Mut zu neuen Wegen
Bis 2011 war Bernhard Meuser (geb. 1953) Leiter des Pattloch Verlags. Schon zu dieser Zeit hatte er das große Anliegen, den katholischen Glauben zeitgemäß zu vermitteln. Die Bücher, die er selbst verfasste, behandeln vor allem spirituelle Themen. Für junge Menschen fand er eine verständliche, mitreißende Sprache und initiierte schließlich die deutsche Ausgabe des Jugendkatechismus YouCat. Als Leiter der YOUCAT-Foundation engagiert er sich nun für verschiedenste Initiativen zur Neuevangelisierung. Er ist überzeugt, dass die Kirche ohne einen neuen missionarischen Aufbruch keine Zukunft haben kann. Ihm schwebt eine junge Generation von Christen vor, die Jesus in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen und bereit sind, für den Aufbau des Reiches Gottes ihre ganze Existenz in die Waagschale zu werfen.[1]
Von Bernhard Meuser
Warum die Kirchen gerade die Kirche verpassen
Noch immer sind die beiden christlichen Großkirchen ein erheblicher gesellschaftlicher Faktor. Mit je knapp 30 Prozent (28,5% katholisch und 26,5% evangelisch) bilden sie von der Religionsverteilung her die Mehrheit (55%). Zuwachs verzeichnet keine der beiden Gemeinschaften. Zuwachs haben die Konfessionslosen (36%). Ihnen schlossen sich durch Kirchenaustritt im Jahr 2016 insgesamt 352.093 Menschen an; 162.093 kamen aus der katholischen Kirche, 190.000 aus den evangelischen Kirchen. Kein Desaster: eine Massenflucht.
Gewiss gibt es da und dort volle Kirchen, charismatische Prediger, lebendige Gemeinden, ja sogar spannende Neuaufbrüche. Man weiß ja mittlerweile auch, wo man hingeht, um sich nicht die nächste Kirchendepression abzuholen. Aber dann stellen sich wieder Erfahrungen wie diese ein: Jahresschluss-Gottesdienst in einer südwestdeutschen Pfarrei. Top renovierter Barock. Mächtige Orgel, professionell traktiert. Gut geheizt. Blumenschmuck vom Feinsten, wahrscheinlich im Abo vom Floristen. Es fehlt an nichts. Nur an Gläubigen. Eine schüttere Schar älterer Menschen hat sich versammelt. Kein einziger Jugendlicher ist anwesend, einmal von den beiden Ministrantinnen abgesehen. Der Aushilfspriester tritt zum Altar: „Ich soll Ihnen in dieser Stunde einige Zahlen zu Gehör bringen. Taufen: 4, Trauungen: 2, Beerdigungen: 25, Kirchenaustritte: 10, Kircheneintritte: 0…“ Der Priester hält einen Moment inne, blickt über die Brille und sagt: „Sie sind also eine sterbende Gemeinde. Soviel Realismus muss sein!“ Der Geistliche bemüht sich dann redlich, den Heiligen Rest Israels nicht noch tiefer zu deprimieren. Aber es nützt nichts. Die Leute verlassen das Museum des Lieben Gottes mit gesenkten Köpfen. Das wird hier nichts mehr.
Ach, da geht doch was?
Ein vollkommen anderes Bild vermittelt die seit zehn Jahren stattfindende MEHR-Konferenz im Augsburger Kongresszentrum: Junge Christen, wohin das Auge blickt. Vom 4. bis 7. Januar 2018 nahmen 11.000 Menschen daran teil, gefühltes Durchschnittsalter: 27. Etwa 60 Prozent katholisch, dazu etwa 40 Prozent evangelische Landes- und Freikirchler. Die in Lichtspektren von Neon getauchte Halle sieht wie eine Riesendisco aus. Gewaltige Beamer sind im Dauerbetrieb; Stroboskopblitze irrlichtern über die Köpfe. Arme gehen nach oben, Zeigefinger gen Himmel. Jesus, Jesus, Jesus, skandieren die Leute.
