Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Die ganze Heilige Schrift ist eine einzige Liebesbekundung Gottes an die Menschheit, eine unüberbietbare Botschaft der Göttlichen Barmherzigkeit. Und doch hat das Tagebuch der hl. Schwester Faustyna Kowalska die Herzen von Millionen von Menschen ganz neu berührt. Die immer gültige Wahrheit des Evangeliums wurde plötzlich greifbar wie ein Rettungsanker in größter Not. Die Botschaft vom barmherzigen Jesus ist im Grund genommen nichts Neues. Und doch vermag sie den heutigen Menschen im Innersten zu treffen und davon zu überzeugen, dass er sich auf Gottes Liebe und Zuwendung wirklich verlassen kann: „Jesus, ich vertraue auf Dich!“

„Künde der Welt von Meiner Barmherzigkeit, von Meiner Liebe. … Sage der leidenden Menschheit, sie möge sich an Mein barmherziges Herz schmiegen und ich will sie mit Frieden erfüllen“ (Tagebuch, 1074). Immer wieder sind es solche Worte, die der hl. Schwester Faustyna zu verstehen geben, dass sie eine universale Mission zu erfüllen hat. Gleichzeitig ist es ein Wechselspiel der Liebe, wenn sie schreibt: „Ich schmiege mich an Gottes Herz, wie ein Säugling an die Brust der Mutter“ (Tagebuch, 104). Doch wer glaubt ihr, dass ihre Gedanken einen Ursprung haben, der über ihren subjektiven Horizont hinausreicht, dass sich in ihrer Mystik tatsächlich der transzendente Gott zu erkennen gibt, dass ihr Leben einen Einbruch übernatürlicher Gnade in diese Welt darstellt?

Dazu hat Gott den hl. Papst Johannes Paul II. als Werkzeug auserkoren. Er tauchte in die Offenbarungen der hl. Sr. Faustyna ein und entdeckte in ihnen den reinen ewigen Glanz des Vaterherzens Gottes. Mit voller Überzeugung von der Echtheit der Einsprechungen dieser einfachen Ordensfrau wurde er an ihrer Seite zum Künder der Göttlichen Barmherzigkeit. Mit der Autorität des Petrusamtes erhob er die Botschaften des barmherzigen Jesus auf den Leuchter der kirchlichen Verkündigung. „Die Botschaft von der erbarmenden Liebe Gottes, die hier durch Schwester Faustyna verkündet wurde, möge alle Menschen der Erde erreichen und ihre Herzen mit Hoffnung erfüllen“, so sagte er bei der Einweihung der Basilika der göttlichen Barmherzigkeit in Krakau am 17. August 2002. Und er bekräftigte noch einmal, dass die Vision der Hoffnung, die sein ganzes Pontifikat geprägt hat, letztlich in dieser prophetischen Botschaft ihren Ursprung und ihr sicheres Fundament besitzt.

Die Hoffnung, von der Johannes Paul II. spricht, betrifft zunächst den einzelnen Menschen, der voll Zuversicht auf Gott zugehen kann, selbst wenn er die schrecklichsten Sünden begangen hat, da er weiß, dass die göttliche Barmherzigkeit immer größer und mächtiger ist. Die Hoffnung betrifft aber auch die ganze Menschheit, der Jesus für unser aktuelles Zeitgeschehen zusichert, sie nicht dem Verderben preiszugeben, sondern entgegen allem innerweltlichen Anschein einem neuen Frühling zuzuführen. Und sie betrifft die Kirche, der er bei allen Heimsuchungen eine umfassende Reinigung und Erneuerung verheißt.

Doch – wie Johannes Paul II. und Sr. Faustyna betonen – kann nur derjenige, der selbst Barmherzigkeit zu leben versucht, mehr und mehr die Wirklichkeit begreifen, die sich hinter diesem Geheimnis verbirgt, an sie glauben, auf sie vertrauen und sie voll Sehnsucht für die ganze Welt erflehen. So passt zum Titelthema, das wir aus Anlass des Kongresses der Göttlichen Barmherzigkeit in Paderborn gewählt haben, sehr schön der Blick auf Katharina Kasper, die am 14. Oktober im Rahmen der Jugendsynode heiliggesprochen worden ist.

Mit einem aufrichtigen Vergelt’s Gott für Ihre treue Unterstützung wünschen wir Ihnen für den Allerseelen-Monat November unter dem Schutz unserer himmlischen Mutter Maria Gottes reichsten Segen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
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Predigt zum Kongress der Göttlichen Barmherzigkeit am 7. Oktober 2018 in Paderborn

Barmherzigkeit ist die größte aller Tugenden

Die Geistliche Gemeinschaft „Communio des Friedens“ versucht die Botschaft der Göttlichen Barmherzigkeit an die hl. Schwester Faustyna Kowalska zu verbreiten. Auf Initiative von Mechtild Neiske führte sie vom 5. bis 7. Oktober 2018 in Paderborn den II. Apostolischen Kongress der Göttlichen Barmherzigkeit durch. Der emeritierte Paderborner Weihbischof Manfred Grothe begrüßte die Teilnehmer zur Eröffnung der Veranstaltung am 80. Todestag der hl. Sr. Faustyna. Beim feierlichen Abschlussgottesdienst im Hohen Dom zu Paderborn hielt er nachfolgende Predigt, in der er Barmherzigkeit als „das bewusste Tun an der Not des Anderen, das aus einem empfindsamen Herzen herrührt“, definierte. Wie muss die Kirche auf die Menschen zugehen, wenn sie barmherzig sein will?

Von Weihbischof em. Manfred Grothe, Paderborn

Prioritäten setzen, das ist etwas, was heute Vielen wichtig ist. Es gibt so viele Alternativen, Möglichkeiten, Aufgaben und scheinbar auch so viele Wahrheiten. Aber was ist wirklich zentral? Die Frage stellt sich erst recht uns Christinnen und Christen: Was ist wirklich zentral in unserem Glauben und für unser Leben? Papst Franziskus hat ohne Zögern seine Antwort gegeben: Zentral ist die Barmherzigkeit! Und er hat damit nur unterstrichen, was vor ihm schon andere gewichtige Glaubensboten erkannt und selbst gelebt haben: der hl. Augustinus, die hl. Faustyna, Papst Johannes Paul II. oder Benedikt XVI.

Wenn wir nun aber spontan erklären sollten, was das Wort Barmherzigkeit bedeutet, was würden wir da sagen? Ist es Mitleid? Ist es Zuwendung oder Güte? Ist es ein Gefühl, eine Haltung, oder bedeutet es ein Tun? Ist Barmherzigkeit abwertend, wo doch Gerechtigkeit das Angemessene wäre? Ist Barmherzigkeit nur ein frommes Wort, das in der Welt aber nichts gilt?

Ein Wort allein kann die Bedeutung dessen, was Barmherzigkeit ist und ausmacht, nicht umschreiben. Wenn wir aber weiter forschen, lassen sich besonders zwei Charakteristika unterscheiden. Zum einen ist Barmherzigkeit die objektive Bereitschaft, das Elend des Anderen zu erleichtern. Barmherzigkeit äußert sich im Tun. Schon seit den Urzeiten der Kirche gibt es die Diskussion darüber, ob Glaube oder Werke wichtiger sind. Im Jakobusbrief heißt es dazu eindeutig: „Der Glaube für sich allein ist tot, wenn er nicht Werke vorweisen kann“ (Jak 2,17). Gemeint sind Werke, Taten der Nächstenliebe. Barmherzigkeit ist gleichsam der Sammelbegriff für diese Taten. Das aber heißt: Sie ist mehr als ein bloßes Gefühl, Barmherzigkeit wird wirksam.

Das andere Charakteristikum schaut auf den Ort, den Ursprung und die Tiefe des Gefühls, das zu solchem Tun führt. Es ist das Herz, also gleichsam die Mitte des Menschen. Es ist das Mitleid, die Güte, vielleicht auch die Zärtlichkeit. Es verlangt Einfühlungsvermögen, ja überhaupt das Vorhandensein eines Gefühls, das schließlich zu barmherzigem Tun hinführt. Ein gefühlloser, unempfindlicher Mensch spürt gar nicht das Elend eines Anderen, er übersieht es, er bekommt es nicht mit. Das lateinische Wort für Barmherzigkeit „Misericordiae“ kann man deshalb deuten als ein „für das Elend empfindliches Herz“. Ein barmherziger Mensch ist einer, der das Elend des Anderen sieht und dafür empfindlich ist. Er lässt das Elend des Anderen an sich herankommen, macht es sogar zu seinem eigenen. Dann versucht er, es zu erleichtern; Barmherzigkeit, sie ist das bewusste Tun an der Not des Anderen, das aus einem empfindsamen Herzen herrührt. Und wenn wir Barmherzigkeit so beschreiben, dann spüren wir auch, was uns heute in unserer individualisierten, egozentrischen Gesellschaft oft verloren gegangen ist. Dann spüren wir aber auch, wie in der Diskussion um den Missbrauch in unserer Kirche mit Recht angefragt wird: „Warum, Kirche, warst du nicht bei den Opfern? Warum hast du nicht ihre Nöte gespürt? Und warum warst du so zögerlich, ihnen bei der Heilung von der Not spürbar behilflich zu sein?“

Fragen, die uns als Kirche in Verlegenheit bringen. Deshalb ist es nicht überraschend, dass auch das Zweite Vatikanische Konzil bereits neue Prioritäten gesetzt hat. Es erklärt, dass es eine „Hierarchie der Wahrheiten“ gibt, eine Rangordnung der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre, „je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhanges mit dem Fundament des christlichen Glaubens“ – wie es dort heißt. Zentral seien nicht Gesetze und Verbote. Zentral seien Liebe, Gnade – und die Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist so die größte aller Tugenden. Davon ist auch schon der hl. Thomas von Aquin überzeugt, wenn er in seiner Summa theologica schreibt: „An sich ist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der Anderen aufhilft.“ Und er schließt daraus für das Handeln der Kirche: „Die Kirche soll später hinzugefügte kirchliche Normen und Vorschriften mit Maß einfordern, um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen und unsere Religion nicht zu einer Sklaverei zu verwandeln, während die Barmherzigkeit Gottes wolle, dass sie frei sei.“ Die Barmherzigkeit Gottes, die Liebe Gottes, will die Menschen frei machen. Wenn die Kirche in die Gefahr gerät, Menschen unfrei zu machen – dann muss sie selbst auch neue Prioritäten setzen, Gesetze und Bräuche verändern. „Haben wir keine Angst, sie zu revidieren!“, kann deshalb Papst Franziskus in seinem pastoralen Schreiben Evangelii Gaudium sagen.

Die Barmherzigkeit Gottes ist eine der zentralen Eigenschaften von ihm – und deshalb muss auch die Kirche und müssen die Christinnen und Christen barmherzig sein. Barmherzig zum Beispiel wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der Vater schlägt die Tür seines Hauses nicht zu, er hält die Türen zu ihm offen, damit der Sohn ohne Zögern eintreten kann, wenn er wieder zurückkommt. Auch die Kirche ist berufen, immer das offene Haus des Vaters zu sein. Eine Kirche, die barmherzig ist und ihre Türen offen lässt für die Menschen, die suchen oder heimkehren, die wird immer bereit sein, Überkommenes zu überdenken und Regelungen weiterzuentwickeln.

Doch Barmherzigkeit drückt sich natürlich nicht nur in geänderten kirchlichen Normen aus, und sie ist nicht nur etwas für die Leitung der Kirche. Barmherzigkeit soll Priorität haben für das Handeln aller Gläubigen. Barmherzige Liebe, die sieht die Not anderer Menschen und geht nicht an ihr vorbei; sie öffnet ihr Herz und ihre Türen. So wie der barmherzige Vater oder auch wie der barmherzige Samariter. Die Armen, die Hungrigen, die Kranken, die Fremden und Fehlgeleiteten: Sie sind die ersten Adressaten der Barmherzigkeit Gottes – und sie sollen auch die ersten Adressaten unserer Barmherzigkeit sein. Wo Menschen ihnen helfen, wo sie sich um Obdachlose kümmern, wo ihnen die Kinder ein Anliegen sind, wo sie kranke und alleinstehende Menschen besuchen, da stellen sie diese göttliche Barmherzigkeit ins Zentrum. „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“, sagt Jesus in der Feldrede. Das bedeutet, da, wo wir in unserem Denken, Streben und Tun Gott immer ähnlicher werden, da wird auch die Barmherzigkeit immer selbstverständlicher.

Das Christentum kann man auf Dauer nicht mit Waffen und äußeren Aktionen oder Strategien retten. Das Christentum wird gerettet, wenn Menschen den Kern dieses Glaubens in sich aufnehmen, ihm Raum geben und immer und immer wieder aktualisieren! – Und dies geschieht auch besonders in der Meditation des Rosenkranzes. Es ist gewiss kein Zufall, dass der Kongress der Barmherzigkeit heute mit der Feier des Rosenkranzfestes zusammenfällt. Im Rosenkranz werden in der Melodie der Aves die Kerngeheimnisse des Glaubens gestreut und so den Betern deutlich gemacht, was das unterscheidend und damit auch entscheidende Christliche in Wahrheit ist: nämlich die Person Jesu Christi als die lebendige Inkarnation des göttlichen Wortes in der Haltung der Barmherzigkeit. Im Rosenkranz begegnen wir in einfachen und schlichten Sätzen dem Kern des Christlichen. Und das ist die Barmherzigkeit Gottes. Ich hoffe und wünsche, dass wir diese Barmherzigkeit immer wieder wirklich neu leben können – auf allen Ebenen unserer Kirche und unserer Welt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
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Johannes Paul II. zum Bild des barmherzigen Jesus

Quelle der Hoffnung

Sr. Dr. Edith Olk, Gymnasiallehrerin und Autorin, war am 2. April 2005 unter den Gläubigen auf dem Petersplatz, die in großen Scharen nach Rom gekommen waren, um Papst Johannes Paul II. bei seinem Sterben nahe zu sein. Von da an beschäftigte sie sich intensiv mit der „Theologie der Barmherzigkeit“ Johannes Pauls II. und verfasste darüber ihre Dissertation. Beim II. Apostolischen Kongress der Göttlichen Barmherzigkeit vom 5. bis 7. Oktober 2018 in Paderborn hielt sie einen Vortrag zum Thema „Das Bild des barmherzigen Jesus in der Interpretation des hl. Johannes Paul II.“ Sie bot eine beeindruckende Zusammenstellung von unterschiedlichsten Zitaten des Papstes, der in der Botschaft von Sr. Faustyna Kowalska eine Quelle der Hoffnung für unsere bedrängte Zeit sah. Nachfolgend eine gekürzte Fassung.

