des Evangeliums bekehren,

um andere zu Jesus führen zu können. Wo wir uns im Denken, Handeln und Fühlen einem allgemeinen humanistischen Mainstream angepasst haben, müssen wir entschiedene Anstrengungen unternehmen, um uns, wie Papst Benedikt XVI. sagt, „von der Weltlichkeit der Welt zu lösen.“ Nur als geisterfüllte „neue Menschen“ haben wir missionarisches Profil. Wir sollten allerdings damit rechnen, dass der ersehnte Aufbruch im Glauben nicht immer nur eine Erfolgsgeschichte sein wird. Doch im treuen und freudigen Zeugnis für Jesus erstrahlt auch aus Leiden und Widerständen eine Schönheit, die früher oder später fruchtbar wird.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Johannes Hartl / Karl Wallner / Bernhard Meuser: Mission Manifest – Die Thesen für das Comeback der Kirche, Klappenbroschur, 240 S., € 20,-- (D), ISBN 978-3-451-38147-8, Bestellung: www.herder.de

Kernpunkte eines missionarischen Aufbruchs

Mut zu neuen Wegen

Bis 2011 war Bernhard Meuser (geb. 1953) Leiter des Pattloch Verlags. Schon zu dieser Zeit hatte er das große Anliegen, den katholischen Glauben zeitgemäß zu vermitteln. Die Bücher, die er selbst verfasste, behandeln vor allem spirituelle Themen. Für junge Menschen fand er eine verständliche, mitreißende Sprache und initiierte schließlich die deutsche Ausgabe des Jugendkatechismus YouCat. Als Leiter der YOUCAT-Foundation engagiert er sich nun für verschiedenste Initiativen zur Neuevangelisierung. Er ist überzeugt, dass die Kirche ohne einen neuen missionarischen Aufbruch keine Zukunft haben kann. Ihm schwebt eine junge Generation von Christen vor, die Jesus in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen und bereit sind, für den Aufbau des Reiches Gottes ihre ganze Existenz in die Waagschale zu werfen.[1] 

Von Bernhard Meuser

Warum die Kirchen gerade die Kirche verpassen

Noch immer sind die beiden christlichen Großkirchen ein erheblicher gesellschaftlicher Faktor. Mit je knapp 30 Prozent (28,5% katholisch und 26,5% evangelisch) bilden sie von der Religionsverteilung her die Mehrheit (55%). Zuwachs verzeichnet keine der beiden Gemeinschaften. Zuwachs haben die Konfessionslosen (36%). Ihnen schlossen sich durch Kirchenaustritt im Jahr 2016 insgesamt 352.093 Menschen an; 162.093 kamen aus der katholischen Kirche, 190.000 aus den evangelischen Kirchen. Kein Desaster: eine Massenflucht.

Gewiss gibt es da und dort volle Kirchen, charismatische Prediger, lebendige Gemeinden, ja sogar spannende Neuaufbrüche. Man weiß ja mittlerweile auch, wo man hingeht, um sich nicht die nächste Kirchendepression abzuholen. Aber dann stellen sich wieder Erfahrungen wie diese ein: Jahresschluss-Gottesdienst in einer südwestdeutschen Pfarrei. Top renovierter Barock. Mächtige Orgel, professionell traktiert. Gut geheizt. Blumenschmuck vom Feinsten, wahrscheinlich im Abo vom Floristen. Es fehlt an nichts. Nur an Gläubigen. Eine schüttere Schar älterer Menschen hat sich versammelt. Kein einziger Jugendlicher ist anwesend, einmal von den beiden Ministrantinnen abgesehen. Der Aushilfspriester tritt zum Altar: „Ich soll Ihnen in dieser Stunde einige Zahlen zu Gehör bringen. Taufen: 4, Trauungen: 2, Beerdigungen: 25, Kirchenaustritte: 10, Kircheneintritte: 0…“ Der Priester hält einen Moment inne, blickt über die Brille und sagt: „Sie sind also eine sterbende Gemeinde. Soviel Realismus muss sein!“ Der Geistliche bemüht sich dann redlich, den Heiligen Rest Israels nicht noch tiefer zu deprimieren. Aber es nützt nichts. Die Leute verlassen das Museum des Lieben Gottes mit gesenkten Köpfen. Das wird hier nichts mehr.

Ach, da geht doch was?

Ein vollkommen anderes Bild vermittelt die seit zehn Jahren stattfindende MEHR-Konferenz im Augsburger Kongresszentrum: Junge Christen, wohin das Auge blickt. Vom 4. bis 7. Januar 2018 nahmen 11.000 Menschen daran teil, gefühltes Durchschnittsalter: 27. Etwa 60 Prozent katholisch, dazu etwa 40 Prozent evangelische Landes- und Freikirchler. Die in Lichtspektren von Neon getauchte Halle sieht wie eine Riesendisco aus. Gewaltige Beamer sind im Dauerbetrieb; Stroboskopblitze irrlichtern über die Köpfe. Arme gehen nach oben, Zeigefinger gen Himmel. Jesus, Jesus, Jesus, skandieren die Leute.

Gastgeber der Konferenz ist das Augsburger Gebetshaus, eine private Einrichtung, die aus der Charismatischen Erneuerung hervorgegangen ist. Gebetshäuser, in denen zu rockigen Sounds der Lobpreis Gottes im 24/7-Takt ertönt, sind gerade so etwas wie ein Hit unter jungen Leuten. Im Grunde stellt die MEHR aber keine Leistungsschau der Gebetshaus-Bewegung dar; sie ist eher so etwas wie die Jahresvollversammlung der Reformkatholiken und ihrer evangelikalen und charismatischen Freunde. Alles, was sich um „Topoi“ wie Gebet, Jesus, Bibel, Entscheidung, Heilung und Mission clustert, ist da, darunter auffällig viele junge Priester und Ordensleute. Auch einige Bischöfe ehrten die MEHR mit ihrer Anwesenheit, der Passauer Bischof Stefan Oster sprach über das Verhältnis von Liebe und Wahrheit, der Augsburger Weihbischof Florian Wörner feierte den Abschlussgottesdienst.

Insgesamt aber stehen die beiden Großkirchen dem Ereignis distanziert gegenüber, obwohl sie an den fünf Fingern abzählen können, mit wem in 10 bis 15 Jahren noch Kirche zu machen ist: mit diesen. Die MEHR hat es aus kleinsten Anfängen heraus in nur zehn Jahren geschafft, das Augsburger Messezentrum zu füllen. Wenn die Progression so weitergeht, brauchen sie das nächste Jahr eine Arena, und in zwei Jahren haben sie mehr Teilnehmer als der Katholikentag. Die amtlich bestellten Hirten müssten sich freuen über diese Generation, die aus dem Nichts kommt. Sie glüht, wie immer man das bewerten mag. Sie betet. Sie will Europa für Jesus zurückgewinnen. Sie ist überzeugt, dass sie das schafft. Schon 25 Gebetshäuser gibt es in Deutschland, in denen rund um die Uhr der Lobpreis Gottes erklingt. Es werden von Jahr zu Jahr mehr.

Die Konferenz bildete einen idealen Rahmen, um unser „Mission Manifest“ vorzustellen. Als katholische Christen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz möchten wir eine Welle des Gebets in Gang bringen und all diejenigen zusammenführen, die bereit sind, missionarisch aktiv zu werden, mitzuhelfen, dass unsere Länder, die Missionsländer geworden sind, wieder zu Jesus finden.

Das große Fremdeln

Bislang herrscht zwischen Amtskirche und den Aufbruchsbewegungen noch das große Fremdeln. Doch mit Hoffnungsträgern sollte man pfleglich umgehen. Schließlich geht es um alles oder nichts, um einen Turnaround oder das Ende. Die deutsche Kirchenlandschaft befindet sich in einem Umbruch, wie er seit einem halben Jahrhundert nicht mehr da war. Bei der Neuformation werden nicht viele Steine aufeinander bleiben. Das muss kein Unglück sein. Warum sollten die Christen – um ein großes Wort zu wagen – nicht gereinigt, gestärkt, vielleicht sogar wiedervereinigt aus der größten Krise ihrer deutschen Kirchengeschichte hervorgehen? Während die Vertreter der offiziellen Kirchen mit ächzenden Prozessen der Redimensionierung befasst sind und ihre Immobilien, Bürokratien, Privilegien, Planstellen und Rentenkassen winterfest machen, wird es an den Kirchenrändern Frühling. Grund zur Freude? Sollte man meinen. Nicht alle in der Kirche sehen das freilich schon mit Wohlgefallen. Sie ahnen: Da kommt etwas, das wir nicht kennen.

In der Tat gibt es für die Bewegung, die sich gerade wie „Unkraut“ im Vorgarten der Kirchen vermehrt, noch keine Schublade. 50 Jahre und länger hatten sich die beiden Großkirchen über die Konfessionsgrenzen hinweg in einer trivialen, am Politischen orientierten Weltenteilung eingerichtet: links die Kritischen, die Liberalen, die Progressiven; rechts die Reaktionären, die Konservativen. Die neue Bewegung, die sich gerade formiert, ist in ihrem Selbstverständnis so verschieden von diesen alten Lagern und abgenutzten Emblemen, wie Punk von der Volksmusik. Sie ist nicht konservativ. Sie ist nicht liberal. Sie ist, was den verfassten Kirchen seit dem 19. Jahrhundert im Traum nicht mehr einfiel: missionarisch. Man hört den Aufschrei der Etablierten, hört ihn unisono von rechts und links. Das Wort „Mission“ erweckt Abscheu.

„Mission“ hat man evangelisch wie katholisch schon lange aus dem Wortschatz gestrichen. Man sah ihn heillos kontaminiert von „Kolonisation“, fand ihn unvereinbar mit interreligiöser, allgemeinmenschlicher Toleranz, überließ ihn gerne den Zelt-, und Bahnhofsmissionen, auch der Heilsarmee zur Gitarre. Katholischen Bistümern war „Mission“ so peinlich, dass sie ihre Missionsreferate in „Referat für Weltkirche“ umbenannten. Übersetzte die Lutherbibel von 1984 die Stelle Mt 28,19a noch mit: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“, so gibt die revidierte Lutherbibel von 2017 diesen „Ausrutscher“ Jesu wieder mit: „Darum gehet hin und lehret alle Völker“. Die Völker wird es freuen, dass ihnen nun statt Mission Belehrung zugedacht ist. Exegeten gaben sich Mühe, den Missionsbefehl Jesu, der nun einmal im Neuen Testament steht, textkritisch zu depotenzieren. Nun muss man sich gar nicht bei der Frage aufhalten, ob der Missionsbefehl in Mt 28 eine spätere, redaktionelle Hinzufügung, mithin ein B-Klasse-Jesuswort, ergo auf die leichte Schulter zu nehmen ist. Man muss nur drei Sätze Paulus oder drei Seiten Apostelgeschichte lesen, um erschlagen zu werden von der Evidenz des Missionarischen. Man versteht sofort, dass Mission nicht etwa nur ein Moment der christlichen Anfangsdynamik ist, dieser 30 Jahre, in denen fast die ganze bekannte antike Welt ins Christliche umkippte. Nein, missionarisch zu sein, die rettende Botschaft zu verkünden, gehört zum Wesenskern des „neuen Weges“. Und man versteht auch sofort, dass die beiden Mission verweigernden Lager gegenwärtigen Christentums schlicht nicht in Form waren, als sie das Wort gebannt und die Sache nicht mehr betrieben haben. „Heute ist es Zeit für die Mission, und es ist Zeit für Mut!“, sagt Papst Franziskus.

Mission possible?

Die popularisierte Assmann-These, wie sie durch die Feuilletons geistert, unterstellt dem Monotheismus eine generelle Verbindung von Mission und Gewalt. Dem ist freilich nicht so. Das Judentum kennt keine Mission, folglich auch keine bekehrende Gewalt. Und während diese Verbindung durchaus zum Islam gehört, der seine gewaltige Ausbreitung seit dem achten Jahrhundert über 500 Eroberungskriegen verdankt, wurde dem Christentum eher selbst Gewalt angetan, als Herrscher es immer wieder instrumentalisierten, um Völker dauerhaft zu unterwerfen und ihre wirtschaftlichen und hegemonialen Interessen durchzusetzen. Schon Alkuin, der Zeitgenosse Karls des Großen, kritisierte die Praxis der Sachsentaufe: Zur Taufe könne ein Mensch getrieben werden, nicht aber zum Glauben.

Diese Erfahrung machte auch Hernán Cortez, als er nach der grausamen Eroberung des Aztekenreiches Missionare ins Land holte, um seinen Eroberungsfeldzug in der Tiefe der Seelen zu vollenden. Die Franziskaner, die den Ureinwohnern die Liebe predigen sollten, hatten trotz der Gräuel der Konquistadoren eigentlich keine schlechten Karten, denn die zuvor herrschende aristokratische Aztekenreligion war Terror pur: Auf den Gipfeln der Kultpyramiden wurden permanent Menschenopfer dargebracht; man riss ihnen bei lebendigem Leib das Herz heraus. Doch die Missionare fanden einfach keinen Schlüssel zum Herzen der Leute; sie blieben komplett erfolglos, bis der kleine Indio Juan Diego eine überaus liebenswürdige himmlische Vision hatte, die Jungfrau von Guadalupe, die auf friedlichste Weise die größte Bekehrungswelle in der Geschichte der Christenheit auslöste: Innerhalb weniger Jahre ließen sich 300.000 Indios taufen.

