Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Ganz neu hat der Missbrauchsskandal die katholische Kirche eingeholt. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn die derzeitige Krise mit Ereignissen wie der Reformation oder der Französischen Revolution verglichen werden. Das Schiff der Kirche scheint in den Stürmen beinahe unterzugehen. Doch was wir heute erleben, ist eine Heimsuchung, die heilgeschichtlichen Charakter besitzt. Es ist offensichtlich, dass Gott daran ist, seine Kirche zu reinigen. 

Nicht zufällig haben wir als Titelthema die Frage gestellt: „Was erwarten wir vom Papst?“ Es geht uns aber nicht darum, den Papst zu belehren, ihm gleichsam mitzuteilen, was er zu tun hätte. Nein, wir wollen uns selbst fragen, was wir vom Felsen Petri erwarten, ob wir noch daran glauben, dass er der von Gott eingesetzte Garant der Wahrheit ist, den die Pforten der Hölle nicht überwältigen werden.

Erzbischof Carlo Maria Viganò, von 2011 bis 2016 Apostolischer Nuntius in den USA, hat am 25. August 2018 auf dem Hintergrund der Missstände in Amerika ein elfseitiges Zeugnis publiziert (datiert am 22. August). Mit seinen Enthüllungen legt er den Finger sicher auf eine entscheidende Wunde der Kirche. Das Homosexuellen-Netzwerk, das bis hinauf zu Bischöfen und Kardinälen reicht, muss aufgeklärt und beseitigt werden. Am Ende seiner Dokumentation kommt Viganò jedoch zu dem Ergebnis, Papst Franziskus sei an der Misere mit verantwortlich. Eine erfolgreiche Aufarbeitung könne nur gelingen, wenn der Papst zurücktrete. Es ist bedauerlich, dass der ehemalige Nuntius mit dieser Forderung seinen wertvollen Einsatz diskreditiert.

Aufbauend auf dem Dossier von Viganò bringen nun immer mehr Stellungnahmen das derzeitige Pontifikat unmittelbar mit den kirchlichen Missständen sexueller Natur in Verbindung, so nach dem Motto: Wer die Wahrheit aufgibt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Moral darnieder liegt. Man macht Papst Franziskus den Vorwurf, er hätte mit dem nachsynodalen Schreiben über Ehe und Familie die immerwährende Lehre der Kirche aufgegeben, und am Ende klingt es dann so, als hätte das Schreiben „Amoris laetitia“ den Missbrauch ausgelöst.

Es gibt aber auch hervorragende Zeugnisse, die sich wohltuend von diesen allzu kurz gegriffenen Kommentaren abheben, wie z.B. der Vortrag, den Erzbischof Georg Gänswein am 11. September 2018 bei der Vorstellung des Buches „Die Benedikt-Option“ von Rod Dreher in Rom gehalten hat, oder der Kommentar „Warum ich Papst Franziskus glaube“, den der Passauer Bischof Stefan Oster am 2. September 2018 auf seiner persönlichen Website veröffentlicht hat.

Die Missstände bestehen schon seit Jahrzehnten. Auch die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. waren von den Skandalen in Beschlag genommen, ja überfordert. Wir sind überzeugt, dass Gott Papst Franziskus dazu berufen hat, sich dieser Aufgabe zu stellen und sich auch gegen die Widerstände in der Hierarchie durchzusetzen. Dazu braucht er unsere volle Unterstützung. Wir wollen ihn vor allem mit unserem Gebet begleiten.

Liebe Leser, mit diesem Heft wollen wir Sie in Ihrem Vertrauen zur Kirche stärken und Ihnen einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft vermitteln. Wir danken Ihnen für Ihre Verbundenheit und bitten Sie um eine großherzige Spende für unser Apostolat. Von Herzen wünschen wir Ihnen einen gesegneten Rosenkranzmonat Oktober.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche

Was erwarten wir von Papst Franziskus?

Missbrauch existiert in der katholischen Kirche, wie die weltweiten Untersuchungen nach und nach ans Tageslicht fördern, seit langer Zeit. Die sexuellen Vergehen an Minderjährigen durch Priester sind Verbrechen, welche die Kirche viel zu wenig ernst genommen und bisher nicht wirklich aufgearbeitet hat. Mit der Aufdeckung des Skandals aber kam ein ganzes Bündel weiterer Missstände zum Vorschein, welche die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern und sie an der Ausübung ihrer Sendung hindern. Pfr. Erich Maria Fink sieht in der derzeitigen Krise die historische Chance für eine tiefgreifende Reinigung der Kirche. Und er fragt sich, welche Rolle dabei Papst Franziskus spielen kann und muss. Die unterschiedlich motivierte Forderung nach einem Rücktritt des Papstes weist er zurück und plädiert für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Problemen. Entscheidend ist für ihn, dass Gläubigen wie Hirten eine neue Hoffnung vermittelt wird, mit der sie in die Zukunft blicken können.

Von Erich Maria Fink

Missbrauch ist eine alte, tief sitzende Wunde in der katholischen Kirche. Über Generationen hinweg wurde sie verdrängt und nie wirklich aufgearbeitet. Die Verbrechen an Kindern, so müssen wir ehrlich zugestehen, sind vollkommen verharmlost worden. Die Kirche hat sich auch nie wirklich um eine nachhaltige Heilung der seelischen Verletzungen bemüht, die den Opfern zugefügt worden sind und unter denen sie ihr ganzes Leben lang gelitten haben. Außerdem sind die Verantwortlichen geradezu skrupellos ihrer Verpflichtung ausgewichen, den Betroffenen Gerechtigkeit teilwerden zu lassen.

Der Kirche fehlten aber auch ganz einfach Erfahrung und Wissen sowie wirksame Instrumente, um sich dem Problem des Missbrauchs angemessen stellen zu können. Das Bußsakrament mit seinem Beichtgeheimnis bildete oft ein Hindernis, anstatt einen Ausweg zu eröffnen. Auch die Anwendung von Kirchenstrafen stellte keine wirksame Form zur Überwindung der Missstände dar. Hilflos standen auch gutwillige Hirten den bekannt gewordenen Fällen gegenüber und waren sich unsicher, ob sie tatsächlich die Pflicht haben, die Verbrechen ihrer Priester bei staatlichen Behörden anzuzeigen und sie weltlichen Gerichten zur Strafverfolgung zu übergeben.

In der Tat musste die weltliche Gesellschaft eingreifen, um diese Eiterbeule zum Platzen zu bringen. Man kann es durchaus als Vorsehung Gottes betrachten, dass ausgerechnet in einer Zeit der sexuellen Permissivität die Öffentlichkeit ein Gespür für die Schwere des Kindesmissbrauchs entwickelt hat. Vieles von dem, was die Kirche im Licht des Evangeliums als Sünde, d.h. als moralisches Vergehen betrachtet, wird von der gegenwärtigen Gesellschaft längst gebilligt, befürwortet und sogar als Gut hingestellt. Dass sexueller Missbrauch von Kindern in unserer Zeit so streng geahndet werden würde, war noch vor nicht zu langer Zeit alles andere als selbstverständlich. Verschiedene gesellschaftspolitische Gruppen haben daran gearbeitet, auch die Pädophilie hoffähig zu machen. Wir können Gott nur dafür danken, dass es nicht soweit gekommen ist. Denn so kann nun das gesellschaftliche bzw. staatliche Auge die Wunden der Kirche in den Blick nehmen und einen Aufklärungsprozess in Gang bringen. Sie wird gleichsam von außen dazu gezwungen, sich endlich den in ihren eigenen Reihen verübten Verbrechen zu stellen und eine Reinigung zu vollziehen. Hinter den Vorgängen ist also weniger ein Angriff der säkularen Welt auf das Volk Gottes zu sehen, als vielmehr ein göttlicher Zwang, ein Eingreifen Gottes, der eine Erneuerung der Kirche herbeiführen will.

Systematische Vertuschung

Was die Kirche besonders hart trifft, ist das Bekanntwerden der systematischen Vertuschung. Und wie sich zeigt, ist das Versagen bzw. das Fehlverhalten der kirchlichen Verantwortlichen in dieser Hinsicht tatsächlich gravierend. Der Stein kam 1994 ins Rollen. Damals hatte der irische Ministerpräsident Albert Reynolds (1932-2014) einen pädophilen Priester vor der staatlichen Strafverfolgung in Schutz genommen. Dieser Versuch aber brachte ihn selbst zu Fall. Er musste sein Amt aufgeben und zurücktreten.

Von hier aus spannt sich der Bogen bis zum jüngst veröffentlichten Bericht der „Grand Jury“ in Pennsylvania. Mehrere Jahre hindurch hatte die Justizbehörde sechs Bistümer geprüft und nun die erschütternde Dokumentation über den jahrzehntelangen Missbrauch an etwa 1000 Kindern vorgelegt. In der Zwischenzeit hatte die Welle des Skandals viele katholische Länder in der ganzen Welt erfasst. Neben Ländern wie Australien und Chile war besonders auch Deutschland betroffen.

In diese angespannte Situation hinein publizierte Erzbischof Carlo Maria Viganò (geb. 1941), der von 2011 bis 2016 als Apostolischer Nuntius in den USA eingesetzt war, eine elfseitige Enthüllungsschrift. Darin bringt er den Missbrauchsskandal mit einem Netz von homosexuellen Beziehungen unter Klerikern in Verbindung, das bis hinauf in die höchsten Ränge der Kirche reiche. Von daher erkläre sich auch das unglaubliche Versagen der Hirten bei der Aufklärung des Missbrauchsskandals.

Als Zeitpunkt für die Veröffentlichung des Schreibens wählte Viganò den Abend des 25. August 2018, als Papst Franziskus im Rahmen seiner Irland-Reise gerade beim Weltfamilientreffen in Dublin eingetroffen war. Dies war von Viganò wohl beabsichtigt, denn am Ende seiner Dokumentation forderte er den Papst direkt zum Rücktritt auf. Auch ihm wirft er Vertuschung vor.

Viganò legt mit seinem Hinweis auf das Problem der Homosexualität unter Priestern und Bischöfen den Finger in eine Wunde, die ohne Zweifel existiert. Wir stehen einem Krebsgeschwür im geheimnisvollen Leib Christi gegenüber, an dem die Kirche schon seit langem leidet und das sie an den Rand ihrer Existenz treibt. Zukunft und Erneuerung der Kirche hängen entscheidend davon ab, inwieweit es ihr gelingt, von diesem Geschwür befreit zu werden. Wenn man in diesem Zusammenhang auch von einem Sumpf spricht, der kaum trocken gelegt werden kann, so ist dies sicherlich nicht übertrieben. Doch ist die Hoffnung auf Heilung und Reinigung der Kirche nie aussichtslos, denn nach unserer Glaubensüberzeugung besitzt sie einen sakramentalen und göttlichen Charakter.

Reaktionen auf den Bericht von Viganò

Der konservative Flügel der katholischen Kirche in den USA ist sehr stark. Ihm ist auch maßgeblich der kirchliche Aufschwung in den letzten Jahrzehnten zu verdanken. Die heftigen Reaktionen von dieser Seite sind mehr als begreiflich. Vor allem die gläubigen Laien sind erschüttert und von ihren Hirten maßlos enttäuscht. Sie verlangen Konsequenzen und eine unverzügliche Säuberung. Der Stall muss ausgemistet werden, so lautet ihre Forderung. Und da ihr Vertrauen in die Oberhirten erschüttert ist, wird der Ruf nach einem unabhängigen Laiengremium immer lauter. Von ihm müsse die Überprüfung der Vorwürfe vorgenommen werden. Der Vatikan sollte dem Gremium dafür die notwendige Vollmacht übertragen, und zwar auch mit der Möglichkeit, über Bischöfe zu befinden.

Die meisten Reaktionen auf die Enthüllungen von Erzbischof Viganò drehen sich jedoch um die Rücktrittsforderung an den Papst. Weltweit scheinen all diejenigen, welche aus inhaltlichen Gründen mit dem derzeitigen Pontifikat Schwierigkeiten haben, die Vorgänge um Erzbischof Viganò nützen zu wollen, um ihrer Forderung nach einem Rückzug des Papstes Nachdruck zu verleihen.

Ein solcher Schatten fällt auch auf das Dossier von Erzbischof Viganò selbst. Ich bin überzeugt, dass er der Sache mehr gedient hätte, wenn er nicht sofort Dutzende von Hirten beim Namen genannt und auf die Rücktrittsforderung an den Papst verzichtet hätte. Für sein so wichtiges Anliegen, nämlich an der Aufdeckung der homosexuellen Netzwerke in der Kirche mitzuwirken, hat sein Zeugnis dadurch an Glaubwürdigkeit verloren. Dies ist bedauerlich. Auch gibt es darin weitere Details, die denjenigen stutzig machen, der sich einfach die Frage stellt, wie es denn nach einer solchen Publikation weiter gehen sollte.

Stellungnahme von Papst Franziskus

Die einzige Stellungnahme, die Papst Franziskus bislang zum Zeugnis von Erzbischof Viganò abgegeben hat, war ein kurzer Kommentar im Flugzeug auf dem Heimweg von Irland nach Rom. Man muss sich vorstellen, dass das Schreiben gerade einen Tag alt war und der Papst eine anstrengende Apostolische Reise hinter sich hatte. Jedenfalls kann seine Antwort überhaupt nicht als ausweichend oder abweisend beurteilt werden, auch nicht als Schweigen.

Der Papst war zunächst von Paddy Agnew vom „Sunday Independent“ nach seiner Haltung zu Untersuchungsgerichten für Bischöfe gefragt worden. Er antwortete sehr ausführlich und erklärte, in welcher Weise er sich nachdrücklich für solche Gerichte einsetze, welche das Beweismaterial auswerten und auch Bischöfe zur Rechenschaft ziehen bzw. bestrafen müssten. Danach sprach ihn Anna Matranga von CBS direkt auf das Thema Missbrauch, den ehemaligen Kardinal McCarrick und das Schreiben von Erzbischof Viganò an.

Ich möchte die Antwort in voller Länge wiedergeben. Papst Franziskus sagte: „Eine Sache: Ich würde es vorziehen – auch wenn ich Ihre Frage beantworte – dass wir zuerst über die Reise sprechen und dann über andere Themen… Aber ich antworte. Ich habe diese Erklärung heute Morgen gelesen. Ich habe sie gelesen, und ich muss Ihnen aufrichtig sagen, Ihnen und allen Interessierten unter Ihnen: Lesen Sie die Mitteilung aufmerksam durch und bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil. Ich werde dazu kein Wort sagen. Ich glaube, dass das Kommuniqué für sich selbst spricht, und Sie haben ausreichend journalistische Fähigkeit, Ihre Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist ein Akt des Vertrauens: Wenn einige Zeit vergangen ist und Sie Ihre Schlussfolgerungen gezogen haben, werde ich vielleicht sprechen. Aber ich möchte, dass Ihre berufliche Reife diese Arbeit erledigt: Es wird Ihnen guttun, wirklich. Dabei möchte ich es belassen.“

Wie sehr wurde der Papst aufgrund dieser Antwort attackiert und beschimpft! Ich halte diese Lawine an Verurteilungen für sachlich nicht gerechtfertigt und für völlig ungerecht. Der Papst kann meines Erachtens zum Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigungen gar nichts sagen, bevor nicht jeder einzelne Name und jeder einzelne Fall wirklich geprüft worden sind. Doch bringt er unverhohlen zum Ausdruck, dass er ein Interesse an Aufklärung hat. Angesichts der Vertuschungen scheint er die Hoffnung darauf zu setzen, dass die Öffentlichkeit und insbesondere die Medien dabei mithelfen, die verborgenen Missstände ans Tageslicht zu bringen.

Bedauern und Scham

Dass die Sprecher des Vatikans und der Bischofskonferenzen, aber auch zahlreiche Bischöfe in persönlichen Stellungnahmen ihre Beschämung über die begangenen Verbrechen zum Ausdruck bringen und den Opfern ihr Bedauern und Mitgefühl bekunden, ist sehr zu begrüßen. Es hat nichts mit Selbstgerechtigkeit zu tun, sondern ist eine Pflicht der Kirche, um das zerstörte Vertrauen wieder aufzubauen. So hat beispielsweise Bischof Dr. Stefan Oster (Passau) eine hervorragende, einfühlsame und ansprechende Videobotschaft zu diesem Thema ins Netz gestellt.