Von Sr. Edith Olk

Das Bild vom barmherzigen Jesus ist auf der ganzen Welt verbreitet. Es ist zu einem Zeichen geworden, das die Katholiken aller Nationen miteinander verbindet. In den Kirchen Deutschlands jedoch ist es sehr selten anzutreffen. Aber überall dort, wo es aufgestellt ist, findet man in den Gemeinden eine typisch katholische Spiritualität mit eucharistischer Anbetung, festen Beichtzeiten, Rosenkranz- und Lobpreisgebet. Das Bild ist zu einer Art Erkennungszeichen geworden wie der Fisch für die Christen in der Urkirche. Man kann es nicht einfach als Ausdruck einer typisch polnischen oder gar vorkonziliaren Spiritualität abtun. Vielmehr kommt es aktuell in fast allen kirchlichen Bewegungen vor, die einen geistlichen Aufbruch wagen – verbunden mit einer persönlichen Umkehr zu Gott. Armen und einfachen Menschen aus den verschiedensten Kulturen scheint sich das Bild wie von selbst zu erschließen.

Warum ist das so? Die einfachste Antwort lautet: Es ist ein Gnadenbild. Das Bild mit der Unterschrift „Jesus, ich vertraue auf dich“ geht auf eine Vision und einen Auftrag Jesu an Schwester Faustyna Kowalska am 22. Februar 1931 zurück. Es wurde nach ihren Angaben erstmals im Jahr 1934 von dem Künstler Eugeniusz Kazimirowski in Wilna gemalt und öffentlich ausgestellt. Die Worte Jesu an Schwester Faustyna, sie würde „am Tage des Gerichts für eine große Anzahl von Seelen Rechenschaft ablegen müssen“, wenn das Bild nicht gemalt würde (TB Nr. 154), kündigen indirekt bereits seine weltweite Verbreitung an. Ebenso wurde Sr. Faustyna in einer Vision kurz vor ihrem Tod offenbart, dass viele Seelen durch das Bild Gnaden erhalten würden und dass Gott durch das Bild auf verschiedenen Wegen verherrlicht und Satan besiegt werde (vgl. TB Nr. 1789).[1] Die Seele dessen, der das Bild verehre, werde gerettet werden und er werde schon im irdischen Leben seine Feinde besiegen.

Viele, die das Bild verehren, wissen nichts von seiner Geschichte und den Verheißungen. Doch fühlen sie sich zu dem Bild hingezogen. Papst Johannes Paul II. bot in seiner Verkündigung eine umfangreiche Interpretation des Bildes. Dabei wandte er sich an alle Christen, d.h. auch an die, welche die Offenbarungen an Schwester Faustyna nicht kennen. Er bezog sich in erster Linie auf das 1943/1944 von Adolf Hyła gemalte Bild, das ab dem 16. April 1944 in der Klosterkirche von Łagiewniki in Krakau ausgestellt wurde. Der junge Karol Wojtyła besuchte diese Kirche häufig auf seinem Weg zur Solvay-Fabrik – während der nationalsozialistischen Besatzung Krakaus (Schlusswort 17. August 2002). Er war 1942 dem bischöflichen Untergrundseminar beigetreten und hatte dort von Andrej Deskur, einem Mitstudenten und späteren Bischof, von den Offenbarungen an Schwester Faustyna gehört. Seitdem besuchte er regelmäßig ihr Grab in der Klosterkirche. Bei diesen Besuchen zwischen April und August 1944 – dem Zeitpunkt, als er im Bischofspalais untertauchte –, machte er sich mit dem Bild und dem Stoßgebet „Jesus, ich vertraue auf dich“ innerlich vertraut. Er bezeugte später, dass ihm dieses Gebet während des Krieges Kraft und Hoffnung gab.[2]

Die glorreichen Wunden des Auferstandenen

Der Schlüssel zur Interpretation des Bildes nach Johannes Paul II. liegt in folgender Aussage: „Es ist bezeichnend, dass Schwester Faustyna diesen Sohn als barmherzigen Gott gesehen hat, indem sie ihn jedoch nicht am Kreuz betrachtete, sondern vielmehr in seinem späteren Zustand als Auferstandener in der Herrlichkeit. Sie hat daher ihre Mystik der Barmherzigkeit mit dem Paschamysterium verbunden, indem Christus siegreich über Sünde und Tod erscheint (vgl. Joh 20,19-23)."[3]

Normalerweise zeigt die christliche Kunst Gottes barmherzige Liebe zu den Menschen im Bild des Gekreuzigten, dessen Herz geöffnet ist. Johannes Paul II. verweist auf die Besonderheit, dass sich der barmherzige Jesus Schwester Faustyna als Auferstandener und damit als Sieger über Sünde und Tod gezeigt hat. Das Bild des Auferstandenen vermittelt die große Hoffnung, dass Gottes Barmherzigkeit siegreich über das Böse ist. Diese Hoffnung brauchen die Menschen von heute ganz besonders und in dieser Botschaft vom Sieg über das Böse liegt die große Anziehungskraft des Bildes. Um dieses Thema kreist die ganze Theologie der Barmherzigkeit von Johannes Paul II.

Der Auferstandene kann selbstverständlich auch in diesem Bild nicht losgelöst vom gekreuzigten Jesus betrachtet werden. Darauf verweisen die Wundmale, aber auch sie sind bereits verklärt. Über sie sagte der Papst: „Die Wundmale des auferweckten und glorreichen Herrn sind das bleibende Zeichen der barmherzigen Liebe Gottes zur Menschheit. Aus ihnen strömt ein geistiges Licht, das die Gewissen erleuchtet und den Herzen Trost und Hoffnung einflößt“ (Regina Caeli, 7. April 2002, 2).

Von den Wundmalen Jesu gehen – nach den Worten des Papstes – Licht für das Gewissen, d.h. die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse, sowie Trost und Hoffnung für das Herz aus. Angesichts der Einflüsse des Bösen auf das menschliche Herz vermittelt das Bild vom barmherzigen Jesus die Hoffnung, dass Gottes barmherzige Liebe stärker als das Böse ist.  Denn, so sagte der Papst: „Jene glorreichen Wunden, die er acht Tage später den ungläubigen Thomas berühren ließ, offenbaren die Barmherzigkeit Gottes, der die Welt so sehr geliebt hat, ,dass er seinen einzigen Sohn hingab‘ (Joh 3,16). … Die Menschheit scheint zuweilen verirrt und von der Macht des Bösen, des Egoismus und der Angst beherrscht zu sein. Ihr schenkt der auferstandene Herr seine Liebe, die vergibt, versöhnt und die Gedanken wieder der Hoffnung öffnet, eine Liebe, die die Herzen bekehrt und Frieden schenkt. Wie sehr hat es unsere Welt doch nötig, die Göttliche Barmherzigkeit zu verstehen und anzunehmen!“ (vorbereitete Ansprache zum Regina Caeli, 3. April 2005, 1-2).

Die Welt bedarf der Göttlichen Barmherzigkeit, weil sie so sehr der Hoffnung auf den Sieg des Guten bedarf. Und mehr noch: In der verklärten Herzwunde Jesu findet der Mensch die Erfüllung all seiner Sehnsucht nach Glück: „Durch das Geheimnis dieses verwundeten Herzens hört der erquickende Strom der barmherzigen Liebe Gottes nicht auf, sich auch über die Männer und Frauen unseres Zeitalters zu ergießen. Wer sich nach echtem und dauerhaftem Glück sehnt, kann nur hierin dessen Geheimnis finden“ (Predigt, 22. April 2001). „Das Herz Christi! Sein ,Heiliges Herz‘ hat den Menschen alles gegeben: Erlösung, Heil, Heiligung“ (ebd.).

Aus dem göttlichen Herzen entspringen die Sakramente

Über die beiden Strahlen aus dem Herzen Jesu sagte der Papst: „Aus diesem von Milde überfließenden Herzen sah die hl. Faustyna Kowalska zwei Lichtbündel ausströmen, die die Welt erleuchteten. ,Die zwei Strahlen – so vertraute Jesus selbst ihr an – bedeuten Blut und Wasser‘ (vgl. Tagebuch, S. 119). Das Blut erinnert an das Opfer auf dem Golgota und an das Geheimnis der Eucharistie, während das Wasser, gemäß der reichen Symbolik des Evangelisten Johannes, an die Taufe und die Gabe des Heiligen Geistes denken lässt (vgl. Joh 3,5; 4,14)“ (ebd.). An anderer Stelle erklärte Johannes Paul II.: „Die Strahlen der göttlichen Barmherzigkeit schenken in besonderer Weise all jenen wieder Hoffnung, die sich von der Last der Sünde erdrückt fühlen“ (Predigt, 22. April 2001, 6). Das Bild verweist somit durch die beiden Strahlen auf die Sakramente, insbesondere auf die Taufe, Eucharistie und Beichte. Nun versteht man, warum das Bild bei uns zum Erkennungszeichen einer katholischen Spiritualität geworden ist. Denn Deutschland ist besonders durch die Reformation geprägt. Dadurch ist der Glaube an die Realpräsenz Christi in den Sakramenten teilweise verloren gegangen. Das Bild zeigt uns das Herz Jesu – das Symbol der Liebe Gottes – als Quelle der Sakramente. Wer dieses Bild verehrt, lebt auch aus den Sakramenten.

Das Geschenk der sakramentalen Sündenvergebung wird besonders im Evangelium vom zweiten Sonntag der Osterzeit (Joh 20,19-23), dem Barmherzigkeitssonntag, hervorgehoben, wenn der Auferstandene seinen Aposteln die Vollmacht zur Sündenvergebung übergibt. Das Bild vom barmherzigen Jesus ist unmittelbar mit eben dieser Botschaft des Evangeliums verbunden. Dazu führt der Papst aus: „Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf die Geste des Meisters, der den furchtsamen und erstaunten Jüngern die Sendung überträgt, Verwalter der göttlichen Barmherzigkeit zu sein. Er zeigt seine Hände und seine Seite mit den Wundmalen der Passion und teilt ihnen mit: ,Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch‘ (Joh 20,21). Sofort danach ,hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert‘ (Joh 20,22 – 23). Jesus überantwortet ihnen die Gabe, ,die Sünden zu vergeben‘, eine Gabe, die den Wunden an seinen Händen, seinen Füßen und vor allem seiner durchstoßenen Seite entspringt. Daraus ergießt sich eine Welle des Erbarmens auf die ganze Menschheit. Wir erleben diesen Augenblick erneut mit großer geistiger Intensität. Auch uns zeigt der Herr heute seine glorreichen Wunden und sein Herz, die unerschöpfliche Quelle von Licht und Wahrheit, Liebe und Vergebung“ (Predigt, 22. April 2001, 4). Für Johannes Paul II. ist die sakramentale Sündenvergebung, die im Bild und im Evangelium verkündet werden, eine lebensnotwendige Quelle des Lebens für die ganze gegenwärtige Menschheit.

Der Blick des barmherzigen Jesus ist voller Liebe

Der Papst lädt des Weiteren dazu ein, mit den „Augen der Seele“ in die Augen des barmherzigen Jesus zu schauen und in seinem Blick die Liebe Gottes zu erkennen: „Mit den Augen der Seele wollen wir fest in die Augen des barmherzigen Jesus schauen, um in der Tiefe dieses Blickes den Widerschein seines Lebens sowie das Licht der Gnade zu finden, das wir schon so oft empfangen haben und das uns Gott jeden Tag und am letzten Tag erweist“ (Predigt, 17. August 2002, 1). Man kann annehmen, dass die Erklärungen des Papstes sich vorrangig auf das weit verbreitete Bild von Hyła beziehen. Denn auf diesem Bild richtet der Auferstandene seinen Blick direkt auf den Betrachter, während im Bild von Eugeniusz Kazimirowski die Augen Jesu halb geschlossen und leicht nach unten gerichtet sind.

In den Augen des barmherzigen Jesus können wir sein ganzes Leben und die uns fortwährend geschenkte Gnade erkennen. Viele Gebetsbilder, die nur das Antlitz des barmherzigen Jesus zeigen, heben die Augen Jesu hervor und laden zu einem persönlichen Gespräch „Auge in Auge“ mit Jesus ein. In diesem Sinne ermutigt uns Johannes Paul II. zu einem „Dialog der Hingabe“: „Jeder kann hierher kommen, um das Bild vom ,Barmherzigen Jesus‘, sein Gnade ausstrahlendes Herz, anzuschauen und um in der Tiefe seiner Seele zu hören, was die Selige gehört hat: ,Hab keine Angst, ich bin immer bei dir‘ (Tagebuch II). Und wer mit aufrichtigem Herzen antwortet: ,Jesus, ich vertraue dir!‘, wird in jeder Angst und Bedrängnis Trost finden. Durch diesen Dialog der Hingabe wird zwischen dem Menschen und Christus eine Bindung geschaffen, die Liebe ausströmt. Und in der Liebe gibt es keine Furcht – schreibt der hl. Johannes –, im Gegenteil, die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht (vgl. 1 Joh 4,18)“ (Predigt, 7. Juni 1997).