Gastgeber der Konferenz ist das Augsburger Gebetshaus, eine private Einrichtung, die aus der Charismatischen Erneuerung hervorgegangen ist. Gebetshäuser, in denen zu rockigen Sounds der Lobpreis Gottes im 24/7-Takt ertönt, sind gerade so etwas wie ein Hit unter jungen Leuten. Im Grunde stellt die MEHR aber keine Leistungsschau der Gebetshaus-Bewegung dar; sie ist eher so etwas wie die Jahresvollversammlung der Reformkatholiken und ihrer evangelikalen und charismatischen Freunde. Alles, was sich um „Topoi“ wie Gebet, Jesus, Bibel, Entscheidung, Heilung und Mission clustert, ist da, darunter auffällig viele junge Priester und Ordensleute. Auch einige Bischöfe ehrten die MEHR mit ihrer Anwesenheit, der Passauer Bischof Stefan Oster sprach über das Verhältnis von Liebe und Wahrheit, der Augsburger Weihbischof Florian Wörner feierte den Abschlussgottesdienst.
Insgesamt aber stehen die beiden Großkirchen dem Ereignis distanziert gegenüber, obwohl sie an den fünf Fingern abzählen können, mit wem in 10 bis 15 Jahren noch Kirche zu machen ist: mit diesen. Die MEHR hat es aus kleinsten Anfängen heraus in nur zehn Jahren geschafft, das Augsburger Messezentrum zu füllen. Wenn die Progression so weitergeht, brauchen sie das nächste Jahr eine Arena, und in zwei Jahren haben sie mehr Teilnehmer als der Katholikentag. Die amtlich bestellten Hirten müssten sich freuen über diese Generation, die aus dem Nichts kommt. Sie glüht, wie immer man das bewerten mag. Sie betet. Sie will Europa für Jesus zurückgewinnen. Sie ist überzeugt, dass sie das schafft. Schon 25 Gebetshäuser gibt es in Deutschland, in denen rund um die Uhr der Lobpreis Gottes erklingt. Es werden von Jahr zu Jahr mehr.
Die Konferenz bildete einen idealen Rahmen, um unser „Mission Manifest“ vorzustellen. Als katholische Christen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz möchten wir eine Welle des Gebets in Gang bringen und all diejenigen zusammenführen, die bereit sind, missionarisch aktiv zu werden, mitzuhelfen, dass unsere Länder, die Missionsländer geworden sind, wieder zu Jesus finden.
Das große Fremdeln
Bislang herrscht zwischen Amtskirche und den Aufbruchsbewegungen noch das große Fremdeln. Doch mit Hoffnungsträgern sollte man pfleglich umgehen. Schließlich geht es um alles oder nichts, um einen Turnaround oder das Ende. Die deutsche Kirchenlandschaft befindet sich in einem Umbruch, wie er seit einem halben Jahrhundert nicht mehr da war. Bei der Neuformation werden nicht viele Steine aufeinander bleiben. Das muss kein Unglück sein. Warum sollten die Christen – um ein großes Wort zu wagen – nicht gereinigt, gestärkt, vielleicht sogar wiedervereinigt aus der größten Krise ihrer deutschen Kirchengeschichte hervorgehen? Während die Vertreter der offiziellen Kirchen mit ächzenden Prozessen der Redimensionierung befasst sind und ihre Immobilien, Bürokratien, Privilegien, Planstellen und Rentenkassen winterfest machen, wird es an den Kirchenrändern Frühling. Grund zur Freude? Sollte man meinen. Nicht alle in der Kirche sehen das freilich schon mit Wohlgefallen. Sie ahnen: Da kommt etwas, das wir nicht kennen.