In Irland bedauerte der Papst darüber hinaus ausdrücklich das Versagen der kirchlichen Autoritäten im Umgang mit den Missbrauchsskandalen, bezeichnete sie als „abscheuliches Verbrechen“, versicherte, das Fehlverhalten der Kirche bleibe „eine Quelle des Schmerzes und der Scham für die katholische Gemeinschaft“, und bat alle Betroffenen im Namen der Kirche um Vergebung. Außerdem traf er sich mit acht Missbrauchsopfern zu einer persönlichen Begegnung. Dennoch wurde in den Medien berichtet, den Opfern hätte dies nicht gereicht. Sie hätten ein Eingeständnis des Papstes für seine persönliche Verantwortung und Mitschuld erwartet.

Der Vatikan hat nach den Berichten aus den USA versprochen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und Reformen einzuleiten, um Missbrauch durch Geistliche künftig zu verhindern. Nun hat Papst Franziskus alle Vorsitzenden der Bischofskonferenzen nach Rom eingeladen, um das Thema ganz neu anzugehen. Auf diese Ankündigung erntete der Papst wiederum fast ausschließlich ungehaltene Reaktionen. Er zeige keinen Willen, die Thematik ehrlich aufzuarbeiten. Also müsse er selbst in die Verbrechen verstrickt sein. So zumindest lautet der Grundtenor in den Kommentaren verschiedenster Couleur. Das Haus stehe in Flammen, da könne die Feuerwehr nicht bis Februar warten. Dann sei es zu spät, dann sei die Kirche bereits abgebrannt.

Eines ist klar: Der Papst kann nicht in kürzester Zeit die Missstände beheben, die sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt haben. Der derzeitige Brand besteht nicht so sehr im Skandal selbst, sondern in der Verunsicherung unter den Katholiken, die zu einer immer tieferen Spaltung der Kirche führt. Jeder, der nun weiter Öl ins Feuer gießt und die Stimmung gegen Papst Franziskus medial anheizt, sollte sich seiner historischen Verantwortung bewusst sein. Wenn ein Treffen mit den Vorsitzenden der Bischofskonferenzen überhaupt etwas bewirken soll, so muss es jedenfalls gut vorbereitet werden. Und dazu braucht es Zeit.

Notwendige Schritte

Schon 2013 hat Papst Franziskus ebenfalls bei einer Presskonferenz im Flugzeug eine sehr treffende Stellungnahme zum gesamten Problemfeld abgegeben. Es war auf dem Rückflug vom Weltjugendtag in Rio de Janeiro.

Der Papst erklärte aus dem Stegreif, dass zunächst eine klare Unterscheidung getroffen werden müsse. Ich möchte sie mit meinen eigenen Worten zusammenfassen.

Es gebe Missbrauch, der ein Verbrechen darstelle. Diese Vergehen müssten geahndet und bestraft werden, Daran gebe es keinen Zweifel.

Es gebe aber auf diesem Gebiet auch einfach Sünden, welche auf dem Weg der Versöhnung mit Gott überwunden werden müssten – mit ehrlicher Reue und Beichte. So könne man Vergangenes hinter sich lassen und wieder frei in die Zukunft blicken.

Was homosexuelle Neigungen anginge, so müssten sich die Betroffenen darum bemühen, den Willen Gottes zu erfüllen. Darüber hinaus ermahne der Katechismus der Katholischen Kirche dazu, solche Menschen nicht zu diskriminieren.

Schließlich gebe es Lobbies wie die Gay-Lobby, welche von der reinen Veranlagung bei einzelnen Personen zu unterscheiden seien. Und diese Netzwerke seien das eigentliche Problem. Dabei verglich er diese Lobby unter anderem auch mit der Lobby der Freimaurer.

Meines Erachtens hat der Papst allein schon mit dieser kurzen Stellungnahme gezeigt, dass er dem ganzen Problemfeld sehr aufmerksam gegenübersteht und die notwendigen Unterscheidungen klar im Blick hat. Denn nur, wer diese Fragen auseinanderhält, kann den Herausforderungen gerecht werden.

Keuschheit der Priester

An erster Stelle sehe ich in der heutigen Krise die Notwendigkeit einer eindeutigen „Option für die Keuschheit“. Priester sind zur Keuschheit berufen und dazu verpflichtet, sich um die Verwirklichung dieses Ideals zu bemühen. Andernfalls sind sie vom Dienst am Reich Gottes abgelenkt und in ihrem Wirken für das ewige Heil der Seelen unfruchtbar. Die Kirche sollte angesichts der Missstände zu einer aufrichtigen und entschlossenen Umkehr im Klerus aufrufen und die Dinge beim Namen nennen, angefangen von der Masturbation, über die Affären von Priestern mit Frauen bis hin zur ausgelebten Homosexualität.

Dieser Herausforderung muss sich die Kirche insbesondere bei der Priesterausbildung stellen. Man darf junge Menschen angesichts der heutigen medialen und gesellschaftlichen Versuchungen nicht allein lassen, sondern muss die Thematik offen und intensiv behandeln. Priester, die in einer sexuellen Abhängigkeit stehen oder einer sexuellen Sucht verfallen sind, bedürfen einer pastoralen Betreuung, die auch professionelle Heilung mit einschließt. Oft leben Priester mit ihrer Not in Angst und Verzweiflung. Sie einfach nur in eine psychiatrische Behandlung zu verweisen, wäre eine Kapitulation. Nach Missbrauch reicht es nicht, die Täter nur im Gefängnis einzusperren und sich die Hände in Unschuld zu reiben. Vielmehr sind solche Priester umso mehr auf pastorale Hilfe, Mitgefühl und menschliche Unterstützung angewiesen.

Nur ein solches Signal, nämlich die klare Entscheidung für einen priesterlichen Lebensstil in Reinheit und Keuschheit, kann die Glaubwürdigkeit der Kirche wiederherstellen und das Vertrauen der Gläubigen zurückgewinnen. Anders können auch die Jugendlichen und Eheleute nicht motiviert werden, ein Leben nach der christlichen Moral zu führen.

Umgang mit Homosexualität im Klerus

Sowohl Benedikt XVI. als auch Franziskus haben erklärt, dass größte Vorsicht geboten ist, Kandidaten mit homosexuellen Neigungen zum Priestertum zuzulassen. Indem die Kirche klare Bedingungen vorgibt, was die Enthaltsamkeit betrifft, so ist wenigstens eine Hürde auf dem Weg zur Priesterweihe aufgestellt. Doch hat die Kirche keinerlei Maßnahmen ergriffen, um aktiv gelebte Homosexualität unter Priestern irgendwie zu ahnden. Ihr fehlt jegliches Konzept, offen auf dieses Problem zuzugehen und deutlich zu machen, dass ein solcher Lebensstil mit dem priesterlichen Dienst unvereinbar ist.

Es reicht nicht, sich vom Missbrauch an Minderjährigen zu distanzieren und dagegen vorzugehen. Dieses Problem nehmen inzwischen ja auch die weltlichen Behörden in die Hand. Nun geht es darum, klare Wege zu weisen, wo die Kirche von der Gesellschaft keine Unterstützung erfährt. Im Gegenteil, was die Homosexualität betrifft, muss sich die Kirche mit ihrer Linie vollkommen gegen den Mainstream stellen.

Doch nur, wenn die Kirche es wagt, das Ideal der Keuschheit wieder ohne Kompromisse zu propagieren und zu verwirklichen, kann auch der Zölibat seinen tiefen Sinn entfalten und zum Leuchten bringen. Natürlich hängt der Zölibat mit den Problemen Missbrauch und Homosexualität zusammen. Ohne klare Entscheidung für die Enthaltsamkeit kann der Zölibat zum Einfallstor für Fehlhaltungen und Missstände werden. Auch der Priestermangel verführt dazu, die Latte niedriger zu halten und die Augen vor den Problemen zu verschließen. Doch ist nicht der Zölibat für die Verirrungen wie Missbrauch verantwortlich, sondern der Kompromiss mit der Sünde.

In diesem Zusammenhang muss die Kirche aber auch endlich zugestehen, dass die tolerierte Homosexualität im Klerus der Hauptgrund für pädophile Verfehlungen darstellt. Wird dieses Problem nicht ernst genommen, sind alle Ankündigungen und Zusagen, konsequent gegen Missbrauch vorgehen zu wollen, in den Wind gesprochen.

Netzwerke und Gay-Lobby

Gelebte Homosexualität im Klerus macht alle, die sich jemals auf eine intime Beziehung eingelassen haben, voneinander abhängig. Die Betroffenen sind sozusagen in eine Art Schicksalsgemeinschaft „verbannt“. Sie beginnen sich gegenseitig zu schützen und natürlich auch zu unterstützen. Dass dadurch Netzwerke entstehen, liegt in der Natur der Sache. Solidarität unter Betroffenen ist geradezu unausweichlich. Doch können diese Verbindungen auch schamlos ausgenützt werden. Die Gefahr besteht dann, wenn ein Betroffener innerkirchlich Macht besitzt und beispielsweise Posten an entsprechende Leute vergibt. Auf dem Weg der Homosexualität nehmen aber auch Kräfte, die außerhalb der Kirche stehen und ihr sogar feindlich gesinnt sind, Einfluss auf die kirchliche Hierarchie. Genau vor dieser Situation steht die Kirche in der heutigen Zeit. Und es ist nicht verwunderlich, dass sie in vieler Hinsicht gelähmt ist und fehlgleitet wird.

Die Enthüllungen von Erzbischof Viganò haben einen Strukturmangel in der Kirche offenbar gemacht. Wie kann der Papst, der allein die Vollmacht hat, homosexuelle Bischöfe zu disziplinieren, mit diesen Problemen fertig werden? Wie kann eine Glaubenskongregation all diese Fälle bewältigen? Die Kirche muss hier zuverlässige Wege finden bzw. Einrichtungen schaffen, die mit den notwendigen Mitteln und Kompetenzen ausgestattet sind. Eine Weichenstellung dafür könnte auf der Versammlung im Februar vorgenommen werden.

Papst Franziskus aber tut gut daran, dass er bei der Aufarbeitung dieser Missstände sehr auf Gerechtigkeit bedacht ist. Er will unter allen Umständen verhindern, dass eine Lawine an falschen Verdächtigungen losgetreten wird, unter der auch unschuldige Priester begraben werden könnten. In diesem Zusammenhang verurteilt er so häufig das „Geschwätz“, welches töten könne. Auf Papst Franziskus kommt eine riesige Aufgabe zu, die er nur bewältigen kann, wenn er vom Vertrauen und Gebet der Gläubigen getragen wird.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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Der Papst zur Gay-Lobby

Auf dem Rückflug vom 28. Weltjugendtag in Rio de Janeiro gab Papst Franziskus im Flugzeug eine Presskonferenz. Von Ilze Scamparini wurde er gefragt, was er in der Sache „Mons. Ricca“ unternehmen wolle und wie er die ganze Frage der Gay-Lobby anzugehen gedenke. Nachfolgend die vollständige Antwort des Papstes, die er bereits am 28. Juli 2013 gab und aus der immer wieder zitiert wurde.

Von Papst Franziskus

Was Mons. Ricca betrifft: Ich habe getan, was das Kanonische Recht zu tun vorschreibt, nämlich die Investigatio previa durchgeführt. Und aus dieser Investigatio geht nichts von dem hervor, was ihm vorgeworfen wird; wir haben nichts dergleichen gefunden. Aber ich möchte dazu noch etwas anderes sagen: Ich sehe, dass man häufig in der Kirche – außerhalb dieses Falles und auch in diesem Fall – zum Beispiel nach „Jugendsünden“ sucht und das dann veröffentlicht. Nicht nach Straftaten, die Straftaten sind eine andere Sache – der Missbrauch von Minderjährigen ist eine Straftat. Nein, nach Sünden. Aber wenn ein Mensch – Laie, Priester oder Schwester – eine Sünde begangen und sich dann bekehrt hat, vergibt sie der Herr, und wenn der Herr vergibt, dann vergisst er, und das ist für unser Leben wichtig. Wenn wir zum Beichten gehen und wirklich sagen: ,Darin habe ich gesündigt‘, dann vergisst der Herr, und wir haben nicht das Recht, nicht zu vergessen, denn dann laufen wir Gefahr, dass der Herr seinerseits unsere [Sünden] nicht vergisst. Das ist eine Gefahr. Dies ist wichtig: eine Theologie der Sünde. Oftmals denke ich an den heiligen Petrus: Er hat eine der schlimmsten Sünden begangen, nämlich Christus zu verleugnen, und mit dieser Sünde haben sie ihn zum Papst gemacht. Darüber müssen wir sehr nachdenken. Doch, um zu Ihrer konkreteren Frage zurückzukehren: In diesem Fall haben wir die Investigatio previa durchgeführt, und wir haben nichts gefunden. Soviel zur ersten Frage.

Dann sprachen Sie von der Gay-Lobby. Ach, es wird so viel über die Gay-Lobby geschrieben. … Ich glaube, wenn jemand sich einem solchen Menschen gegenüber sieht, muss er das Faktum, „Gay“ zu sein, von dem Faktum unterscheiden, daraus eine Lobby zu machen. Denn die Lobbies – alle Lobbies – sind nicht gut. … Wenn einer Gay ist und den Herrn sucht und guten Willen hat – wer bin dann ich, ihn zu verurteilen? Der Katechismus der Katholischen Kirche erklärt das sehr schön, aber er sagt: Halt! Diese Menschen dürfen nicht an den Rand gedrängt werden, sie müssen in die Gesellschaft integriert werden. Das Problem liegt nicht darin, diese Tendenz zu haben, nein, wir müssen Brüder und Schwestern sein, denn das ist nur ein Problem von vielen. Das eigentliche Problem ist, wenn man aus dieser Tendenz eine Lobby macht: Lobby der Geizhälse, Lobby der Politiker, Lobby der Freimaurer – so viele Lobbies. Das ist für mich das schwerwiegendere Problem. Und ich danke Ihnen sehr, dass Sie diese Frage gestellt haben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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Mit dem „Bus der Meinungsfreiheit“ auf Deutschlandtour vom 8.-15. September 2018

Für eine kindgerechte Sexualaufklärung

Was das junge Team mit ihrer Bus-Aktion geleistet hat, verdient höchste Achtung. Wie nötig hat unsere Gesellschaft ein solches Zeugnis! Der spannende Bericht von Hedwig v. Beverfoerde, der Sprecherin des „Aktionsbündnisses für Ehe & Familie – DemoFürAlle“, über die Tour vom 8.-15. September 2018 durch Deutschland ist aber auch eine Offenbarung über den Geist, der in unserer Gesellschaft herrscht und von dem die sog. „Linke“ bestimmt ist. Dass diese extremen und gewaltbereiten Kräfte staatlich gefördert werden, ist eine Schande und ein Skandal. Auch scheint es notwendig zu sein, auf den Pädophilenaktivisten Helmut Kentler hinzuweisen, der unsere staatliche Sexualaufklärung geprägt hat.

Von Hedwig v. Beverfoerde

Acht Tage unterwegs durch Deutschland mit insgesamt 25 engagierten jungen Menschen im „Bus der Meinungsfreiheit“ – eine grandiose Erfahrung! Nachdem wir als DemoFürAlle bereits 2017 zusammen mit CitizenGO für die Ehe als Lebensbund von Mann und Frau auf Tour gegangen waren, hatten wir uns in diesem Jahr die Aufklärung über die zunehmend schamverletzende Sexualerziehung in KiTas und Schulen auf die Fahnen geschrieben.