Das kraftvolle Gebet: „Jesus, ich vertraue auf dich“

Mit dem Bild verbunden ist der Gebetsruf „Jesus, ich vertraue auf dich“. Nach Johannes Paul II. kann diese Anrufung jederzeit gebetet werden. Der Papst bezeugte die Wirkmächtigkeit dieses Gebetes im eigenen Leben: „,Jesus, ich vertraue auf dich!‘ Das ist das einfache Gebet, das uns Schwester Faustyna gelehrt hat und das wir in jedem Augenblick unseres Lebens auf den Lippen haben können. Wie oft habe auch ich als Arbeiter und Student und dann als Priester und Bischof in schwierigen Zeiten der Geschichte Polens diese einfache und tiefgehende Anrufung wiederholt und deren Wirksamkeit und Kraft erfahren“ (Generalaudienz, 21. August 2002, 1).

Dieses Gebet bringt das unerschütterliche Vertrauen in Gottes heilbringende Kraft, auch in ausweglosen Situationen, zum Ausdruck. Gott kann Unheil in Heil verwandeln: „Die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes ist zugleich ein starker Aufruf zu einem lebendigeren Vertrauen: ,Jesus, ich vertraue auf dich!‘ … ,Hoffnung gegen alle Hoffnung!‘ Nichts ist bei Gott unmöglich! Möglich ist vor allem die Bekehrung, die fähig ist, Hass in Liebe und Krieg in Frieden zu verwandeln. Deshalb wird unser Gebet nachdrücklicher und vertrauensvoller: Jesus, ich vertraue auf dich!“ (Generalaudienz, 12. Januar 1994).

Das Gebet führt in die Hingabe der eigenen Person an Gott, der die dunklen Regionen unseres eigenen Herzens verwandeln kann und uns teilhaben lässt am Aufbau einer neuen, von Liebe geprägten Welt: „Dieses Gebet … bringt gut die Einstellung zum Ausdruck, mit der auch wir uns vertrauensvoll in deine Hände, o Herr, unser einziger Erlöser, überlassen wollen. Du bist erfüllt von der brennenden Sehnsucht, geliebt zu werden, und wer sich auf die Gefühle deines Herzens einstellt, wird lernen, zum Erbauer der neuen Zivilisation der Liebe zu werden. Ein einfacher Akt der Selbsthingabe reicht aus, um die Barrieren der Dunkelheit und Traurigkeit, des Zweifels und der Verzweiflung niederzureißen“ (Predigt, 22. April 2001, 6).

Je schwieriger und komplizierter eine Situation ist, umso mehr sollen wir mit diesem Gebet um Gottes Barmherzigkeit flehen: „,Jesus, ich vertraue auf dich!‘, wiederholen wir in dieser komplizierten und schwierigen Zeit, denn wir wissen, dass wir jener göttlichen Barmherzigkeit bedürfen. … Wo Prüfungen und Probleme am schwersten sind, muss die Anrufung des auferstandenen Herrn noch beharrlicher und die Bitte um die Gabe seines Heiligen Geistes als Quelle der Liebe und des Friedens noch eindringlicher werden“ (Regina Caeli, 7. April 2002, 2).

Gerade in unserer Zeit, in der das Böse immer mehr um sich greift, sollen wir mit dieser Anrufung Gottes Erbarmen herabflehen und Hoffnung schöpfen: „Diese Botschaft, die das Vertrauen auf die allmächtige Liebe Gottes zum Ausdruck bringt, brauchen wir vor allem in der heutigen Zeit, in der der Mensch mit Verwirrung den zahlreichen Formen des Bösen gegenübersteht. Die flehentliche Bitte um das göttliche Erbarmen muss aus der Tiefe der Herzen kommen, die voller Leid, Angst und Unsicherheit sind, gleichzeitig aber nach einer untrüglichen Quelle der Hoffnung suchen“ (Predigt, 17. August 2002, 1).

Das Vertrauen in Gottes Barmherzigkeit wird zur Kraftquelle im Menschen, die das Leben verwandelt. Dies geschieht, indem wir durch den Gebetsruf anerkennen, dass Gottes Willen in jeder Situation den Vorrang hat. Dadurch erfährt der leidgeprüfte Mensch Frieden, Erleichterung und Freude im Herzen: „Dieser Akt des Vertrauens und der Hingabe an Gott ist einfach und doch so tief. Er ist eine grundlegende Kraftquelle für den Menschen, denn er vermag es, das Leben zu verwandeln. In den unausweichlichen Prüfungen und Schwierigkeiten des Lebens wie auch in den Augenblicken der Freude und Begeisterung flößt das Vertrauen zum Herrn der Seele Frieden ein; es führt dazu, den Primat des göttlichen Wirkens anzuerkennen, und öffnet den Geist für die Demut und die Wahrheit. ,Jezu, ufam tobie – Jesus, ich vertraue auf dich!‘ Abertausende von Gläubigen in allen Teilen der Welt wiederholen diese einfache und beeindruckende Anrufung. Im Herzen Christi finden all jene Frieden, die angesichts der Sorgen des Lebens verunsichert sind; Erleichterung erfährt, wer von Leiden und Krankheit gequält wird; es empfindet Freude, wer von Unsicherheit und Angst niedergedrückt wird, weil das Herz Christi reich an Trost und Liebe für den ist, der sich voll Vertrauen an Ihn wendet“ (Ansprache, 1. März 2003).

Johannes Paul II. hat die verwandelnde Kraft dieses Gebetes in den dunklen Stunden der nationalsozialistischen Besatzung und der kommunistischen Diktatur persönlich erfahren und wurde so zum Zeugen für die Wirkkraft dieses Vertrauensaktes. Er war zutiefst davon überzeugt, „dass es für den Menschen keine andere Quelle der Hoffnung als das Erbarmen Gottes geben kann“ (Predigt, 17.8.2002). Die Botschaft Gottes an Schwester Faustyna, die im Bild vom barmherzigen Jesus zum Ausdruck kommt, soll den Menschen die große Hoffnung verkünden: „Das Böse trägt nicht den endgültigen Sieg davon“.[4] weder im persönlichen Leben noch im großen Weltgeschehen. Denn die erbarmende Liebe Gottes kann aus jedem Übel etwas Gutes hervorgehen lassen und so das Böse durch das Gute besiegen (vgl. Dies in misericordia 6).

Johannes Paul II. wollte das Bild und die Botschaft vom barmherzigen Jesus den Gläubigen auf der ganzen Welt nahe bringen. Er war davon überzeugt, dass der Reichtum dieser Spiritualität für die ganze Kirche und mehr noch für die ganze Welt bestimmt ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
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[1] Vgl. Stanislaw Swidzinski: Die Botschaft der Barmherzigkeit Gottes vermittelt durch die selige Schwester Maria Faustyna Kowalska, Krakau-Coesfeld/Lette 1994, 25-28.
[2] Vgl. Johannes Paul II.: Auf, lasst uns gehen! Erinnerungen und Gedanken, übersetzt von I. Stampa, Augsburg 2004, 197f.
[3] Johannes Paul II.: Erinnerung und Identität. Gespräch an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden, aus dem Italienischen übersetzt von I. Stampa, Augsburg 2005, 74.
[4] Erinnerung und Identität, 75f.

Das heutige Russland ist nicht das der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts

Barmherzigkeit gilt als Ausdruck von Schwäche

Bei der Einweihung der Basilika der göttlichen Barmherzigkeit in Krakau am 17. August 2002 rief Papst Johannes Paul II. dazu auf: „Die ‚Botschaft von der erbarmenden Liebe Gottes, die hier durch Schwester Faustyna verkündet wurde, möge alle Menschen der Erde erreichen und ihre Herzen mit Hoffnung erfüllen. … Euch, liebe Brüder und Schwestern, vertraue ich diese Aufgabe an. Seid Zeugen der Barmherzigkeit.“ Pfarrer Erich Maria Fink, der seit Januar 2000 für die Seelsorge in Russland freigestellt ist, möchte gerne ein solcher Zeuge der göttlichen Barmherzigkeit sein. Denn diese Nation bräuchte dringend eine Hoffnung, wie sie von der Botschaft der hl. Schwester Faustyna Kowalska ausgeht. Doch Pfr. Fink muss feststellen, dass das russische Volk für diese Botschaft wenig empfänglich ist. In seinem Beitrag geht er den Hintergründen dieser Erfahrung nach und zeigt Konsequenzen auf, die sich daraus ergeben.

Von Erich Maria Fink

Bei meiner seelsorglichen Arbeit in Russland mache ich seit vielen Jahren eine Erfahrung, die ich am Anfang weder reflektiert, noch verstanden habe. Jedenfalls konnte ich sie lange Zeit nicht richtig einordnen. Für uns Katholiken hat das Wort „Barmherzigkeit“ eine sehr positive Bedeutung. Wir denken einerseits an die Werke der Barmherzigkeit sowie an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, andererseits an Vergebung und Versöhnung. Barmherzigkeit ist für unser Empfinden etwas Tröstliches, etwas, das uns Hoffnung macht. Für russische Ohren aber klingt das Wort völlig anders. Es ruft sogar negative Assoziationen hervor. Denn für die meisten Menschen in Russland ist Barmherzigkeit ein Zeichen von Schwäche. Woher kommt das?

Erfahrung mit ehemaligen Strafgefangenen

Als wir im Jahr 2000 in der Industriestadt Beresniki eine Pfarrei gründeten, kümmerten wir uns von Anfang an um Wohnsitzlose. Nachdem wir unsere Kirche mit Pfarrzentrum fertiggestellt hatten, nahmen wir immer mehr Bedürftige bei uns auf. Zunächst ließen wir sie im Kellergeschoss unseres Kirchengebäudes übernachten. Später bauten wir das Dachgeschoß unseres Nebengebäudes aus und richteten zwei große Räume mit Betten ein, den größeren für die Männer, den kleineren für die Frauen. Am Beginn war ich mit der Situation völlig überfordert. Ich wusste überhaupt nicht, wie man mit Alkoholabhängigen und ehemaligen Strafgefangenen umgehen muss. Da kam mir Pjotr zu Hilfe, der aus Weißrussland stammte und viele Jahre selbst unter Alkoholsucht gelitten hatte. Er gründete mit mir Gruppen von Anonymen Alkoholikern und übernahm die Leitung unseres Sozialzentrums.

Es dauerte nicht lange, da machte er mich darauf aufmerksam, dass ich nicht von Barmherzigkeit sprechen dürfe. Das käme einer Kapitulation gleich. Als ich die neue Unterkunft für unsere Leute von der Straße „Haus der Barmherzigkeit“ nannte, betrachtete er dies ebenfalls als Fehler. Er machte mir den Vorwurf, ich würde viel zu viel verzeihen und dadurch einem echten Fortschritt im Weg stehen. Dies konnte ich nachvollziehen. Und so arbeiteten wir strenge Regeln aus, um die Mitglieder unserer Gemeinschaft wirklich einer Heilung zuführen zu können. Der Fortschritt war offensichtlich. Was nun die Schwierigkeit mit dem Begriff „Barmherzigkeit“ betraf, so führte ich sie einfach auf den Hintergrund unseres besonderen Klientels zurück. Dass die gegenseitigen Beziehungen im Gefängnis rauer sind, ist keine Frage. Und ich versuchte zu akzeptieren, dass jeder, der dort Schwäche zeigt, schlichtweg untergeht. In diesem Sinn versuchte ich auch unseren Pjotr zu verstehen.

Geist der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts

Doch im Lauf der Zeit wurde mir klar, dass das Sprechen von Barmherzigkeit nicht nur im Kontext unserer sozialen Arbeit Probleme bereitet. Ich spürte, dass es in Russland überhaupt schwierig ist, mit der Verkündigung der barmherzigen Liebe Gottes an die Menschen heranzukommen. Das Bild, das ich von Russland hatte, bevor ich hierher kam, entpuppte sich als eine Art Romantik, die nicht mehr der heutigen Realität entspricht. Es war geprägt von Erzählungen und Romanen russischer Schriftsteller, die von Mitgefühl und Vergebung geradezu sprühen. Was ich gelesen hatte, waren deutsche Übersetzungen, die den Inhalt des russischen Originals relativ treffend wiedergeben.

Tatsächlich atmen die Werke russischer Autoren des 19. Jahrhunderts, die zur Weltliteratur gehören, den Geist der Barmherzigkeit. Die Autoren haben bewusst versucht, diesen Wert unter das Volk zu bringen, und zwar auch in gesellschaftskritischem Sinn.