In der Tat gibt es für die Bewegung, die sich gerade wie „Unkraut“ im Vorgarten der Kirchen vermehrt, noch keine Schublade. 50 Jahre und länger hatten sich die beiden Großkirchen über die Konfessionsgrenzen hinweg in einer trivialen, am Politischen orientierten Weltenteilung eingerichtet: links die Kritischen, die Liberalen, die Progressiven; rechts die Reaktionären, die Konservativen. Die neue Bewegung, die sich gerade formiert, ist in ihrem Selbstverständnis so verschieden von diesen alten Lagern und abgenutzten Emblemen, wie Punk von der Volksmusik. Sie ist nicht konservativ. Sie ist nicht liberal. Sie ist, was den verfassten Kirchen seit dem 19. Jahrhundert im Traum nicht mehr einfiel: missionarisch. Man hört den Aufschrei der Etablierten, hört ihn unisono von rechts und links. Das Wort „Mission“ erweckt Abscheu.
„Mission“ hat man evangelisch wie katholisch schon lange aus dem Wortschatz gestrichen. Man sah ihn heillos kontaminiert von „Kolonisation“, fand ihn unvereinbar mit interreligiöser, allgemeinmenschlicher Toleranz, überließ ihn gerne den Zelt-, und Bahnhofsmissionen, auch der Heilsarmee zur Gitarre. Katholischen Bistümern war „Mission“ so peinlich, dass sie ihre Missionsreferate in „Referat für Weltkirche“ umbenannten. Übersetzte die Lutherbibel von 1984 die Stelle Mt 28,19a noch mit: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“, so gibt die revidierte Lutherbibel von 2017 diesen „Ausrutscher“ Jesu wieder mit: „Darum gehet hin und lehret alle Völker“. Die Völker wird es freuen, dass ihnen nun statt Mission Belehrung zugedacht ist. Exegeten gaben sich Mühe, den Missionsbefehl Jesu, der nun einmal im Neuen Testament steht, textkritisch zu depotenzieren. Nun muss man sich gar nicht bei der Frage aufhalten, ob der Missionsbefehl in Mt 28 eine spätere, redaktionelle Hinzufügung, mithin ein B-Klasse-Jesuswort, ergo auf die leichte Schulter zu nehmen ist. Man muss nur drei Sätze Paulus oder drei Seiten Apostelgeschichte lesen, um erschlagen zu werden von der Evidenz des Missionarischen. Man versteht sofort, dass Mission nicht etwa nur ein Moment der christlichen Anfangsdynamik ist, dieser 30 Jahre, in denen fast die ganze bekannte antike Welt ins Christliche umkippte. Nein, missionarisch zu sein, die rettende Botschaft zu verkünden, gehört zum Wesenskern des „neuen Weges“. Und man versteht auch sofort, dass die beiden Mission verweigernden Lager gegenwärtigen Christentums schlicht nicht in Form waren, als sie das Wort gebannt und die Sache nicht mehr betrieben haben. „Heute ist es Zeit für die Mission, und es ist Zeit für Mut!“, sagt Papst Franziskus.
Mission possible?
Die popularisierte Assmann-These, wie sie durch die Feuilletons geistert, unterstellt dem Monotheismus eine generelle Verbindung von Mission und Gewalt. Dem ist freilich nicht so. Das Judentum kennt keine Mission, folglich auch keine bekehrende Gewalt. Und während diese Verbindung durchaus zum Islam gehört, der seine gewaltige Ausbreitung seit dem achten Jahrhundert über 500 Eroberungskriegen verdankt, wurde dem Christentum eher selbst Gewalt angetan, als Herrscher es immer wieder instrumentalisierten, um Völker dauerhaft zu unterwerfen und ihre wirtschaftlichen und hegemonialen Interessen durchzusetzen. Schon Alkuin, der Zeitgenosse Karls des Großen, kritisierte die Praxis der Sachsentaufe: Zur Taufe könne ein Mensch getrieben werden, nicht aber zum Glauben.