Unser knallig orangefarbener Bus trug als rollendes Plakat weithin lesbar die Botschaften: „Stoppt übergriffigen Sex-Unterricht! Schützt unsere Kinder!“, „Kinderseelen sind zart. Aufklärung ist Elternrecht.“ Damit erregten wir in allen acht Städten, wo wir Station machten, die volle Aufmerksamkeit von Passanten, Unterstützern und Gegnern. Und Letztere waren nicht zimperlich: „Nazis raus! Nazis raus!“ klang es bereits von weitem in Regensburg, unserer ersten Station. Dort hatten die Einheizer der Gegendemonstration ganze Arbeit geleistet: Rund zweihundert Personen aus dem grünen und linken Milieu, die üblichen Verdächtigen von Gewerkschaften, kirchlicher Jugendarbeit, Parteijugend und die Aktivisten aus der LGBTI-Szene hingen an den Gittern, die die Polizei zum Schutz unserer Bus-Crew aufgestellt hatte. Aus vollem Hals wurde gegrölt, geschrien und mit Trillerpfeifen gepfiffen. Ziel: unsere Aufklärungskampagne für eine kindgerechte Sexualaufklärung sollte mundtot gemacht werden. Eben deshalb heißt unser Bus „Bus der Meinungsfreiheit“: Wir machen darauf aufmerksam, dass es inzwischen nur noch unter Polizeischutz möglich ist, sich öffentlich für Ehe und Familie und für den Schutz der Kinder vor gender-ideologischer Indoktrinierung und Sexualisierung in der Schule einzusetzen.

Auf dem Domplatz in Regensburg wurden wir von der Polizei so gut geschützt, dass Interessierte und Unterstützer unserer Aktion Schwierigkeiten hatten, zu uns durchzudringen, um die Reden von Karin Maria Fenbert (ehemals Kirche in Not) und mir anzuhören. Dennoch schafften es rund fünfzig Personen bis zum Bus. Erfreulicherweise war darunter auch Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, die es sich nicht nehmen ließ, sich hinter unsere Motto-Plakate zu stellen. Die Pressefotografen reagierten begeistert, dass hier die Fürstin wieder einmal für eine Sache eintritt, die nicht dem Mainstream entspricht. Die Kameras hielten also kräftig „drauf“, die Fürstin wurde interviewt und wir konnten sicher sein, dass unser Anliegen einer kindgerechten Sexualaufklärung am nächsten Tag eine weitere Öffentlichkeit erreichte.

Deutlich lockerer lief es am zweiten Tag in Dresden vorm Zwinger. Die Polizei war präsent, sie zeigte den aufgehetzten Gegendemonstranten, wie sie sich zu benehmen hatten, und so konnten die jungen Leute unserer Bus-Crew mit Ihrer Überzeugungsarbeit beginnen. Zahlreich kamen Passanten vorbei und ließen sich aufklären. Sie erfuhren von uns, dass Uwe Sielert, der Begründer der sog. „Sexualpädagogik der Vielfalt“, in seinen pädagogischen Grundannahmen auf Helmut Kentler aufbaut. Kentler war in den 70er Jahren nicht nur ein gefeierter Sexualpädagoge sondern ein bekannter Pädophilenaktivist. Uwe Sielert, der heute im deutschsprachigen Raum monopolartig die Sexualpädagogik bestimmt, nannte seinen seinerzeit tief in pädophile Netzwerke verstrickten Lehrer, Helmut Kentler, der sich offen für die Straffreiheit „einvernehmlicher Sexualkontakte zwischen Kindern und Erwachsenen“ einsetzte, einen „väterlichen Freund“. Uwe Sielerts fragwürdige Vorstellungen von „kindlicher Sexualität“ und seine übergriffigen Empfehlungen zur „Aufklärung“ schon kleinster Kinder, gehören aber heute zu den Grundlagen dessen, was sämtliche Bundesländer unseren Kindern in KiTa und Schule zumuten. Das grenzt an seelischen Kindesmissbrauch, ist indoktrinierend und nicht wissenschaftlich, es verstößt gegen das Elternrecht und gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Sexualerziehung in der Schule. Dagegen protestieren wir und klären auf mit unserer Busaktion, mit einer neuen Kurzbroschüre für Eltern (kostenlos bestellbar unter www.elternaktion.de) und mit einer CitizenGO-Petition an die Kultusministerkonferenz: „Übergriffige „Sexualpädagogik der Vielfalt“ stoppen!“

In Dresden wagten sich nach und nach viele jugendliche Gegendemonstranten zu unserem Bus und es entwickelten sich spannende Einzelgespräche mit unseren jungen Team-Mitgliedern.

In Berlin, unserer 3. Station, hatten wir die „Pole Position“ mitten auf dem Potsdamer Platz. Unsere Aufklärungskampagne verlief ungestört. Zahlreiche Passanten kamen vorbei, die sich für unser Anliegen interessierten.

Es folgte Fulda. Dort hielt Cornelia Kaminski, Mutter, Lehrerin und CDL-Vorsitzende in Hessen, auf unserer Kundgebung eine mitreißende Rede zur Meinungsfreiheit und zum skandalösen hessischen Sexualerziehungslehrplan. Wir kamen mit vielen Menschen ins Gespräch. Unsere Botschaft kam an. Auch von Seiten der Kirche ließen sich einige Unterstützer blicken. Ein schöner, sonniger und erfolgreicher Tag. Dabei hatte im Vorfeld für Fulda eine ominöse Gruppierung aus Frankfurt namens „Hessen ist geil“ zum „Widerstand“ gegen unsere „intolerante“ und „diskriminierende“ Aktion aufgerufen. Dazu sollten möglichst viele in die Bischofsstadt fahren. Die Fahrtkosten, so wurde auf der Homepage dieses vom Land Hessen geförderten Vereins verkündet, werde der Verein übernehmen. Es waren dann letztlich nicht viele, die in Fulda auftauchten. Die Polizei hatte alles wunderbar im Griff.

Am 5. Tag Köln. Es war klar, dass uns dort ein heißer Budenzauber erwarten würde. Tagelang schon hatte der Kölner Stadtanzeiger die Krawallstörungen gegen unseren Bus der Meinungsfreiheit groß geschrieben. Entsprechend stark war das Sicherheitskonzept der Polizei in Köln. Unser Bus stand sonnenbeschienen auf dem Bahnhofsplatz gegenüber dem gewaltigen Kölner Dom. DER Hingucker für Tausende Menschen. Mit Sperrgittern waren wir rund sechs Meter von einer schreienden und zeternden Meute getrennt, die unsere mit doppelten Lautsprechern verstärkten Kundgebungsreden Gehör verhindern wollte. Vergeblich! Auch eine Drohkulisse aus Antifa, LGBTI-Aktivisten und Co. hielt die vernünftigen Menschen in der Domstadt nicht davon ab, sich bei uns zu informieren.

Wir fuhren weiter nach Wiesbaden, wo die Polizei die lautstarke Gegendemonstration in größerer Entfernung von uns hielt. Unsere Infoveranstaltung lief relativ unbehelligt ab. Später kam es noch zu einem schönen und intensiven Austausch unseres Teams mit Gegendemonstranten, die sich von ihren Einpeitschern losgelöst hatten, um sich von uns und unseren Argumenten ein eigenes Bild zu machen.

Am 7. Tag ging es zum nächsten „Hotspot“ in Stuttgart, dem „Geburtsort“ der DemoFürAlle. Dort wurden wir von unseren Gegnern mit dem größten Widerstand empfangen. Schließlich hatten wir 2014 hier mit unserem breiten bürgerlichen Bündnis den Bildungsplan der grün-roten Landesregierung zu Fall gebracht und die Politik ordentlich aufgemischt. Damit hatten wir der LGBTI-Lobby gewaltig in die Suppe gespuckt in ihrem Anliegen, die Kinder schon möglichst früh und unbemerkt via Schulpflicht zu indoktrinieren. Anlässlich unserer Busaktion hatte sich hier die größte „Gegen-Rechts-Demo“ seit 2015 mit über 1000 Teilnehmern zusammengerottet, wohlgemerkt gegen einen Bus mit 14 jungen Menschen an Bord, die sich für Ehe und Familie und gegen übergriffige Sex-Kunde einsetzen. Eine groteske Situation! Unser Bus wurde von sechs Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei und vorausfahrendem Motorrad in die Innenstadt eskortiert. Dort waren weit über 1000 Polizisten in voller Körperschutzausstattung im Einsatz, um uns und anwesende harmlose Bürger vor gewaltbereiten Gegendemonstranten zu schützen. Ein martialisches Schauspiel, das uns allerdings wenig geschreckt, sondern im Gegenteil befeuert hat, in Stuttgart umso stärkere Reden zum Schutz der Kinder und für die Meinungsfreiheit zu halten.

8. Tag: Wieder hatten wir Glück und der Himmel riss auf, als unser Bus auf dem Stachus in München vorfuhr. Sofort waren wir von Unterstützern und Interessierten umringt. Das Thema „Sexualaufklärung“ bewegt die Menschen. Sie sind interessiert am Geschehen in den Schulen. Wir präsentieren ihnen Beispiele aus schamverletzenden pädagogischen Schriften und übergriffigen Geschehnissen während des Sexualkundeunterrichts. Die Sprecherin unserer Initiative „Elternaktion Bayern“, Sabine Weigert, hält eine aufrüttelnde Rede. Gegendemonstranten beginnen mit Ihren „Argumenten“: Schreien, Pfeifkonzert, Schmähreden… Aber das ist egal: Sie lenken die Aufmerksamkeit vieler Passanten auf uns. Dort ist das Entsetzen wegen dieses „Benehmens“ groß. Und man versteht unsere Anliegen. So verteilen wir am Abschlusstag unserer Tour nochmals Hunderte Aufklärungsbroschüren und kommen mit vielen Menschen ins Gespräch.

Wir sind dankbar, dass unsere Aufklärungstour dank unterstützender Gebete und professioneller Polizeiarbeit relativ reibungslos stattfinden konnte und so erfolgreich war. Unser junges Team hat sich mit riesigem Engagement und Herzblut der inhaltlichen Auseinandersetzung auf der Straße gestellt und auch viele Kritiker zum Nachdenken gebracht. Allein das war schon alle Anstrengungen und Aufregungen wert. Wir kommen wieder!

www.bus-der-meinungsfreiheit.de
www.demofueralle.de
www.elternaktion.de  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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Gesetzentwurf ist Angriff auf Selbstbestimmung am Lebensende

Der Staat will über unsere Organe verfügen

Gesundheitsminister Jens Spahn will die Organspende auf eine neue gesetzliche Grundlage stellen. Er fordert eine Widerspruchsregelung und damit den Ausstieg aus der Freiwilligkeit der Organspende-Bereitschaft. Mechthild Löhr, die Bundesvorsitzende der „Christdemokraten für das Leben (CDL)“, nimmt nachfolgend zu den Vorschlägen Stellung. Sie weist den Gesetzentwurf aus verschiedenen Gründen vehement zurück und schlägt vor, schon jetzt anstelle eines Organspende-Ausweises die neue sog. „Life-Card“ bei sich zu tragen.

Von Mechthild Löhr

Direkt nach der Sommerpause hat der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn unerwartet zügig seinen Referenten-Gesetzentwurf zur Verbesserung der Organspende (GZSO) vorgelegt. Damit folgt er weitestgehend inhaltlich der in der Koalitionsvereinbarung bereits angekündigten Förderungsabsicht von Transplantationen, geht aber sofort darüber hinaus. Auch wenn die drohende Einführung der „Widerspruchslösung“ explizit weder im Gesetzentwurf noch im Koalitionsvertrag steht, soll sie nun eingebracht und fraktionsübergreifend als „Gewissensentscheidung“ möglichst im breiten Konsens durchgewunken werden. Dies wäre ein fundamentaler und gefährlicher Richtungswechsel, den die Christdemokraten für das Leben (CDL) entschlossen ablehnen.

Einerseits will der Gesundheitsminister den Kliniken und Ärzten deutlich mehr und höhere finanzielle und personelle „Anreizsysteme“ für Organentnahmen bieten. Andererseits aber soll auch gezielt ein massiver neuer Handlungsdruck aufgebaut werden. Denn bei allen potentiellen „Spendern“, das hieße jedoch dann tatsächlich bei allen (!) als hirntot deklarierten Patienten, soll lt. Gesetzentwurf zukünftig ausdrücklich seitens der Klinik begründet werden, warum dieser Patient jeweils im Einzelfall KEIN Organspender gewesen sei.

Zwei Tage nach der Erstveröffentlichung des Entwurfs setzt dann der Bundesminister nach und plädiert im völligen Gegensatz zu seiner früher veröffentlichten eigenen Position und der bisherigen Programmatik der Unionsparteien für einen weiteren völligen Paradigmenwechsel. Spahn will (wie überraschend auch die Bundesärztekammer im Mai 2018) nun hin zu einer Widerspruchslösung für alle Bürger. Diese würden damit dann – statt aus eigenem freiwilligen Entschluss zu individuellen Organ-„Spendern“ – ausnahmslos alle zu Organ-„Lieferanten“ und als solche ärztlicherseits behandelt und genutzt. Das gefährdet zukünftig vor allem solche Bürger, die nicht den entsprechenden Wissens- und Informationsstand haben, und sich dementsprechend bisher nicht explizit gegen einen Tod mit Organspende entschieden haben. Damit will der Bundesminister die Menschen offensichtlich zu einer sehr frühen persönlichen Entscheidung zwingen, die diese aus vielen Motiven bisher selbst nicht treffen wollten oder konnten.

Dieser neue gesundheitspolitische Kurswechsel ist in vielfacher Hinsicht eine besondere Provokation:

Damit würde sich unser Staat ein generelles Verfügungsrecht über jeden Bürger zur Fremdnutzung seiner Organe anmaßen, wie es seit vielen Jahrzehnten in Deutschland zu Recht völlig undenkbar war. Immerhin haben dank intensivster Werbung seitens der Krankenkassen und staatlich getragener medizinischer Einrichtungen bereits heute über 30% der Bürger freiwillig einen Organspenderausweis, was allein zeigt, wie überflüssig dieser radikale Vorstoß des Gesundheitsministers ist. Das derzeitig bei 1260 Intensivkrankenhäusern, die in Deutschland in der Lage sind, als hirntot erklärte Patienten bis zur Organtransplantationsoperation am Leben zu erhalten, nur 797 Organe erfolgreich transplantiert werden konnten, hat offensichtlich deutlich mehr mit der Organisation des gesamten Organhandels-Prozesses zu tun, als mit der mangelnden Bereitschaft der Bürger, selbstlos zum Schluss das eigene Leben auf dem OP-Tisch von Ärzten beenden zu lassen.

Auch wenn einige kleinere EU-Länder und Spanien bereits eine Form der Widerspruchsregelung praktizieren, hat sich Deutschland aus guten Gründen bisher immer dagegen verwahrt, Ansprüche des Staates an Leib und Leben seiner Bürger einzufordern. Auch persönliches Eigentum gehört nicht dann umgehend dem Staat, wenn der Sterbende keine andere Regelung getroffen hat.

Woher nimmt sich ein Parlament das Recht, über die Sterbestunde und Todesumstände seiner Bürger paternalistisch zu entscheiden, wenn sie vorher nicht aktiv „widersprochen“ haben? Nicht nur bei kirchlichen Mitgliedern und Instanzen, die die Sterbebegleitung in besonderer Weise achten und umsetzen, wird das drohende „Diktat“ der Widerspruchsregelung starken Protest auslösen. Es greift die persönlichen Freiheitsrechte jedes Bürgers gerade am Lebensende und in einer für die Familie und Nahestehende besonders beklemmenden Lage an. Sie würden in der schweren Situation, in der sie emotional einem Sterbenden beistehen wollen, ausnahmslos gezwungen, sich mit der drohenden Zulassung einer schnellen, drängenden Organtransplantation zu befassen. Auch in bildungsfernen Schichten und bei Bürgern aus anderen Kulturräumen dürfte diese neu anvisierte Staatsanmaßung wenig positive Resonanz auslösen, da viele Menschen erfahrungsgemäß ohnehin erst in dramatischen Notsituationen mit solchen Fragen überhaupt erstmals wirklich konkret konfrontiert werden.

Es wäre ein fatales und falsches Signal, das zukünftig jeden kranken Menschen am Lebensende ganz unmittelbar betreffen würde, wenn die nun von Minister Spahn neu geforderte „Widerspruchsregelung“ tatsächlich politisch durchgesetzt würde. Alle Bürger würden damit zu potentiellen Betroffenen. In einer sehr offenen und sicher höchst kontroversen politischen Auseinandersetzung muss endlich ehrlich über die zahlreichen ethischen, rechtlichen und medizinischen Gegenargumente aufgeklärt und gesprochen werden.