Bekannt ist Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1853-1900), der die „Kurze Erzählung vom Antichrist“ verfasst hat. Joseph Kardinal Ratzinger nahm in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der modernen Exegese auf diese Erzählung Bezug. Auch als Papst Benedikt XVI. kam er immer wieder auf sie zurück, wie z.B. in dem dreiteiligen Werk „Jesus von Nazareth“. Und Papst Johannes Paul II. bezeichnete Solowjow als „einen der größten russischen Philosophen des 19. Jahrhunderts und Pionier und Vorbild für den Dialog der Christen in Ost und West“ (Botschaft an Großerzbischof Ljubomyr Husar, 2003). Denn nach der Ermordung von Zar Alexander II. am 1. März 1881 hatte er sich dem Katholizismus zugewandt und sich nachdrücklich für eine geeinte Christenheit eingesetzt. Obwohl er nicht konvertierte, empfing er beispielsweise 1896 in einer katholischen Messe die hl. Kommunion. Dem Thema Barmherzigkeit widmete er kein eigenes Werk, doch durchzieht dieser Gedanke sein ganzes Schrifttum und tritt gerade im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1881 zu Tage. Am 13. März, also wenige Tage nach dem Attentat, verurteilte er in öffentlichen Vorlesungen an der Universität in St. Petersburg einen solchen „Terror“. Gleichzeitig forderte er am 28. März den Thronfolger dazu auf, den Verbrechern „Barmherzigkeit“ zu erweisen. Dies rief heftige Reaktionen hervor. Es wurde ihm von offizieller Seite empfohlen, auf öffentliche Vorträge zu verzichten. Schließlich musste er sogar seinen Posten beim „Ministerium für Bildung“ räumen.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) ist bekannt durch Werke wie „Schuld und Sühne“, das mich persönlich in meinen jungen Priesterjahren zutiefst beeindruckt hat, „Der Idiot“, „Die Dämonen“ oder „Die Brüder Karamasow“. Wie ein Psychologe geht er den tiefen Bedürfnissen der menschlichen Seele nach und setzt sich für die Befreiung aus den gesellschaftlichen Zwängen seiner Zeit ein. Wegen seiner aktiven Nähe zum Frühsozialismus wurde er 1849 zum Tod verurteilt, nach der Umwandlung in eine Haftstrafe aber für 10 Jahre nach Sibirien geschickt. Dennoch gab er die Idee eines christlichen Sozialismus nie auf, nach der die Menschlichkeit durch ihre spirituelle Kraft ein Paradies auf Erden schaffen könne. „Jemanden lieben heißt, ihn so sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“ Davon war Dostojewski überzeugt. Und er schrieb: „Auch der armseligste Mensch, mag er noch so eingeschüchtert und heruntergekommen sein, ist ein Mensch und unser Bruder.“ Es ist bezeichnend, dass sein Vater Michail Arzt an der Moskauer Mariinski-Klinik für die Armen war, gleichzeitig Sohn und Enkel von „ostkatholischen“ Priestern, die den ostkirchlichen Ritus pflegten und den Papst anerkannten. Dennoch ist in der Literatur von Dostojewski eine Haltung gegen Polen und die katholische Kirche zu finden. Die heutigen Polen aber scheint dies nicht zu stören. Dostojewski wird in Polen sehr verehrt.

Ein anderes Beispiel ist Anton Pawlowitsch Tschechow (1840-1904), der von Beruf Arzt war. Sein intensives literarisches Schaffen unterbrach er 1890 für eine Reise in den fernen Osten, um die Gefängnisse auf der Insel Sachalin zu besuchen. Er gab 1893 das Buch „Die Insel Sachalin“ heraus, in dem er das unmenschliche Schicksal der Gefangenen beschrieb. Er sprach von einer „wahren Hölle“, in der die unzähligen Häftlinge unter Hunger, Folter und Korruption zu leiden hatten. Kurz vor seiner Abfahrt erklärte er in einem Brief an seinen Verleger Suworin, der ihn von seinem Vorhaben abhalten wollte: „Sie schreiben…, Sachalin sei für niemanden nötig und für niemanden interessant. Ist das richtig? Sachalin kann nutzlos und uninteressant nur für eine Gesellschaft sein, die nicht Tausende von Menschen dorthin verbannt und Millionen dafür ausgibt. … Sachalin ist ein Ort unerträglicher Leiden, deren nur der freie und der abhängige Mensch fähig ist.“ Tschechow zeigte nicht nur wahres Mitgefühl, sondern bewirkte auch, dass das Justizministerium des Zarenreichs eine Aufklärung der von ihm benannten Missstände in die Wege leitete.

Auch Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809 -1852), eine letztlich rätselhafte Persönlichkeit, legte für den Geist der Barmherzigkeit Zeugnis ab, z.B. in seinem Hauptwerk „Die toten Seelen“ von 1842. Erwähnen möchte ich auch Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoj (1828-1910) mit seinen Werken wie „Krieg und Frieden“ oder „Anna Karenina“. Schon seine vielen Erzählungen und Lesebücher für Kinder verfolgten das pädagogische Ziel, moralische und soziale Werte zu vermitteln. Vom Heiligen Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche wurde er 1901 zwar exkommuniziert, weil er viele Glaubenswahrheiten ablehnte, doch war er immer auf der Suche nach dem Wirken Gottes in der Welt und dem wahren göttlichen Gesetz. Dies entdeckte er nach seiner Ansicht schließlich in der bedingungslosen Nächstenliebe und in der radikalen Gewaltlosigkeit. Mit seinen Grundsätzen hatte er großen Einfluss und zog beispielsweise auch die Aufmerksamkeit von Mahatma Gandhi aus Indien auf sich. Beide kamen miteinander in Kontakt und ermutigten sich gegenseitig in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement.

Der Schriftsteller, der den Geist der Barmherzigkeit und der Vergebung jedoch am tiefsten im christlichen Glauben verankerte, war Nikolai Semjonowitsch Leskow (1831-1895). Er trat für Reformen ein, lehnte jedoch jede Art von revolutionärer Bewegung ab, weshalb er unter seinen Zeitgenossen als reaktionär galt. In seinen Werken wie „Ohne Ausweg (Nekuda)“, „Bis aufs Messer“, „Der versiegelte Engel“, „Am Ende der Welt“ oder „Der Gaukler Pamphalon“ deckte auch er die gesellschaftlichen Zwänge auf, die den Menschen daran hinderten, ihr natürliches Wesen frei zur Entfaltung zu bringen. In seinen familiären Beziehungen hatte er weniger Glück, da seine erste Frau Olga nach dem Tod des ersten Kindes immer stärker an einer psychischen Erkrankung litt. Auch von seiner zweiten Frau Katerina trennte er sich nach 12-jähriger Ehe. Eine besondere Aufmerksamkeit zeigte er für die sog. „Altgläubigen“, die sich wegen der liturgischen Reformen des Patriarchen Nikon im Jahr 1667 von der Russisch-Orthodoxen Kirche abgespalten hatten und zum Teil schlimmen Verfolgungen ausgesetzt waren. Ein bekanntes Zitat von Leskow lautet: „Es gibt unter uns viele verschiedene Religionen, und nicht hierin liegt das Übel, sondern darin, dass ein jeder seinen Glauben für den besten und richtigsten hält und die anderen schmäht, ohne gründlich über sie nachgedacht zu haben.“

Die Folgen der kommunistischen Revolution

Die russische Seele, die sich in den Werken dieser Schriftsteller noch so lebendig widerspiegelt, ist durch die bolschewistische Herrschaft im Innersten getroffen worden. Das atheistische System versuchte bekanntlich, den Glauben an Gott aus den Herzen der Menschen zu reißen. Doch scheint es dabei ganze Arbeit geleistet zu haben. Denn es beschränkte sich nicht auf einen äußeren Angriff auf die Kirche, auf die Ermordung von Priestern und die Zerstörung von Gotteshäusern. Vielmehr begann ein ideologischer Kampf um das Menschenbild, der bis ins Unterbewusstsein hinein Denken und Empfinden umformte. An die Stelle Gottes trat die Vergötterung der Arbeit als Selbstzweck. Der Mensch fühlte sich immer mehr dazu herausgefordert, die Gesellschaft selbst zu gestalten, das kommunistische Paradies auf Erden herbeizuführen, ja letztlich sich selbst neu zu erschaffen, und zwar durch seinen eigenen Einsatz.

Dieses Denkmuster verführt den Menschen zu einem Machbarkeitswahn. Er will nichts mehr dem Zufall überlassen, alles muss er selber tun, nichts behält den Charakter eines Geschenks. Und er fühlt sich auch ständig dazu verpflichtet, den anderen zu beweisen, was er geschafft und erreicht hat.

Besonders deutlich treten die Konsequenzen dieser Haltung hervor, wenn der Einzelne, oder noch mehr, wenn die Gesellschaft von außen angegriffen wird. Der sozialistische Mensch hat nur eine Wahl: Er muss sich verteidigen und den Feind vernichten. Er fragt nicht nach einer Kompromisslösung, nach einem Ausgleich, nach dem Bedürfnis des Einzelnen, nach Schuld und Vergebung. Und so hat der Bolschewismus letztlich das Verständnis für Barmherzigkeit, Verzeihen und Versöhnung völlig ausgelöscht.

Ein sinnenfälliges Zeichen für diesen sozialistischen Geist ist die hasserfüllte Reaktion Lenins auf das Kreuz, das Großfürstin Jelisaweta Fjodorowna Romanowa, die hl. Elisabeth von Hessen-Darmstadt, nach der Ermordung ihres Mannes im Moskauer Kreml aufstellen ließ. Es trug die Aufschrift „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ und stand genau an der Stelle, wo ihr Mann Sergej, der damalige Moskauer Gouverneur, am 4. Februar 1905 von der Bombe des revolutionären Attentäters Iwan Kaljajew zerfetzt worden war. Noch vor der Beerdigung ihres Mannes errichtete Elisabeth ein Provisorium, das sie am 4. September 1907 durch ein kunstvolles Kreuzdenkmal (feierliche Eröffnung am 2. April 1908) ersetzte. Am 12. April 1918 gab der Rat der Volkskommissare unter Lenin das Dekret heraus, dass die Denkmäler der Republik durch „Monumente zu Ehren der Revolutionäre“ ersetzt werden müssen. Als erstes fiel der Anordnung das besagte Kreuz zum Opfer. Lenin legte selbst Hand an, ließ sich Seile bringen, formte die erste Schlinge und warf sie über das Kreuz. Nachdem er es mit seinen Mitarbeitern niedergerungen hatte, befahl er, es auf den Müll abzutransportieren. Den ermordeten Gouverneur bezeichnete er als einen der „ekelerregendsten“ Vertreter der Zarenfamilie und ließ an der Stelle des Kreuzes ein Denkmal für den Mörder Kaljajew aufstellen. Da es aus Gips hergestellt war, bröckelte es allerdings in kurzer Zeit ab. Eine Nachbildung des alten Kreuzdenkmals wurde erst vor kurzem an der ursprünglichen Stelle wieder errichtet und am 4. Mai 2017 eingeweiht.

Der Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion kam dieser „Pädagogik“ des bolschewistischen Regimes regelrecht entgegen. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, verwandelte die ganze Sowjetunion in eine Schule des „sozialistischen Menschen“. Nun war er gerufen, sein Schicksal in die Hand zu nehmen, seine Heimat gegen den Feind zu verteidigen und sich dadurch zu beweisen. Man kann sich kaum vorstellen, wie der Sieg über das Hitlerdeutschland die russische Seele im Sinn des Arbeitermenschen bis ins tiefste Mark hinein geprägt und gefestigt hat. Unter dem Eindruck der ungeheuren Opfer hat sich der Sieg in die Herzen der Menschen eingeprägt, wie Buchstaben, die für alle Zeit in Stein gemeißelt worden sind.

Perestroika und religiöser Neuaufbruch

Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, das atheistische Regime überwunden und der Weg für einen religiösen Neuaufbruch geebnet. Zehntausende von Kirchen sind wieder hergestellt oder neu gebaut worden. Die Priesterseminare und Akademien haben ihren Betrieb wieder aufgenommen und den Grund für eine solide Zukunft des kirchlichen Lebens gelegt. Doch weder im russischen Staat noch in der Russisch-Orthodoxen Kirche ist das sozialistische Erbe wirklich überwunden. Nach wie vor herrscht die Mentalität vor, die von der Vorstellung der Machbarkeit herkommt.

In diesem Zusammenhang möchte ich die ökumenische Publikation „Europa. Patria spirituale“ (Europa. Geistliche Heimat) aus dem Jahr 2009 erwähnen. Das Buch ist ein historisches Ereignis. Denn das Russisch-Orthodoxe Patriarchat von Moskau hat eine Zusammenstellung von Texten aus der Feder von Joseph Kardinal Ratzinger / Papst Benedikt XVI. zum Thema Europa herausgebracht. Es ist durchgehend zweisprachig gestaltet, nämlich russisch und italienisch. Metropolit Hilarion Alfejew (geb. 1966), der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, hat zu diesem Werk eine umfangreiche Hinführung verfasst (S. 17-71). Ich schätze den außerordentlich begabten Metropoliten sehr. Doch auch in diesem Beitrag ist zu spüren, dass sich die Russisch-Orthodoxe Kirche die Überwindung des atheistischen und kirchenfeindlichen Regimes der Kommunisten letztlich eigenem Einsatz und Verdienst zuschreibt.

Es liegt mir fern, ein allgemeines Urteil über die russische Bevölkerung fällen zu wollen. Aber ich meine, dass wir in den letzten Jahren sogar eine Verstärkung des Geistes erleben, der im 20. Jahrhundert Gestalt angenommen hat. Es ist nicht der ausdrückliche Atheismus. Heute ist die Rede von Gott in Russland allgegenwärtig. Doch das Land denkt nicht daran, dass die Wende ein reines Geschenk des Himmels gewesen sein könnte, die Befreiung vom kommunistischen Joch ein unverdienter Akt der göttlichen Barmherzigkeit. Wir sind in Russland meilenweit davon entfernt, dass die Kirche oder die Bevölkerung einen Zusammenhang zwischen Fatima und der Bekehrung Russland erkennen oder anerkennen würde, oder gar einen Zusammenhang zwischen der Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens durch Papst Pius XII. im Oktober 1942 und dem Sieg der Sowjetunion über die deutsche 6. Armee in der Schlacht von Stalingrad.

Und so stehen wir vor der Gefahr, dass sich heute ein Russland, das von der Staatengemeinschaft isoliert und bedroht wird, in die überkommene, und eben noch nicht überwundene Haltung flüchtet, die nur einen Ausweg kennt: Wir müssen uns mit all unserer Kraft verteidigen. Die ganze Weltgemeinschaft sollte erkennen, dass die Politik der militärischen Einschüchterung Russlands ein globales Selbstmordunternehmen darstellt. Es gibt nur einen Weg zum Frieden, die Barmherzigkeit Gottes und seine Vergebung. Aber damit sich die Herzen für dieses unverdiente Geschenk öffnen können, müssen sie vertrauensvolle Zuwendung und offenen Dialog erfahren.