Diese Erfahrung machte auch Hernán Cortez, als er nach der grausamen Eroberung des Aztekenreiches Missionare ins Land holte, um seinen Eroberungsfeldzug in der Tiefe der Seelen zu vollenden. Die Franziskaner, die den Ureinwohnern die Liebe predigen sollten, hatten trotz der Gräuel der Konquistadoren eigentlich keine schlechten Karten, denn die zuvor herrschende aristokratische Aztekenreligion war Terror pur: Auf den Gipfeln der Kultpyramiden wurden permanent Menschenopfer dargebracht; man riss ihnen bei lebendigem Leib das Herz heraus. Doch die Missionare fanden einfach keinen Schlüssel zum Herzen der Leute; sie blieben komplett erfolglos, bis der kleine Indio Juan Diego eine überaus liebenswürdige himmlische Vision hatte, die Jungfrau von Guadalupe, die auf friedlichste Weise die größte Bekehrungswelle in der Geschichte der Christenheit auslöste: Innerhalb weniger Jahre ließen sich 300.000 Indios taufen.
Freilich müssen sich Christen auch an die Brust schlagen: Im laufenden Betrieb christlicher Gesellschaften gab es genug subtile Mittel, um die notwendig freie Glaubensentscheidung des Einzelnen durch Erziehung und sozialen Druck zu unterminieren. Man muss sagen, was das war und ist: Nötigung, geistlicher Missbrauch. Denn was bedeutet Mission christlich? Mission ist die gewaltfreie, nicht nötigende Einladung in die Wahrheit. Der Effekt der Mission ist die Bekehrung aus freien Stücken. Christen haben vier missionarische Mittel, wovon ihnen aber nur drei zur Verfügung stehen. Bekehrt werden Menschen durch Beispiel, Verkündigung, Gespräch und … Wunder, also durch einen direkten göttlichen Impuls, wie er beispielsweise im Medium von Träumen gegeben ist. An letzteres muss man nicht glauben. Man sollte sich aber einmal mit Ex-Muslimen, die Christen geworden sind, unterhalten. Sie seien im Traum zu Jesus geführt worden – Varianten dieser Geschichte werden immer wieder berichtet.
Warum wir Mission brauchen
Die Christen müssen missionarisch sein, wenn sie nicht vollkommen marginalisiert oder dem biologischen Ende entgegendämmern wollen. Aber auch unsere mehrheitlich ungläubig gewordene Gesamtgesellschaft braucht missionarische Christen, will sie der säkularen Herausforderung durch einen Islam begegnen, für den „Ungläubige“ schlicht nicht diskursfähig sind. Man mag das beklagen, denn es ist ein Spiel mit Dreien; die Entscheidung fällt aber zwischen den beiden gläubigen Mitspielern, die beide von der Existenz einer absoluten Wahrheit ausgehen. Absolut ist eine Wahrheit, die eine andere, mit ihr im Widerspruch stehende „Wahrheit“ nicht akzeptieren kann. Und sie wird den Irrtum mit Verweis auf die Wahrheit zurückweisen, so sehr sie die persönliche Integrität des Irrenden verteidigt.
Einer Religion, die Unterwerfung unter einen Gott verlangt, der Hass, Terror und Unterdrückung in die Welt bringt, kann nur eine andere Religion antworten, die den wahren Gott verteidigt, weil es den „anderen Gott“ nicht gibt und auch nicht geben kann. Das Wort Gott hat keinen Sinn, wenn das Göttliche nicht gut und das Gute nicht göttlich ist. Den Gott der Azteken beispielsweise gibt es nicht. Es gibt nur Leute, die eine oberste „Fratze“ gebraucht haben, um eine Herrschaft der Angst zu etablieren und zu stabilisieren.
Die Mission der Christen hat Aussichten auf Erfolg. Sie nimmt dem anderen Gläubigen Gott nicht weg. Aber sie lädt ihn ein, ein neues Bild von Gott zu entdecken, sich von Scheingöttern abzuwenden, um sich auf den wahren Gott zu konzentrieren. Dass Christen von einem guten Gott ausgehen, verdanken sie übrigens nicht verstiegener platonischer Spekulation, sondern dem Blick auf den gekreuzigten Jesus. Der hatte einen Gott verkündigt, der sogar die Feindesliebe von seinen Anhängern verlangt. Missionarische Christen sind demnach die Letzten, die in die Jagdgesänge der Populisten einstimmen. Man braucht vor ihnen keine Angst haben, denn sie werden alles tun, um die Religionsfreiheit zu verteidigen – und zwar auch dann, wenn sie gerade nicht davon profitieren.