Freilich müssen sich Christen auch an die Brust schlagen: Im laufenden Betrieb christlicher Gesellschaften gab es genug subtile Mittel, um die notwendig freie Glaubensentscheidung des Einzelnen durch Erziehung und sozialen Druck zu unterminieren. Man muss sagen, was das war und ist: Nötigung, geistlicher Missbrauch. Denn was bedeutet Mission christlich? Mission ist die gewaltfreie, nicht nötigende Einladung in die Wahrheit. Der Effekt der Mission ist die Bekehrung aus freien Stücken. Christen haben vier missionarische Mittel, wovon ihnen aber nur drei zur Verfügung stehen. Bekehrt werden Menschen durch Beispiel, Verkündigung, Gespräch und … Wunder, also durch einen direkten göttlichen Impuls, wie er beispielsweise im Medium von Träumen gegeben ist. An letzteres muss man nicht glauben. Man sollte sich aber einmal mit Ex-Muslimen, die Christen geworden sind, unterhalten. Sie seien im Traum zu Jesus geführt worden – Varianten dieser Geschichte werden immer wieder berichtet.

Warum wir Mission brauchen

Die Christen müssen missionarisch sein, wenn sie nicht vollkommen marginalisiert oder dem biologischen Ende entgegendämmern wollen. Aber auch unsere mehrheitlich ungläubig gewordene Gesamtgesellschaft braucht missionarische Christen, will sie der säkularen Herausforderung durch einen Islam begegnen, für den „Ungläubige“ schlicht nicht diskursfähig sind. Man mag das beklagen, denn es ist ein Spiel mit Dreien; die Entscheidung fällt aber zwischen den beiden gläubigen Mitspielern, die beide von der Existenz einer absoluten Wahrheit ausgehen. Absolut ist eine Wahrheit, die eine andere, mit ihr im Widerspruch stehende „Wahrheit“ nicht akzeptieren kann. Und sie wird den Irrtum mit Verweis auf die Wahrheit zurückweisen, so sehr sie die persönliche Integrität des Irrenden verteidigt.

Einer Religion, die Unterwerfung unter einen Gott verlangt, der Hass, Terror und Unterdrückung in die Welt bringt, kann nur eine andere Religion antworten, die den wahren Gott verteidigt, weil es den „anderen Gott“ nicht gibt und auch nicht geben kann. Das Wort Gott hat keinen Sinn, wenn das Göttliche nicht gut und das Gute nicht göttlich ist. Den Gott der Azteken beispielsweise gibt es nicht. Es gibt nur Leute, die eine oberste „Fratze“ gebraucht haben, um eine Herrschaft der Angst zu etablieren und zu stabilisieren.

Die Mission der Christen hat Aussichten auf Erfolg. Sie nimmt dem anderen Gläubigen Gott nicht weg. Aber sie lädt ihn ein, ein neues Bild von Gott zu entdecken, sich von Scheingöttern abzuwenden, um sich auf den wahren Gott zu konzentrieren. Dass Christen von einem guten Gott ausgehen, verdanken sie übrigens nicht verstiegener platonischer Spekulation, sondern dem Blick auf den gekreuzigten Jesus. Der hatte einen Gott verkündigt, der sogar die Feindesliebe von seinen Anhängern verlangt. Missionarische Christen sind demnach die Letzten, die in die Jagdgesänge der Populisten einstimmen. Man braucht vor ihnen keine Angst haben, denn sie werden alles tun, um die Religionsfreiheit zu verteidigen – und zwar auch dann, wenn sie gerade nicht davon profitieren.

Der Showdown der alten Schablonen

Wir dürfen nicht darauf warten, dass die schöne alte Kirchenwelt wiederhergestellt wird oder dass es der (richtige) Papst schon richtet, der wackere Bischof, der fromme Pfarrer oder der gläubige Religionslehrer. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Verantwortung aller für alle in der Kirche herausgestellt. Man muss sich nicht wundern, wenn an der Basis etwas aufbricht, das nicht darauf wartet, ob ein Missionsbefehl von der Deutschen Bischofskonferenz kommt.

Während es doch buchstäblich um alles oder nichts geht für die Kirche, um ihre schiere Existenz in wenigen Jahren, tun manche liberale Christen so, als wäre die gewiss nicht marginale Frage nach der Kommunionzulassung der wiederverheiratet Geschiedenen die wichtigste Frage der Welt, und als würde sich das Schicksal der Kirche an ihrer Anschlussfähigkeit an die affektive Unübersichtlichkeit und die permissiven Standards von Gesellschaften entscheiden, die sich seit 40 Jahren nicht im Geringsten für Gott und die Kirche interessieren. Junge Christen, die sich gerade für Jesus entschieden haben, sind mit einem, sich im Nebel der Meinungen verlierenden, wabernden Weichbild von Glauben nicht zu faszinieren.

Wir sind immer noch in einem Strukturmodell gefangen, das Kirche und Gemeinde nach Art einer Seniorenresidenz organisiert. Dort gibt es nur zwei Sorten von Menschen: Betreuer und Betreute. Der Aufbruch der anglikanischen Kirche rund um Holy Trinity Brompton begann in dem Augenblick, als der Geldhahn abgedreht wurde, das süße Gift der Betreuung von alleine versiegte und die Leute verstanden: Der Glaube wird nicht weitergegeben, wenn nicht durch uns. Die Kirche gibt es nicht, wenn wir sie nicht sind. Das neue Leben existiert nicht, wenn wir es nicht teilen. Nach den Leuten zu rufen, die uns die Kirche machen – das ist von gestern.

Wir brauchen entschiedene Nachfolger Christi. Wer auf die MEHR fährt, oder nach Taizé, oder zu einem Prayerfestival, oder zum Weltjugendtag, oder zum nächsten Nightfever…, der findet überall Schlangen, in denen junge Leute zur Beichte anstehen. Ich habe genascht? Nein. Da ereignen sich Lebenswenden. Und es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Kirche, in der Seelsorger und Hirten von denen bekehrt werden, denen sie eigentlich dienen sollten. Man denke an Franz von Assisi vor Innozenz III.

Auch eine Theologie, die sich von der Nachfolge abgelöst hat, kann keinen Beitrag zum missionarischen Aufbruch leisten. Sie entspricht nicht dem spirituellen Aufbruch der Jungen. Das ist ernst zu nehmen; und es ähnelt etwas der Absetzbewegung, mit der sich Meister Eckhart im 14. Jahrhundert von der verkopften Theologie seiner Zeit distanzierte: „Ein Lebemeister ist mehr denn tausend Lesemeister.“ Die Jungen suchen keine selbstverliebten intellektuellen Vortänzer, sondern Ergriffene, die sie mitnehmen in die abgründigen Geheimnisse Gottes. Solche Theologen gibt es und sie brauchen sich, wie die Hochschule Heiligenkreuz zeigt, über mangelnde Resonanz nicht beklagen. Aber sie lehren anders. Die einst hochgerühmte anthropologische Wende schmilzt dahin wie die Modernität von gestern. Es geht wieder um Gott. Theologen werden sich fragen müssen, ob sie etwas beizutragen haben zur Re-Formation des Glaubens und zur missionarischen Profilierung der Kirche. Andernfalls werden sie zurückbleiben. Man wird ihre Lehrveranstaltungen nicht mehr besuchen, ihre Bücher nicht mehr lesen und ihren Rat nicht mehr hören.

Fünf Kernbegriffe eines missionarischen Aufbruchs

Es sind meines Erachtens fünf Kernbegriffe, um die sich die missionarische Aufbruchsbewegung entfaltet. Der erste Begriff ist Gebet. Nichts kennzeichnet diese „Community“, wie man die junge missionarische Generation nennt, prägnanter als ihre entschlossene Hinwendung zum Gebet, zur Anbetung, zum Lobpreis. Gebetsgruppen, Nightfever-Initiativen, Gebetshäuser sind Zeichen des neuen Frühlings. Zwei Generationen davor hätte man sich zu Zen-Kursen angemeldet. Die gibt es auch heute noch, aber sie werden – in Kombi mit Wellness – vorwiegend von älteren Menschen besucht. Woher kommt diese Renaissance des Betens? Sie kommt aus der Einsicht, dass Gott da ist, dass man ihn ansprechen kann, dass er antwortet.

Ich erzähle gerne eine kleine Szene, deren Zeuge ich war: Die kurz zuvor getaufte Nina Hagen wurde von einer Ostberliner Dame mit der etwas kuriosen Frage konfrontiert: „Wir haben det ja nich jelernt, det mit dem Gott. Wie machste det denn?“. Darauf Nina: „Det kann ick dir sagen. Hatte ma wat mit Drogen an der Backe, damals in Amsterdam. Wog nur noch 45 Kilo. Ha ick ne janze Nacht zu Jesus jeschrien. Det hat jewirkt.“ Das ist genau der Geist, in dem junge Leute heute das Gebet als geistiges Abenteuer und als Schlüssel zu allem anderen entdecken. Die Idee eines Stufenbaus argumentativer Hinführung zum Glauben, auf dessen Gipfel sozusagen auch noch Beten stattfindet, erweist sich als Fiktion. Andersherum geht es sehr wohl. Wenn man Menschen für Gott gewinnen will, ist Beten das Erste und nicht das Letzte. Das kann man nicht nur im Augsburger Gebetshaus oder bei Holy Trinity Brompton, dem derzeitigen Role Model des Aufbruchs, lernen. Das bestätigt auch der kreative österreichische Jugendseelsorger Michael Scharf, der mit Gebetsparcours im Hardcore-Milieu Wiener Hauptschulen arbeitet – und zwar mit bemerkenswertem Erfolg.

Der zweite Begriff hängt eng mit dem ersten zusammen, er heißt Wunder, vermutlich sehr zum Staunen jener Gelehrten, die bei der neuen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift gerade ebendieses Wort aus dem Neuen Testament getilgt bzw. durch den hölzernen Terminus „Machttat“ ersetzt haben, um Jesus nicht in die Nähe der zersägten Jungfrau zu bringen. Die Jungen, die auf diversen Wegen zum Glauben kommen, erwarten aber Wunderdinge vom Glauben. Sie wollen ihn wunderbar finden und wunderschön. Und das ist er ja auch. Sie suchen nicht nach „wichtigen Werten“, interessanten Religionsvergleichen und theoretischen Horizonterweiterungen. Sie wollen das Abenteuer, die geistige Wende, die Sternstunden realer göttlicher Gegenwart. Sie suchen den inneren Frieden, die Errettung aus Verlassenheiten und Süchten, die Heilung biographischer Wunden. Sie wollen starke, nachhaltige Freude. Sie leben mit dem Versprechen: Das kannst du haben, aber es kostet dich dein Leben. Hingabe für Hingabe! Gib alles, du wirst nicht enttäuscht werden. Das Wunder passiert auch bei dir.

Das dritte Wort heißt Jesus. Die Fokolare haben davon gesprochen, „Jesus in die Mit-te“ zu nehmen, auf ihn hin zu leben, ihn beständig im Blick zu haben, mit und durch ihn den Alltag zu bewältigen. Vielleicht haben es die Fokolare von evangelischen Christen gelernt, die den Schatz der mittelalterlichen Jesusfrömmigkeit – das „Jesus, meine Freude“ – am treuesten in die Gegenwart herübergerettet haben. Die Priorisierung Jesu haben alle in der „Community“ übernommen. Jesus wirklich den Vorrang zu geben, ihn anzusprechen und zu fragen, sich von ihm führen zu lassen, das verbindet Christen aller Konfession tiefer als alle interkonfessionellen Denkschriften. Die MEHR-Konferenz war ein Fest dieser neuen Jesus-Ökumene. Betend in Jesus eins zu sein, das ist das prophetische Zeichen einer neuen Generation von Christen. Es ist auch ein Zeichen des Widerspruchs gegen jene, denen es bei Ökumene vornehmlich um das gleiche Label auf verschiedenen Flaschen zu tun ist, wo Ökumene in Wahrheit doch das Gegenteil will. Es gab keine Interkommunion auf der MEHR, weil es die reale Einheit noch nicht gibt, deren Ausdruck die Eucharistie ist. Die evangelischen Christen nahmen im Modus der Sehnsucht an der Heiligen Messe teil; sie kreuzten die Hände über der Brust und empfingen den Segen. Das war aber auch der einzige Moment, an dem „Konfession“ noch gefragt war. Ansonsten war die Frage: „Was bist du eigentlich – evangelisch, katholisch, Freikirchler?“ verpönt. Jesusleute steckten die Köpfe zusammen, um zu hören, zu raten, sich aneinander zu freuen, missionarische Pläne zu schmieden … und um „den Herrn“ direkt anzurufen.