In diesem Sinn wäre jeder Brückenschlag hin zu Russland ein Schritt zum Frieden, jede Einbeziehung Russlands in Gespräche, sei es über Abrüstung, Handel, Bildung oder Tourismus. Und hier müsste meines Erachtens die katholische Kirche durch einen wohlwollenden ökumenischen Dialog mit der Russisch-Orthodoxen Kirche eine Vorreiterrolle spielen und eben dadurch den Weg für das machtvolle Eingreifen der göttlichen Barmherzigkeit ebnen. Die Vorstellung, Barmherzigkeit sei ein Zeichen von Schwäche, muss überwunden werden. Denn „die Menschheit wird keinen Frieden finden, solange sie sich nicht mit Vertrauen an meine Barmherzigkeit wendet!“, wie Papst Johannes Paul II. bei der Heiligsprechung von Sr. Faustyna Kowalska im Jahr 2000 aus ihrem Tagebuch zitierte (1934, Nr. 300).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
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„Trauert nicht wie die anderen, die keine Hoffnung haben“ (1 Thess 4,13)

Liebe Menschen gehen lassen

Wohin gehen wir, wenn wir sterben müssen? Was dürfen wir für unsere Lieben erhoffen, deren Verlust wir betrauern? Ist die christliche Glaubenslehre vom ewigen Leben nur Reflex einer schönen Illusion oder lassen sich für sie überzeugende Argumente beibringen, sodass sie zu einem echten Lebensfundament werden kann? Diesen Fragen geht der Seelsorger Klaus-Peter Vosen[1] in seinem neuen Buch[2] aus existenzieller Perspektive nach. Anstoß zu dieser Veröffentlichung war für ihn der Tod seiner Mutter. Es ist eine Handreichung nicht nur für Menschen in Trauersituationen, sondern für alle, die tiefer schürfen und bei den Gütern und Werten dieser Welt nicht stehen bleiben wollen. Ihnen sei es als Orientierung, Stärkung und Tröstung empfohlen. Nachfolgend das neunte Kapitel.  

Von Klaus-Peter Vosen

Trauer gehört zum Menschsein dazu. Der Apostel sagt nicht: Ihr dürft nicht trauern, sondern er lässt die Aufforderung ergehen: „Trauert nicht wie die anderen, die keine Hoffnung haben“ (vgl. 1 Thess 4,13). Auch Jesus, der als Sohn Gottes um all das wusste, was jenseits des Todes und des Grabes ist, hat als wahrer Mensch am Grab seines lieben Freundes Lazarus geweint (vgl. Joh 11,35). Was ist der Inhalt der Trauer? Wir sind traurig, dass einer, der uns wichtig war, in unserem irdischen Leben sichtbar nicht mehr vorkommt und es keine Gemeinschaftserlebnisse der bis jetzt bekannten Art mit dem Verstorbenen mehr gibt. Auf einer anderen Ebene mehr geistiger Art mag sich Beziehung fortsetzen, aber es ist alles ganz anders, als es war. Wir sind des Trostes beraubt, der schon im Anblick dieses konkreten Menschen lag. Unberechtigterweise halten wir ja oft unausgesprochen nur das Sichtbare für real. Wenn wir schon darunter leiden, wenn ein anderer sich von uns für die Dauer einer längeren Reise verabschiedet, wenn bei solchen Abschieden zuweilen Tränen fließen, braucht uns unsere Trauer beim Tod eines lieben Menschen nicht zu verwundern. Gäbe es anstelle der Trauer sofort und nur Hurragesang, müsste man sich geradezu fragen, ob die Beziehung, die man zum Verstorbenen unterhielt, wirklich intakt war oder ob eine vielleicht nur eingebildete Glaubenssicherheit den Tod und das mit ihm verbundene schmerzlich Trennende überhaupt ernst nimmt.

Der Mensch darf sein Elend beklagen und beweinen, gerade auch solches Elend, das durch den Verlust ihm Nahestehender ausgelöst ist. Auch der Christ darf das, obwohl er bei der Trauer nicht stehen bleiben kann, weil er an die Auferstehung glaubt, die Jesus Christus den Menschen geschenkt hat. Trauer darf aber letztlich nicht zu einer bloßen Spielart des Egoismus werden, die sich darin verbeißt, dass nun mein Leben schmerzlich durchkreuzt, meine Pläne und Zukunftsperspektiven vernichtet wurden, ich zu einem eingeschränkten, einsamen Leben verdammt bin. Das mag sich ja alles so verhalten, aber diese Negativa bedeuten nicht das Einzige, das der Tod mit sich bringt. Wer nur auf sich schaut, verkrümmt sich in sich selbst und schließt sich gegen Gottes Gnade ab. Deswegen nennt der heilige Thomas den sündigen Menschen den „homo incurvatus in se ipsum“. Nur derjenige, der von sich selbst weg und auf Gott und den Nächsten hin denkt, kommt innerlich weiter. Ich darf, gerade wenn mir an einem Verstorbenen viel gelegen hat, nicht nur fragen: Was bedeutet sein Tod für mich?, sondern: Was bedeutet er für den, der von mir gegangen ist? Diese Perspektive sollte mit der Zeit in meinen Überlegungen mehr und mehr die Oberhand gewinnen. Auch meine Situation als Hinterbliebener erfährt so mehr und mehr eine Aufhellung. Der dunkle Hintergrund des von mir erlittenen Verlustes wird nämlich verbunden mit dem hellen, ja strahlenden Rahmen der Liebe Gottes, in den hinein wir unseren Verstorbenen stellen.

Ich sollte mich ernstlich fragen: Kann ich für einen, der mir durch den Tod „genommen“ wurde, Besseres wünschen als ein ewiges und ewig-faszinierendes, glückseliges Aufgehobensein bei Gott? Es mag manches geben, das auf Erden zu erleben wir unseren verstorbenen Lieben von Herzen gewünscht hätten, Dinge, auf die sie sich selber gefreut haben: eine lang ersehnte Urlaubsfahrt zum Beispiel, die Geburt eines Enkels, das Erreichen eines runden Geburtstages oder einfach noch ein paar unter glücklichen Bedingungen verbrachte, friedliche Jahre auf dieser Welt. Dennoch wären wir niemals in der Lage, selbst beim besten Willen und unter höchstem Einsatz nicht, unseren Lieben hier auf Erden ein dem Himmel auch nur ansatzweise vergleichbares Glück zu schenken. Wenn das aber so ist, sollte ich bereit werden, einen Sterbenden oder Verstorbenen in diesen Zustand des Glücks zu entlassen. Wir sind nicht selbst der Himmel. Also sollte ich bereit sein, Ja zu sagen zum Weg eines Menschen dorthin, den nur ein anderer, Größerer als ich selbst, ihm eröffnen kann, Ja dazu, dass Jesus Christus dieser Weg ist! Auch Sterbende selbst müssen sich solche Gelassenheit im Vertrauen auf Gott erst erkämpfen, damit sie von der Erde lassen können.

Es ist ungefähr 40 Jahre her, dass der Song „Seasons in the sun“ die Charts stürmte. Darin muss ein noch junger Mann Abschied nehmen von diesem Leben (vielleicht infolge schwerer Krankheit), von seinem Vater, seinem besten Freund, seiner Freundin. Nicht alles in seinem Leben war leuchtend, er hat Fehler gemacht, auch schwierige Situationen durchlaufen. Aber angesichts des Todes lautet die Aussage dieses jungen Mannes: „It’s hard to die, when all the birds are singing in the sky.“ (Es ist schwer zu sterben, wenn alle Vögel am Himmel singen.) Er fängt hier die Situation eines schönen Frühlingstages ein. Ja, die Erinnerung an die „Seasons in the sun“, die sonnigen Zeiten des Lebens, machen es manchem, der im Begriff steht, durch das große Tor in Gottes Ewigkeit einzutreten, schwer, dieses Leben zu lassen. Was gehört nicht alles zu diesen Sonnentagen unserer irdischen Existenz! Besonders liebe Menschen, die man zurücklässt… Loslassen müssen die Sterbenden, und es ist oft ein schwieriger Weg dorthin, der Zeit braucht.

Loslassen müssen auch jene, die zurückbleiben. Auch für sie ist es echte Seelenarbeit. Wohl weil Sterbende das fühlen und bei ihren Lieben erspüren, gehen sie manchmal ganz still hinüber, in einer Minute, einer Viertelstunde, da keiner ihrer Allernächsten gerade im Krankenzimmer ist – wie um diesen den schlimmsten Abschiedsschmerz zu ersparen. Dennoch: Die Notwendigkeit des innerlichen Loslassens bleibt. Der Glaube verleiht dazu einen entscheidenden Kraftimpuls. Christliches Loslassen geschieht im Hinblick auf die Liebe Gottes. Wir haben die feste Glaubenshoffnung, einander dort wiederzusehen. Die Verstorbenen sind schon in der ewigen Heimat, zu der wir noch unterwegs sind. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Trauer sich in Mitfreude und Vorfreude verwandeln. Es ist sinnvoll, dass ich mich um ein Wachstum im Glauben bemühe, auch um den – ja notwendigen – Abschieden etwas von ihrer Trostlosigkeit zu nehmen, lange bevor sie eintreten.

Vielleicht fragen gläubige Christen: Was ist, wenn jemand nach seinem Tod noch nicht in die volle Gegenwart Gottes eintreten kann, weil er den einen oder anderen Schatten der Erde mit hinübernimmt, von dem er sich erst noch trennen, sich läutern muss, damit er in Gottes ewiges Licht hineinpasst? Nun, wir dürfen davon ausgehen, dass auch solche, die noch in jenem Wartezustand sind, den die Kirche lateinisch „Purgatorium“, zu deutsch „Fegefeuer“, nennt, Gott schon näher sind als wir. Sie können bei ihm schon ein gutes Wort für uns einlegen, und wir können durch unser Gebet und die Feier der heiligen Messe dazu beitragen, dass sich diesen Verstorbenen die Pforte zum Eintritt in das Licht Gottes endgültig auftut. Das ist übrigens der letzte Sinn der Gewohnheit, dass wir für unsere Toten heilige Messen feiern lassen. Sie werden dafür dankbar sein, und sollten sie selber dessen nicht mehr bedürfen, wird unser Beten anderen Verstorbenen zugutekommen. Es entspricht dem christlichen Glauben, dass auch der Fall denkbar ist, dass ein Verstorbener in kompletter Abwendung von Gott in die Ewigkeit hinüberging, von ihm und überhaupt von allem Guten nichts wissen wollte. Gott, der keine Entscheidung des Menschen manipuliert, weil er ihn ernst nimmt und nicht als Marionette behandelt, akzeptiert – sicher schmerzerfüllt – solche Abwendung auch für die Ewigkeit. Gottesferne, Hölle, wäre also die „Zukunft“ solcher Unglücklichen. Doch bezüglich meiner Verstorbenen sollte ich nicht leicht eine Angst in diese Richtung entwickeln, sondern fest auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen, der keine kleine gute Tat eines Menschen, keinen guten Gedanken und keine positive Regung jemals vergisst. Sie wird ihm auch bei dem von uns Betrauerten nicht entgehen.

Für mich selbst aber will ich mir vornehmen, statt eines verständlichen, aber letztlich fruchtlosen Zerfließens in Trauer und trüben Gedanken so zu leben, dass mir die ewige Freude Gottes und damit das Wiedersehen mit jenen, die bei ihm schon leben dürfen, keine Verheißung bleibt, sondern zur Wirklichkeit wird.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
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[1] Klaus-Peter Vosen, geb. 1962 in Köln, ist seit 2001 nach Einsätzen als Kaplan und Pfarrer in Düsseldorf, Wuppertal und Leverkusen Pastor an der Kölner Wallfahrtskirche St. Maria in der Kupfergasse und seit 2010 Pfarrer der Pfarrei St. Aposteln, Köln. Seit 1995 bekleidet er im Nebenamt die Stelle des Geistlichen Assistenten der Jugend 2000 Köln, 2010 für Köln Umbenennung in Theresianische Familienbewegung Omnia Christo, hier Diözesanpräses. Pfarrer Vosen hat mehrere kirchenhistorische und katechetische Arbeiten verfasst.
[2] Klaus-Peter Vosen: Tor – nicht Tod. Warum im Sterben das Leben bleibt, geb., 96 S., mit 8-seitigem Bildteil, 11,00 Euro (D), 11,40 Euro (A), ISBN: 978-3-9454019-2-7, Verlag Media Maria, Tel. 07303-9523310, E-Mail: buch@ media-maria.de

Bischofswort zur Heiligsprechung von Katharina Kasper

Bewegt von Gottes Geist

Bischof Dr. Georg Bätzing hat die Heiligsprechung von Katharina Kasper mit großem Engagement begleitet. Immer wieder brachte er seine Dankbarkeit und Begeisterung für die neue Heilige zum Ausdruck wie im nachfolgenden Hirtenwort. Katharina Kasper ist überhaupt die erste Heilige aus dem Bereich des 1827 gegründeten Bistums Limburg. Doch Bischof Bätzing geht es vor allem um die Impulse, die von ihrem Zeugnis für unsere Zeit ausgehen. Beim Dankgottesdienst für die Heiligsprechung nahm er ihre Schuhe in die Hände und erklärte: „Sie hat angepackt und mutig Neues gewagt. Die Schuhe der neuen Heiligen zeugen davon, dass sie sich nicht geschont hat.“ Bischof Bätzing sieht in ihrem Leben den Geist verwirklicht, den Papst Franziskus mit seinem Pontifikat in der Kirche neu entfachen möchte, das missionarische Feuer der „Armen“ im umfassenden Sinn des Evangeliums.  