Der Showdown der alten Schablonen
Wir dürfen nicht darauf warten, dass die schöne alte Kirchenwelt wiederhergestellt wird oder dass es der (richtige) Papst schon richtet, der wackere Bischof, der fromme Pfarrer oder der gläubige Religionslehrer. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Verantwortung aller für alle in der Kirche herausgestellt. Man muss sich nicht wundern, wenn an der Basis etwas aufbricht, das nicht darauf wartet, ob ein Missionsbefehl von der Deutschen Bischofskonferenz kommt.
Während es doch buchstäblich um alles oder nichts geht für die Kirche, um ihre schiere Existenz in wenigen Jahren, tun manche liberale Christen so, als wäre die gewiss nicht marginale Frage nach der Kommunionzulassung der wiederverheiratet Geschiedenen die wichtigste Frage der Welt, und als würde sich das Schicksal der Kirche an ihrer Anschlussfähigkeit an die affektive Unübersichtlichkeit und die permissiven Standards von Gesellschaften entscheiden, die sich seit 40 Jahren nicht im Geringsten für Gott und die Kirche interessieren. Junge Christen, die sich gerade für Jesus entschieden haben, sind mit einem, sich im Nebel der Meinungen verlierenden, wabernden Weichbild von Glauben nicht zu faszinieren.
Wir sind immer noch in einem Strukturmodell gefangen, das Kirche und Gemeinde nach Art einer Seniorenresidenz organisiert. Dort gibt es nur zwei Sorten von Menschen: Betreuer und Betreute. Der Aufbruch der anglikanischen Kirche rund um Holy Trinity Brompton begann in dem Augenblick, als der Geldhahn abgedreht wurde, das süße Gift der Betreuung von alleine versiegte und die Leute verstanden: Der Glaube wird nicht weitergegeben, wenn nicht durch uns. Die Kirche gibt es nicht, wenn wir sie nicht sind. Das neue Leben existiert nicht, wenn wir es nicht teilen. Nach den Leuten zu rufen, die uns die Kirche machen – das ist von gestern.
Wir brauchen entschiedene Nachfolger Christi. Wer auf die MEHR fährt, oder nach Taizé, oder zu einem Prayerfestival, oder zum Weltjugendtag, oder zum nächsten Nightfever…, der findet überall Schlangen, in denen junge Leute zur Beichte anstehen. Ich habe genascht? Nein. Da ereignen sich Lebenswenden. Und es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Kirche, in der Seelsorger und Hirten von denen bekehrt werden, denen sie eigentlich dienen sollten. Man denke an Franz von Assisi vor Innozenz III.
Auch eine Theologie, die sich von der Nachfolge abgelöst hat, kann keinen Beitrag zum missionarischen Aufbruch leisten. Sie entspricht nicht dem spirituellen Aufbruch der Jungen. Das ist ernst zu nehmen; und es ähnelt etwas der Absetzbewegung, mit der sich Meister Eckhart im 14. Jahrhundert von der verkopften Theologie seiner Zeit distanzierte: „Ein Lebemeister ist mehr denn tausend Lesemeister.“ Die Jungen suchen keine selbstverliebten intellektuellen Vortänzer, sondern Ergriffene, die sie mitnehmen in die abgründigen Geheimnisse Gottes. Solche Theologen gibt es und sie brauchen sich, wie die Hochschule Heiligenkreuz zeigt, über mangelnde Resonanz nicht beklagen. Aber sie lehren anders. Die einst hochgerühmte anthropologische Wende schmilzt dahin wie die Modernität von gestern. Es geht wieder um Gott. Theologen werden sich fragen müssen, ob sie etwas beizutragen haben zur Re-Formation des Glaubens und zur missionarischen Profilierung der Kirche. Andernfalls werden sie zurückbleiben. Man wird ihre Lehrveranstaltungen nicht mehr besuchen, ihre Bücher nicht mehr lesen und ihren Rat nicht mehr hören.