Der vierte Begriff heißt Bibel. Dazu muss man nicht viel mehr sagen, als dass sich in weiten Teilen der katholischen Kirche, namentlich in den Aufbruchsbewegungen, eine richtiggehende Bekehrung zur Heiligen Schrift ereignet hat. Papst Franziskus geht mit gutem Beispiel voran; er motiviert die Jugendlichen, täglich die Bibel zu lesen, mit der Heiligen Schrift und aus ihr zu leben: „Ihr haltet also etwas Göttliches in Händen: ein Buch wie Feuer! Ein Buch, durch das Gott spricht. Also merkt Euch: Die Bibel ist nicht dazu da, um in ein Regal gestellt zu werden, sondern um sie zur Hand zu haben, um oft in ihr zu lesen, jeden Tag, sowohl allein als auch gemeinsam.“ Auf den Jugendcamps und Prayerfestivals, in den Glaubensschulen, den Gebetshäusern – überall ist die Bibel dabei, oft in zerfledderten, mit reichen handschriftlichen Anmerkungen und Unterstreichungen versehenen Ausgaben.

Der letzte Begriff heißt Entscheidung. Christsein ist nicht realisierbar als vage, vorläufige Annahme. Christsein ist ein In-die-Nähe-gerufen-werden durch Gott, auf das Gott eine freie Antwort haben möchte. Das „Ja“ kann kein Ja zur Aufnahme Gottes in das Arsenal persönlicher Überzeugungen sein. Gott möchte die bewusste, freie Übergabe des Lebens an ihn. Leben für Leben.

Der missionarische Aufbruch, den wir erleben dürfen, ist ein pfingstliches Ereignis, ein Geschenk Gottes an unsere Zeit. Die Zukunft der Kirche wird davon abhängen, wie sie sich diesem Zeichen der Hoffnung stellt und sich einer neuen Generation von Christen öffnet.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Johannes Hartl / Karl Wallner / Bernhard Meuser: Mission Manifest – Die Thesen für das Comeback der Kirche, Klappenbroschur, 240 S., € 20,-- (D), ISBN 978-3-451-38147-8, Bestellung: www.herder.de

Zum „Mission Manifest“

Jesus ist der Retter

Pfarrer Erich Maria Fink befürwortet das „Mission Manifest“ und sieht in ihm eine einzigartige Chance, unterschiedliche Kräfte für einen missionarischen Aufbruch in der Kirche sensibel zu machen und zu bündeln. Er beginnt seinen Beitrag mit dem Hinweis, dass er das Manifest selbst unterzeichnet hat. Gleichzeitig betrachtet er die Initiative auf dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung als Seelsorger in Deutschland sowie in Russland.[1]

Von Erich Maria Fink

Ohne Einschränkung begrüße ich die Initiative „Mission Manifest“. Was die Autoren in ihren zehn Thesen zum Ausdruck bringen, kann ich Wort für Wort unterschreiben. Und deshalb habe ich das Manifest auch mitunterzeichnet.

Lebendige Beziehung zu Jesus Christus

Ich bin der Überzeugung, dass es für eine Erneuerung des kirchlichen Lebens in unseren Pfarreien auf die persönliche Beziehung zu Jesus Christus ankommt. Und genau darauf legt das Manifest seinen Schwerpunkt. Jesus wird in den Mittelpunkt gestellt. Alles, was in der Kirche geschieht, muss wieder einen Bezug zu Jesus Christus bekommen, und zwar als dem einzigen Retter der Menschen, der uns die Fülle des Lebens hier auf Erden und die ewige Glückseligkeit im Himmel schenken kann. Alles Tun der Kirche muss im beständigen Dialog mit Jesus Christus erfolgen, muss aus einem unmittelbaren, lebendigen Kontakt mit ihm heraus erwachsen. Und dort, wo Menschen die Kirche erleben, im Gottesdienst, bei der Vorbereitung auf den Empfang der Sakramente, im Religionsunterricht, im Bibelgespräch, in Gebetskreisen mit Lobpreis und Anbetung, in sozialen Projekten mit Beratung und konkreter Hilfe, bei Festen und im Familienleben, vor allem bei der religiösen Erziehung der Kinder, überall muss diese gelebte Beziehung zu Jesus Christus aufleuchten und spürbar werden. Dann wird die Kirche das Licht des Evangeliums und die Freude am christlichen Glauben ausstrahlen, dann kann sie missionarisch fruchtbar werden.

Begegnung mit den Freikirchen

Das „Mission Manifest“ ist die Frucht der Begegnung von Katholiken, die sich nach einem neuen Aufbruch in der Kirche sehnen, mit Gläubigen von evangelischen Freikirchen. Und sie bekennen ganz aufrichtig, dass sie vom missionarischen Geist dieser Gläubigen beeindruckt sind. Die Dynamik, mit der die Evangelikalen – wie man sie auch nennt – auf ihre Mitmenschen zugehen, ist im wahrsten Sinn des Wortes umwerfend. Freimütig bekennen sie in jeder Lebenssituation, dass sie Jünger Jesu Christi sind, beten für fremde Menschen, rufen den Heiligen Geist um Hilfe an und erfahren eine wunderbare Führung. Und so heißt es in der These 6 des „Mission Manifestes“: „Wir danken allen Christen außerhalb der katholischen Kirche, die heute schon mit Hingabe missionieren, taufen und Menschen zu Jesus führen. Wir … sehen ihre Treue zur Heiligen Schrift und ihre entschiedene Nähe zu Jesus. … Wir wollen demütig lernen – auch und gerade von den Freikirchen – und mit allen unseren Geschwistern in der Ökumene kooperieren, um selbst missionarischer zu werden.“ Das Manifest erinnert hier an den amerikanischen Autor George Weigel, der eine berühmte Biographie über Papst Johannes Paul II. verfasst hat. 2013 brachte er ein Buch über Neuevangelisierung heraus. Seine Hauptthese lautet: Die Kirche wird nur dann eine Erneuerung erleben, wenn sie die Gestalt eines „evangelikalen Katholizismus“ annimmt. Und dabei hat er besonders den missionarischen Elan der Freikirchen im Blick.

Ökumenischer Brückenschlag

Das Manifest geht auf die Erfahrungen des sog. „Gebetshauses“ in Augsburg zurück, das Dr. Johannes Hartl gegründet hat. Von Anfang an war die charismatische Initiative ökumenisch ausgerichtet. Die Gebete wurden so gestaltet, dass sich Menschen aller Konfessionen darin wiederfinden konnten. Grundlage war jedoch die Überzeugung, dass das Reich Gottes aus dem Gebet heraus erwächst. Für das Apostolat ist die persönliche Hinwendung zu Gott entscheidend. Nur wer aus dieser Verbindung heraus den Glauben lebt, wird die Herzen anderer Menschen erreichen und für die frohe Botschaft aufschließen können. In diesem Geist startete das Gebetshaus vor zehn Jahren mit einer Gruppe von knapp 200 Gläubigen die sog. MEHR-Konferenz. Dieses Jahr haben sich bereits 11.000 Teilnehmer eingefunden, zum größten Teil junge Menschen und fast die Hälfte von ihnen evangelisch geprägt. Als im Rahmen dieser Veranstaltung – und das war kein Zufall – das „Mission Manifest“ vorgestellt wurde, waren besonders die Vertreter der Freikirchen begeistert. Sie erlebten eine „katholische Kirche“, von der sie ihrerseits fasziniert waren. Ökumenischer Höhepunkt war sicherlich der Augenblick, als Dr. Hartl evangelikale Schwestern und Brüder einlud, das große Team des „Mission Manifests“ auf der Bühne zu segnen. Die Beteiligten legten danach ein bewegtes Zeugnis von ihrer Erfahrung ab. Es sei gewesen, als hätte sie eine Welle der göttlichen Gnade erfasst. Doch muss der Brückenschlag noch mehr in die umgekehrte Richtung gesehen werden. Denn die Freikirchen sind besonders in Deutschland auf der Suche, da sie ein zunehmend distanziertes Verhältnis zur evangelischen Kirche wahrnehmen. Nicht zuletzt durch das offene Zugehen von Papst Franziskus auf die Freikirchen fühlen sie sich der katholischen Kirche weltweit immer näher. Und das ist ein großes Zeichen der Hoffnung – gerade im Blick auf einen gemeinsamen missionarischen Aufbruch.

Die Schätze der katholischen Kirche

Der ökumenische Charakter des „Mission Manifests“ macht verständlich, warum sich die Thesen ganz auf Jesus Christus konzentrieren. Ein wenig versteckt wird in der These 7 darauf hingewiesen: „Wir müssen die Inhalte des Glaubens neu entdecken und sie klar und mutig verkündigen, sei es nun ‚gelegen oder ungelegen‘ (2 Tim 4,2). Wir haben sie durch Gottes Offenbarung empfangen, finden sie gefasst im Urdokument der Heiligen Schrift und lebendig überliefert im Verstehen der Kirche, wie es der Katechismus lehrt. Die Geheimnisse des Glaubens müssen vollständig, ganzheitlich, in rationaler Klarheit und in der Freude der Erlösten verkündigt werden. Sie müssen leuchten.“ Es ist also neben der Heiligen Schrift doch vom Katechismus und dem gesamten Glaubensschatz der Kirche die Rede. Ansonsten aber bleibt das Buch, das die zehn Thesen des Manifests entfaltet, seinem ökumenischen Grundansatz treu. Wenn ich mir die Autoren wie Pater Karl Wallner OCist aus Heiligenkreuz oder Pater Hans Buob SAC aus Hochaltingen und deren Wirken vor Augen halte, so wundert es mich doch ein wenig, dass beispielsweise die Gottesmutter nicht nur in den zehn Thesen – das ist noch nachvollziehbar –, sondern auch im ganzen Buch kein einziges Mal erwähnt wird. Ähnliches gilt von der sakramentalen Prägung der Kirche, wie sie wir Katholiken verstehen und leben.

Der fortlebende Christus durch die Geschichte

Als Schüler lernte ich die Freikirchen in einer sog. „Teestube“ kennen, die ich über Jahre hinweg wöchentlich besuchte. Für die Erfahrungen mit dem freien Gebet, mit Bibelstudium und Glaubensgespräch bin ich heute noch dankbar. In Russland pflege ich mit vielen Freikirchen intensiven Kontakt und betreue Gläubige, die in diesen Gemeinschaften Jesus kennengelernt haben und nun in unserer Kirche „angekommen“ sind. Umso deutlicher sehe ich die Grenzen dieses „Jesus Christus“, der in diesen Freikirchen nach bestimmten Kriterien der Reformation verkündet wird. Ich kann das Kerygma, also die Grundbotschaft der Freikirchen, ohne Abstriche anerkennen, doch sind es wesentliche Teile der Offenbarung, die ihnen fehlen. Wir müssen wirklich ernstnehmen, dass es einem Jünger Christi darum gehen muss, Jesus Christis immer vollkommener kennenzulernen, sein Geheimnis immer tiefer zu ergründen, seinen Willen ganz zu entdecken. Und da kommen wir weder am sakramentalen Verständnis der Kirche, noch an der mütterlichen Aufgabe der Gottesmutter für die Mission vorbei. Die konkrete Kirche ist Christus selbst, der in ihr, seinem geheimnisvollen Leib, durch die Geschichte hindurch fortlebt. Die sichtbare Kirche vergegenwärtigt das vollständige Zeugnis der Menschwerdung, sie allein deutet auf organische Weise die Offenbarung, die uns in Jesus Christus ein für alle Mal geschenkt worden ist. Ohne dieses umfassende Zeugnis der Kirche, oder gar im Widerspruch zu ihm, kann niemand den authentischen Christus kennenlernen, mögen die Freikirchen auch noch so „effektiv“ arbeiten. Gott lässt es zu, dass durch sie die müde gewordenen Katholiken aufgeweckt werden, ja dass durch die unbestreitbaren Gaben der evangelikalen Gemeinschaften die katholische Kirche in gewisser Weise umgeformt wird und einen neuen Lebensodem empfängt. Doch muss sich die Kirche ihrer Verantwortung bewusst bleiben, diesen Gläubigen umgekehrt das vollständige Bild des Erlösers zu erschließen.

Stern der Neuen Evangelisierung

Maria ist von Gott erwählt worden, der Welt den Erlöser zu bringen. Und er will auch heute durch sie zu den Menschen kommen. Niemand hat Jesus Christus so kennengelernt wie sie, niemand hat ihn so geliebt wie sie. Und das ist auch heute noch so. Deshalb ist Maria der Stern der Neuen Evangelisierung, wie es die letzten Päpste, Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus, immer wieder ausdrücklich betont haben. Eine Mission, die zur Erneuerung des Glaubens an Jesus Christus, zum neuen Aufblühen des sakramentalen Lebens, der Begegnung mit dem Erlöser in Beichte und Eucharistie, führen will, braucht Maria. Ohne die Gottesmutter wird es nicht gelingen, unsere Pfarreien mit neuem Leben zu erfüllen. Es wird auch nicht gelingen, die Einheit unter den Christen herbeizuführen. Der große Charismatiker und Herz-Jesu-Missionar Pater Emiliano Tardif MSC (1928-1999), der die Gabe der Heilung besaß und für den der zuständige Erzbischof von Santo Domingo den Seligsprechungsprozess einleiten möchte, rief den Menschen bei Gottesdiensten in vollen Stadien zu: Die größte Missionarin aller Zeiten ist Maria! Mit der sanften Mutterliebe ihres Herzens hat sie ganze Völker zum Glauben an ihren Sohn geführt. Und das ist auch meine Erfahrung im seelsorglichen Dienst. Er hängt ganz davon ab, wie ich die Gottesmutter in meine Beziehung zu Jesus und in meine tägliche Arbeit einbeziehe. Das ist meist ein verborgener Weg. Daneben sehe ich, dass wirkliche Treue im Glaubensleben bei denen wächst, die bewusst die Wünsche der Gottesmutter erfüllen. Doch das Rosenkranzgebet – und das ist mir im Lauf der Jahre aufgegangen – muss wirklich aus der Sehnsucht heraus gepflegt werden, durch diese „Christusbetrachtung des Abendlandes“ (Johannes Paul II.) Jesus immer näher zu kommen und ihn immer besser kennenzulernen.