Von Bischof Georg Bätzing, Limburg

Liebe Schwestern und Brüder, ist eine Heiligsprechung heute noch zeitgemäß? Diese Frage stellen mir viele, wenn ich von Katharina Kasper und ihrer Heiligsprechung am 14. Oktober in Rom berichte. Für mich als Bischof, für unser Bistum und für die Armen Dienstmägde Jesu Christi, die Gemeinschaft, die Katharina Kasper, die einfache Frau aus dem Westerwald, gegründet hat, ist die Heiligsprechung ein großartiges Geschenk. Ich freue mich sehr darüber, dass die Kirche Katharinas Lebens- und Glaubenszeugnis würdigt und ihr weltweit Beachtung schenkt. Katharina Kasper ist „ein Lichtblick für die ganze Welt geworden“, so hat es mein Vorgänger im Amt, Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst, einmal ausgedrückt. Ich glaube fest daran, dass uns Katharinas Zeugnis heute etwas sagen kann. Sie kann uns geistlich inspirieren und stärken für die Herausforderungen unserer Zeit.

Alles für Gott, mit Gott und durch den lieben Gott

Katharina Kasper wurde am 26. Mai 1820 als siebtes Kind einer armen Bauernfamilie in Dernbach bei Montabaur im Westerwald geboren. Sie begegnete früh Menschen in Not, wodurch die Sehnsucht wuchs, für sie da zu sein und zu helfen. Katharina, die selbst mit wenig auskommen musste, war lebenslang eine überaus gläubige und glückliche Frau. Am 15. August 1851, dem Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, legte sie mit ihren ersten Gefährtinnen die Gelübde in der Pfarrkirche von Wirges ab. Bis zu ihrem Tod leitete sie von da an die Gemeinschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi. Noch mitten in der Aufbauphase schrieb sie ihren Schwestern: „Nur eins ist notwendig, nur eins kann die Seele glücklich in Gott machen, dass sie alles für Gott, mit Gott und durch den lieben Gott tut."[1]

Katharina ist eng mit der Geschichte unserer jungen Diözese Limburg verbunden. Geboren im damals noch trierischen Gebiet, war sie sieben Jahre alt, als das Bistum Limburg neu gegründet wurde. Mit Bischof Peter Joseph Blum, dem dritten Bischof von Limburg, stand sie im regen Austausch,[2] und mit ihm verband sie eine geistliche Freundschaft. Gemeinsam sorgten sie sich um Pflege und Bildung und halfen so den Menschen der damaligen Zeit. Auch heute fühlen sich viele Menschen in unserem Bistum mit Katharina und den Schwestern verbunden. Sie haben von Kindesbeinen an etwas von Katharina erfahren oder die Schwestern in ihrem Dienst in den verschiedenen Einrichtungen erlebt; und das nicht nur in unserem Land, sondern mittlerweile in vielen Ländern und Kontinenten.

Leben und üben wir die Armut

Der Glaube ist Dreh- und Angelpunkt ihres ganzen Tuns. Katharina lebte ihren Glauben mitten in der Kirche, die sie als ihre Heimat erfuhr. „Kirche“ meint für Katharina in erster Linie die Gemeinschaft, die Gott selbst gestiftet hat, um für die Armen da zu sein. Und den Armen galt Katharinas größte Sorge. Besonders kümmerte sie sich liebevoll um Kinder und Kranke. Sie half dort, wo sie Not erkannte, suchte Mitstreiterinnen, organisierte Hilfe, Pflege und Bildung. Dabei hatte sie vor allem die im Blick, die in der Gesellschaft zu kurz kamen, wie Mädchen in der damaligen Zeit oder Bedürftige, und sie zog keine Grenzen. In ihrer Zuwendung zu den Menschen zeigt sich Gottes Liebe.

Katharina denkt aber nicht nur an die materielle Not, wenn sie von der Armut der Menschen spricht und von der Armut als Fundament ihrer jungen Gemeinschaft.[3] Sie meint auch die Armut vor Gott. In der Bergpredigt beginnt Jesus seine Unterweisung an die Jünger und an alle, die ihm zuhören wollen, mit den Worten: „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3). Papst Franziskus hat in seinem Schreiben über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute „Gaudete et exsultate“ betont, dass diejenigen glücklich seien, „die ein armes Herz haben, in das der Herr mit seiner steten Neuheit eintreten kann."[4] Denn ein volles, besetztes Herz, eine höchste Zufriedenheit mit sich selbst, lässt keinen Platz mehr für Gott. Einem armen Herzen dagegen kann Gott Geschenke machen, vor allem wenn wir entdecken, wie kostbar es ist, mit ihm verbunden zu sein. Das ist in der Taufe Wirklichkeit geworden. So wird die Armut zur Voraussetzung unserer Gottesbeziehung. „Im Herzen arm sein, das ist Heiligkeit“,[5] sagt der Papst.

In unserer geistlichen Armut, in unseren menschlichen Nöten und in der Verwiesenheit auf Gott ist Christus uns nahe. Denn er hat als Mensch im Leben und im Sterben unsere Armut geteilt. „Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen“ (2 Kor 8,9), heißt es im 2. Korintherbrief. Die Kirche soll Gottes barmherziges Werk für uns Menschen sein und uns in der Nachfolge Christi unterstützen. So bittet Katharina ihre Schwestern eindringlich: „Lieben und üben wir die Armut und kommen wir den Armen zu Hilfe, unterstützen wir dieselben nach Kräften."[6] Alles tägliche Mitwirken an diesem Vorhaben Gottes macht für sie die Kirche auf Erden aus.

Als Zeugen für die Liebe zu den Armen säumen zahlreiche Christinnen und Christen den Weg der Kirche durch die Jahrhunderte. Katharina wird eine von sieben Heiligen sein, deren Beispiel konkreter Nachfolge Papst Franziskus mit der Heiligsprechung am 14. Oktober allen Gläubigen der Kirche zeigen will.

Bewegt von Gottes Geist

Im gläubigen Selbstverständnis Katharina Kaspers kommt dem Heiligen Geist besondere Bedeutung zu. Auf ihn wollte sie hören. Von ihm bekam sie den Impuls, etwas Gutes anzufangen: die Gemeinschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi. Der Name dieser Gemeinschaft ist Programm. „Arm“ – in den äußeren Lebensbedingungen und in der Offenheit jeder einzelnen Schwester für die Gaben, die Gott schenkt. „Dienst“ – für Menschen in jedwedem Anliegen. „Jesus“ – als die große Entdeckung und Liebe des Lebens, dem es nachzufolgen gilt.

Auch wir suchen unseren Weg als Gläubige in einer Zeit, die nicht einfach ist und große Herausforderungen mit sich bringt. Wenn wir von „Kirchenentwicklung“ sprechen, dann sind wir Katharinas Überzeugungen recht nah: Der lebendige Glaube jedes einzelnen ist für Katharina Kasper das A und O. Wir brauchen einen persönlichen Glauben, der wächst und reift durch Gebet und die Feier des Glaubens. Dieser Glaube ist Geschenk und Ausdruck der Liebe Gottes. Es braucht die Hoffnung, dass diese Liebe unter uns immer mehr sichtbar wird. Für Katharina erwächst aus diesem Glauben das Vertrauen. Ohne greifbares Vertrauen untereinander wird die Kirche in ihrer Verkündigung des Evangeliums kaum vertrauenswürdig sein können. Glaube ohne Gottvertrauen wird unser Leben auch nicht verwandeln, wie wir es sakramental in jeder hl. Messe gläubig ersehnen. Wir brauchen eine Kirche, die hofft und die hinhört, weil sie Gottes Willen als die Quelle ihrer Sendung erfährt.[7]

Stets auf Gott ausgerichtet

Katharina Kasper hat ihre Entscheidungen und ihren Lebensweg stets auf Gott ausgerichtet. Und sie hat einen Anfang gesetzt, der bis heute wirkt. Kann es eine größere Ermutigung für uns als Kirche heute geben? Tun wir es ihr gleich. Folgen wir dem Beispiel der hl. Katharina und lernen Jesus Christus besser kennen, um ihm großmütiger nachzufolgen. Der Ruf zur Heiligkeit gilt ja auch uns. Katharina ist uns dabei wirklich ein Vorbild. Ein neues geistliches Lied bringt es schön auf den Punkt: „Bewegt von Gottes Geist, zeig du uns den Weg und bitte für uns, Katharina.“ Auf die Fürsprache der hl. Katharina Kasper erbitte ich Gottes Segen für uns alle.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] 1Katharina Kasper: Schriften, Bd. I: Erste Regeln und Eigenhändige Briefe, hg. v. Sr. Gottfriedis Amend ADJC, wissenschaftlich begleitet von Rainer Berndt SJ, Kevelaer 2001 [= Schriften I], Brief 19, 13-15.
[2] Vgl. Schriften I, Briefe 1-7, aus den Jahren 1852 bis 1867.
[3] „Bleiben wir allezeit fest gläubige arme Dienstmägde Christi und suchen uns zu vervollkommnen. Die Armut muss das Fundament bleiben. So lange die Armut gläubig geübt wird, so lange geht es gut.”, Schriften I, Brief 150, 26-29.
[4] Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate des Heiligen Vaters Papst Franziskus über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute, Nr. 68.
[5] Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, Nr. 70.
[6] Schriften I, Brief 136, 56-57.
[7] Vgl. Gaudete et exsultate, Nr. 19-24.

Fatima und die junge Bundesrepublik (Teil 11)

Zur Mariensymbolik der europäischen Flagge

Professor Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea bringen in ihrer Artikelserie über den Aufstieg der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg Zusammenhänge ans Licht, welche uns die Geschichte in einem überraschend neuen Licht erschließen. Sie zeigen auf, wie stark religiöse Überzeugungen politische Weichenstellungen beeinflusst haben. Aufschlussreich ist dabei ein Blick auf die persönlichen Bekanntschaften, welche die großen Staatsmänner der damaligen Zeit mit Philosophen und Geistlichen verbunden haben. Es sind freundschaftliche Beziehungen, welche die christliche Ausrichtung und Zielstrebigkeit im Engagement dieser gläubigen Politiker verstehen lassen. Besonders der europäische Einigungsprozess verdankt seine Dynamik der Vision christlicher Denker. In seinem elften Beitrag erläutert das Ehepaar Koch, wie es zur Mariensymbolik der europäischen Flagge kam und was diese Hintergründe für unsere heutige Zeit bedeuten können.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

In den Debatten über den Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der EU, begegnet man gelegentlich einer überraschenden Anschuldigung des Journalisten Hugo Young (1938-2003). Für den politischen Kommentator des Guardian war Europa eine Catholic conspiracy, orchestrated from the Vatican. Euroskeptiker wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher (1925-2013) bezogen sich auf seinen Verdacht einer „vatikanischen Konspiration“.

Youngs Polemik trifft nicht zu, erst recht nicht für die EU der Gegenwart. Dennoch benennt sie den christlichen Impuls, der zur europäischen Versöhnung über den Trümmern eines verbrecherischen Nationalismus führte. Er gab den katholischen Gründungsvätern des modernen Europa, Konrad Adenauer (1876-1967), Alcide De Gasperi (1881-1954) und Robert Schuman (1886-1963) Orientierung, lag aber auch Papst Pius XII. (1876-1958) am Herzen, der zeitlos gültige Prinzipien für die europäische Einigung formulierte.[1]

Kerngedanke der Christdemokratie

In ihrer politischen Dimension wird die Idee des „Christlichen Abendlands“ zur Vorstellung des Sacrum Imperium, des Heiligen Reichs, die das abendländische Staatsdenken prägte. Der Philosoph Alois Dempf (1891-1982) formuliert dessen Leitgedanken 1929 als Privatdozent: „Christus ist König und Prophet, ihm untersteht das weltliche und das geistige Schwert, das er auf Erden durch die geistliche und weltliche Macht führen lässt – so zwar, dass sich die beiden Gewalten gegenseitig bedingen und begrenzen und auf Christus hin relativieren."[2]

Wer die Formen des politischen Katholizismus – auch in seinem originären Verständnis von Demokratie – bis in die Mitte unseres Jahrhunderts verstehen wolle, ohne sich von den aufgeklärten revolutionär-liberalen Konzeptionen der Neuzeit von Freiheit und Staatsverfassung abhängig zu machen, solle Dempfs Werk Sacrum Imperium durcharbeiten, empfiehlt sein Schüler, der Philosoph Vincent Berning (*1933), so anspruchsvoll seine theoretische Grundlegung auch sei. Bereits 1928 gab Dempf diesem Gedanken eine europapolitische Wendung: „Die Katholiken Europas müssen sich einigen unter der Idee des Königtums Jesu Christi, einen anderen Ausweg aus der gegenwärtigen Lage gibt es nicht.“

In den acht Jahren seines Wirkens als Privatdozent in Bonn, der späteren Hauptstadt der jungen Bundesrepublik, die seit 1715 der unbefleckt empfangenen Gottesmutter geweiht ist, steht Dempf in persönlichem Austausch mit Politikern, die das Nachkriegseuropa prägen werden. Es sind Konrad Adenauer, Robert Schuman, der 1904 sein Jura-Studium in Bonn begonnen hatte, der katholische Priester Don Luigi Sturzo (1871-1959), der Gründer der Italienischen Volkspartei, und Alcide De Gasperi, Don Sturzos politischer Schüler. Dempf, der 1925 auf einer Kölner Tagung mit Don Sturzo Freundschaft schließt, hatte dessen Buch gegen den italienischen Faschismus übersetzt. Sein eigenes Werk Sacrum Imperium ist Don Sturzo gewidmet.

Dempfs Tochter berichtet von Begegnungen dieses Kreises mit der späteren Märtyrerin Edith Stein OCD (1891-1942), die Johannes Paul II. (1920-2005) im Jahre 1999 zu einer der Patroninnen Europas erhebt. Don Sturzos Seligsprechungsprozess wurde 2002 eingeleitet. Für Alcide De Gasperi wurde 1993 ein solcher Prozess eröffnet. Auf Diözesanebene ist für Robert Schuman ein solches Verfahren seit 2004 positiv abgeschlossen.