Fünf Kernbegriffe eines missionarischen Aufbruchs
Es sind meines Erachtens fünf Kernbegriffe, um die sich die missionarische Aufbruchsbewegung entfaltet. Der erste Begriff ist Gebet. Nichts kennzeichnet diese „Community“, wie man die junge missionarische Generation nennt, prägnanter als ihre entschlossene Hinwendung zum Gebet, zur Anbetung, zum Lobpreis. Gebetsgruppen, Nightfever-Initiativen, Gebetshäuser sind Zeichen des neuen Frühlings. Zwei Generationen davor hätte man sich zu Zen-Kursen angemeldet. Die gibt es auch heute noch, aber sie werden – in Kombi mit Wellness – vorwiegend von älteren Menschen besucht. Woher kommt diese Renaissance des Betens? Sie kommt aus der Einsicht, dass Gott da ist, dass man ihn ansprechen kann, dass er antwortet.
Ich erzähle gerne eine kleine Szene, deren Zeuge ich war: Die kurz zuvor getaufte Nina Hagen wurde von einer Ostberliner Dame mit der etwas kuriosen Frage konfrontiert: „Wir haben det ja nich jelernt, det mit dem Gott. Wie machste det denn?“. Darauf Nina: „Det kann ick dir sagen. Hatte ma wat mit Drogen an der Backe, damals in Amsterdam. Wog nur noch 45 Kilo. Ha ick ne janze Nacht zu Jesus jeschrien. Det hat jewirkt.“ Das ist genau der Geist, in dem junge Leute heute das Gebet als geistiges Abenteuer und als Schlüssel zu allem anderen entdecken. Die Idee eines Stufenbaus argumentativer Hinführung zum Glauben, auf dessen Gipfel sozusagen auch noch Beten stattfindet, erweist sich als Fiktion. Andersherum geht es sehr wohl. Wenn man Menschen für Gott gewinnen will, ist Beten das Erste und nicht das Letzte. Das kann man nicht nur im Augsburger Gebetshaus oder bei Holy Trinity Brompton, dem derzeitigen Role Model des Aufbruchs, lernen. Das bestätigt auch der kreative österreichische Jugendseelsorger Michael Scharf, der mit Gebetsparcours im Hardcore-Milieu Wiener Hauptschulen arbeitet – und zwar mit bemerkenswertem Erfolg.
Der zweite Begriff hängt eng mit dem ersten zusammen, er heißt Wunder, vermutlich sehr zum Staunen jener Gelehrten, die bei der neuen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift gerade ebendieses Wort aus dem Neuen Testament getilgt bzw. durch den hölzernen Terminus „Machttat“ ersetzt haben, um Jesus nicht in die Nähe der zersägten Jungfrau zu bringen. Die Jungen, die auf diversen Wegen zum Glauben kommen, erwarten aber Wunderdinge vom Glauben. Sie wollen ihn wunderbar finden und wunderschön. Und das ist er ja auch. Sie suchen nicht nach „wichtigen Werten“, interessanten Religionsvergleichen und theoretischen Horizonterweiterungen. Sie wollen das Abenteuer, die geistige Wende, die Sternstunden realer göttlicher Gegenwart. Sie suchen den inneren Frieden, die Errettung aus Verlassenheiten und Süchten, die Heilung biographischer Wunden. Sie wollen starke, nachhaltige Freude. Sie leben mit dem Versprechen: Das kannst du haben, aber es kostet dich dein Leben. Hingabe für Hingabe! Gib alles, du wirst nicht enttäuscht werden. Das Wunder passiert auch bei dir.