Maria und Kirche sind letztlich nicht voneinander zu trennen. Ohne Maria können wir das Geheimnis der Kirche nicht verstehen und ihre Sendung nicht verwirklichen. Ich musste schmerzhaft feststellen: Den Christen, die sich auf die Heilige Schrift berufen, aber Maria und die Kirche ablehnen, haftet meist ein fundamentalistischer Zug an. Und leider bleiben sie für differenzierte Argumente unzugänglich.

Wir brauchen einen missionarischen Aufbruch. Aber wir brauchen eine katholische Mission. Und unser Missionseifer darf auch nicht davor zurückschrecken, den Gläubigen der Freikirchen freimütig unseren Glauben zu bezeugen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
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[1] Johannes Hartl / Karl Wallner / Bernhard Meuser: Mission Manifest – Die Thesen für das Comeback der Kirche, Klappenbroschur, 240 S., € 20,-- (D), ISBN 978-3-451-38147-8, Bestellung: www.herder.de

Vom Segnen

Die Kirche ist dazu berufen, ein Segen zu sein. Sie nimmt jede Gelegenheit wahr, zu segnen und Gottes Gnade auf die Menschen herabzurufen. Weihbischof Dr. Andreas Laun gibt jedoch zu bedenken, dass die Kirche eine Grenze einhalten muss. Sie darf durch den Segen nicht den Eindruck erwecken, einen falschen Weg zu bestätigen.

Von Weihbischof Andreas Laun

Gebt kein Ärgernis! (1 Kor 10,32)

Die Kirche ist bereit, fast alles zu segnen. Eltern segnen ihre Kinder, auch Kinder können ihre Eltern segnen. Und natürlich segnet vor allem der Bischof, der Priester und Diakon. Dabei segnet man vor allem Menschen, auch Nichtchristen. Gegenstand des Segens können auch Tiere sein, aber auch Fahrzeuge und Häuser, eine Stadt und eine Landschaft, auch ein einzelner Berg, wenn sich damit kein Aberglauben verbindet, wie der Spruch des Dalai Lama nahelegt, der den Untersberg bei Salzburg den hl. Berg Mitteleuropas nannte und von dem die Sage erzählt, in seinem Inneren gäbe es einen Saal, an dem der Kaiser Karl sitzt, auf das Ende der Zeiten warte und seinen Bart bis dahin rund um den Tisch wachsen lässt. Berge mit bekannten Skiabfahrten könnte man segnen, damit wenig Unfälle passieren, Kuhställe, damit die Tiere nicht verwerfen, und, und, und – einfach alles, wo und wofür der Mensch den Schutz und die Hilfe Gottes erbitten will.

Nicht segnen würde ich wohl ein Casino, einen Nachtclub, eine Loveparade, nur beten sollte ich für diejenigen, die dorthin gehen. Darf sich auch ein Mafioso den Segen der Kirche holen und erbitten? Holen ja, indem er in die Kirche geht, aber nicht erbitten für seine Mafia-Mitgliedschaft. So einfach ist das.

Darum lässt es einen Katholiken sprachlos zu hören, ein Bischof erwäge die Segnung von „Homoehen“ oder „Homopartnerschaften“. Es gibt viele Verhaltensweisen und Handlungen von Menschen, die die Kirche nicht segnet, weil sie im Widerspruch zum Willen Gottes stehen und solches Tun zu segnen, eine Verhöhnung Gottes wäre. Segnen nicht nur Heilige, segnen alle Menschen, ja, damit sie sich bekehren, wo es nötig ist. Und segnen so, dass kein Ärgernis entsteht.

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Betrachtung des syrischen Dichters Cyrillonas (4. Jh.)

Hymnus über die Fußwaschung

„Die Stunde Jesu“ ist der Titel eines neuen Büchleins von Pfarrer Dr. Peter Dyckhoff. In 16 Kapiteln spannt er den Bogen von den Worten Jesu „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ auf der Hochzeit von Kana bis zur Himmelfahrt. Schwerpunkt ist die Erfüllung „seiner Stunde“ im Pascha-Mysterium. Nachfolgend das Kapitel über die Fußwaschung als Zeichen des umfassenden, absoluten Engagements des Erlösers für uns Menschen mit einer kurzen Betrachtung des syrischen Diakons und Dichters Cyrillonas aus dem 4. Jahrhundert.[1] 

Von Peter Dyckhoff  

Im dreizehnten Kapitel seines Evangeliums berichtet Johannes von der Fußwaschung. Die Stunde Jesu ist bereits gekommen, als er seinen Jüngern die Füße wäscht und anschließend das Abschiedsmahl mit ihnen einnimmt. Die „Stunde Jesu“ bedeutet das Hinübergehen aus dieser Welt zum Vater und „Liebe bis zum Ende“. Diese für Jesus so entscheidende Stunde schließt seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung ein. Als Zeichen höchster Freiheit tut Jesus den niedrigsten Dienst an seinen Jüngern, indem er ihnen die Füße wäscht. In diesem Liebesdienst, den Jesus seinen Jüngern erweist – und damit im übertragenen Sinn auch uns – kommt sein umfassendes Engagement für uns Menschen, seine letzte Hingabe und sein Lebenseinsatz bis zum Tod zum Ausdruck.

„Jesus stand vom Mahl auf, legte sein Gewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war. Als er zu Simon Petrus kam, sagte dieser zu ihm: Du, Herr, willst mir die Füße waschen? Jesus antwortete ihm: Was ich tue, verstehst du jetzt noch nicht; doch später wirst du es begreifen“ (Johannes 13,4-7).

Die Weigerung des Simon Petrus, sich von Jesus die Füße waschen zu lassen, entspringt einerseits seiner hohen Achtung vor Jesus, andererseits begreift dieser Jünger nicht die auf einen tieferen Sinn angelegten Worte Jesu – ja, er versteht sie sogar falsch. Auch die anderen Jünger sind noch voll Unverständnis, da ihnen erst der Heilige Geist den Sinn des Tuns und des Todesweges Jesu erschließen wird.

Fühlen wir uns bei der Fußwaschung in das Geschehen ein und versuchen wir, den tieferen Sinn zu ergründen. Fragen wir uns nach dem Symbolcharakter dieser Handlung. Gibt es auch in unserem Leben ein absolutes Engagement?

Jesus macht in der Fußwaschung seine Hingabe an die Menschen kraft seiner Liebe anschaulich und wirksam. Diese liebende Hingabe bis zum Tod am Kreuz und darüber hinaus ist die größte und herrlichste Tat seiner Erlösung. Die Jünger verstanden im Abendmahlssaal die Erniedrigung ihres Meisters noch nicht, der ihnen ein Beispiel demütigen Dienens geben wollte. „Petrus entgegnete ihm: Niemals sollst du mir die Füße waschen! Jesus erwiderte ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ (Johannes 13,8). Erst später gingen den Jüngern die Augen auf. Sie erkannten aus dem Tun ihres Meisters und Herrn, dass auch sie die Verpflichtung zu ähnlichen Diensten haben.

Ein umfassendes Engagement wird nur derjenige dauerhaft aufrechterhalten können, der wie Jesus Christus in Freiheit und Souveränität handelt. Der Grund dieser Freiheit liegt in der Verbundenheit mit Gott, dem Vater. Er ist die Quelle unerschöpflicher, alles vermögender Kraft. Diese Kraft, die dem Betrachter von außen her unbegreiflich und sinnlos scheinen mag, führt in eine andere, geheimnisvolle Dimension, in der einzig und allein Liebe waltet. Aus diesem Gottesbewusstsein handelt Christus, der von Gott ausgegangen ist, ohne jedoch Gott zu verlassen oder uns aus dem Herzen zu verlieren, als er zu Gott zurückkehrte.

In seinem „Hymnus über die Fußwaschung“ schreibt der syrische Diakon und Dichter Cyrillonas (4. Jh.):

„Unser Herr führte die Zwölf in das Haus, um ihnen die Füße zu waschen. Er wies ihnen als Erbe ihre Plätze an und erhob sich dann, um ihnen als Freund zu dienen. Er goss das wohltuende Wasser ein, trug das Becken, nahm das Tuch und gürtete es um seine Lenden.

Da vergoss ich, der ich anwesend war, viele Tränen und mein Geist war verwirrt. Mein Angesicht verhüllte ich und wandte ab meinen Blick. Ich eilte hinaus, denn ich konnte es nicht ansehen, wie er sich niederbeugte. Deshalb verließ ich das Haus und rief laut: ‚Weshalb geschieht dies? Das Geschöpf sitzt vor seinem Schöpfer und lässt sich von ihm die Füße waschen?‘

Ich befragte die Propheten: ‚Ich bitte euch, mich auf kurze Zeit ruhig anzuhören. Meine Augen haben Staunen Erregendes gesehen, das ich vor euch allen darstellen will. Mein Sinn ist verwirrt und mein Geist voll Bestürzung. Der, den ihr verkündet habt als Feuer und Geist, als allmächtige Flamme, als Unsichtbaren gleich dem schwer zu schauenden Seienden, von dem ihr verkündet habt, dass kein Mensch in der Welt ihn erblicken und am Leben bleiben könne, der, von dem ihr gesagt habt, dass aus Furcht vor ihm die Engel sich das Angesicht mit ihren Flügeln verhüllen, der, von dem ihr erzählt habt, dass ihn Daniel als den Alten der Tage auf dem Thron sah, der, von dem ihr gelehrt habt, dass sein Blick die Welt erschreckt und die Schöpfung erbeben macht – eben derselbe ist zum Diener geworden, trägt das Becken, wäscht Fischern die Füße und trocknet sie mit dem Tuch ab, ja, er tut das gleiche sogar an seinem Verräter.‘

‚Schweige, o Mann, und spreche nicht weiter! Eine frohe Botschaft hast du uns verkündet. Wenn dies wirklich so geschehen ist, wird der ganzen Welt Hoffnung und Heil zuteil. Schon lange harren wir darauf, dies zu hören. Wir sind froh, denn die Worte unserer Bücher haben sich als wahr erwiesen. Gehe nun und sei unbesorgt. Danke und preise Gott und trauere nicht länger!‘“  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Peter Dyckhoff: Die Stunde Jesu, geb., 208 S., € 14,95 (D), € 15,40 (A), Verlag. Media Maria: Tel. 07303-9523310, Fax: 07303-9523315, E-Mail: buch@ media-maria.de – Das Buch erscheint Ende Februar, Vorbestellung ist möglich!

Ein Heide findet zum Glauben an Jesus Christus

Der Hauptmann Longinus

Prälat Dr. Ludwig Mödl (geb. 1938), em. Professor für Pastoraltheologie in München, hat ein neues Büchlein mit dem Titel „Passionsgestalten“ herausgebracht. Er versetzt sich in die einzelnen Personen hinein, welche Zeugen des Leidens und Sterbens Jesu geworden sind. Aus ihrer Perspektive deutet er die Leidensgeschichte für uns heute. Eine dieser Gestalten ist der heidnische Hauptmann, der nach dem biblischen Bericht Jesus mit der Lanze durchbohrt hat. Longinus, wie er in der Tradition der Kirche heißt, hat zum Glauben an Jesus Christus gefunden und wird als Heiliger verehrt. Prälat Mödl fragt sich, wie der Hauptmann die Hinrichtung Jesu erlebt hat. Was ging in ihm vor, als er die sieben Worte Jesu am Kreuz vernahm? Wie wirkte das Verhalten Jesu auf ihn? Was hat ihn am meisten verwundert, ja in Staunen versetzt? Wie kam er schließlich zum Glauben? Aus den Meditationen, die Prälat Mödl bei Exerzitien vorgetragen hat, ist nachfolgend das Kapitel über Longinus wiedergegeben.[1]

Von Ludwig Mödl  

Im Hauptmann der Kohorte haben wir einen Zufallszeugen. Er hatte an diesem Tag Dienst. Sein Zeugnis ist für uns besonders hilfreich. Er musste mit seiner Truppe von mindestens zehn Mann die Hinrichtung der drei Verurteilten begleiten. Er hatte die Anweisungen zu geben. Alles war im Detail vorgeschrieben. Weder er noch die Soldaten führten solche Befehle gerne aus. Möglichst schnell die Sache hinter sich bringen! Das war aller Wunsch. Ohne Gefühl musste man die Handgriffe ausführen. Möglichst sachlich bleiben! Die zwei Verbrecher verhielten sich, wie Verbrecher sich eben verhalten, ruppig, fluchend, so viel wie nur denkbar Schwierigkeiten machend. Doch Jesus war ganz anders. Der Hauptmann beobachtete ihn genau. Es war bewundernswert.