Gerade die Unionsparteien sollten sehr vorsichtig sein, diesen nun geplanten Richtungswechsel hin zur „Vergesellschaftung“ der Organe und der Förderung der zudem extrem teuren Transplantationsmedizin zu forcieren. Eine „Spende“ wäre es ja dann nicht mehr, sondern vermeintliche „Bürger-Pflicht“, der man nur durch klaren Widerspruch entkommen kann. Denn nicht nur in den Augen ihrer christlichen Mitglieder- und Wählerschaft läuft dies auf eine indirekte Entmündigung der Bürger hinaus, die bisher freiwillig und sicher aus guten Gründen trotz ständiger Appelle nur seltener spenden wollen. Statt bestehende Regelungen zu verändern und sinnvoller zu gestalten, werden hier die Bürger insgesamt vom Staat für die Optimierung seiner Transplantationspolitik in Haftung genommen.

Es ist zu hoffen, dass die mediale und politische Aufmerksamkeit, die dieser unerwartete Vorstoß ausgerechnet eines CDU- Ministers gesucht und gefunden hat, jetzt in eine lebhafte „Widerspruchs“-Debatte mündet. Vielleicht kommt der wachsende Ärger vieler Bürger über die beabsichtigte „Vergesellschaftung“ der Organe doch bei einer Mehrheit des Parlaments an. Die drohende Widerspruchsregelung werden wir als Christdemokraten für das Leben (CDL) im Interesse der Achtung von Freiheit und Selbstbestimmung gerade am Lebensende sehr kritisch und ablehnend begleiten.   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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Organspende, Transplantation & Hirntod

Nach den Regelungen des Transplantationsgesetzes ist in Deutschland Grundvoraussetzung für die Entnahme von Organen die Feststellung des Hirntodes.

Schon seit 1968 waren die Ärzte bestrebt, einen Zeitpunkt vor dem bis dahin allgemein akzeptierten Todeszeitpunkt (vollständiges, medizinisch irreversibles Erlöschen der Herztätigkeit und dauerhafter Stillstand des Blutkreislaufes) zu finden, der künftig für die Zwecke der Organspende als der „Tod des Menschen“ bezeichnet werden konnte. Das bedeutet, dass zwar noch nicht alle Lebensfunktionen – insbesondere Herz- und Kreislauftätigkeit – endgültig erloschen sind, dass aber wegen einer als irreversibel angesehen Schädigung des Gehirns und des Ausfalls seiner gesamten integrativen Funktionen das Sterben und damit der Todeseintritt unumkehrbar sind. Hirntote sind also nicht Tote, sondern eigentlich Sterbende. In der Fachwelt gibt es inzwischen massive Zweifel sowohl an der eindeutigen Diagnostizierbarkeit des Hirntodes als auch an der Gleichsetzung von Hirntod und Tod.

In der öffentlichen Diskussion über Organentnahme und Organtransplantation wird diese Problematik jedoch ausgeblendet bzw. falsch dargestellt. Auch im Zuge der Änderung des Transplantationsgesetzes im Jahr 2012 wurden die Bedenken der Fachwelt nicht erwähnt. Auf der Webseite der CDL finden sich weitere aufschlussreiche Informationen zum Download:

cdl-online.net/organspende-transplantation-hirntod/151

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Alternative zum Organspendeausweis: die neue Life-Card

Ab dem 16. Lebensjahr (!) werden alle Bürger regelmäßig von ihrer Krankenkasse angeschrieben und um das Ausfüllen eines Organspendeausweises gebeten. Wir raten seitens der CDL aus vielerlei Gründen davon ab, im Organspendeausweis die generelle, zudem noch international unterschiedlich ausgelegte Aussage „Ja, ich gestatte, dass nach der ärztlichen Feststellung meines Todes meinem Körper Organe und Gewebe entnommen werden“ anzukreuzen. Lesen Sie dazu unser Positionspapier und tragen Sie, auch sofern Sie sich selbst noch nicht entschieden haben, besser unsere neue LifeCard in der Brieftasche.

Erläuterungen zur LifeCard:

cdl-online.net/uploads/pdf/alternative_die-neue-lifecard.pdf

Download unter:

cdl-online.net/uploads/pdf/lifecard_kein-organspender.pdf

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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Geistliche Perlen aus dem Tagebuch von Dag Hammarskjöld

Die Welt zum Guten verändern

Dag Hammarskjöld (1905–1961) war ein großartiger Politiker, der sein Leben ganz aus dem christlichen Glauben heraus gestaltete. Es gelang ihm, seine tiefe Christusmystik mit seinem unermüdlichen politischen Engagement in Einklang zu bringen und für die Menschheit fruchtbar zu machen. Er stammte aus Schweden und gehörte der evangelisch-lutherischen Kirche an. Von 1953 bis zu seinem Tod 1961 war er der zweite Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er hinterließ ein spirituelles Tagebuch, das er „Vägmärken“„Wegmarken“ nannte. Unter dem Titel „Zeichen am Weg“ erschien es 1965 in der Verlagsgruppe Droemer Knaur, München, auf Deutsch. 1991 veröffentlichte der Kapuzinerpater Wilhelm Germann im Kanisius-Verlag, Fribourg/Schweiz, unter dem Titel „Wer sich Gottes Hand überlassen hat…“ Betrachtungen zu ausgewählten Texten aus dem Tagebuch. Dieses 96 Seiten umfassende Büchlein wurde nun vom Media Maria Verlag neu aufgelegt.[1] Einige Auszüge beleuchten den Einsatz Hammarskjölds, über den er selbst geschrieben hat: „Das Leben hat Wert nur durch den Einsatz – für andere.“

Von Wilhelm Germann OFMCap

Am 17. September 1961 fand Dag Hammarskjöld bei einem Flugzeugunglück den Tod. Als Generalsekretär der Vereinten Nationen (UNO) wollte er den blutigen Bürgerkrieg im Kongo – von 1971 bis 1997 Zaire – beenden. Vielleicht wurde er von denen getötet, denen er Frieden bringen wollte.

1905 in Schweden geboren, wurde Dag Hammarskjöld – wie sein Vater – Politiker. 1953 wählte die UNO ihn zum Generalsekretär, und 1957 wurde er erneut gewählt. Dieser schwierigen Aufgabe widmete er seine ganze Kraft bis zu seinem Tod. Es war die Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West, die Zeit der Entkolonialisierung und damit verbundenen Wirren in Afrika. Im Klima von Angst und Machthunger wusste Hammarskjöld, dass mit seiner Aufgabe kaum Erfolge zu ernten waren. So lesen wir in seinem Tagebuch: „Der Preis für den Einsatz des Lebens sind Schmähungen, und die tiefe Erniedrigung bedeutet jene Erhöhung, deren der Mensch fähig ist“ (108).

Dieses Wort gibt uns einen ersten Einblick in die Haltung seines Lebens. In seinem Tagebuch „Zeichen am Weg“, das nach seinem Tod gefunden wurde, lässt er uns erahnen, woraus er die Kraft für den Einsatz seines Lebens bis zur „tiefen Erniedrigung“ schöpfte und warum er diesen Weg als „Erhöhung“ zu sehen vermochte. Diese Kraft schöpfte er aus der Geborgenheit in Gott. In den eigenen Nöten und in den Anfeindungen von außen verdichtete sich im Leben Hammarskjölds immer mehr die Erfahrung: „Wer sich Gottes Hand überlassen hat, der steht den Menschen frei gegenüber: ganz frei, weil er ihnen das Recht gab, zu verurteilen“ (S. 53). Und diese Erfahrung wird zu einem staunenden Gebet: „Das Unerhörte – in Gottes Hand zu sein“ (S. 58).

„Mit der Liebe dessen, der alles weiß,
mit der Geduld dessen, dem das Jetzt ewig ist,
mit der Gerechtigkeit dessen, der niemals enttäuschte,

mit der Demut dessen, der alle Falschheit erfuhr“
(74)

Jesus betet für alle, die ihm auf seinem Weg folgen: „Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst … Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt“ (Joh 17,15.18). Die „Welt“, von der Jesus spricht, ist blind für das Leben. Diese „Welt“ meint, den Tod vergessen zu können, und will die Fragen nach dem wirklichen Leben betäuben mit Genuss, mit Macht, mit Besitz, mit Erfolg und Leistung. Diese „Welt“ meint, das Leben besitzen zu können, und sieht nicht, wie sie das Leben und die Welt als Schöpfung Gottes zerstört. Von der „Welt“ dieser Art dürfen wir nicht sein, aber wir sind in sie hineingesandt.

Hammarskjöld hat diese Spannung wahrgenommen und sich damit auseinandergesetzt. Wie kann eine Christin, ein Christ in dieser „Welt“ leben? „Leben, eingetaucht in das schwere Fluidum niedriger Menschlichkeit … Hüte dich vor der doppelten Gefahr: zu ertrinken oder ,obenauf zu schwimmen‘; dich sinken zu lassen, bis du sie gutheißt … oder deinen Standard zu halten im Vakuum der ,Überlegenheit‘.“ – Zwei Möglichkeiten scheinen sich anzubieten: zu ertrinken in der Selbstgenügsamkeit dieser Welt und all das gutzuheißen – oder in moralischer Überlegenheit sich vom Bösen und auch von allem Suchen wie unbeteiligt fernzuhalten. Hammarskjöld hält daran fest, dass keiner dieser beiden Wege gegangen werden darf, sondern eine neue Möglichkeit gesucht werden muss: „Wahrhaftig, selbst in dieser Lage noch sind ,Liebe und Geduld, Gerechtigkeit und Demut‘ die Bedingungen deiner eigenen Rettung“ (76). Wenn viele diesen Weg zu gehen wagen, fällt Licht in das Dunkel der Welt.

Alles Leben und Handeln, das diese Welt verändert, misst sich darum immer an „der Liebe dessen, der alles weiß“: Jesus Christus. Es ist die Liebe, die das Böse nicht gutheißt, doch auch die Menschen nicht verurteilt. Es ist die Liebe, die nach den Ursachen der Schuld fragt und einen neuen Anfang schenkt. Es ist die Liebe, die „nicht ihren Vorteil sucht. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand“ (1 Kor 13,5–7). Es ist die Liebe, die sich verwunden lässt, bis im anderen das Leben aufbricht.

Alles Leben und Handeln, das diese Welt verändert, misst sich an der „Geduld dessen, dem das Jetzt ewig ist“: Jesus Christus. Es ist die Geduld, die eine Veränderung auf das Gute hin nicht erzwingt, sich jedoch dafür einsetzt und warten kann in Hoffnung. Es ist die Geduld, die die eigene Schwachheit und Begrenzung annimmt und glaubt, dass Gott daraus Frucht wachsen lässt. Es ist die Geduld, die in der Hoffnung das schöpferische Wirken des Geistes Gottes mitten in dieser Welt sieht. Und diese Geduld lässt uns in der Kraft ebendieses Geistes füreinander und für die Welt leben.

Alles Leben und Handeln, das diese Welt verändert, misst sich an „der Gerechtigkeit dessen, der niemals enttäuschte“: Jesus Christus. Es ist die Gerechtigkeit Jesu, der immer auf der Seite jener steht, die unter der Ungerechtigkeit leiden. Keinen von diesen hat er enttäuscht. Die Gerechtigkeit Jesu nimmt uns mit, dorthin, wo das Recht gebrochen und die Würde der Menschen verletzt wird, damit heilendes Licht hineinfällt. So geht „deine Gerechtigkeit dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach“ (Jes 58,8).

Alles Leben und Handeln, das diese Welt verändert, misst sich an „der Demut dessen, der alle Falschheit erfuhr“: Jesus Christus. Es ist die Demut, die in aller Ablehnung an der Wahrheit festgehalten hat, nämlich dass wir einzig von der Liebe Gottes, des Vaters, leben. Es ist die Demut, die sich nicht anpasst, sich aber auch nicht überhebt über andere, sondern das Gleichgewicht einzig in Gott sucht. „Lob und Tadel, die Winde von Erfolg und Misserfolg blasen spurlos über dieses Leben hinweg und ohne sein Gleichgewicht zu erschüttern. – Dazu hilf mir, Herr“ (93).

„Gib uns einen reinen Geist,
damit wir dich sehen,
einen demütigen Geist,

damit wir dich hören,
einen liebenden Geist,

damit wir dir dienen,
einen gläubigen Geist,

damit wir dich lieben“
(112)

Im Sommer 1961 setzte Dag Hammarskjöld sein ganzes Bemühen ein, im blutigen Bürgerkrieg des Kongo Frieden zu wirken. Im Ränkespiel der verschiedenen Politiker – auch die Großmächte mischten mit – handelte der Generalsekretär aus der Kraft lebendigen Betens. In jenen Tagen gibt er Zeugnis von seinem Beten: „Gib uns reinen Geist, damit wir dich sehen …“ Es ist sein lebendiger Glaube, dass Menschen in ihrem Gezänk, in ihrem Machtstreben einander nicht mehr sehen, wenn sie nicht bitten, Gott zu sehen – dass Menschen einander nicht mehr anhören, wenn sie nicht auf Gott hören – dass Menschen einander nicht mehr dienen, wenn sie nicht Gott dienen – dass Menschen in Wirklichkeit nicht mehr leben, wenn sie nicht das Leben von Gott in Jesus von Nazareth leben. Wir Menschen leben buchstäblich am Leben vorbei, wenn wir nicht mit einem reinen Geist, mit einem demütigen Geist, mit einem liebenden Geist und mit einem gläubigen Geist uns von Gott empfangen und daraus füreinander zur Gabe werden.

Je mehr wir um diesen Geist Gottes bitten, desto größer und dichter wird unser Leben. Jahre zuvor hatte Hammarskjöld an sich selbst erfahren, wie unfruchtbar das Leben mit all seinen Aktivitäten wird, wenn es nicht ganz aus Gottes Geist geleitet wird: „Es ist nicht genug, sich täglich unter Gott zu stellen. Darauf kommt es an, nur unter Gott zu stehen: Jede Zersplitterung öffnet die Tür für Tagtraum, Geschwätz, heimliches Selbstlob, Verleumdung“ (62). Das sind Worte, die mich aufhorchen lassen. „Es ist nicht genug, sich täglich unter Gott zu stellen.“ Was mag damit gemeint sein? Vielleicht das bloße Gewohnheitsgebet, das Gebet ohne Bereitschaft, sich in allem ganz Gott zu überlassen. Doch „darauf kommt es an, nur unter Gott zu stehen“ und darin, zu beten:

„Geheiligt werde Dein Name,
nicht der meine,

Dein Reich komme,
nicht das meine,

Dein Wille geschehe,
nicht der meine“
(78).

Der Name Gottes wird geheiligt, wenn wir mit reinem, klarem Geist Gott sehen lernen in den Menschen, in allen Dingen und allen Ereignissen. Noch mehr: Wenn wir aus der Kraft des Geistes Gottes uns einsetzen, dass der Klang des Namens Gottes in jedem Menschen, in allen Geschöpfen und in allen Ereignissen wie ein Lied erklingt, dass sein Name „Vater unser“ als mütterlich schenkendes Leben uns alle verbindet. Der Name „Vater unser“ über uns und in uns allen hebt alle Unterschiede von Rang und Bedeutung, von Angesehenen und Namenlosen auf.

Das Reich Gottes kann bei uns ankommen, wenn wir mit einem demütigen Geist das Wort des Vaters anhören, wenn wir uns unter dieses Wort beugen, weil es allein Geist und Leben schenkt (vgl. Joh 6,63). Das Reich Gottes kann bei uns ankommen, wenn wir das persönliche Leben und das Handeln der Politik aus dem Geist Jesu, aus seinem Evangelium gestalten. Das Reich Gottes kann bei uns ankommen, wenn wir mit demütigem Geist Gottes Anwesenheit hören im Weinen eines Kindes, im Schmerz eines Leidenden, im Fragen eines Suchenden, im Glück von Liebenden … Gottes Reich kann bei uns ankommen, wenn wir mit liebendem Geist dem verborgenen Gott in Jesus Christus dienen – in dem Menschen, der uns jetzt braucht. Es ist der liebende Geist, der niemanden aufgibt und verurteilt. Wenn wir mit liebendem Geist ihm dienen in den Aufgaben von heute, dann wird „Gottes Erscheinung handgreiflich“ (Franziskus).