Das dritte Wort heißt Jesus. Die Fokolare haben davon gesprochen, „Jesus in die Mit-te“ zu nehmen, auf ihn hin zu leben, ihn beständig im Blick zu haben, mit und durch ihn den Alltag zu bewältigen. Vielleicht haben es die Fokolare von evangelischen Christen gelernt, die den Schatz der mittelalterlichen Jesusfrömmigkeit – das „Jesus, meine Freude“ – am treuesten in die Gegenwart herübergerettet haben. Die Priorisierung Jesu haben alle in der „Community“ übernommen. Jesus wirklich den Vorrang zu geben, ihn anzusprechen und zu fragen, sich von ihm führen zu lassen, das verbindet Christen aller Konfession tiefer als alle interkonfessionellen Denkschriften. Die MEHR-Konferenz war ein Fest dieser neuen Jesus-Ökumene. Betend in Jesus eins zu sein, das ist das prophetische Zeichen einer neuen Generation von Christen. Es ist auch ein Zeichen des Widerspruchs gegen jene, denen es bei Ökumene vornehmlich um das gleiche Label auf verschiedenen Flaschen zu tun ist, wo Ökumene in Wahrheit doch das Gegenteil will. Es gab keine Interkommunion auf der MEHR, weil es die reale Einheit noch nicht gibt, deren Ausdruck die Eucharistie ist. Die evangelischen Christen nahmen im Modus der Sehnsucht an der Heiligen Messe teil; sie kreuzten die Hände über der Brust und empfingen den Segen. Das war aber auch der einzige Moment, an dem „Konfession“ noch gefragt war. Ansonsten war die Frage: „Was bist du eigentlich – evangelisch, katholisch, Freikirchler?“ verpönt. Jesusleute steckten die Köpfe zusammen, um zu hören, zu raten, sich aneinander zu freuen, missionarische Pläne zu schmieden … und um „den Herrn“ direkt anzurufen.
Der vierte Begriff heißt Bibel. Dazu muss man nicht viel mehr sagen, als dass sich in weiten Teilen der katholischen Kirche, namentlich in den Aufbruchsbewegungen, eine richtiggehende Bekehrung zur Heiligen Schrift ereignet hat. Papst Franziskus geht mit gutem Beispiel voran; er motiviert die Jugendlichen, täglich die Bibel zu lesen, mit der Heiligen Schrift und aus ihr zu leben: „Ihr haltet also etwas Göttliches in Händen: ein Buch wie Feuer! Ein Buch, durch das Gott spricht. Also merkt Euch: Die Bibel ist nicht dazu da, um in ein Regal gestellt zu werden, sondern um sie zur Hand zu haben, um oft in ihr zu lesen, jeden Tag, sowohl allein als auch gemeinsam.“ Auf den Jugendcamps und Prayerfestivals, in den Glaubensschulen, den Gebetshäusern – überall ist die Bibel dabei, oft in zerfledderten, mit reichen handschriftlichen Anmerkungen und Unterstreichungen versehenen Ausgaben.
Der letzte Begriff heißt Entscheidung. Christsein ist nicht realisierbar als vage, vorläufige Annahme. Christsein ist ein In-die-Nähe-gerufen-werden durch Gott, auf das Gott eine freie Antwort haben möchte. Das „Ja“ kann kein Ja zur Aufnahme Gottes in das Arsenal persönlicher Überzeugungen sein. Gott möchte die bewusste, freie Übergabe des Lebens an ihn. Leben für Leben.
Der missionarische Aufbruch, den wir erleben dürfen, ist ein pfingstliches Ereignis, ein Geschenk Gottes an unsere Zeit. Die Zukunft der Kirche wird davon abhängen, wie sie sich diesem Zeichen der Hoffnung stellt und sich einer neuen Generation von Christen öffnet.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Johannes Hartl / Karl Wallner / Bernhard Meuser: Mission Manifest – Die Thesen für das Comeback der Kirche, Klappenbroschur, 240 S., € 20,-- (D), ISBN 978-3-451-38147-8, Bestellung: www.herder.de
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