Auf dem Weg konnte Jesus fast nicht mehr gehen. Allzu sehr war er geschwächt von der Geißelung. Die Soldaten hatten ihn noch verspottet, hatten ihm einen Dornenkranz aufgesetzt, einen roten Spottmantel umgehängt, ihm ein Schilfrohr in die Hand gedrückt und ihm spottend gehuldigt. Er musste dieses Treiben zulassen. Schließlich waren die Leute verroht. Dann hatte der Präfekt diesen so Zugerichteten dem Volk gezeigt – eine Demütigung sondergleichen. Wollte er vielleicht dem Volk demonstrieren: Schaut doch dieses Häuflein Elend an, er sagt von sich, er sei der König der Juden. Vor dem braucht doch niemand Angst zu haben! Eigentlich könnte man ihn laufen lassen. Aber er ist angeklagt, und ich muss ihn verurteilen. Jesus, obwohl so zugerichtet, behielt seine Würde. Zum ersten Mal war der Hauptmann erstaunt. Hier steht ein zerschundener Mensch – und er strahlt Würde aus. Dabei ist kein Stolz im Sinne eines starren Überlegenheitsgefühls in ihm, aber eine geistige Kraft.

Die Kreuzigung ließ er über sich ergehen, schweigend. Dann, am Kreuz schrie er einmal laut „Eli, Eli, lema sabachtani“ (Mt 27,46). Dann schien er leise weiter zu beten. Während die vornehmen Männer unflätig zu ihm aufs Kreuz hinauf schrien, sprach er ruhig ein Gebet. Der Hauptmann hat es genau gehört: Jesus betete für diese seine Feinde. Erstaunlich! „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23, 34). Wer ist dieser, der noch im Sterben Mitleid hat mit seinen Feinden, die ihn gerade vernichten?

Eine Gruppe von Frauen stand da, ein junger Mann hatte gebeten, ob sie nähertreten dürften. Der Hauptmann hat es erlaubt. Hier bestand keine Gefahr, dass sie etwas behinderten. Die Mutter Jesu war dabei. Ein schrecklicher Anblick! Er dachte an seine eigene Mutter: Wenn die so etwas sehen müsste! Die Frau nahm ihren Schleier und band ihn über die Scham des Sohnes – verständlich. Sie konnte nicht ansehen, wie demütigend er nackt den Gaffern ausgeliefert war. Dann sprach Jesus zu seiner Mutter und zu dem jungen Mann. Er hat sie ihm anvertraut. Der Hauptmann war bewegt: Im Sterben denkt er noch an die Mutter und sorgt sich um sie. Dann bat Jesus um ein Getränk, woraufhin man ihm an einem Schwamm Essig reichte.

Noch etwas Erstaunliches hörte der Hauptmann: Der eine der Mitgekreuzigten brüllte und fluchte in einer Tour – bis es dem anderen zu dumm wurde und er ihn zurechtwies. Und dann wurde der eine von beiden ruhig, und er sprach zu Jesus, und dieser hat ihm ein Trostwort zugesprochen, das erstaunlich klang: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“ (Lk 23,43). Dann sprach Jesus noch ein Gebet des Vertrauens: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Es hat nicht mehr lange gedauert. Er ist schnell gestorben. Er war schon sehr geschwächt gewesen durch die Geißelung. Sein letztes Wort war: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30). Dann fiel sein Kopf nach unten, und er hing am Kreuz. Aber kaum war er tot, da donnerte es, und die Erde bebte. Zutiefst ist der Hauptmann erschrocken. Und er sprach aus, was sich im Laufe des Tages in seinem Kopf festgesetzt hatte: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“ (Mk 15,39).

Im Nachhinein hat man gehört, dass in demselben Augenblick der große Vorhang, der das Allerheiligste des Tempels abschließt, von oben bis unten zerrissen ist.

Der Hauptmann musste die Hinrichtung vorantreiben, da der jüdische Sabbat, noch dazu der große Pascha-Sabbat mit Sonnenuntergang begann. So ordnete er an, dass man den Verurteilten die Gebeine zertrümmerte, was deren schnellen Tod verursachte. Doch Jesus war schon tot. Der Hauptmann musste den Tod offiziell feststellen. Damit er einen sicheren Beweis hatte, stach er mit der Lanze ins Herz Jesu. Blut und Wasser flossen heraus. Das war der Beweis: Er war wirklich tot.

Es war dem Hauptmann eine Genugtuung, als zwei Ratsherren kamen, die vom Präfekten die Erlaubnis bekommen hatten, Jesus abzunehmen und ehrenvoll zu bestatten. Er wies seine Leute an, den Leichnam vom Kreuz zu nehmen und ihn ordnungsgemäß zu übergeben. Die beiden anderen ließ er ebenfalls abnehmen und in das Massengrab legen, das für Verbrecher bestimmt war. Betroffen marschierte er mit seinen Leuten zurück in die Kaserne. Lange noch ging ihm die Sache nach.

Das Volk verehrt diesen Hauptmann unter dem Namen Longinus. Er ist, so sagt die Legende, Christ geworden – wie auch Simon von Kyrene, der Helfer. Wie unangenehm ihm der Befehl zu Beginn war, am Ende war er irgendwie bewegt und erhoben. Der sterbende Jesus hat ihm die Augen geöffnet. Er ahnte, was das Johannesevangelium ausdrückt: Hier war etwas von einer Erhöhung zu spüren. Und in der Tat durfte er jenen Satz sagen, der den Höhepunkt des Markusevangeliums darstellt, auf den alles zuvor Gesagte zuläuft: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39).

Zum Nachdenken

1. Ein Heide ist es, der als Erster ausspricht, was den Jüngern erst nach und nach deutlich wurde: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39).

 2. Auf dem Weg zur Hinrichtung und am Kreuz hängend zeigte Jesus nochmals seine Grundhaltung: Er hat für die Menschen gelebt, er stirbt für die Menschen, und dieses „Fürleben“ bindet alle in jene Gemeinschaft mit dem göttlichen Bereich ein, aus der Jesus in jedem Augenblick seines Lebens gelebt hat.

 3. Longinus musste durch den Lanzenstich bezeugen: Jesus ist wirklich tot, sein irdisches Leben ist beendet. Er gab ihn frei zur Beerdigung. Wenn er wenige Tage später hörte: Er ist auferstanden, dann wird ihm durch den Kopf gegangen sein: Ich habe es geahnt: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Ludwig Mödl: Passionsgestalten, geb., 144 S., € 13,95 (D), € 14,40 (A), Vlg. Media Maria: Tel. 07303-9523310, Fax: 07303-9523315, E-Mail: buch@ media-maria.de –Das Buch erscheint Ende Februar, Vorbestellung ist möglich!

Fatima und die junge Bundesrepublik (Teil 4)

Marianischer Frühling am Beispiel Köln

In der vierten Folge der Artikelserie „Fatima und die junge Bundesrepublik“ geht das Ehepaar Koch auf den marianischen Frühling ein, der mit der Weihe des Rheinlands an das Unbefleckte Herz Mariens im Jahr 1948 begonnen habe. Gleichzeitig sei mit der Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel 1950 eine gewaltige Gnadenquelle aufgebrochen, welche auch die Herzen der deutschen Bevölkerung erfasst und verwandelt habe. Ein großes Verdienst käme dabei Kardinal Frings von Köln zu, der sich durch Einwände von protestantischer Seite nicht habe beirren lassen. Besonders der Aufbruch unter den jungen Menschen habe sein Vertrauen auf das übernatürliche Wirken und das mütterliche Eingreifen der Gottesmutter bestätigt. An seiner Seite habe Konrad Adenauer diese Hoffnung geteilt und in sein politisches Handeln eingebracht.

Von Dorothea und Wolfgang Koch  

Die innere Einheit eucharistisch geprägter und marianisch befeuerter Frömmigkeit bezeugt Pius XII. in seiner Liturgie-Enzyklika: „Gestattet nie“, schärft er ein, „dass die Verehrung der Allerheiligsten Jungfrau, die nach dem Urteil heiliger Männer ein Zeichen der ‚Auserwählung‘ ist, bei der Jugend vor allem in den Hintergrund tritt."[1] Sein Aufruf findet ein überwältigendes Echo.

So wird der Altenberger Mariendom ein geistliches Zentrum der katholischen Jugend. „Zu einer Marienwallfahrt nach Altenberg bei Köln waren im Mai dieses Jahres allein aus der Kölner Erzdiözese 15.000 Jungmänner und 25.000 junge Frauen zusammengeströmt“, kann der Kölner Erzbischof Kardinal Frings dem Papst berichten. „Das Rosenkranzgebet hatte während des Krieges bei den Soldaten an der Front und in den Luftschutzkellern in der Heimat neue Freunde gewonnen“, resümiert eine Pastoralgeschichte. „Auch die Jugend fand Zugang zu diesem Gebet, nicht zuletzt dank der feinen Betrachtungen Der Rosenkranz Unserer Lieben Frau von Romano Guardini."[2]

Der Marienfrühling der jungen Bundesrepublik beginnt 1948 mit der Weihe des Rheinlands an das Unbefleckte Herz Mariens am Fest dieses Herzens. Sie ist der Höhepunkt der 700-Jahrfeier der Grundsteinlegung des Kölner Doms, das am Fest Mariä Himmelfahrt mit einer Reliquienprozession durch die Ruinen der Stadt begann und tiefe Seelenschichten anrührte. „Im Dom da ist ein Bildnis, auf goldenem Leder gemalt. In meines Lebens Wildnis hat’s freundlich hineingestrahlt…“: Heines Gedicht, von Lochners Dombild inspiriert, von Schuman vertont und vom jungen Fischer-Dieskau gesungen, bewegt die Herzen.

Adenauer wendet das Ereignis ins Politische: „Das so glanzvoll verlaufene Kölner Dombaufest ist in kirchlicher und politischer Hinsicht von größter Bedeutung für Deutschland und Westeuropa. Der Gedanke an die Gemeinschaft der christlichen Grundanschauung in Westeuropa, an die schicksalsmäßige Verbundenheit aller westeuropäischen Länder klang immer wieder in den verschiedenen Reden an. … Diese Feier wird allen, die sie erleben durften, eine Festigung ihrer Überzeugung geben, dass die deutsche und die europäische Krise vom christlichen Geiste her überwunden werden muss."[3]

Wie Adenauer war auch Frings von tiefer Marienfrömmigkeit geprägt, wie seine Dekrete zeigen: „Der katholische Priester ist kaum zu denken ohne ein inniges Verhältnis zur Gottesmutter Maria, der Mutter seines Meisters, der Mutter aller Christen und insbesondere der Priester. Gleicht ja die Aufgabe, die ihr von Gott anvertraut wurde, in manchem den Aufgaben des Priesters: Christus in den Herzen der Gläubigen Leben und Gestalt zu geben, auf den Altären unter seinen Händen ihm reale Gegenwart zu verleihen, seinem Opfer aufs engste zu assistieren."[4]

Wie sehr Marienfrömmigkeit ein Land prägen kann, erlebt Frings 1947 auf dem Marianischen Weltkongress in Ottawa. Dort keimt der Gedanke, auch Deutschland Maria zu weihen: „Der Außenminister des Landes, ein Katholik, sprach eine Weihe des Landes Kanada an die Gottesmutter. … Als ich später versuchte, eine Weihe Deutschlands an die Gottesmutter durchzusetzen, stieß ich auf erheblichen Widerspruch und konnte nur mit Mühe dieses Vorhaben durchführen.“

Das Dogma Mariä Himmelfahrt

Der Glaubenssatz von der leiblichen Aufnahme Mariens, den Pius XII. am Allerheiligentag 1950 verkündet, entspricht der Auskunft Mariens in Fatima am 13. Mai 1917: „Ich bin vom Himmel.“

Pius XII. bezeugt ein Sonnenwunder vor und nach der Dogmenverkündigung.[5] „Ich habe das ‚Sonnenwunder‘ gesehen, das ist die reine Wahrheit“, beschreibt Pius XII. ein Ereignis, wie es am 13. Oktober 1917 viele Tausend Menschen in Fatima sahen. „Die Sonne, die noch immer recht hoch stand, sah aus wie eine blasse, lichtdichte Kugel, die vollständig von einem Lichtkreis umgeben war“, schildert Pius XII. dieses Phänomen in den Vatikanischen Gärten. Er habe auf die Sonne schauen können „ohne die geringste Sorge“: „Die lichtdichte Kugel bewegte sich etwas nach außen, entweder sich drehend oder von rechts nach links und umgekehrt.“ Auch die Sonnenwunder von 1917 und 1950 verknüpfen also Fatima mit der Himmelfahrt Mariens.