Gottes Wille wird geschehen, wenn wir mit gläubigem Geist ihn leben, Jesus in seinem Leben mit uns. Der gläubige Geist macht sich fest am Weg Jesu und lässt uns immer neu bitten: „… dass alle dich sehen – auch in mir.“ Was wir hier erbitten, ist groß. Was ich tue, ist immer zu klein. Darum bleibt uns nur diese Bitte: „Erbarme dich unser, erbarme dich unseres Strebens, dass wir in Liebe und Glauben, Gerechtigkeit und Demut dir folgen mögen, in Selbstzucht und Treue und Mut und in Stille dir begegnen“ (112).

Anmerkungen:

• Die Zahlen in Klammern verweisen auf die entsprechenden Seiten in Hammarskjölds Tagebuch „Zeichen am Weg“, München 1965.
• Die wiedergegebenen Abschnitte finden sich in dem Buch „Dag Hammarskjöld - Geistliche Perlen aus seinem Tagebuch“ von Wilhelm Germann, Media Maria Verlag 2018, auf den Seiten 7f., 49-52, 81-85.   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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[1] Wilhelm Germann: Dag Hammarskjöld – Geistliche Perlen aus seinem Tagebuch, geb., 96 S., 12,50 Euro (D), 12,90 Euro (A), ISBN: 978-3-9454019-5-8, Verlag Media Maria, Tel. 07303-9523310, E-Mail: buch@ media-maria.de

Fatima und die junge Bundesrepublik (Teil 10)

Maria und die deutsch-französische Aussöhnung

Im zehnten Beitrag ihrer Artikelserie über den unerwarteten Aufstieg der jungen Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen Prof. Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea wiederum überraschende Zusammenhänge auf. Konrad Adenauer war ein überzeugter Katholik, der sich auch als Bundeskanzler öffentlich zu seinem Glauben und zur Kirche bekannte. Ebenso wenig machte er aus seiner Marienverehrung ein Geheimnis. Dass ihn aber eine vertrauensvolle Liebe mit der „Jungfrau der Armen“ von Banneux, einem kirchlich anerkannten Marienerscheinungsort im Bistum Lüttich, verband, ist so gut wie unbekannt. Das Ehepaar Koch weist nach, dass ein unübersehbarer Zusammenhang zwischen dem Friedensimpuls von Banneux und dem Bemühen Adenauers um die deutsch-französische Aussöhnung besteht. Die Früchte, welche dieser von Glaubenskraft getragene Einsatz hervorgebracht hat, können uns auch heute dazu ermutigen, den Lauf der Geschichte nicht einfach einer „Unausweichlichkeit“ zu überlassen, sondern das politische und gesellschaftliche Leben zielstrebig mitzugestalten. Wenige Menschen, die auf die Macht der unsichtbaren Welt vertrauen, können das Rad wenden und zum Segen für viele werden.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Schon seit Jahrzehnten folgen wir einer „Politik der Unausweichlichkeit“, beobachtet der amerikanische Historiker Timothy Snyder (geb. 1969).[1] Sie erzeugt das Gefühl, Geschichte könne sich „alternativlos“ nur in eine Richtung bewegen, hin zu immer mehr Liberalismus, Wohlstand und Globalisierung. Verlaufen Entwicklungen aber gesetzmäßig, spielen Geschichte und sich Entscheiden keine Rolle mehr; Parteiensysteme entstehen, in denen die einen den status quo verteidigen, während die anderen zu allem nur Nein sagen.

Snyder spricht von einem „intellektuellen Koma“, in das wir uns selbst versetzt hätten, aus dem wir aber brutal erwachen könnten: „Denn die Zeit ist aus den Fugen“, zitiert er Shakespeares Hamlet, „Fluch und Pein, / Muss ich sie herzustell‘n geboren sein!“. Wer dachte, am Ende werde notwendigerweise alles gut, glaubt in Zeiten des Umbruchs leicht, nichts könne mehr gut werden. Immer schon war dies Nährboden der rechten und linken Verführer, die mit Mythen und allzu einfachen Antworten ebenfalls den Blick auf die Geschichte verstellen, aus der wir doch lernen können, uns Herausforderungen zu stellen.

Nach den nationalsozialistischen Schrecken und dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs war wirklich eine Zeit vollständig „aus den Fugen“ geraten. Eine bis an die Zähne gerüstete Tyrannei stand an der Grenze des zerstörten Westdeutschlands, das viele Millionen Flüchtlinge aufnehmen musste. Die europäischen Nationen waren durch ihre blutige Vergangenheit zerrissen und sich feindlich gesinnt. Jedem wäre damals der Gedanke einer „Unausweichlichkeit“ absurd erschienen, die notwendigerweise zu Freiheit, Wiederaufbau und Wohlstand führt.

Ein Schritt zur Heilung, der in seiner Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann, war die Aussöhnung der jahrhundertelang entzweiten „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich. Wer führte zu diesem nicht erwarteten Erfolg, der die Weichen zum am längsten währenden äußeren und inneren Frieden der deutschen Geschichte stellte?

Unsere Liebe Frau von Banneux

Eine Spursuche führt in die belgischen Ardennen. Ein separat stehender Glockenturm gegenüber der Kapelle St. Michael im Marienwallfahrtsort Banneux südöstlich von Lüttich trägt eine Gedenktafel mit einem Reliefbild Konrad Adenauers (1876-1967). Sie erinnert an die Glocke „Konrad-Maria“, eine persönliche Spende Adenauers, die 1960 geweiht wurde. Die Architektur der Kapelle weckt den Gedanken an die 1716 geweihte Kapelle Mariä Heimsuchung in Adenauers Wohnort Rhöndorf.

Wie zutreffend diese Assoziation ist, erweisen weitere Nachforschungen. Im Januar 1956 besuchen die Kapläne Louis Jamin und Georg Jacob, zuständig für die deutschsprachigen Banneux-Pilger, Adenauer in seinem Rhöndorfer Wohnhaus. Sie überreichen ihm eine Statue der „Jungfrau der Armen“ aus Banneux und erläutern ihm die Bedeutung der Marienvisionen der zwölfjährigen Mariette Beco (1921-2011) im Jahre 1933, die 1949 vom Bischof von Lüttich anerkannt wurden. Adenauer tritt spontan der dort ins Leben gerufenen Gebetsvereinigung für den Weltfrieden bei. Bereits bei dieser ersten Begegnung wird der Bau einer Kapelle für die deutschen Pilger besprochen, die zugleich ein internationales Versöhnungszeichen werden soll. Auf Adenauers Wunsch wird sie dem Erzengel Michael, dem Schutzpatron Deutschlands, geweiht, der dort zugleich mit der hl. Jeanne d’Arc, der Patronin Frankreichs, verehrt wird. Vielleicht dachte Adenauer auch an die goldene Michael-Statue über dem Koblenzer Tor des kurfürstlichen Schlosses, dem südlichen Zugang nach Bonn, der Hauptstadt des freien Deutschlands.

Am Osterdienstag 1960, dem 19. April, erfolgt die Grundsteinlegung der Kapelle durch Adenauers Sohn, Prälat Paul Adenauer (1923-2007). Am Ende der Feier überreichen Kinder Paul als Geschenk für seinen Vater zwei kleine Fichten, wie sie für die Gegend von Banneux typisch sind. Eine dieser Fichten findet im Garten der Familie Adenauer ihren Platz, die andere am Fuß des Drachenfelsen im nahegelegenen Siebengebirge. Aus Pilgerspenden wird die Kapelle nach dem Vorbild der Rhöndorfer Marienkapelle errichtet und am Michaelstag des Jahres 1960 eingesegnet. 13.000 Pilger wohnen dieser Feier bei.

Die Katholiken Adenauer und de Gaulle

Offenbar war die deutsch-französische Aussöhnung für Adenauer nicht nur ein politisches, sondern auch ein religiös fundiertes Anliegen, das er im Gebet besonders auch Unserer Lieben Frau von Banneux ans Herz legte. Vor diesem Hintergrund gewinnt jenes berühmte Foto von Adenauer und Charles de Gaulle (1880-1970) vom Hochamt in der Kathedrale von Reims am 8. Mai 1962 vielleicht auch eine marianische Dimension. Als Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung geht es um die Welt:

„Denn ihre tiefste Weihe erhält die Versöhnung der beiden Völker […] in der Kathedrale von Reims“, erinnert sich Chefdolmetscher Hermann Kusterer (geb. 1928). „Ganz allein stehen die beiden aufrechten Männer an der rechten Chorseite, während der Erzbischof von Reims das Hochamt zelebriert. Stehen und sitzen und knien im Gleichklang, in würdiger Andacht und selbstverständlicher, männlicher Frömmigkeit. Bis hinunter in das breite Schiff der Kirche weht ein Hauch von Geschichte, den die beiden pfeilgeraden Gestalten dort oben verströmen und den der jahrhundertealte, aus den Niederungen des Alltags befreiende Ritus der Messe trägt."[2]

Besiegelt wird die Aussöhnung durch de Gaulles Deutschlandreise im September desselben Jahres. Auf der historischen Treppe vor dem Bonner Rathaus der Kurfürstenzeit spricht der Führer des Widerstands gegen die deutsche Besatzung Frankreichs frei und auf Deutsch unter tosender Freude: „Wenn ich Sie so um mich herum versammelt sehe, wenn ich Ihre Kundgebungen höre, empfinde ich noch stärker als zuvor die Würdigung und das Vertrauen, das ich für Ihr großes Volk, jawohl! – für das große deutsche Volk, hege. Sie können versichert sein, dass in Frankreich, wo man beobachtet und verfolgt, was jetzt in Bonn geschieht, eine Welle der Freundschaft in den Geistern aufsteigt und um sich greift. Es lebe Bonn! Es lebe Deutschland! Es lebe die deutsch-französische Freundschaft.“

Ob sich historisch fassbar ein Bogen von Banneux zu dem Hochamt von Reims und der Ansprache vor dem Bonner Rathaus schlagen lässt, muss offen bleiben. Ein gläubiges Herz bewegt es jedoch, dass Konrad Adenauer am 19. April 1967 stirbt, genau sieben Jahre nach der Grundsteinlegung der Kapelle in Banneux. Am 25. April wird Adenauer nach einem Staatsakt im Deutschen Bundestag und dem Pontifikalamt im Kölner Dom auf dem Rhöndorfer Waldfriedhof beigesetzt. Noch heute sind Besucher berührt, wenn sie vor dem Eingang die große Statue unserer Lieben Frau von Banneux sehen, die über Adenauers letzte Ruhestätte wacht.

Die Marienweihe Bonns 1715

Auf jeden Fall stand hinter dem Katholiken Charles de Gaulle in der Eingangshalle des Rathauses eine marmorne Muttergottes-Statue des Bildhauers Johann Franz van Helmont (1690-1756), der auch St. Maria in der Kupfergasse und andere Kölner Kirchen ausstattete. Noch heute steht sie dort und erinnert an die Weihe der Residenzstadt Bonn an Unsere Liebe Frau, die Erzbischof Joseph Clemens von Bayern (1671-1723) am Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens 1715 vornahm. Er habe in der Loreto-Kapelle „die stattschlissel auff den altar gelegt und hiermit selbe der allerseeligsten Mueter Gottes Schutz und schirmb unterworffen“.[3]

Im höheren Sinne „unausweichlich“ wird die liebenswerte, vom Krieg nicht schwer getroffene, vielleicht etwas verschlafene kurfürstliche Residenz- und preußische Universitäts- und Pensionärsstadt am Rhein unter Adenauer zur Bundeshauptstadt jener dynamischen Aufbruchsjahre, zum Symbol des neuen, demokratischen Westdeutschlands und des Wiederaufbaus eines zerstörten Landes. In der Marienstadt Bonn hatte Adenauer bereits als Präsident des Parlamentarischen Rates das Grundgesetz geprägt und unterzeichnet. Wie wesentlich darin christliches Gedankengut eingeflossen ist, lässt sich indirekt aus dem sozialdemokratischen Vorwurf ableiten, man habe eine Verfassung „im Schatten des Kölner Doms“ gemacht, und direkt aus Äußerungen der Apostolischen Delegatur, dass das Bestmögliche erreicht worden sei.[4]

Für uns, die wir vielleicht vor großen Umbrüchen stehen und aus dem „intellektuellen Koma“ erwachen sollten, wird die Geschichte zum Buch, das uns handeln und hoffen lehrt. Denn keine Zeit kann so sehr „aus den Fugen“ gehen, dass nicht Maria Wege weist. Denn „am Ende“ wird ihr Unbeflecktes Herz triumphieren, wie es sie in Fatima versprochen hat.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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[1] T. Snyder (2017): Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand, 8München 2018, 117ff.
[2] H. Kusterer (1995): Der Kanzler und der General, Stuttgart, 249.
[3] K. Graf (2002): Maria als Stadtpatronin in deutschen Städten des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Frömmigkeit im Mittelalter, München, 78f.
[4] D. u. W. Koch (2013): Konrad Adenauer. Der Katholik und sein Europa, Kißlegg 32018, 35.

Verrat – Verdammen oder verzeihen?

Zur Aufarbeitung der dunklen Geschichte des SED-Regimes

Joachim Jauer, langjähriger Fernsehkorrespondent in der DDR und Chronist der Revolutionen in Ost- und Mittel-Europa, hat ein aufrüttelndes Buch herausgegeben. In Romanform arbeitet er die Hinterlassenschaft der DDR-Diktatur auf. Als Titel wählte er das aus dem Griechischen stammende Wort „Sykophant“.[1] Im antiken Athen bedeutete es „Verräter, Denunziant, Spitzel“. So handelt seine Geschichte, der „reale Ereignisse und vergleichbare Geschehnisse“ zugrunde liegen, „vom Ende einer Stasi-Karriere“. „Der Verräter zeigt Reue. Zu spät für die Opfer? Noch heute leben die Mit-Täter, die Mit-Wisser, die Mit-Schweiger. Unter uns.“ Geschrieben hat Jauer sein neuestes Buch im „Jahr der Barmherzigkeit“, das Papst Franziskus 2016 ausgerufen hatte. Dabei versuchte er das Thema Barmherzigkeit auf die noch immer belastende Vergangenheit des SED-Regimes anzuwenden. Wie weit reicht Barmherzigkeit? Und wer hätte wem wann zu verzeihen? Die Geschichte vom Sykophanten-Denunzianten spielt in den letzten Jahren der DDR und dann fast 30 Jahre danach im Jahr 2016. Der nachfolgende Auszug von einer letzten Begegnung mit dem Denunzianten im Oktober 2016 in Berlin bildet eine Schlüsselstelle des Romans und wirft ein Schlaglicht auf die zahlreichen Aspekte, die Jauer in seine Abhandlung einbezogen hat.

Von Joachim Jauer

Hanne fragte, von wem denn der Brief stamme, der mit Einschreiben am Tag nach seiner Abreise zum Hamburger Kongress eingetroffen war. Den Brief hatte ein Kollege aus Fuhlrotts Institut vorbeigebracht, weil der Absender mit rotem Filzstift „Eilt!“ auf dem Kuvert vermerkt hatte. „Der ist von dem Mann mit dem Bart. Er heißt Werner Blaschke.“ „Und was will der von dir? Hattest du nicht die Nase voll von dem? Der Typ war doch bei der Stasi?“ „Richtig. Eigentlich hatte ich das Kapitel für mich abgeschlossen. Aber ich muss erst mal lesen, was er mir da geschickt hat.“ Der Brief enthielt einen mit Tinte handschriftlich verfassten Text und ein Papier, das wie ein gedrucktes Rundschreiben aussah. Das persönliche Anschreiben lautete:

 

„Sehr geehrter Herr Dr. Fuhlrott,

gestatten Sie, dass ich mich ein letztes Mal an Sie wende. Ich bedaure zutiefst, Sie über Wochen mit meinen Angelegenheiten belästigt zu haben, Ich versichere, dass dies nicht meine Absicht war. Ich war auch lange unsicher, ob ich mich Ihnen anvertrauen könnte. Mein Verhalten erklärt sich womöglich aus meiner Vergangenheit, entschuldigt wird es dadurch nicht.