Die Entstehung der Europa-Flagge

Wer sich diese Impulse zur europäischen Einigung vergegenwärtigt, ist berührt, wenn er erfährt, dass die europäische Flagge mit ihrem Kranz aus zwölf goldenen Sternen vor himmelsblauem Hintergrund als Mariensymbol konzipiert wurde. Am 8. Dezember 1955, dem Fest der unbefleckten Empfängnis Mariens, beschloss das Ministerkomitee als Entscheidungsorgan des Europarats die heraldische Beschreibung der Europarats-Flagge. Aber erst 1986 wurde sie zum Symbol der Europäischen Union schlechthin.

Der Journalist Vittorio Messori (*1941), der 1964 katholisch wurde, machte zuerst eine breitere Öffentlichkeit mit der Entstehungsgeschichte der Europa-Flagge vertraut.[3] Sein Interview mit Joseph Kardinal Ratzinger (*1927) zur Lage des Glaubens war ein internationaler Bestseller.[4] Von 1950 bis 1955 erarbeiteten zwei praktizierende Katholiken, der elsässische Graphiker Arsène Heitz (1908-1989) und Paul Lévy (1910-2002), Leiter der Kulturabteilung des Europarates, mehr als hundert Entwürfe. Schließlich lancierte Lévi den Sternenkranz.

In einem viel späteren Interview bekannte Heitz, er sei von der Wunderbaren Medaille der Marienerscheinungen des Jahres 1830 und vom Introitus des Festes Mariä Himmelfahrt inspiriert worden – „Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: Eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen“. 1987, als die Europa-Flagge etabliert war, sagte Heitz, er sei „sehr stolz, dass die Europa-Fahne die Flagge Unserer Lieben Frau ist“. Seine Witwe betonte, wie notwendig es gewesen sei, ihre Bedeutung als Geheimnis zu hüten.[5]

Eine weitere Spur führt in die Zeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Lévi, ein Belgier jüdischer Abstammung, sah angsterfüllt die zahlreichen Eisenbahnzüge, die Juden in die Vernichtungslager des Ostens transportierten, und gelobte, zum katholischen Glauben zu konvertieren, wenn er Krieg und Nationalsozialismus lebend überstehen würde. Lévi überlebte und wurde katholisch. Eines Tages fiel ihm bei einem Spaziergang eine Muttergottesstatue mit dem Sternenkranz auf – von der Sonne beschienen, leuchteten ihre goldenen Sterne vor strahlend blauem Himmel.

Für den Flaggenentwurf gewann Lévi die Unterstützung des Grafen Lodovico Benvenuti (1899-1976), venezianischer Christdemokrat und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, ab 1957 dessen Generalsekretär. Zuvor waren im Europarat sämtliche Entwürfe, die etwa nach dem Muster skandinavischer Flaggen ein Kreuz enthielten, von den Sozialisten als zu christlich abgelehnt worden. Es leuchtet also ein, dass die Mariensymbolik der Flagge zunächst verborgen bleiben musste.

Zunächst war die Europarats-Flagge so gut wie unbekannt. Am 12. Februar 1959 wandte sich Lévi an Robert Schuman, damals Präsident des europäischen Parlaments. Dieser setzte sich für die Verbreitung der Flagge ein und antwortete: „Ich persönlich schließe mich der Wahl des ‚Kreises aus 12 Sternen auf blauem Grund‘ als offiziellem europäischen Emblem an.“

Deutsch-jüdische Versöhnung

Lévis Lebens- und Konversionsgeschichte wirft ein Schlaglicht auf die Bedeutung der deutsch-jüdischen Versöhnung für die Heilungsprozesse nach der nationalsozialistischen Diktatur in Europa.

Entscheidend war ein Vier-Augen-Gespräch Konrad Adenauers mit Nahum Goldmann (1895-1982), dem Gründer und langjährigen Präsident des Jüdischen Weltkongresses, am 22. April 1952 in seinem Rhöndorfer Wohnhaus. Wie Goldmann berichtet, hat sich Adenauer nach der Unterzeichnung des Wiedergutmachungsabkommens am 10. September 1952 im Luxemburger Rathaus in eine Kapelle der benachbarten Kathedrale Unserer Lieben Frau zurückgezogen. Mit Tränen in den Augen sei er zurückgekehrt. Dieses Zeugnis belegt die religiöse Dimension dieses Schrittes.

In der „Kajüte“ des Adenauer-Hauses erinnert noch heute eine kostbare Thora mit silbernem Buchdeckel und eigenhändiger Widmung Goldmanns an dieses Abkommen. Die Ratifizierung des Vertrags im Deutschen Bundestag gelingt Adenauer am 18. März 1953 allerdings nur knapp und mit Hilfe der SPD-Fraktion, die ihn geschlossen unterstützt. Zahlreiche Abgeordnete der CDU/CSU enthielten sich, es gab vier Nein-Stimmen. Vor dem sich erst später abzeichnenden „Wirtschaftswunder“ waren die eingegangenen Verpflichtungen tatsächlich mit sehr substanziellen finanziellen Opfern und hohen Risiken für die junge deutsche Nachkriegswirtschaft verbunden, die offenbar segensreich waren.

„Selbstverständlich war mir klar, dass es sich bei diesem Abkommen nur um ein Symbol der Wiedergutmachung handelte, dass es nur einen Versuch darstellte, Deutschland in dieser Frage zu rehabilitieren“, kommentiert Adenauer selbst. Ben Gurion (1886-1973), der israelische Ministerpräsident, spricht gegenüber Goldmann von den zwei Wundern, die sich in seinem Leben ereignet hätten: die Gründung des Staates Israel und das Abkommen mit Deutschland.

Möge der allgegenwärtige Hinweis auf die sternenbekränzte Frau in der Europa-Flagge die europäischen Völker in Maria ihre Zukunft erkennen und zum katholischen Glauben zurückfinden lassen!  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
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[1] M. FELDKAMP: Pius XII. Ein Papst für Deutschland, Europa und die Welt, Heimbach 2018.
[2] In: D. u. W. KOCH: Konrad Adenauer. Der Katholik und sein Europa, Kißlegg 32018, 48ff.
[3] Publikationen 1995, 2003, 2005. Vergl. J. NEBEL: Die Europaflagge – ein marianisches Symbol?, in: Maria als Patronin Europas, Regensburg 2009, 172ff.
[4] J. RATZINGER: Zur Lage des Glaubens. Ein Gespräch mit Vittorio Messori, Oberpframmern 1985.
[5] fr.wikipedia.org/wiki/Ars%C3%A8ne _Heitz

Treue zu Christus im Land der Märtyrer

Pakistan: „Hauptsache Christin“

Für Christen ist Pakistan eines der gefährlichsten Länder der Welt, ein Land der Märtyrer. Ursprünglich war es als säkularer Staat konzipiert, doch diese Fassade begann schon nach kurzer Zeit zu bröckeln. Islamistische Gruppen gewannen die Oberhand und die Scharia wurde Grundlage der Gesetzgebung. Tobias Lehner, Referent für Öffentlichkeitsarbeit beim Päpstlichen Hilfswerk „Kirche in Not“, schildert die Situation seit der Einführung des Blasphemie-Gesetzes 1986 und fügt das ergreifende Zeugnis von Kainut, einer jungen Konvertitin, an.  

Von Tobias Lehner

Von den rund 190 Millionen Einwohnern Pakistans sind nicht einmal zwei Prozent Christen. Sie sind Bürger zweiter Klasse. Christen werden beschimpft, diskriminiert und ausgegrenzt. Schulbücher zeichnen ein fürchterliches Zerrbild von den Christen. Sie gelten als Sündenböcke, dürfen nur einfachste Arbeiten verrichten. Politisch haben sie keine Lobby, ihre Aussage vor Gericht zählt nicht. Immer wieder werden Anschläge gegen Kirchen und christliche Einrichtungen verübt. Aber das ist noch nicht alles. Jederzeit kann ein Christ Opfer des Blasphemie-Gesetzes werden. Und das heißt konkret: Haft, Misshandlungen und der drohende Tod.

Blasphemie-Gesetz bringt Haft und Tod

Das Blasphemie-Gesetz wurde 1986 eingeführt. Es sieht bei Verstößen gegen den Islam drakonische Strafen vor: Die Schändung des Korans wird mit lebenslanger Haft bestraft, für abschätzige Bemerkungen über den Propheten Mohammed wird die Todesstrafe verhängt. Vage Anschuldigungen reichen oft schon aus, damit Verdächtige verhaftet werden. Nicht selten stehen hinter solchen Anschuldigungen persönliche Streitigkeiten.

Auch innerhalb Pakistans regt sich Widerspruch gegen dieses Gesetz. Doch bislang hat keine Regierung daran zu rühren gewagt. Einige Politiker, die sich für eine Änderung einsetzten, wurden umgebracht.

Religiöse Minderheiten wie Christen oder Hindus werden besonders häufig der Blasphemie beschuldigt: Internationale Aufmerksamkeit erlangte der Fall der Christin Asia Bibi, die im November 2010 wegen angeblicher Gotteslästerung zum Tod verurteilt wurde. Unter anderem hatten sich Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus für die fünffache Mutter eingesetzt. Die Berufung gegen das Urteil wurde im Oktober 2014 zurückgewiesen. In einem weiteren Verfahren vor dem höchsten pakistanischen Gericht sollte im Oktober das Urteil fallen; zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels stand es noch nicht fest.

Ein Rosenkranz gibt Trost

Papst Franziskus hatte auf Vermittlung von „Kirche in Not“ den Mann und die Tochter von Asia Bibi empfangen und ihnen einen Rosenkranz mitgegeben. Wider Erwarten habe man ihr erlaubt, diesen Rosenkranz zu behalten und zu beten, ließ Asia Bibi wissen. „Dieser Rosenkranz wird für mich ein großer Trost sein; es tröstet mich zu wissen, dass der Papst in dieser schwierigen Lage für mich betet und an mich denkt“, ließ Bibi „Kirche in Not“ wissen.

Trotz Diskriminierung und Verfolgung: Auch heute geschieht das Wunder der Bekehrung im Land der Märtyrer. Vor kurzem hat die Päpstliche Stiftung „Kirche in Not“ die Geschichte von Kainut erreicht, einer 20-jährigen Frau aus Pakistan. Der Wunsch, sich taufen zu lassen, hat der Medizinstudentin Bedrohungen und Gefahren eingebracht. „Kirche in Not“ erzählt sie von ihrer folgenschweren Entscheidung:

„Meine ursprünglich christliche Mutter war noch eine Schülerin, als sie von Muslimen entführt wurde, den Islam annehmen und meinen Vater heiraten musste. Es ist in meiner Provinz eine übliche Praxis, christliche und hinduistische Mädchen zur Konversion zum Islam zu zwingen. Meine Mutter akzeptierte schließlich meinen Vater als ihren Ehemann und begann, mit ihm ein normales Leben zu führen. Sie hatten vier Kinder – ich bin die Älteste und habe zwei jüngere Brüder und eine jüngere Schwester.

Meine Mutter ging aber heimlich in die Kirche, und oft ging ich mit ihr. Sie las zuhause in der Bibel. Es war klar, dass sie den Islam nicht angenommen hatte; in ihrem Herzen war sie Christin geblieben. Auch ich begann in der Bibel zu lesen. Einmal war ich in der Kirche und die Menschen stellten sich in einer Reihe auf, um die hl. Kommunion zu empfangen. Ich stellte mich dazu, doch jemand sagte mir, dass ich nicht zur Kommunion gehen könne, da ich keine Christin sei. Ich brach daraufhin in Tränen aus.

„Jesus Christus ist auch mein Retter“

Ich sagte meiner Mutter, dass ich die hl. Kommunion empfangen wolle, und dass Jesus Christus auch mein Retter sei. Doch irgendwie bekam mein Vater dies mit und verbot uns zur Kirche zu gehen. Ein Jahr lang gingen wir nicht mehr hin. Dann starb mein Vater. Meine Großeltern zwangen meine Mutter, einen Cousin meines Vaters zu heiraten, auch dies eine übliche Praxis, da nach Ansicht der Muslime Frauen den Schutz eines Mannes benötigen. Meine Mutter sträubte sich, doch sie hatte keine Wahl und heiratete meinen Großcousin. Ich war zu der Zeit 14.

Dieser Mann war ebenfalls sehr streng, doch ich begann täglich zuhause in der Bibel zu lesen. Mein Stiefvater versuchte oft mich daran zu hindern, aber meine Mutter unterstützte mich. Als ich die ganze Bibel durchgelesen hatte, sagte ich meiner Mutter, ich wolle Christin werden. Meine Mutter war sehr in Sorge, dass meine Großeltern oder andere Verwandte uns töten würden.

„Ich kann dich nicht taufen“

Trotzdem ging ich mit meiner Mutter in die Kirche und bat einen Priester, mich zu taufen. Doch er war unschlüssig: ‚Das ist ein großes Risiko. Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht taufen‘, sagte er. Der Priester hatte Angst, dass meine Verwandten oder andere muslimische Fanatiker uns töten würden, wenn sie herausfänden, dass er mich getauft hatte, und er wollte auch seine eigenen Gemeindemitglieder nicht in Gefahr bringen. Ich sagte ihm: ,Herr Pfarrer, ich bin bereit, für Christus zu sterben‘.

Dann begannen die Sommerferien und wir fuhren in eine andere Provinz, um meine Tante, die Schwester meiner Mutter, zu besuchen. Wir gingen mit ihr in die Kirche und wieder traf ich einen Priester und erzählte ihm von meinem Wunsch, Christin zu werden. Er war sehr nett und gab mir ein paar Bücher zum Lesen mit. Wir verbrachten drei Monate im Haus meiner Tante und gingen täglich in die Kirche. Eines sonntags nach der Messe fragte mich der Priester: ‚Mädchen, bist du bereit für die Taufe?‘ Ich war sehr glücklich und sagte Ja. Schließlich empfingen wir alle – meine beiden Brüder, meine Schwester und ich – im Jahr 2013 das Sakrament der Taufe, weit weg von zuhause.