Das Dogma wird zum Fanfarenstoß und lässt verschüttete Traditionsströme neu aufquellen, die den religiösen Aufbruch befruchten. Mariä Himmelfahrt ist das Patronatsfest des Aachener Doms, der Marienkirche Karls des Großen. Er wird zum Symbol des versöhnten Nachkriegseuropas. Mariä Himmelfahrt ist auch das Fest, an dem der Grundstein für den gotischen Kölner Dom gelegt wurde, das Fest seiner Patronin, für dessen Verbreitung sich Karl einsetzte. Albertus Magnus und Thomas von Aquin waren 1248 Augenzeugen der Grundsteinlegung des Doms, in dem 1950 die Huldigungsfeier der Virgo in coelo assumpta am Fest Ihrer Unbefleckten Empfängnis stattfindet.

Protestantische Einwände beeindrucken Frings nicht: „Ich war mir der Schwierigkeiten des Beweises aus der Bibel oder in der üblichen Weise der Tradition wohl bewusst. Ich folgte den Auslegungen von Matthias Josef Scheeben. … So bin ich denn auch im Jahre 1950 zur Verkündigung dieser Glaubenswahrheit nach Rom gefahren und habe die Urkunde mitunterzeichnet. Ich war glücklich, etwas zur weiteren Ehre der Gottesmutter beitragen zu können."[6]

Bereits wenige Wochen nach der Verkündigung berichtet Kardinal Frings dem Papst: „Welchen Aufschwung des religiösen Lebens, welche Belebung des Treueverhältnisses zum Stuhle Petri … hat das Heilige Jahr auch für den deutschen Katholiken, nicht zuletzt unserer Jugend gebracht!“ Den Oktavtag des Festes Mariä Himmelfahrt, den 22. August, führte Pius XII. bereits 1944 als Fest des Unbefleckten Herzens Mariens ein.

Kölner Peregrinatio Mariae

Die Fatima-Frömmigkeit verdichtet sich im Marianischen Jahr 1954 zum Jahrhundertjubiläum des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis. Frings‘ Biograph spricht von einer „Großbewegung“, „die das Marianische Jahr in Köln zu einem seelsorglichen Aufbruch und Ereignis machen sollte.“ „Es hatte sich in vielen Ländern der Brauch entwickelt, eine Statue der Muttergottes von Fatima durch die Pfarreien und Diözesen zu tragen, um den besonderen Schutz der Gottesmutter zu erflehen“, erinnert sich Frings. „Ich entschloss mich, diese Übung auch in meiner Diözese durchzuführen.“

Die Kölner Peregrinatio ist nur ein Beispiel vieler marianischer Großereignisse dieses Jahres. So nahmen an einer Fatima-Kundgebung am Himmelfahrtstag 1954 im oberbayrischen Marienwallfahrtsort Maria Eich statt der erwarteten 5.000 etwa 30.000 Pilger teil: „Außerordentlich viele Pilger empfingen in der hl. Messe die Kommunion, ein Zeichen, wie eng die Freunde von Fatima mit der hl. Eucharistie verwachsen sind“, berichtet die Presse.

Eine portugiesische Militärmaschine bringt eine Kopie der Fatima-Statue nach Deutschland. „Als die Statue aus dem Flugzeug gebracht und aus der Umhüllung herausgenommen wurde, gestaltete sich dieser Empfang zu einer religiösen Feier, die weithin einen tiefen Eindruck machte, auch auf Andersgläubige“, erinnert sich Frings. „Am Abend des 30. April des Jahres 1954 wurde die Statue dann durch einen Zug von Männern, etwa 4.000 bis 5.000 an der Zahl, darunter auch die geistlichen Ritterorden, zum Dom geleitet. Ich selbst begrüßte sie mit einer Ansprache. … Die Statue blieb dann eine volle Woche hindurch im Kölner Dom, der während der ganzen Zeit niemals leer war, weil viele Gläubige sich dem Schutz der Gottesmutter und ihres heiligsten Herzens empfehlen wollten. An einem Tag steigerte sich der Zudrang so sehr, dass man in dem damals erst halb wiederhergestellten Dom 60.000 Besucher zählte. Mit dem Gebet zur Gottesmutter verband sich fast immer der Empfang der Sakramente der Buße und des Altares, so dass eine Art Mission für die Stadt Köln aus dieser Feier erwuchs.“

Angesichts verbreiteter Vorbehalte stellt es Frings den Pfarrern frei, ob sie sich an der Peregrinatio Unserer Lieben Frau von Fatima beteiligen wollten: „Aber die Einladungen der Pfarreien waren so zahlreich, dass ein genauer Plan aufgestellt werden musste. … Überall war der Andrang der Gläubigen zum Gebet vor der Statue und zum Empfang der heiligen Sakramente so groß, dass alle Erwartungen übertroffen wurden. Die begleitenden Patres waren vielfach so übermüdet, dass man ihnen größere Anstrengungen gar nicht hätte zumuten können.“ Seit Januar 1955 befindet sich die Statue im oberbergischen Alzen: „Sie ist bis heute noch da, und die Andacht zur Muttergottes von Fatima hat dort eine bleibende Stätte gefunden“, schreibt Frings. Am Fest des Unbefleckten Herzens Mariens 1954 wird die Alzener Kirche diesem Herzen geweiht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
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[1] PIUS XII. (1947): Mediator Dei et hominum.
[2] A. FISCHER (1985): Pastoral in Deutschland nach 1945, Bd. I, Würzburg, 278.
[3] D. u. W. KOCH (2013): Konrad Adenauer. Der Katholik und sein Europa, Kißlegg 32017, 185.
[4] N. TRIPPEN (2003): Josef Kardinal Frings (1887-1978), Bd. I, 425ff., 168f., 161, 478ff.
[5] Eugenio Pacelli-Pius XII. 1876-1958, Regensburg 2009, 177.
[6] J. FRINGS (1973): Für die Menschen bestellt, 165, 478ff.

Konkursverwaltung oder Aufbruch in eine neue Zukunft? (Teil 2)

Sauerteig für das Leben der Pfarrei

Pfarrer Wolfgang Marx (geb. 1935) sieht keinen Grund zur Resignation. Trotz leerer Kirchen und zunehmender Entfremdung großer Teile der Getauften vom christlichen Glauben ist er von Zuversicht erfüllt. Die Hoffnung schöpft er aus den konkreten Erfahrungen, die er im Lauf von über 40 Jahren mit dem „Neokatechumenalen Weg“ in seiner eigenen Pfarrei St. Philipp Neri in München-Neuperlach gemacht hat. Die unübersehbare Krise der Kirche betrachtet er als mächtigen Ruf, das konkrete Leben in den Pfarreien nach dem Vorbild und dem Geist der Urkirche zu erneuern. Entscheidend ist für ihn der Aufbau einer echten Glaubensgemeinschaft, in der ein missionarisches Bewusstsein lebendig ist. Das mehrstufige Katechumenat für Erwachsene, wie es das II. Vatikanum herausgestellt hat, kann nach seiner Überzeugung zum Sauerteig werden.

Von Wolfgang Marx  

Vom lebendigen Wort zur Wiedergeburt

Die Wiedergeburt, die sich in der Taufe vollendet, beginnt mit dem Glauben an das lebendige Wort, das in uns wirkt. Im ersten Petrus-Brief heißt es: „Ihr seid neu geboren worden, nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen, aus Gottes Wort, das lebt und das bleibt“ (1 Petr 1,23). Und im ersten Brief an die Thessalonicher schreibt Paulus: „Ich danke Gott, dass ihr das Wort nicht als Menschenwort, sondern was es in Wahrheit ist, als Gotteswort angenommen habt, und jetzt ist es in euch wirksam“ (1 Thess 2,14).

Die Kirchenväter sehen das in Analogie zur Verkündigung des Engels an Maria, in der mit ihrem „Ja“ eine Schwangerschaft beginnt, das neue Leben Gestalt annimmt, bis der Augenblick der Geburt gekommen ist. Sie betrachten den Katechumenat als die Zeit des inneren Wachstums, das die Kirche in verschiedenen Etappen begleitet und zur Reife bringt. Dabei werden alle Lebensbereiche – Geld, Arbeit, Sexualität usw. – in das Licht des Evangeliums gestellt, ebenso wie das (persönliche) Kreuz, das nicht dazu da ist, uns zu zerstören, sondern grundlegende Bedeutung für diesen Wachstumsprozess hat.

Beim Neokatechumenalen Weg führt dieser Dialog mit den Brüdern und Schwestern in der Gemeinschaft nicht zuerst der Pfarrer. Es geschieht durch die verantwortlichen Katechisten. Gerade auf diese Weise haben wir die Kirche immer mehr als Mutter erfahren und die Gemeinschaft als Mutterschoß, in dem Beziehungen geheilt werden und Versöhnung geschieht und die Liebe zueinander wächst, indem wir in die Lebensgemeinschaft mit dem Auferstandenen einbezogen werden. „So sollen wir alle zur Einheit im Glauben und zur Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen und so in allem wachsen, bis wir ihn erreicht haben. Er ist das Haupt … so wächst sein Leib und wird in Liebe aufgebaut“ (Eph 4,13.15).

Der Neokatechumenale Weg wirkt dabei wie ein Sauerteig, ohne die Gemeinden zu spalten. Ein Schlüssel dazu ist die Frage des Nikodemus in Johannes 3,4: „Kann denn ein alter Mann wieder in den Mutterschoß zurückkehren?“ Ja, er kann! Oft müssen Menschen, die zu Überaktivität neigen und ihre latenten Krisen verdrängen, in einer Gemeinschaft untertauchen zur Neuorientierung und Heilung der Beziehungen. Sie werden nicht aus der Pfarrgemeinde abgezogen. Man könnte es mit Familienmitgliedern vergleichen, die in einen längeren Reha-Aufenthalt geschickt werden. Auch hilft die Vorstellung: Ungeborene Kinder, die noch nicht am Tisch sitzen, gehören sehr wohl schon zur Familie. Fernstehende und abgedriftete Jugendliche brauchen zunächst einen Weg, auf dem sie sich der Kirche wieder annähern. Wenn die Wurzeln abgestorben sind, muss es einen Ort geben, wo sie in der Tiefe wieder wachsen können.

Persönliche Erfahrungen in der Gemeinde

Der Katechumenat ist nicht etwas neben der Gemeinde, sondern ein notwendiger Bestandteil der Pfarrei. So ging es darum, sobald wie möglich, Gemeinsamkeiten zu pflegen, z.B. in der Sakramentenvorbereitung: bei der Erstkommunion- bzw. Firmvorbereitung wurden gemischte Teams gebildet, wo man sich persönlich kennengelernt hat. Diese Vermittlung und Zusammenführung ist die eigentliche Aufgabe des Pfarrers.

Auf gemeinsamen Reisen und Wallfahrten hat man angefangen, im Bus zusammen Elemente aus Laudes und Vesper zu beten, frei kombiniert mit kurzen persönlichen Kommentaren. Schnell haben alle gespürt, dass solche Gebetsformen eine Atmosphäre schaffen, die man nicht mehr missen möchte – auch nicht im PGR.

Mein Nachfolger Pfarrer Bodo Windolf war sehr erstaunt, als ihn der damalige PGR-Vorsitzende eingeladen hat, zu Beginn eines Treffens gemeinsam die Vesper zu beten. Ein weiteres Detail, das Erstaunen ausgelöst hat: dass man bei der Bewirtung nach einem Festgottesdienst nicht Schlange stehen muss, sondern 20 Jugendliche aus den Gemeinschaften durch die Reihen flitzen und Bestellungen annehmen, Speisen austragen und das Kassieren übernehmen.

Ein Höhepunkt waren die Primizen in der Pfarrei. 1992 konnten wir die erste Primiz feiern (vor kurzem habe ich das 25-jährige Jubiläum mit meinem ersten Primizianten erlebt). Bei den Vorbereitungen wurde nicht mehr gefragt, wer von den Beteiligten aus einer Gemeinschaft war oder nicht. So kam es nach einer Osternacht zu einem tiefen Prozess der Versöhnung.

Die Feier der Osternacht als liturgischer Höhepunkt

Wenn wir die Gottesdienstordnungen anschauen, so ist die Osternacht entweder um 21 bis 23 Uhr oder um 5 bis 7 Uhr – mit anschließendem Osterfrühstück. Ist das eine Osternacht? Wann ist die eigentliche Zeit für die Osternacht? Antwort: genau dazwischen; in der Nacht zwischen 23 und 5 Uhr. Die Osternacht ist das Zentrum des ganzen Kirchenjahres. Darin muss die gesamte Wirklichkeit des Glaubens gebündelt sein und die Liturgie ihre höchste Intensität entfalten. Wir feiern die Auferstehung Jesu Christi, seinen Sieg über den Tod, den Inhalt unserer Taufe.