Selbst, wenn Ihnen mein Auftreten merkwürdig bis widerlich (widerlich, so sagten Sie einmal!) erschienen ist, so bin ich dennoch dankbar dafür, dass ich Ihnen begegnen durfte. Denn Sie waren in all den Jahren, seit ich meine Vergangenheit bedenke und bereue, der Einzige, der mir, wenn auch zuerst neugierig, dann widerwillig zugehört hat. Ich darf nicht hoffen, dass Sie – gewissermaßen stellvertretend für alle, die ich verraten habe – mir verziehen haben. Vielleicht können Sie mir später einmal verzeihen, wenn die Zeit weiter, wie ich hoffe, Wunden heilt. Solange aber bleibe ich ungetröstet, allein mit meiner ekelhaften (ekelhaft, auch dieses Wort haben Sie gebraucht!) Rolle, die ich zu DDR-Zeiten gespielt habe. Niemand sonst hat mich angehört, aber alle haben mich verurteilt. Niemand schenkt mir eine Zeit der Bewährung. Ich will gar nicht die Frage stellen, ob nicht einer unter denen, die mich an den Pranger stellen, vielleicht auch einmal einen Verrat begangen hat. Das steht mir, dem Täter nicht zu. Ein erster Verrat ist so schlimm wie die vielen, die aus dem einen Verrat folgen.

Auch ich, verehrter Herr Dr. Fuhlrott, verurteile mich. Anders als in der DDR verhängt kein Gericht im vereinten Deutschland die Todesstrafe. Also verurteile ich mich selbst.

Leben Sie wohl! Da ich noch immer hoffe, vielleicht doch nicht in die Hölle zu kommen, treffe ich Sie in der Ewigkeit vielleicht wieder. Ihr Werner Blaschke“

 

Martin Fuhlrott musste tief durchatmen, bevor er das zweite, gedruckte Papier mit der Überschrift „Bitte um Vergebung“ und der Unterzeile „An alle, die ich verraten habe“ in die Hand nahm:

 

„Dies ist der einzige Weg, der mir noch bleibt, meine Schuld zu gestehen und um Vergebung zu bitten. Fast alle, die diesen Rundbrief erhalten, habe ich aufgesucht, um zunächst zu enthüllen, dass ich der Stasi-Spitzel war, der in Ihr Leben eingegriffen hat. Ich habe Sie belogen, im Auftrag der Staatssicherheit Beziehungen zerbrochen, Liebe zersetzt, Lebensläufe zerstört.

Ich war der Täter, aber ich war zugleich ein Opfer. Einer, der kein Verständnis verdient, obwohl er wie Sie letzten Endes ein Opfer der Diktatur war. Doch ich hätte kein Opfer sein müssen, wenn ich nicht aus Feigheit und Opportunismus in die schändlichen Machenschaften der Staatssicherheit eingewilligt hätte. Als man mich zur Mitarbeit zwingen wollte, hatte ich nicht den Mut Nein zu sagen, sondern aus der Verpflichtung zum Spitzeldienst Vorteile gesucht.

Eine Bitte noch: Auch, wenn Sie mir jetzt nicht vergeben können, wofür ich natürlich Verständnis habe, so bewahren Sie doch diesen Zettel auf. Vielleicht können Sie mir später einmal verzeihen. Werner Blaschke“

 

Fuhlrott überflog noch einmal den handgeschriebenen Brief und blieb an der Zeile mit der Todesstrafe und dem Satz „Also verurteile ich mich selbst“ hängen. Er sagte zu Hanne: „Ich glaube, der hat sich etwas angetan.“ „Na und“, sagte Hanne, „einer weniger von diesen Lumpen!“ „Trotzdem“, sagte Fuhlrott, „mir lässt das keine Ruhe, ich will das nachprüfen.“ „Du wirst doch wohl nicht auf so einen Brief hin dem hinterher rennen?“ „Er hat sicher mit Absicht auf den Brief ‚Eilt‘! geschrieben und seine komplette Anschrift notiert“, sagte Fuhlrott, „also, wenn ich das richtig lese, ist das ein Hilfeschrei.“ „Du bist unverbesserlich sentimental“, sagte Hanne, „Martin, der Gutmensch!“

Ohne ein weiteres Wort nahm Martin sein Mobiltelefon und stieg in sein Auto. Hannes kalte Reaktion auf die offensichtliche Ankündigung Blaschkes, Selbstmord zu begehen, stieß ihn ab. Blaschke wohnte im ehemaligen Ost-Berlin, Plattenbau, 3. Stock, langer Gang, Tür 7. Da auf Fuhlrotts Klingeln hin niemand öffnete, klopfte er an der Nachbartür. Eine Frau mittleren Alters fragte: „Wat wollen Se?“ „Ich bin auf der Suche nach Herrn Blaschke.“ „Den haben se jes-tan, nee, schon vorjestan, abjeholt mit de Rettung. War wohl schon so jut wie dot. Wat ick so mitjekricht habe, hat er sich selber umjebracht.“ „Woher wissen Sie das denn?“ „Na, det ha ick so jehört, als die mit de Bahre hier rumjeloofen sind.“ „Und wie war oder wie ist er, der Herr Blaschke?“ „Der, dit soll n janz Schlimma jewesen sein. Eena vonne Stasi. So als Nachbar war er ja freundlich, aba unauffällich, imma so jeheimnisvoll. Wie die so sind.“ „Wissen Sie, wo man ihn hingebracht hat?“ „Nee, weeß ick nich. Aba ick vamute, dasse den hier in de Bezirksklinik jefahren haben, wenn et noch wat jenutzt hat. Ansonsten isses ja nicht schade um diese Vabrecha.“

Fuhlrott fuhr zu der Bezirksklinik und hatte Glück. Tatsächlich war Blaschke vor zwei Tagen hier eingeliefert worden. Er sagte dem diensttuenden Arzt, er sei ein Freund des Herrn Blaschke, gerade von einer Reise zurück und habe daher erst heute nachmittags von dem Unglück erfahren. Der Arzt sagte, er dürfe keine Auskunft geben, nur einem nahen Verwandten. Fuhlrott sagte, seines Wissens habe der Patient Blaschke keine nahen Verwandten. Und dachte, hätte er welche, hätten wohl auch die ihn im Stich gelassen. Er versuchte es noch einmal. „Ich habe gehört, dass es ein Suizid-Versuch war. Ist es ernst?“ „Sehr ernst, ein lebensgefährlicher Pillen-Cocktail“, sagte der Arzt. „Aber ich darf ihn doch sehen?“, insistierte Fuhlrott. „Ein paar Minuten“, sagte der Arzt. „Er ist wohl noch oder wieder bei Bewusstsein.“

Blaschke hatte ein Einzelzimmer. Er brauchte eine künstliche Atemhilfe. Fuhlrott sah sofort, dass Blaschke ihn erkannte und lächelte. Er hatte ihn noch nie lächeln, allenfalls grinsen gesehen. Wegen der Atemmaske möchte Blaschke nicht sprechen. Martin Fuhlrott musste sich nicht überwinden, als er dem alten Mann die Hand gab. Blaschke machte ein Zeichen, dass er etwas aufschreiben wollte. Fuhlrott gab ihm Kugelschreiber und Papier. Blaschke schrieb: „Wenn niemand verzeiht, dann Gott auch nicht. Gott verzeiht nur durch Menschen.“

Martin Fuhlrott dachte, dass er ihm nichts zu verzeihen hätte. „Was sollte ich Ihnen verzeihen, Sie haben mir ja nichts getan“. Dann hatte Fuhlrott einen Einfall: „Soll ich mich vielleicht kümmern und Ihnen einen Priester holen, geht es Ihnen dann besser?“ Blaschke schüttelte den Kopf und bat durch Zeichen noch einmal um Papier und Schreibstift. „Kein Pfarrer“, schrieb er, „wenn Sie mir verzeihen, alles gut.“

Fuhlrott dachte an seine Zeit als Ministrant, wo er den Pfarrer manchmal zu „Krankensalbungen“ in die Wohnungen Sterbenskranker begleitet hatte. Das war die „Letzte Ölung“, zu Hause nannten sie es „Versehgang“. Er nahm noch einmal Blaschkes Hand. Dies war eine Situation hier im Krankenzimmer, wo er mit seinem erlernten aber meist vergessenen Katholisch-Sein wieder einverstanden war. Doch als derjenige, der stellvertretend für „die Menschen“ verzeihen sollte, fühlte er sich überfordert, ja sogar fehl am Platz. Er dachte an den Pharisäer aus dem Bibel-Gleichnis, der Gott dankte, dass er nicht so schlecht sei, wie „der da“, der Zöllner, der selbst Arme um ihr Letztes betrogen hatte. Fuhlrott wollte nicht der Pharisäer am Sterbebett des Zöllners Blaschke sein. Er überlegte, ob er dem immer noch Fremden ein gemeinsames „Vater Unser“ vorschlagen sollte, wagte es dann aber nicht, weil er kein Nein des Kranken riskieren wollte. So sprach er das Gebet eilig und still. Martin Fuhlrott wartete noch ein paar Minuten, während der Mann an die Decke schaute. An der Wand eine blasse Reproduktion der Sonnenblumen von van Gogh. Früher hätte da vielleicht ein Kruzifix gehangen. Fuhlrott hinterließ bei der Stationsschwester seine Telefonnummer mit der Bitte, rechtzeitig vor den letzten Stunden des Patienten informiert zu werden, und ging.

Auf dem Heimweg erinnerte er sich, dass er das Wort „Ich verzeihe Ihnen“ nicht ausgesprochen hatte, wie es der Schwerkranke erbeten hatte. Wohl aber hatte er ihm zwei Mal die Hand gedrückt. Auch jetzt noch blieb ihm Werner Blaschke, dieser ‚WB oder Onkel oder Bruder aus dem Osten‘ unheimlich. Denn auf die konspirativen Faxen hatte der alte Stasi-Spitzel auch nach so vielen Jahren nicht verzichtet. Sein Zynismus, den er während ihrer ersten Begegnungen zeigte, verbunden mit einer, wie sich jetzt herausstellte, geradezu kindischen Heimlichtuerei, das alles stieß Martin Fuhlrott ab. Und dennoch wollte er Hannes Haltung nicht billigen, die ihn einfach nur „einen von diesen Lumpen“ genannt hatte. Kein Gericht hatte Werner Blaschke, den Stasi-Intensiv-Täter, wegen seiner gezielten Gemeinheiten zur Verantwortung gezogen. Alle diese Figuren, die in Mielkes Diensten waren, konnten im vereinten Deutschland frei herumlaufen, Unternehmen gründen, sogar ihren auf der Stasi-Uni Potsdam-Eiche erworbenen Doktortitel im Rechtsstaat einbringen. Der Spitzel blieb dem Urteil einer deutschen Nach-Wende-Gesellschaft überlassen, die jedem enttarnten Stasi-Mitarbeiter reflexartig, ohne nähere Prüfung eine Unmenge von Verbrechen anlasten konnte, ob sie denn stimmten oder nicht. Menschen, die Blaschke Mit-Schweiger oder Mit-Läufer in DDR-Zeiten genannt hatte, konnten in der neuen Freiheit mit Fingern auf die enttarnten Täter zeigen und sich so das Nachdenken über eigene Mit-Verantwortung ersparen. Viele, sehr viele, so erinnerte sich Martin, hatten sehr leise gesprochen, aber sehr laut geschwiegen. Immer waren sie „innerlich“ dagegen, nur, so dachte der Ex-DDR-Bürger Dr. Fuhlrott, kaum einer hat es bemerkt.

Es gab aber auch Täter, die offen und unverfroren ihr Handeln verharmlosten, und das unter dem Beifall von gar nicht geringen Restbeständen der SED. Die Möglichkeit zur Akteneinsicht bei der Stasi-Unterlagenbehörde klärte vieles. Neben den Dokumenten menschlicher Niedertracht fanden sich auch freundliche Entdeckungen in den Akten, so dass ein schlimmer Verdacht zuweilen entkräftet wurde. Doch die Mehrheit der Spitzelopfer schaute voller Entsetzen in die Giftpapiere von Lügen und Zersetzung oder sah, dass Stasi-Führungsoffiziere handschriftlich sogar ihre intimen Geheimnisse archiviert hatten.

Martin Fuhlrott begriff, dass einer wie Blaschke nach der Öffnung seiner Täter-Akten zu einer hilflosen Existenz werden konnte. Diese rätselhafte Person, die regelmäßig in der Kirche hockte, im Weinlokal mit ihrer Vergangenheit kokettierte und wenig später flehentlich um Verzeihung bat. Insofern, dachte Fuhlrott, ist auch ein Blaschke Opfer der „Diktatur der Arbeiterklasse“ mit ihren Unterdrückungsmethoden Stalinscher Machart. Aber dieser Blaschke verlangte so dringlich Verzeihung, als wenn die ihm rechtlich zustand. Ja, sagte sich der Christ Fuhlrott, man sollte wohl verzeihen, wenn einer ehrlich darum bittet. Nein, sagte er sich bei Betrachtung der miserablen Hinterlassenschaft Blaschkes, Nein, es gibt Dinge, mit denen der Täter leben muss, weil nicht zu reparieren ist, was er angerichtet hat. Blaschke hatte ohne Zweifel schwere Schuld auf sich geladen. Aber machte sich nicht auch der schuldig, der nicht bereit war, eine Bitte um Verzeihung anzunehmen? Fuhlrott hatte die Gelegenheit versäumt, Blaschke zu fragen, ob der jemals versucht hat, irgendetwas wieder gut zu machen. Vielleicht hatten seine Opfer derlei Anstrengungen ebenso zurückgewiesen wie seine Bitten um Vergebung. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke an „mildernde Umstände.“

Mit sehr widerstrebenden Gefühlen traf Martin Fuhlrott zu Hause ein. Er überlegte, wie er Hannes einschlägigen Fragen aus dem Wege gehen könnte. Sie hatte ja Recht, Blaschke war ein Lump, aber Blaschke war auch ein Mensch. In Blaschkes Nähe fühlte Fuhlrott sich unwohl und zugleich tat ihm der Mann leid. Ob der Mann nach seinem Suizid-Versuch überlebte, war offenbar kaum zu erwarten. Dass er in Frieden sterben könnte, käme einem Wunder gleich. Doch das sollte man nicht von Gott erwarten, dachte Martin Fuhlrott, dieses Wunder müssten die Menschen wirken.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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[1] Joachim Jauer: Der Sykophant – Vom Ende einer Stasi-Karriere, © Jauer, Kirchberg i.W. 2018, ISBN 978-3-00-060111-8, 245 Seiten, 14,95 Euro, Bestellungen an: sykophant@t-online.de

„Aus der Asche wird neues Leben geboren“

Bereits zum 10. Mal veranstaltete „Kirche in Not“ am Sonntag, 16. September 2018, in Augsburg einen Gebets- und Solidaritätstag für verfolgte Christen. Schwerpunkt war die Situation der Christen im Irak, über die der Priester Georges Jahola berichtete. Florian Ripka, der Geschäftsführer des Hilfswerks, überreichte ihm eine Figur der Gottesmutter von Altötting. In einer der wiederaufgebauten Kirchen in der Ninive-Ebene soll sie die bleibende Verbundenheit der deutschen Wohltäter mit den irakischen Christen verdeutlichen.

Von Florian Ripka

Der Gebets- und Solidaritätstag für verfolgte Christen begann mit einer Informationsveranstaltung im Haus Sankt Ulrich. Der irakische Priester Georges Jahola aus Karakosch in der Ninive-Ebene berichtete über die Lage der Christen im Nord-Irak. Nach dem Einmarsch der Kämpfer des sogenannten „Islamischen Staats“ im August 2014 hätten sie Schreckliches durchgemacht. Viele seien zur Konversion genötigt oder getötet worden. Zahlreiche Frauen und Mädchen seien versklavt und zur Heirat mit „IS“-Terroristen gezwungen worden. Hunderttausende seien vor dem Terror geflohen. Auch sei ein immenser Schaden an Gebäuden entstanden. Fast 13.000 Privathäuser von Christen sowie rund 360 kirchliche Gebäude habe der IS ganz oder teilweise zerstört. Die Kosten der Wiederherstellung bezifferte Jahola, der den Wiederaufbau koordiniert, auf 250 Millionen US-Dollar. Die christlichen Familien kehren, wie Jahola berichtet, nach und nach in ihre verlassenen Dörfer zurück.