Als wir wieder in unsere Heimatstadt zurückkamen, hatte mein Stiefvater – auf welchen Wegen auch immer – herausgefunden, dass wir konvertiert waren, und bot meiner Mutter die Scheidung an, die sie freudigen Herzens akzeptierte. Meine Mutter fand eine Arbeitsstelle und mietete eine Wohnung; alles ging einen guten Weg. Wir gingen regelmäßig zur Kirche.

„Unsere Hoffnung steht fest in Jesus Christus“

Eines Abends im Jahr 2016 aber stürmten auf einmal mein Stiefvater und seine Angehörigen in unsere Wohnung. Er sagte meiner Mutter, er käme, um mich mitzunehmen, denn sie würden es nicht zulassen, dass ich eines Tages einen christlichen Jungen heirate. Stattdessen wollten sie mich einem 54-jährigen muslimischen Mann zur Frau geben – ich war gerade 18. Meine Mutter stritt mit ihrem Ex-Mann, rief unseren Priester und die Polizei. Als die Polizei kam, gingen die unliebsamen Besucher weg.

Ich berichtete meinem geistlichen Begleiter von der Begebenheit. Er brachte mich in einem von Ordensschwestern geführten Wohnheim unter, wo ich mich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorbereitete. Ich möchte gerne Ärztin werden und der Menschheit dienen.

Unsere Schwierigkeiten sind aber noch nicht vorbei. Im Oktober 2017 schossen meine muslimischen Verwandten auf einen meiner konvertierten Brüder. Die Kugel verletzte seine Lunge und einige Rippen; er ist immer noch im Krankenhaus und kämpft dort um sein Leben. Meine Familie erhält Morddrohungen und ich weiß nicht, was uns in Zukunft geschehen wird – doch unsere Hoffnung steht fest in unserem Herrn Jesus Christus!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
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Einladung zu einer Jugendbegegnung in Russland

„Jugend für Frieden“

Der Direktor einer Kadettenschule in der Nähe von Perm hat Pfarrer Erich Maria Fink den Aufbau eines Jugendaustauschs mit Deutschland angeboten. Als Auftakt wird die Schule im April 2019 für deutsche Jugendliche ein reichhaltiges kulturelles Programm in der Permer Region gestalten, an dem auch russische Schüler teilnehmen werden. Pfr. Fink hat den Vorschlag aufgegriffen und organisiert dazu in den Osterferien eine Fahrt für Jugendliche nach Russland. Er verbindet die Jugendbegegnung mit einem Besuch von Moskau und seiner Pfarrei „Maria – Königin des Friedens“ in Beresniki, wo die Jugendlichen die Karwoche und das Osterfest mitfeiern können.  

Von Erich Maria Fink

In dem Wasser-Kurort Ust-Katschka nahe der Gebietshauptstadt Perm im mittleren Ural gibt es auch ein Ferienzentrum für Kinder und Jugendliche. Nach der Perestroika baute dort der engagierte Pädagoge Sergej Viktorowitsch Kamenew eine Internatsschule auf. Sein Ziel war und ist es, junge Menschen heranzubilden, die fähig sind, im gesellschaftlichen Leben für das Wohl der Allgemeinheit Verantwortung zu übernehmen. Sein Ausbildungs- und Erziehungskonzept ist ausdrücklich auf den Werten des christlichen Glaubens aufgebaut. Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit sind für ihn die entscheidenden Haltungen, die er in den jungen Menschen für ihren zukünftigen Einsatz fördern möchte. Zunächst war seine Schule mit dem Ausbildungsprogramm der Polizei verbunden, später wurde sie dem Verband der russischen Kadetten-Schulen angeschlossen.

Seit vielen Jahren bemüht sich Kamenew, Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten und Konfessionen zusammenzuführen, gemeinsame Interessen zu entdecken, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit zu fördern und freundschaftliche Beziehungen aufzubauen. In diesem Sinn ist ihm vor allem der Brückenschlag nach Deutschland ein Anliegen.

Vor kurzem erhielt ich einen Brief von ihm, in dem er schreibt, er habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es gelingen werde, auch mit Jugendlichen aus Deutschland freundschaftliche Kontakte aufzubauen. Ihm stehe ein Jugendforum vor Augen, das nach dem Motto „Unsere Freundschaft für alle Zeiten“ einen Dialog zwischen Ost und West pflege. Er lade deutsche Jugendliche zu einer Begegnung ein, bei der es allein um Kommunikation und kulturellen Austausch gehen werde. Und er versichert, dass die Veranstaltung frei von politischen und militärischen Elementen sein wird. Die Tatsache also, dass seine Einrichtung den Status einer Kadettenschule hat, sollte niemanden abschrecken. Weder Eltern noch Schüler sollten deshalb Bedenken haben.

Ich möchte diese ausgestreckte Hand ergreifen und biete nach Rücksprache mit unserer katholischen Pfarrei „Maria – Königin des Friedens“ in der Stadt Beresniki nördlich von Perm eine Russlandfahrt für Jugendliche an, die nicht nur aus dem Programm der Permer Schule besteht, sondern mit einem Besuch in Moskau und der Teilnahme am österlichen Triduum in unserer Pfarrei verbunden ist. Die Fahrt wird in den Osterferien stattfinden und umfasst also die beiden Teile, nämlich die eher religiös geprägte Karwoche zusammen mit mir und den kulturellen Jugendaustausch in der Osterwoche.

 

So haben wir folgendes Programm geplant, das unter dem Thema „Jugend für Frieden“ steht:

Karwoche:

Palmsonntag, 14. April 2019, 12 Uhr, Abflug aus München nach Moskau, Montag bis Mittwoch Besichtigungen (Roter Platz, Kreml, Christus-Erlöser-Kathedrale, Sergiev Posad u.a.), am Mittwoch Teilnahme an der Chrisam-Messe mit Erzbischof Paul Pezzi in der katholischen Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis von Moskau, Donnerstag Flug nach Perm und Fahrt nach Beresniki, Kennenlernen der verschiedenen Projekte der Pfarrei, Liturgie von Gründonnerstag, Karfreitag und Osternacht.

Osterwoche:

Nach der Feier des Osterfestes mit der Gesellschaft „Wiedergeburt“ der Russlanddeutschen am Ostersonntag Fahrt nach Ust-Katschka zur Jugendbegegnung, Kennenlernen der Schule, Besichtigungen in und um Perm (Mammut-Museum, Süßwarenfabrik mit Verkosten der Produkte, Kunstgalerie, Opern- und Balletttheater, Eishöhle von Kungur u.a.) sowie sportliche Veranstaltungen wie Staffellauf und Schwimmen im neugebauten Bad.

Die Gruppe kann maximal 47 Personen umfassen. Eingeladen sind Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren, Mädchen und Jungen, sowie begleitende Erwachsene, Eltern, Jugendleiter oder Pädagogen. Teilnehmen können einzelne Jugendliche, aber auch Jugendgruppen oder Schulklassen. Der Preis beträgt voraussichtlich 620,- Euro pro Person (ab München). Eventuell gibt es Zuschüsse.

Wer Interesse hat, kann sich melden unter: jugend-fuer-frieden@mail.ru

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2018
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Die heutige Meinungsdiktatur im Licht des Neuen Testaments

Das Imperium des „Gutmenschen“

Die bekannte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Christa Meves hat sich vorgenommen, auf wertvolle Literatur hinzuweisen, die den Mainstream mit Wachsamkeit analysiert und sich nicht dem Zeitgeist unterordnet. Dieses Mal hat sie ein neues Buch des emeritierten Professors der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg, Prof. Dipl.-Ing. Peter Gerdsen ausgewählt. Es trägt den Titel: „Das Imperium des Guten – Gutmenschen im Lichte des Neuen Testaments“ (Books on Demand, Norderstedt 2018) und ruft die Christen dazu auf, in dieser antichristlichen Zeit alle Kräfte des Glaubens und der Erkenntnis zu mobilisieren, um nicht unterzugehen.  

Von Christa Meves

Aufklärung über den Strukturverlust des christlichen Weltbildes hierzulande – das ist der Inhalt eines neuen Buches von Professor Peter Gerdsen unter dem Titel: „Das Imperium des Guten – Gutmenschen im Lichte des Neuen Testaments“. Was versteht der Autor nun aber unter der Bezeichnung „Gutmensch“, und wieso besitzt dieser ein „Imperium“? Der Verfasser versteht darunter in schonungsloser Analyse die mehrheitliche Seelenlage vieler Menschen hierzulande. Professor Gerdsen bezeichnet diesen Menschentyp als vorrangig materialistisch und oberflächlich. Unnachdenklich halte man alles für gut, was der Zeitgeist diktiere. Die Folge sei ein von der Technik dominiertes „kaltes Herz“. Gutmenschen halten ihre Meinungen aber unbekümmert für richtig; denn sie haben es nicht im Bewusstsein, dass sie die in der Presse vorgegebenen Trends nachplappern. Sie halten sich zwar für absolut frei, ohne es wirklich zu sein: „In ihnen lebt ein Teil einer Gruppenseele, die allen Gutmenschen gemeinsam ist.“ Aber weil sie viele sind, bilden sie gewissermaßen ein Imperium. „Gutmenschen empfinden eine globale Solidarität, die in einem die ganze Menschheit umfassenden Humanitarismus mündet.“ Daraus entstehe „Formlosigkeit, Gestaltlosigkeit und Strukturlosigkeit“ (S. 172).

Diese bedauernswerte Mitläuferei hat aber in den vergangenen 40 Jahren eine Minderung des kulturellen Niveaus zur Folge gehabt. Der Autor beschreibt, dass dieser Verlust letztlich eine lange Vorgeschichte hat, und zwar durch den schleichenden Glaubensverlust des Christentums seit dem 19. Jahrhundert unter den Nachwirkungen der Französischen Revolution. Allerdings sei dann durch die sog. Studentenrevolte von 1968 die heutige Wirrnis manifest geworden. Auch die feministische Bewegung der 68er hält der Professor für einen Strukturauflöser: „Es ist ihr gelungen, die Tradition Ehe mit Kindern als Familie zu diskreditieren und damit zurückzudrängen. Damit einher gingen zunehmende Belastung für die Frauen und eine weitgehende Befreiung der Männer von Verantwortung. Die Folgen sind Kinderlosigkeit, Einsamkeit und Bitterkeit in weiten Teilen der Gesellschaft“ (S. 206). Hier habe die Entfesselung der Strukturen in neomarxistischem Geist Schritt gefasst. Professor Gerdsen spricht in dieser Hinsicht von satanischen und diabolischen Umtrieben, mit einer Tendenz zur Lüge und Verschleierung. Sich damit zu identifizieren bedeute „geistiger Selbstmord“. Unter dem Einfluss der digitalen Medien bringe dieser Geist eine Unnachdenklichkeit des Menschen, eben den „Gutmenschen“, hervor.

Um sich davon abzuheben, nimmt der Professor die Bibel, und zwar vornehmlich die Offenbarungen des Johannes als die in Bildern dargestellte Endzeit in Anspruch. Als Drache, der für den Antichristen die Strippen zieht (Offb 13), geht Diabolos – gestützt von der Mainstreampresse – z.Z. in „loderndem Zorn“ umher. Er erweist sich damit aber auch als ein Seelenvernichter. Der Gutmensch durchschaut das nicht und verdrängt die ihn selbst angreifenden Folgen, die nun als „Burnout, Depression und Suchtkrankheiten“ in einem entsprechenden Ausmaß in Erscheinung getreten sind. Die fehlende Ausrichtung nach dem Christentum bringt dem nach „Political Correctness“ lebenden Menschen keine klare Orientierung. Er könne so nämlich keine Distanz zu sich selbst aufbauen; denn die dem Glauben entfremdete Welt sei ja schließlich allein er selbst. Durch diesen Verlust einer tiefen, feinfühligen, natürlichen Befindlichkeit entstehe schließlich sogar eine Verdunkelung seines Bewusstseins. Dadurch wird der Mensch letztlich zu einem unfreien Wesen, indem sein Sinnen und Trachten materialisiert wird. Diese geistige Diktatur zerstöre den Wesenskern des Menschen, sodass er auf animalisches Niveau herabsinke. Stattdessen proklamiert Gerdsen: „Die Wahrheit ist, dass der Mensch ein transzendentes Wesen ist, eine einmalige, einzigartige, ewige von Gott geschaffene geistige Individualität, die sich für die Dauer eines Lebens in einem menschlichen Leib inkarniert hat und die ihrem Schöpfer gegenüber verantwortlich ist“ (S. 141). Die Bestimmung des Menschen sei es deshalb, die Materie zu vergeistigen.

Was erwartet Peter Gerdsen mit seiner so tiefschürfenden, aus der Erfahrung gewonnenen Analyse vom Leser? Nun, gewiss nichts weniger als die Rückkehr zur Wahrheit: Die Abkehr von einer unbewussten Identifikation mit dem Lügengeist.

Die Lektüre dieses Buches lohnt sich in der Fülle all seiner Einzelheiten; denn es hält uns allen den Spiegel unserer Angefochtenheiten vor, ohne sich auf einen moralischen Thron zu setzen. Unausgesprochen, ebenso entsetzt wie bescheiden, steht zwischen den Zeilen eine Mahnung, wie sie in den oft zitierten Offenbarungen des Johannes als Motto über diesem Buch stehen könnte: Und die Menschen „taten nicht Buße von den Werken ihrer Hände, dass sie nicht anbeteten die Dämonen und die goldenen und die silbernen und die kupfernen und die steinernen und die hölzernen Götzenbilder, die weder sehen, noch hören, noch gehen können. Und sie taten nicht Buße von ihren Mordtaten noch von ihren Zaubereien, noch von ihrer Hurerei, noch von ihren Diebstählen“ (Offb 9, 20-22). – Der weise Professor bekundet mit seinem Werk: „Christen müssen in dieser antichristlichen Zeit alle Kräfte des Glaubens und der Erkenntnis mobilisieren, um nicht unterzugehen“ (S. 39).

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