Das muss erfahrbar sein. Was steht symbolisch für den Tod? Der Schlaf, dem wir unseren Tribut zollen, weil unsere Kräfte schnell erschöpft und verbraucht sind. Aber in dieser Nacht ist mit dem Tod auch der Schlaf besiegt und das Leben auferstanden. Und so bricht das Licht Christi ein in das Dunkel der Nacht und besiegt Müdigkeit und Ängste. In der Vigil zieht in den Lesungen die ganze Heilsgeschichte vorüber, unterbrochen von Gebeten und Liedern. Brüder und Schwestern geben dazwischen ihre Erfahrung. Aus der jüdischen Seder-Feier wird ein Element der Glaubensübergabe an die Kinder übernommen. Sie singen das Lied „Was ist denn anders in dieser Nacht? Warum dürfen wir aufbleiben?“ Die Väter antworten ihnen, indem sie aus ihrem Leben erzählen. Dann die Tauffeier am großen Taufbrunnen. Die Eltern aller neugeborenen Kinder des letzten Jahres haben auf diese Nacht gewartet (wir hatten in den letzten Jahren immer über 20 Taufen). Die Täuflinge werden in das Taufbecken untergetaucht und wieder herausgehoben. Alle Geschwister stehen mit großen Augen rings herum und erleben das mit. Mit freien Gebeten mündet alles in die Eucharistiefeier und die anschließende Agape.

Jede Eucharistiefeier das ganze Jahr hindurch lebt von der Dimension, die sich in der Osternacht auftut. Wenn in ihr nicht das Außerordentliche des Osterereignisses deutlich wird, was feiern wir dann das ganze Jahr hindurch?

Unvorstellbar, mit einer Pfarrei von heute auf morgen so zu feiern. Erst müssen die Gemeinschaften ein bestimmtes Volumen erreicht haben. Dann aber ist es eine wunderbare Erfahrung, wenn eine lebendige Versammlung vorhanden ist, die durch die ganze Liturgie trägt. Das sind keine Verstiegenheiten. Gerade das Konzil hat das Pascha-Geheimnis in die Mitte des Glaubens gestellt und die Kirche wünscht ausdrücklich im Rahmen der Erneuerung der Liturgie, dass die Osternacht vollständig gefeiert wird (für die Orthodoxie ist das von jeher eine Selbstverständlichkeit). Hier geht es um das Geheimnis, aus dem wir als getaufte Christen leben.

Der Gründungsimpuls von Kiko Arguello

Die entscheidende Frage lautet: Wie wird man Christ? Hier möchte ich anknüpfen an die Erfahrung von Kiko Arguello, zusammen mit Carmen Hernandez Initiator des Weges. Nach einer Zeit der Abkehr vom Glauben mit einem ziemlich verrückten Leben als Maler im Künstlermilieu erlebt er eine Erschütterung und tiefe Gotteserfahrung. Er weiß, er muss neu anfangen. Also geht er zum Gemeindepfarrer und sagt: Ich will Christ werden. Der Pfarrer schaut ihn erstaunt an und fragt: Sind Sie getauft? – Ja. – Hatten Sie die Kommunion und sind Sie gefirmt? – Das ist alles geschehen. – Ja und? Dann sind Sie doch Christ. Nach einem verlegenen Schweigen fällt ihm ein: Es gibt da irgendwo einen Cursillo, die machen Vorträge für Erwachsene. Da ist er dann auch hingegangen und hat über diese Zwischenstation sein eigenes Charisma entdeckt. In einer Marienvision wurde ihm gesagt: „Gründe kleine christliche Gemeinschaften wie die Heilige Familie von Nazareth; die leben in Demut, Einfachheit und Lob; und wo der andere Christus ist.“ Darauf geht auch die Marienikone zurück, der man überall begegnet, wo es Neokatechumenale Gemeinschaften gibt. Maria steht also auch am Ursprung dieses Weges.

Früher, in einer christlichen Gesellschaft, war der Glaube einfach da: in der Familie, in der Schule, in der Feier des Kirchenjahres. Es ging nur darum, die Gläubigen sinnvoll in das Gemeindeleben einzubinden und den Glauben bei bestimmten Anlässen zu vertiefen. Aber was soll man machen, wenn man Leuten gegenübersteht, die niemals Glauben hatten, weil sie in einer kirchenfeindlichen, heidnischen Gesellschaft aufgewachsen sind; wenn der Glaube in der Öffentlichkeit nicht mehr existiert? Dann ist man total hilflos. Denn es gibt keinen Ort, an dem es zuerst und vor allem darum geht, Christ zu werden. Es fehlt ein wichtiges Organ.

Mehrstufiger Katechumenat nach dem Vorbild der Urkirche

Wie hat die Urkirche Menschen, die aus dem Heidentum kamen, zum Glauben geführt und mit den wesentlichen Fragen konfrontiert: Was bedeutet die Botschaft von Tod und Auferstehung Christi konkret für mich? Was heißt es, das Leben nach dem Evangelium auszurichten? Wie erkenne ich den Willen Gottes für mich?

Die Antwort finden wir im II. Vatikanischen Konzil, indem es auf etwas hinweist, was bisher weitgehend unbeachtet blieb. Mir scheint ein Schlüssel zum Verständnis des II. Vatikanischen Konzils darin zu liegen, dass wir es als ein Signal erkennen, mit dem Gott ankündigt, dass die Kirche nach Jahrhunderten einer christlichen Gesellschaft in eine Situation eintritt, die jener der ersten Jahrhunderte gleicht: die Christen wieder als Minderheit in einer mehrheitlich heidnischen, rein säkularen Gesellschaft. Weil sich das Umfeld geändert hat, greifen die bisher angewandten Mittel nicht mehr.

Die Kirche braucht wieder ein Instrumentarium, das dieser Situation entspricht, und das ist zuallererst der Erwachsenenkatechumenat, in dem die vom Heiligen Geist inspirierte Pädagogik aus der Zeit der Kirchenväter wieder auflebt. Es gibt viele schöne Dokumente des Konzils, aber sie bleiben im Kopf oder werden mit Berufung auf den sog. Geist des Konzils nach eigenem Interesse ausgelegt. Um die Kirche zu erneuern, hat das Konzil den Blick auf die Zeiten der Kirchengeschichte gelenkt, in denen der Glaube gegen den Widerstand der Welt und die Verfolgungen tiefe Wurzeln und ein festes Fundament gebraucht hat. Darum aber hat schon das Dokument Sacrosanctum Concilium (Konstitution über die heilige Liturgie) angeordnet: „Ein mehrstufiger Katechumenat für Erwachsene soll wieder hergestellt werden“ (SC 64). Diesem Auftrag wurde entsprochen mit dem 1972 erschienenen OICA (Ordo Initiationis Christianae Adultorum – Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche). Darin ist das Gerüst des gesamten altkirchlichen Katechumenats mit allen Etappen enthalten. Dieser Text blieb weitgehend unbeachtet!

Aber er ist eingegangen in den Katechismus der Katholischen Kirche. Diesbezüglich heißt es im KKK 1229-1233: „Christ wird man auf dem Weg einer in mehreren Stufen erfolgenden Initiation, wie sie im Urchristentum breit entfaltet wurde. Die Kindertaufe erfordert naturgemäß ein Katechumenat nach der Taufe. Dabei geht es nicht nur um die Glaubensunterweisung, sondern um die notwendige Entfaltung der Taufgnade in der Entwicklung der Person des Getauften.“

Kirchliche Anerkennung des Neokatechumenalen Weges

Dieser OICA enthält zwar den Aufbau des Katechumenats, die Etappen mit den jeweiligen Themen und die dazugehörigen Riten, aber ohne jede inhaltliche Füllung. Nun die erstaunliche Fügung der Vorsehung: Parallel zum Konzil hatten Kiko und Carmen diese Intuition und es war ihr Charisma, dass sie dieses Gerüst von Anfang bis Ende mit aktuellen, pädagogisch genialen Katechesen gefüllt haben, ihm sozusagen Leben eingehaucht und es für die Praxis erschlossen haben. Deswegen ist das Neokatechumenat keine Bewegung, sondern in ihm ist ein geistlicher Schatz wieder gehoben und der Kirche zurückgegeben worden. Die volle Dimension der Einweihung in den Glauben ist die Voraussetzung für ein umfassendes Verständnis der Taufe als Sakrament der Eingliederung. Seit langem ist das Neokatechumenat auch offiziell kirchenrechtlich anerkannt. 2002 vorläufig und 2008 endgültig wurden die Statuten approbiert „als Itinerarium katholischer Formung gültig für unsere Zeit“. In Art. 5 §1 heißt es: „Das Neokatechumenat ist ein Instrument im Dienst der Bischöfe zur Wiederentdeckung der christlichen Initiation seitens getaufter Erwachsener.“

Grundlagen für eine fruchtbare Mission

Eine wirklich historisch zu nennende Frucht dieses wiedergewonnenen Taufbewusstseins ist die öffentliche redditio symboli. Was ist das? Noch nie gehört? Sie gehört zu einer Etappe der intensiven Beschäftigung mit dem Glaubensbekenntnis. Nachdem die Katechisten als Zeugen der Kirche das Credo der Gemeinschaft übergeben haben (= traditio), werden die Brüder und Schwestern zu zwei und zwei in die Häuser der Pfarrei gesandt, um zu lernen, ihren Glauben zu bezeugen aufgrund der Veränderungen, die sie in ihrem Leben erfahren haben. Den Abschluss dieser Etappe bildet dann die öffentliche redditio in der Kirche. Aus diesem Anlass ist die Kirche voll, Angehörige und Bekannte werden eingeladen, die Jugend ist da. Im Rahmen einer Vesper legen dann die Brüder und Schwestern ihr Zeugnis ab, indem sie bezeugen, warum sie an Gott, den Vater und Schöpfer, an Christus als ihren Erlöser und Retter und den Hl. Geist als lebendiges Prinzip der Kirche glauben, begründet mit Erfahrungen aus ihrer persönlichen Lebensgeschichte. Das hat es seit dem 5./6. Jahrhundert in der Kirche nicht mehr gegeben. Wir wurden im Grunde immer nur sozialisiert, d.h. gesellschaftlich in die Kirche eingegliedert, aber nie wirklich evangelisiert.

Hier wird wieder ein wichtiger Grundsatz sichtbar, der allgemein für das Wirken der Kirche gilt. Immer steht am Anfang das Empfangen: Zuerst gibt die Kirche den Reichtum des Wortes, die geistliche Nahrung, um dann Zeit zu geben für ein organisches Wachsen und Reifen. Deshalb geht es in der Kirche eben nicht um Leistung, sondern um das Fruchtbringen. Auch eine biblische Kategorie, die uns weithin verloren gegangen ist. Die Frucht des Neokatechumenalen Weges sind Gemeinschaften, die anfangen, Einheit in der Liebe zu leben. Das ist das Zeichen, von dem Jesus im Johannes-Evangelium sagt: „Daran werden die Menschen erkennen, dass Du mich gesandt hast“ (Joh 17,21). Also Voraussetzung für eine wirkliche Mission. Denn das Christentum hat sich in den ersten Jahrhunderten nicht durch bessere Methoden verbreitet, sondern durch die Realität dieser Gemeinden, von denen es in der Apostelgeschichte heißt: „Sie waren ein Herz und eine Seele und hatten alles gemeinsam.“ Es ist das Wesen der Kirche, die Einheit in der Liebe zu leben und dadurch zu dem Ort zu werden, wo Wunder geschehen und das Unmögliche möglich wird.

Durchdringung der Sakramentenpastoral mit neuem Geist

Mir persönlich ist folgendes klar geworden: Es gibt für das Dilemma, in das sich die Kirche gerade in der Sakramentenpastoral hineinmanövriert hat, keine direkte Lösung. Konkret gibt es nur die Möglichkeit, zwei Dinge zu kombinieren. Einerseits das von der bisherigen kirchlichen Praxis her Vorgegebene zu übernehmen und mit einem Sinn für die Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Möglichen das Beste daraus zu machen. Das nimmt z.B. bei der Erstkommunion manchmal Formen an, die man guten Gewissens eigentlich nicht mehr verantworten kann. Damit konnte ich leben, weil andererseits parallel dazu schon eine andere Realität präsent war in dieser von Gott geschenkten Initiative des Weges, die eine neue Perspektive für eine Pastoral der Zukunft eröffnet hat. Sie wirkt wie das Salz oder der Sauerteig langsam in die anderen Bereiche hinein und schafft auch dort ein neues Klima. Es geht also nicht darum, etwas abzuwerten oder gewaltsam zu verändern, sondern darum, in das Vorhandene den neuen Geist langsam eindringen zu lassen.

Insgesamt gab es in der Pfarrei St. Philipp Neri eine stetige organische Entwicklung, in der die Gemeinschaften immer mehr als positives Element für die Gemeinde erlebt und akzeptiert wurden, vor allen Dingen auch durch die vielen Kinder, Jugendlichen und jungen Familien, die in weit überdurchschnittlichem Ausmaß das Leben der Gemeinde verjüngt und verlebendigt und ein ganz neues Klima geschaffen haben.

Wirkung des Neokatechumenalen Weges für die Erneuerung der Pfarrei

Was mich am Neokatechumenalen Weg am meisten beeindruckt, ist, dass er all das zuwege bringt, was mit menschlichen Bemühungen gerade auf dem pastoralen Gebiet nicht zu erreichen ist, worum man sich in der gängigen Pastoral in den meisten Fällen vergeblich bemüht.