Hoffnung auf eine Zukunft in der Heimat Irak

„Es gibt eine große Solidarität unter den Christen. Viele haben sich bei den Kirchen gemeldet, um als Freiwillige zu helfen.“ Diese Unterstützung sei aber bei Weitem nicht ausreichend, denn „wir Christen erhalten vom irakischen Staat nicht die geringste Hilfe“, nur von christl. Hilfswerken wie „Kirche in Not“, das einen „Marshall-Plan“ für den Irak ins Leben gerufen habe. „Durch die Hilfe von ‚Kirche in Not‘ konnten bereits gut die Hälfte der vertriebenen Christen zurückkehren – und wir hoffen, dass es noch mehr werden“, hob Jahola dankend hervor. „Die Zeit des IS ist vorbei, aber seine Ideologie ist noch immer präsent“, so Jahola und forderte eine neue Verfassung für den Irak, in der der Minderheitenschutz verankert sein müsse: „Nur das Gesetz kann uns schützen.“ Andernfalls seien die Früchte der geleisteten Wiederaufbauarbeit gefährdet. Als Christ habe er aber immer Hoffnung, weil er wisse: „Aus der Asche wird neues Leben geboren.“

„Vielen Christen droht die Auslöschung“

In einem zweiten Programmpunkt verschaffte Berthold Pelster, der Menschenrechtsexperte von „Kirche in Not“, den rund 150 Besuchern einen Überblick über einige weitere Brennpunkte der Christenverfolgung weltweit. Dies seien vor allem viele afrikanische Staaten, in denen sich ein einstmals friedlicher Islam radikalisiert habe. Als Beispiel führte er Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas, an, wo die islamistische Terror-Sekte „Bo-ko Haram“ seit ihrem Aufkommen im Jahr 2009 bis zu 30.000 Menschen ermordet habe.

Pelster, Autor der Dokumentation „Christen in großer Bedrängnis“, betonte, dass in vielen islamischen Ländern Muslime am meisten unter dem Terror von radikalen Islamisten zu leiden hätten und nannte als Beispiel den Anschlag auf eine Sufi-Moschee in Ägypten, dem im November 2017 mehr als 300 Menschen zum Opfer fielen. Es sei daher wichtig, den Dialog mit gemäßigten Muslimen zu suchen und moderate Strömungen des Islam zu fördern.

In China habe – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit im Westen – die Regierung im Februar 2018 die Religionsgesetze drastisch verschärft. Christen, die sich privat zum Gebet treffen, drohe seitdem eine empfindliche Geldstrafe, die mehrere Monatsgehälter betragen könne. Auch gegen diese Bedrohung müsse man protestieren und das Menschenrecht auf Religionsfreiheit verstärkt auf die Agenda der Politik setzen. „Wenn wir nicht alles tun, um verfolgten Christen zu helfen, droht ihnen in vielen Ländern die Auslöschung“, so Pelster.

„Ökumene des Leidens und der Solidarität“

Den Abschluss des Solidaritätstages bildete ein ökumenischer Kreuzweg im Augsburger Dom. Domdekan Prälat Dr. Bertram Meier, der im Bistum Augsburg als Bischofsvikar für Ökumene und interreligiösen Dialog zuständig ist, betonte in seiner Ansprache die „Ökumene des Leidens und der Solidarität“ mit den Verfolgten und forderte die Anwesenden zum aktiven Handeln auf: „Wissen wir, was die Stunde geschlagen hat? Haben wir Mut, zu Jesus Christus und seiner Botschaft zu stehen? Wo Christen unterdrückt und verfolgt werden, da dürfen ihre Glaubensgeschwister in den Ländern nicht schweigen, wo Freiheit herrscht“, so Meier.

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Zur Auseinandersetzung innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz

Eucharistiegemeinschaft mit Protestanten?

Professor Dr. Manfred Hauke hat mit einem Buch auf die Auseinandersetzungen um die Möglichkeit einer Kommunionspendung an evangelische Partner in einer konfessionsverschiedenen Ehe Stellung genommen. Der Titel lautet: „Kommunionspendung an Protestanten? Zur gegenwärtigen Auseinandersetzung im deutschen Sprachraum“.[1] Der emeritierte Bamberger Dogmatikprofessor Dr. Johannes Stöhr (geb. 1931) stellt das 96 Seiten umfassende Büchlein vor, das er für eine sehr hilfreiche Diskussionsgrundlage hält.

Von Johannes Stöhr

Für die Weltkirche gilt verbindlich, dass Protestanten in der katholischen Kirche normalerweise nicht die hl. Kommunion empfangen können. Nun aber hat die Mehrheit der Deutschen Bischofskonferenz beschlossen, unter bestimmten Umständen bei konfessionsverschiedenen Ehen diese Regelung der Weltkirche nicht mehr anzuwenden. Deshalb haben sich sieben deutsche Bischöfe an Rom gewandt, damit die Unsicherheit und Verwirrung bei Gläubigen beendet werde. Vom Papst kam aber bislang noch keine verbindliche klare Entscheidung.

Am Kommunionempfang gehindert sind nach dem geltenden kirchlichen Recht unter anderem Christen, die mit Kirchenstrafen belegt sind oder in einer offenkundigen schweren Sünde verharren (can. 915), die sich einer schweren Sünde bewusst sind und diese noch nicht gebeichtet haben (can. 916), oder auch Gläubige, die nicht wenigstens eine Stunde vor der heiligen Kommunion nichts gegessen und getrunken haben (can. 919). Für evangelische Christen, die ja in der Regel keine Apostolische Sukzession und kein Priestertum anerkennen (vgl. KKK, n. 1400; CIC/1983 can. 844, § 3), gelten für einen katholischen Kommunionempfang in Sonderfällen fünf strenge Bedingungen, die allesamt erfüllt sein müssen (can. 844), eine davon ist eine „schwere Notlage“, die von einem Bischof festgestellt werden muss. Manche deutschen Bischöfe meinten nun befremdlicherweise, diese Notlage sei schon generell bei konfessionsverschiedenen Ehen gegeben.

Das dogmatisch und pastoral sehr wichtige Thema bedarf noch weiterer Klärung bei Nichtinformierten oder Verunsicherten. Prof.  M. Hauke hat im Mai/Juni-Heft 2018 der Zeitschrift „Theologisches“ bereits einen wichtigen fachwissenschaftlichen Aufsatz veröffentlicht: „Eucharistiegemeinschaft mit Protestanten? Zur Auseinandersetzung innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz“ (Sp. 204-238). Das vorliegende Buch nimmt diese Ausführungen auf und ergänzt sie durch Verweise auf die weitere Entwicklung. Wer die katholische Lehre über Eucharistie nicht bejaht, sondern sich in einer Gemeinschaft befindet, in der es kein gültiges Priestertum und damit auch keine gültige Eucharistie gibt, der kann diese auch nicht empfangen. Auch Päpste und Bischöfe haben nicht die Vollmacht, die von den Aposteln überlieferte beständige Glaubenspraxis der Kirche zu verändern.

Das vorliegende Taschenbuch gibt eine umfassende Übersicht über die derzeitigen Diskussionen, jeweils mit genauen Quellenangaben. Schon deshalb dürfte es unverzichtbar sein auch für diejenigen, welche die klar begründete Auffassung des Autors nicht teilen wollen.

Ausführlich wird die gegenwärtige kirchenrechtliche Regelung dargestellt (S. 18-30). Die Darstellung der Vorgeschichte und des Inhaltes der problematischen bischöflichen Orientierungshilfe, die leider trotz des Einspruchs der Glaubenskongregation doch noch gedruckt wurde (20.2.2018) – ohne Angabe von Verfasser bzw. Herausgeber –, findet sich auf S. 31-36, ebenso wie die kritische Reaktion von sieben deutschen Bischöfen mit den Stellungnahmen z.B. der Kardinäle Müller, Cordes und Brandmüller.

Besonders wichtig sind jedoch die Ausführungen über die theologischen Grundlagen des Themas (S. 48-75). Ausgehend von dem biblischen Zeugnis, der Praxis der Kirche im Altertum und des kirchlichen Rechtsbuches werden die einschlägigen Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils und die nachkonziliare Regelung dokumentarisch belegt. Schließlich wird die Frage von Ausnahmen im Blick auf Protestanten eingehend geprüft (S. 71-75). Im Anschluss daran sind die seelsorgerischen und ökumenischen Gesichtspunkte eingehend gewürdigt (S. 76-84).

Es ist offensichtlich, dass in der Frage der Zulassung zur Eucharistie in den deutschen Bistümern keine einheitliche Lehre und Praxis mehr existiert. Obwohl die deutsche Bischofsmehrheit noch gar kein grünes Licht dafür hat, ihre Handreichung in den Diözesen umzusetzen (G. P. Weishaupt, S. 90)! Damit ist hier die Einheit der Kirche gefährdet und Deutschland wird zum „Flickenteppich“ (C. Ohly, S. 93). Der Rezensent ist mit seinen Freunden äußerst betroffen besonders über die Äußerung des neuen Würzburger Bischofs F. Jung, der dazu aufgefordert hat (am 5./6. 2018), Protestanten in Mischehen bei einem Fest die hl. Kommunion zu reichen (vgl. Die Tagespost 5.7.2018, S. 1) – so als ob es feststehen würde, dass diese sich alle im Gnadenstand befinden! Ohne Gnadenleben in Christus ist aber keine geistliche Nahrungsaufnahme möglich – der Bischof hat also eine Art „Totenspeisung“ empfohlen! Auch Profanierungen und sakrilegische Kommunionen sind dabei praktisch vorprogrammiert. Sollte man hier nicht kirchenrechtliche Sanktionen andenken?

Gegen Schluss des Buches ist dankenswerterweise auch eine vorbildliche und mutige Reaktion auf die gegenwärtige Herausforderung abgedruckt, die wir dem Paderborner Priesterkreis (Communio veritatis) verdanken. Darunter heißt es zum Beispiel in Nummer 5: „Die in Nr. 1401 des Katechismus der Katholischen Kirche beschriebene rechte Disposition schließt notwendig auch das Freisein von schwerer Sünde ein. Daraus ergibt sich, dass der Protestant in einer echten Notlage zunächst zum Bußsakrament geführt werden müsste“.

„Interkommunion hat ein gemeinsames Eucharistieverständnis und die Kirchengemeinschaft zur Voraussetzung“, so betont kürzlich das „Forum deutscher Katholiken“ (29. 8. 2018) und weist die destruktive Unterschriftensammlung des sog. „Publik-Forums“ energisch zurück.

Die Dokumentation vieler oft nicht leicht zugänglicher aktueller Stellungnahmen im vorliegenden Taschenbuch ist beachtlich. Viel wichtiger aber sind die tiefgehenden theologischen Begründungen und die Hinweise auf die pastoralen Konsequenzen. Diejenigen deutschen Bischöfe, deren theologische Ausbildung manchmal anscheinend einiges zu wünschen übrig lässt, sollten die Ausführungen des kompetenten Autors genau studieren, sie nicht einfach schweigend „auszusitzen“ versuchen, sondern eindeutig und sachlich Stellung beziehen. Aber auch die vielen verunsicherten Priester und Laien finden darin klare Orientierungen für ein erneuertes und mutiges Glaubensbekenntnis.

Die Liebe zur heiligen Eucharistie ist Grundlage und Mitte christlichen Glaubenslebens, wie viele bekannte und unbekannte Zeugnisse seit jeher beweisen. Bei Fehlverhalten von Würdenträgern darf man sich aber schließlich sogar mit dem altchinesischen Sprichwort trösten: Ein Baum, der umfällt, macht mehr Lärm als ein ganzer Wald, der wächst!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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[1] Manfred Hauke: Kommunionspendung an Protestanten?, Dominus-Verlag 2018, geb., 96 Seiten, 6,90 Euro (D), ISBN: 978-3-940879-59-2

Die 68er und ihre Hinterlassenschaften

Von Christa Meves

Josef Kraus, der langjährige Leiter des deutschen Lehrerverbandes, hat ein empfehlenswertes Buch mit dem Titel „50 Jahre Umerziehung“ – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“ herausgegeben (Berlin 2018, 19,90 Euro). Meines Erachtens kann es der Wahrheit auf dem pädagogischen Sektor mit der so notwendigen Klarheit gegen all den geistigen Nebel unserer Zeit zum Licht verhelfen.

In diesem neuen Werk ist nun glücklicherweise Schluss mit den Beschönigungen nach 50 Jahren dieser traurigen Revolte. Es geht stattdessen um eine ungeschminkte Analyse der voll eingetretenen negativen Folgen auf dem gesellschaftlichen, vor allem aber auf dem schulischen Gebiet. Oberstudiendirektor Kraus hat nicht nur über die Jahrzehnte hinweg die Folgen einer nach Proporz erstellten Kultusministerkonferenz in den schulischen Auswirkungen seufzend erleben müssen, er hat die einzelnen Ereignisse sogar so akribisch gesammelt, dass aus seinem Werk nun wirklich aus jeder Zeile nicht widerlegbare Kompetenz spricht.

Nach einem Teil gründlicher Analysen der einzelnen Umerziehungsphasen in der Bundesrepublik kommt er zur Sache: den ideologischen und realen Hinterlassenschaften dieser Entfesselung der Strukturen. Besonders erschreckend eindrucksvoll geht der Autor – auf dem Boden seiner praktischen Erfahrungen – auf die pädagogischen Folgen der geistigen Entfesselung ein. So beschreibt dieser erfahrene Pädagoge mit vielen Zahlen den desaströsen Bildungsabbau durch den Niveauverlust der Schüler in den beiden letzten Jahrzehnten. Ironisch bezeichnet er die schulischen Veränderungen in den Lehrplänen als nicht eingetretene „Heilsversprechungen“. „Lernen ohne Anstrengungen“ hieß nun die Devise, „keine Kränkungen, kein Stress, ausschließlich selbstgesteuertes intrinsisches, hirnbasiertes Lernen! Kein Frontalunterricht! Keine Selektion! Und am Ende angeblich hochkompetente junge Leute, fit für das globale Haifischbecken.“ Beispielsweise habe sich das Wissenspotenzial der Schüler beinahe halbiert und der Grundwortschatz der Schüler am Ende der 4. Grundschulklasse sei wegen der allgemeinen Niveauminderung nun von der Kultusministerkonferenz von noch 1100 Wörtern 1999 auf 700 Wörter heruntergefahren worden. Kraus kommentiert: „Wo Sprache verarmt, da verarmt schließlich das Denken.“ Eine vernichtende Bilanz erhält die Gesamtschule. Sie erwies sich bereits unmittelbar nach ihrer Einführung in den 70er und 80er Jahren dem gegliederten Schulsystem als weit unterlegen. Zitat: „Auf die Idee aber, dass die Vision (Gesamtschule) nicht taugt, kommt man nicht.“ Grimmig resümiert Kraus: „Beispiel Baden-Württemberg! … Das Ländle, das sonst bei Leistungsstudien immer zu den vier besten in Deutschland gehört hatte, ist in kürzester Zeit vom Musterschüler zum Problemfall geworden, ob bei 15-Jährigen oder 10-Jährigen. Das frühere Vorzeigeland liegt nun nur knapp vor dem Schlusslicht Bremen.“

Die Analyse des Werkes von Josef Kraus deckt die Fehlentwicklung in der Schulpädagogik der Bundesrepublik ungeschminkt auf. Zum Schluss ruft der Autor dazu auf, eine „ideologiekritische Auseinandersetzung“ anzuberaumen – nun zwar im digitalen Zeitalter, aber mit einer kindgerechten Schule.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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Zeugnis einer norwegischen Konvertitin

Maria – die stärkste Frau der Weltgeschichte

Janne Haaland Matláry (geb. 1957) ist verheiratet und hat vier Kinder. Beruflich ist sie als Politologin in Wissenschaft, Politik und Kirche auf höchsten Ebenen engagiert. Sie stammt aus einer protestantischen Familie in Norwegen und ist in einem ungläubigen Umfeld aufgewachsen. Mit 25 Jahren konvertierte sie jedoch zum katholischen Glauben. Den Weg dazu eröffnete ihr ein katholischer Philosophieprofessor, den sie bei ihrem Studium am lutherischen „Augsburg-College“ im Mittleren Westen der USA kennengelernt hatte. Einen weiteren entscheidenden Impuls erhielt sie durch einen französischen Dominikaner in Oslo, der ihr das Geheimnis der Realpräsenz Christi in der Eucharistie erschloss. Ihre Lebensgeschichte hat sie in einem Buch veröffentlicht, das 2003 unter dem Titel „Love-Story. So wurde ich katholisch“ auf Deutsch erschienen[1] und inzwischen neu aufgelegt worden ist. In ihrem Zeugnis beschreibt sie auch den langen Weg, der sie Schritt für Schritt mit Maria bekannt gemacht hat. Welche Rolle dabei der Marien-Wallfahrtsort Lourdes gespielt hat, zeigen nachfolgende Auszüge.