Konkret gesagt: dass die Ehen stabil bleiben und offen sind für das Leben; dass Kinder den Eltern wichtiger sind als Berufstätigkeit und Karriere und Gott die Macht hat, ihnen trotzdem alles zu geben, was sie zum Leben brauchen; dass die Übergabe des Glaubens an die nächste Generation in den meisten Fällen gelingt; dass die Jugendlichen anfangen, sich ernsthaft mit dem Wort Gottes zu beschäftigen, und regelmäßig an den Liturgien teilnehmen; dass ihre konkreten Ziele nicht Spaß am Sex, sondern eine ernsthafte christliche Ehe und Familie sind; dass das Bußsakrament und die Feier der Eucharistie als lebensnotwendige Elemente für das Hineinwachsen in eine christliche Gemeinschaft erkannt und praktiziert werden; dass eine Liebe zur Kirche entsteht, so wie sie ist; dass mit dem Papst auch das Lehramt als authentische Auslegung der Glaubenswahrheiten angenommen wird – da-rum gibt es auch regelmäßig Berufungen zum Priestertum bzw. für Mädchen auch zum Ordensleben (wir hatten sieben Primizen und zwei Ordenseintritte).

Ich war nicht so vermessen zu glauben, es wäre möglich, auch nur einen Teil dieser Anliegen zu verwirklichen, und kann umso dankbarer feststellen, dass all das im Laufe der Zeit auf dem Neokatechumenalen Weg durch seine innere Konsequenz und Dynamik, mit Hilfe der begleitenden Katechisten geschehen ist. Nur eine Gemeinde, die selbst evangelisiert worden ist, ist fähig zu evangelisieren. – In diesem Sinn wird der Gemeinde durch ein authentisches Katechumenat ihr ureigenstes Charisma zurückgegeben: die geistliche Fruchtbarkeit und die missionarische Kraft, wie sie uns in der Apostelgeschichte begegnen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
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Nahtod-Erlebnisse

„Wenn das Licht kommt…“

Die Theologin Anna Roth aus Königswinter hat sich mit neueren Publikationen über Nahtod-Erfahrungen befasst und das Thema in ihr Vortragsprogramm aufgenommen. Sie zeigt auf, dass solche Erfahrungen sowohl für die Betroffenen als auch für uns alle wertvolle Erkenntnisse über den Sinn des Lebens und die Bedeutung des Sterbens vermitteln können.

Von Anna Roth

Die Thematik Nahtod-Erfahrung ist nicht neu. Seit einigen Jahrzehnten gibt es eine Fülle von Literatur auf dem internationalen Buchmarkt. Man schätzt, dass weltweit ca. 25 Millionen Menschen eine Nahtod-Erfahrung gemacht haben. Pim van Lommel, ein Herzspezialist aus den Niederlanden, hat sich sehr intensiv mit dem Thema befasst und neue medizinische Fakten erörtert. Er schreibt: „Neuere amerikanische und deutsche Forschungen haben ergeben, dass ungefähr 4,2 Prozent der Bevölkerung von einer NTE (Nahtod-Erfahrung) berichten."[1]

Obwohl inzwischen ein umfangreiches und differenziertes Wissen über NTE vorliegt, stehen vor allem Ärzte und Mitarbeiter im Gesundheitswesen diesem Phänomen distanziert und kritisch gegenüber. Der Grund liegt darin, dass NTE medizinisch nicht erklärt werden können.[2]

Was sind Nahtoderfahrungen?

Bei den Nahtoderfahrungen geht es um aus der Erinnerung gewonnene Eindrücke während eines außergewöhnlichen Bewusstseinszustandes mit verschiedenen charakteristischen Elementen. Berichtet wird häufig von der Erfahrung eines Tunnels, eines Lichtes, eines Lebenspanoramas, der Begegnung mit Verstorbenen oder der Wahrnehmung der eigenen Reanimation, z.B. wenn versucht worden ist, eine Wiederbelebung durch künstliche Beatmung oder Herzmassage herbeizuführen.[3] Früher, als der Begriff der NTE noch unbekannt war, sprach man in diesem Zusammenhang oft von Visionen oder mystischen Erfahrungen, in der Antike von einer Reise in die Unterwelt.

Dem Amerikaner Dr. Raymond Moody, Philosoph, Psychiater, Professor für Psychologie, Autor des Buches „Life After Life“ – „Leben nach dem Tod“, das inzwischen in 18. Auflage erschienen ist, verdanken wir genauere Aufzeichnungen über NTE, die Van Lommel kategorisiert hat.

Friedens- und Glücksgefühl

Nahtod-Erfahrungen werden sehr unterschiedlich erlebt. In erster Linie handelt es sich um sehr positive Erlebnisse wie z.B. die Wahrnehmung einer Liebe in einer so beglückenden Dimension, dass man in diesem Zustand ewig verweilen möchte. Es sind Friedens- und Glücksgefühle, die man im irdischen Leben nicht kennt. Die Menschen wurden förmlich in ein Gefühl des Friedens, der Freude und der Glückseligkeit getaucht. Und sie sind nicht in der Lage, das Erlebte in Worte zu kleiden. Die Herrlichkeit der Orte, die sie besuchen durften, übersteigt jede innerweltliche Vorstellung.

Tunnelerlebnis

Oft wird dabei von einem Tunnelerlebnis berichtet. Man befindet sich in einem dunklen Raum und bewegt sich auf ein Licht zu. Es erscheint ein kleiner Lichtfleck, der einen oft mit unglaublicher Geschwindigkeit anzieht. Manchmal ist dieser Raum auch spiralförmig und eng. Oft fühlt sich die Person begleitet von Musik und sichtbaren und unsichtbaren Wesen.

Van Lommel schreibt: „Je näher das Licht kommt, umso intensiver wird es, bis es schließlich sehr hell, aber nicht blendend ist. Zuletzt wird man von diesem Licht ganz eingehüllt und fühlt sich in ihm vollkommen geborgen. Damit verbunden ist ein unglaubliches Glücksgefühl und das Wissen um bedingungslose Liebe und Akzeptanz. Die Reise durch den Tunnel ist offenbar der Übergang von unserer physischen Welt in eine andere Dimension, in der Zeit und Distanz keine Rolle mehr spielen."[4]

Schmerzbefreiung

Ein anderes Element ist die Schmerzbefreiung. So berichten Betroffene, dass sie beispielsweise nach einem schweren Verkehrsunfall plötzlich schmerzlos waren. Die Schmerzen waren wie ausradiert.

Erkenntnisse

Für Menschen, die sich in einer NTE befinden, ist es furchtbar mitzubekommen, dass die um sie herumstehenden Ärzte sie für tot erklären, obwohl sie noch leben. Sie leben und können sich nicht bemerkbar machen. Sie hören jedes gesprochene Wort der Ärzte. Und gerade jetzt, wo sie sich besonders lebendig und eins mit sich selbst fühlen, wollen sie nicht sterben.

Verlassen des Körpers

Menschen mit außerkörperlichen Erfahrungen haben Wahrnehmungen aus einer Position außerhalb oder oberhalb ihres Körpers. Zu ihrem großen Erstaunen sind ihnen ihre eigene Identität, ihre Wahrnehmungsfähigkeit, ihre Emotionen und ein sehr klares Bewusstsein geblieben. Sie verstehen selbst, dass ihr Bewusstsein den materiellen Körper verlässt, aber weiterhin unverändert fungiert. Manche der Betroffenen reagieren auf diese Erfahrung so, dass sie – wenn auch vergeblich – immer wieder versuchen, in ihren Körper zu kommen. Andererseits fühlen sie sich auch befreit. Mit Staunen betrachten sie – meist von oben wie von der Decke herab – ihren leblosen, schwer verletzten Körper, den sie manchmal zunächst gar nicht erkennen.

Auch der Psychologe C. G. Jung, 1875- 1961, machte während seines Herzinfarktes im Jahre 1944 eine außerkörperliche Erfahrung. Er konnte die Erde aus großer Höhe wahrnehmen. Außergewöhnlich war, dass er Dinge beschrieb, die zu dieser Zeit noch gar nicht bekannt waren.[5]

Erfahrung eines Koma-Patienten

Eine Frau lag in einem tiefen Koma. Die Beatmungsgeräte sollten abgeschaltet werden, denn der behandelnde Neurologe hatte sie für „hirntot“ erklärt, weil keine messbare Hirnaktivität mehr vorhanden war. Doch sie hörte, wie der Facharzt ihrem Ehemann, der an ihrem Bett stand, vorschlug, die lebenserhaltenden Geräte abzuschalten. Der Ehemann jedoch gab sein Einverständnis nicht, da er noch Hoffnung hatte. Tatsächlich erwachte die Frau nach einigen Monaten aus ihrem Koma. Nun erzählte sie ihrem Ehemann, dass sie damals die Unterredung zwischen dem Arzt und ihm mitbekommen hatte, auch den Rat des Arztes, die Geräte abzuschalten und passive Sterbehilfe zu leisten. Sie schilderte, wie schrecklich die Situation für sie gewesen war. Sie wollte alles herausschreien, dass sie doch noch leben und nicht sterben wolle, dass sie zu ihrem Mann und zu ihren Kindern nach Hause möchte.[6]

Der Bericht berührt ein sehr aktuelles Thema, nämlich die Frage: Wie ist der „Hirntod“ einzuordnen? Wann ist der Mensch definitiv tot? Offensichtlich besteht die Möglichkeit, dass ein Mensch trotz des „Nichtvorhandenseins von Hirnstromwellen“ wieder zum Leben erwacht. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass der Hirntod nicht das Eingangstor zum endgültigen Tod sein kann.

Raymond Moody kommt als Philosoph zu dem Ergebnis, „dass der Tod eine Trennung des Geistes vom Körper ist und dass der Geist an dieser Schwelle des Todes hinüberwechselt in andere Seins-Sphären."[7] Ähnlich sagt die Lehre der katholischen Kirche: „Das Wesen des Todes ist als Trennung der Seele von ihrem Leibe zu bestimmen."[8] Und im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: „Durch den Tod wird die Seele vom Leibe getrennt“ (KKK 1016).

Die Grenze

Eine andere Person berichtet, auf dem Weg zu einem hellen Licht hörte sie herrliche Musik und sah Farben, die sie noch nie gesehen hatte. Sie hatte ein überwältigendes Gefühl der Liebe und des Friedens, aber sie kam an eine gewisse Grenze, die sie nicht überschreiten durfte, denn sie musste zurück in ihren Körper, zurück auf die Erde, weil ihre Zeit noch ausstand. Die Begriffe wie Licht – Liebe – Frieden weisen auf eine göttliche Dimension hin. Es erinnert an Edith Stein, die sagt: „Die Vereinigung mit Gott ist nur möglich durch die Liebe."[9] An anderer Stelle: „Gott ist die Liebe. Darum ist das Ergriffenwerden von Gott Entzücktwerden in Liebe – wenn der Geist dazu bereit ist."[10]

In anderen Nahtod-Erfahrungen wird von einer Lebensschau oder einem Lebensrückblick seit der Geburt berichtet. Ein Thema ist auch die Begegnung und Kommunikation mit verstorbenen Familienangehörigen und auch anderen Verstorbenen.

Die weitaus größte Zahl der NTE hat einen positiven Charakter. Es gibt jedoch auch negative Erlebnisse, die ca. 1-2% betragen. Hier wird berichtet, dass die Betroffenen in die dunkle Tiefe gezogen werden und dass sie danach sofort in ihren Körper zurückkehren. Positive Gefühle bleiben aus. Dieses Erlebnis zieht später für die Personen, die das erlebt haben, tiefgehende Schuldgefühle nach sich. Oft führt es zu einem Trauma, das ein ganzes Jahr anhalten kann. Diese NTE wird auch Höllenerlebnis genannt. Ein junger Student berichtet von einer solchen NTE in den niederen Sphären. Dadurch bekam er eine neue Erkenntnis und stellte sich hinterher die Frage, wie wäre es, wenn er dort ewig leben müsste? Gott schenkte ihm also eine rettende Erkenntnis – für die Ewigkeit.

Viele bestätigten, dass die NTE ein Segen für sie war, denn nun hatten sie die Gewissheit, dass es wirklich eine Trennung der Seele vom Leib sowie ein Leben nach dem Tod gibt.[11] Dieser Glaube wirkte in ihren Alltag. Meistens veränderte sich das Leben zum Positiven. Nach einer NTE rückten das Wesentliche und die Sinnhaftigkeit in den Vordergrund.

Abschließend kann festgehalten werden, dass es bei Nahtod-Erfahrungen immer um neue Erkenntnisse geht, die das normale Alltagswissen übersteigen. Sie öffnen den Vorhang und gestatten einen Blick auf die himmlische Herrlichkeit. Wenn es sich um negative NTE handelt, zeigen sie auf, was wir ändern müssen, um den Weg zum Licht, das heißt zu Gott nicht zu verfehlen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Pim van Lommel: Endloses Bewusstsein, München 2013.
[2] Vgl. Pim van Lommel, 41.
[3] Vgl. ebd.
[4] Pim van Lommel, 63.
[5] Vgl. Pim van Lommel, 58.
[6] Vgl. ebd. 58, 59.
[7] Raymond A. Moody: Leben nach dem Tod, Hamburg 2017 (18. Aufl.), 149.
[8] Brinktrine: Die Lehre von den letzten Dingen, Paderborn 1963, 14.
[9] Edith Stein: Weg zum Licht, Hauenstein 1993, 85.
[10] Vgl. ebd., 24.
[11] Pim van Lommel, 78. 

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