Von Janne Haaland Matláry

Der einzige Mensch, der wie Christus – also vollkommen – geliebt hat, war Maria. Dies habe ich schließlich auch begriffen, aber Maria kennenzulernen und sie zu akzeptieren, war für mich eine langwierige Aufgabe. Dass sie in der Lage war, den Willen Gottes bedingungslos anzunehmen und zu lieben, macht ihre Größe aus, das macht sie zur stärksten Frau der Weltgeschichte. Doch ich hatte viele Vorbehalte, sodass ich Marias Gottesliebe erst kennenlernte, als ich jene abstreifte.

Für viele Konvertiten stellt Maria eine der größten Herausforderungen des katholischen Glaubens dar. Sie scheint außerhalb jeglicher Reichweite zu stehen. Maria, die Muttergottes, wurde mit der Reformation aus dem protestantischen Christentum ausgelöscht und hat bis heute ihren früheren Platz nicht zurückgewinnen können. Maria ist auch von einer Menge Vorurteilen umgeben – wie die Heiligen auch.

Für mich war Christus genug; mehr Menschen brauchte ich nicht in meinem geistlichen Leben. Es war ja schon schwierig genug, mich auf ihn zu konzentrieren. Wenn es mich schon viele Jahre kostete, um einzusehen, dass ich eine tägliche spirituelle Routine benötigte, damit ich nicht von einer Krise in die nächste stürzte, so brauchte ich noch wesentlich länger, um Bekanntschaft mit Maria und den Heiligen zu machen.

Mir standen die tief eingegrabenen Vorurteile im Weg, die ich mit vielen anderen teilte. Dann, so dachte ich im Geheimen, waren da auch noch dieser Aberglaube und all diese Erscheinungs- und Wunderorte. Natürlich glaubte ich an keinen einzigen, und es ist wahr, dass man daran auch nicht glauben muss, um Katholik zu sein.  Maria blieb ein Problem, weil ich verstandesmäßig begriff, dass sie so bedeutsam war, und weil ich sah, dass viele vernünftige und intelligente Menschen eine enge Beziehung zu ihr hatten. Ich kannte sogar einige, die jeden Tag den Rosenkranz beteten. Nun, sie waren vermutlich so erzogen worden, dachte ich – wie sie es eben in den sogenannten katholischen Ländern machen. Einmal sagte ich zu einer von ihnen: „Ich kenne Maria überhaupt nicht.“ – „Dann sag es ihr“, lautete deren schlichte Antwort, als spräche sie über ihre eigene Mutter.

Die Frage nach Maria blieb also fürs Erste unbeantwortet. Dann begann ich jedoch – wie ich glaubte, aus Zufall –, Wallfahrtsorte zu besuchen. Zunächst war es eine Konferenz in Santiago de Compostela mit der EU-Kommission, dann ein Besuch in Fatima ebenfalls wegen einer EU-Veranstaltung und schließlich, im Mai 2001, drei Treffen hintereinander in Fatima, Santiago de Compostela und Lourdes, zu denen ich aus dem einen oder anderen Grund gehen musste.

Lourdes – Wallfahrtsort der Kranken

Nach Lourdes gelangte ich, wie sich die Dinge fügten, mit dem skandinavischen Kapitel des Malteserordens, diesmal auf richtiger Pilgerfahrt. Ich war Ordensdame geworden und freute mich auf die jährliche Wallfahrt. Die Arbeit des Ordens konzentriert sich heute sehr stark auf die Krankenpflege. Wie an den anderen Wallfahrtsstätten fühlte ich mich deplatziert und hatte meine Vorurteile gegen so einen Ort. Zu Hause sagte jemand zu mir: „Erzähl mir nicht, dass du an diesen Spuk glaubst!“ Ich sagte: „Eines ist sicher: Ich bin nicht abergläubisch, aber ich habe wohl immer noch Vorurteile. Darum fahre ich hin und schaue mich dort um, mit einem offenen Geist. Aber ich mag den katholischen Kitsch in vielen dieser Läden genauso wenig wie irgendjemand sonst.“

Lourdes liegt am Fuß der Pyrenäen inmitten einer atemberaubenden Naturkulisse. Die Berggipfel sind höher als in Norwegen – und anziehender. Auf der spanischen Seite war ich schon einmal durch die Berge gewandert, und nun blickte ich sehnsuchtsvoll zu den Höhen hin. Diesmal jedoch gab es keine Möglichkeit, dorthin aufzubrechen.

Wie in Fatima offenbarte sich Unsere Liebe Frau auch hier einem armen Kind. Bernadette stammte aus einer ganz armen Familie, die in der Stadt ein Haus bewohnte, das früher einmal als Gefängniszelle gedient hatte. Ihr Vater hatte Bankrott gemacht. Es ist eine bewegende Geschichte, wie die 14-Jährige, zu arm, um in die Schule gehen zu können, hinausging, um Holz für den Herd zu holen. Dies war ihre tägliche Aufgabe. Sie ging den Fluss entlang, der noch heute durch die Stadt fließt. Am Flussufer befindet sich eine kleine Grotte, in die sie hineinging. Hier erschien ihr eine weiß gekleidete Dame, die sie anlächelte und in ihrem eigenen Dialekt zu ihr sprach. Die Dame erschien ihr mehrere Male. Bernadette erzählte ihrer Familie und der örtlichen Geistlichkeit von ihren Erscheinungen. Ihr wurde jedoch nicht geglaubt, sie wurde verfolgt und verhört, und Scharen von Menschen kamen, um die Erscheinungen mitzuerleben. Nur Bernadette konnte die Dame sehen, während die Übrigen genau beobachteten, wie sich dabei ihr Gesicht veränderte. Seltsame und Furcht einflößende Dinge tat sie; so beschmierte sie einmal ihr Gesicht mit dem Schlamm, der sich am Grund der Grotte befand, und sagte den Umstehenden, hier werde eine Heilquelle entspringen. Schließlich gab die Dame ihre Identität preis und sagte im örtlichen Dialekt: „Ich bin die Unbefleckte Empfängnis“ – nach dem Dogma, das kurz vorher verkündet worden war. Bernadette wusste davon nichts, da sie ja keinerlei Schulbildung besaß. Die Geistlichen waren erstaunt. Wenig später entsprang in der Grotte eine Quelle, von deren Wasser gesagt wurde, dass es Kranke heile. Bei einer eingehenden Untersuchung wurde 1862 schließlich festgestellt, dass die Erscheinungen echt waren. Bernadette wurde Nonne und starb jung, mit 36 Jahren. 1933 wurde sie heiliggesprochen. In den Folgejahren entwickelte sich Lourdes zum Wallfahrtsort der Kranken.

Einige wurden auf wunderbare Weise geheilt. In solchen Fällen ermittelt eine Kommission mit jeweils zwei unabhängigen medizinischen Gutachten: eine internationale Kommission und eine französische Ärztekommission. Es ist extrem schwierig, ein Wunder bestätigt zu bekommen angesichts der natürlichen Skepsis in solchen Fällen. Etliche Heilungswunder sind nach langwierigen Prüfungen bestätigt worden. Viele Untersuchungen sind noch im Gang. Ein Malteserritter aus Irland berichtete mir, wie er miterlebt hatte, dass ein Gelähmter aus seiner Pilgergruppe nach seinem Besuch in Lourdes gehen konnte, doch noch Jahre später war dieser Fall in der Prüfung. Soll man das glauben oder nicht? Das ist nicht das Entscheidende. Ich finde es höchst wahrscheinlich, aufgrund der Beweislage sozusagen, dass die Erscheinungen hier echt sind.

Vereint als Geschöpfe des himmlischen Vaters

Doch es gibt da noch eine andere Art von „Beweis“, die mehr ins Gewicht fällt: die Lebensfreude. Die Lebensfreude an diesem Ort ist bemerkenswert. Wir alle schieben Rollstühle vor uns her. Wir alle machen Späße. Die Entstellten und Kranken sind mitten unter uns, sind Teil unserer Gemeinschaft. Ein Mädchen im Teenageralter mit dem Downsyndrom. Eine alte, geistig behinderte italienische Frau, die den ganzen Abend über meine Hand hält. Ein anderer hat ein entstelltes Gesicht und wird niemals mehr „normal“ aussehen. Viele, viele sind alt und an Rollstühle gefesselt. Hier ist eine Armada kranker und alter Leute unterwegs. Wie ist es möglich, dass wir alle zusammen so glücklich sind? In einer „normalen“ westlichen Umgebung wäre man sogar angewidert von dem Anblick dieser Menschen und ginge ihnen aus dem Weg. Wir bewegen uns in einer langen Reihe von Rollstühlen auf die Kirche zu. Die natürliche Schönheit dieses Ortes ist überwältigend: die Berge, der strömende Fluss, das Tal mit dem Echo der Kirchenglocken. All dies ist eine Gelegenheit zur Freude, doch erklärt dies unsere Freude nicht. Hier sind wir alle vereint als menschliche Geschöpfe vor unserem gemeinsamen Vater, Gott. Wir sind hier, um zu beten und ihm Loblieder zu singen, um Vergebung zu bitten und um Heilung durch die Fürsprache Mariens. Wir sind einfach nur seine Kinder, die Kranken ebenso wie die „Normalen“, die Lahmen ebenso wie jene, die gehen können. Er liebt uns alle und hat uns so geschaffen, wie wir jetzt sind. Er sieht, dass seine Geschöpfe schön sind, dass wir alle sein Prägemal tragen und seine von ihm gewollten Kinder sind. Wir fühlen uns selbst geliebt in einer Weise, der keine menschliche Liebe gleichkommt. Diese Wirklichkeit macht uns über alle Maßen glücklich. Doch da ist noch mehr: Da wir erkennen, dass wir sein Bild in uns tragen, sehen wir einander nicht als „normal“ oder krank an oder als mehr oder weniger vollkommen. Diese Einsicht macht uns ganz und gar frei: Wir sind in der Lage, einander zu akzeptieren und zu lieben, wie wir sind. Die Würde des Mädchens mit dem Downsyndrom ist auf einmal ganz offensichtlich. Sie hat einen ebenso großen Anteil an der menschlichen Würde wie ich. Der alte Mann im Rollstuhl ist vielleicht weitaus menschlicher im Hinblick auf die Nachfolge Christi, als ich es bin. Die äußeren, körperlichen Züge werden in Lourdes unwichtig. Der innere Mensch wird wichtig und transzendiert den Körper. In der weltlichen Gesellschaft ist die Konzentration auf das körperliche Aussehen beherrschend: Wir alle beurteilen einander nach dem Aussehen. Bist du jung, schlank, attraktiv? Oder bist du nutzlos, alt, krank? Das Verschwinden der Behinderten infolge der Abtreibung unterstützt diesen Trend noch: Sie werden einfach beseitigt, bevor sie überhaupt zur Welt kommen. In zunehmendem Maße fehlt uns der Umgang mit Mitmenschen, die krank sind. Wir betrachten sie, als hätten sie weniger Würde als wir selbst.

Ausstrahlung von Würde und Lebensfreude

Hier ist es genau umgekehrt. Hier gibt es ebenso viele Kranke wie andere, vielleicht sogar mehr. Und die Krankheit ist unwichtig in dem Sinn, dass wir sie gar nicht bemerken. In unsrer Beziehung zu Gott kommt es darauf gar nicht an. Das ist die einzig richtige Sicht des Lebens und des Nächsten. Das Wort Menschenwürde nimmt hier in Lourdes seine richtige Bedeutung an. Würde hat nichts mit dem Aussehen zu tun; es geht um das Personsein. Dies ergibt nur einen Sinn, wenn man Gott als den Urheber der menschlichen Person betrachtet, aber wenn man es dann erkennt, wird man ihn besonders in den Kranken und Alten erkennen. Dann kommt die Liebe zwischen den Menschen ins Spiel. Das eigene verhärtete Herz wird durchbohrt von der Liebe für diesen anderen Menschen, der da schwach und krank ist, und man schämt sich der eigenen Ichbezogenheit. Liebe ist nicht das, was man bis dahin dafür gehalten hat: Ergebnis von Aussehen und Schönheit. Die Liebe ist Gott selbst. Man kann in Lourdes einen Eindruck von dieser Liebe gewinnen in der plötzlichen und überraschenden Freude beim Singen und Beten mit den Behinderten, die man in ihren Rollstühlen herumschiebt. Das ist das eigentliche Wunder, das man hier erleben kann, und es ist für das harte Herz des modernen Menschen mehr wert als irgendeine Erscheinung.

Wir sind dabei, die Kranken und Alten, die Behinderten und Schwachen zu eliminieren – und zwar sowohl die geborenen wie die ungeborenen. Diese Entmenschlichung der westlichen Welt steht in schreiendem Gegensatz zum Begriff der Menschenwürde. Die Würde ist der Fingerabdruck des Herrn auf uns. Wenn wir die beseitigen, die anders sind als wir, töten wir den Herrn selbst ebenso. Das alltägliche Wunder von Lourdes ist die Freude daran, dass wir die geliebten, wenn auch unvollkommenen Kinder sind, als die Gott uns erschaffen hat, sowie das Bewusstsein, dass er uns in allen Formen und Variationen liebt. Darin liegt eine ungeheure Freiheit, eine Freude, die dem westlich geprägten Menschen völlig verborgen ist.

Die Vollkommenheit und Stärke der Gottesmutter

Die Fackelprozession am Abend war eine feierliche, bewegende Zeremonie. Ich war angerührt von dem Ernst und der Würde der Teilnehmer: Rollstühle, Helfer, Laien, Klerus beim Rezitieren der schmerzhaften Rosenkranzgeheimnisse. Ich dachte an die kleine Bernadette, die so einfältig und ohne Schulbildung gewesen war; wie man sie wegen ihrer Erscheinungen verfolgt hatte. Sollte es möglich sein, dass sie sich das alles nur ausgedacht hatte? Was ist dann mit den späteren Krankenheilungen? Und mit der abschließenden Anerkennung durch die Kirche, die in solchen Dingen immer sehr skeptisch ist? Betrachtet man die Beweislage in unserem empirischen Sinn, ist sie nicht zu erschüttern. Selbst nach rein menschlicher Logik würde man höchstwahrscheinlich hier ebenso wie in Fatima schließen, dass die Erscheinungen echt sind. Letzten Endes aber zählt nicht die Logik. Es geht vielmehr darum, einen offenen Geist und ein demütiges Herz zu haben. Lourdes, Fatima, Santiago sind Orte, die man aufsuchen sollte, um das innere Leben aufzufrischen, indem man Buße tut für die eigenen Sünden und so einen neuen Anfang setzt. In Lourdes helfen einem all die Kranken dabei, weil sie einem so deutlich die eigene Herzenshärte vor Augen führen.

Maria, die Mutter, spricht zu mir als Mutter und sagt mir, wie wir die Schwachen und Kleinen lieben sollen und wie zart und barmherzig mütterliche Liebe ist. Die Sorge um die Kranken hängt aufs Engste mit der Mutterschaft zusammen und in Lourdes leuchtet diese besondere Würde auf. Die Stärke des Weiblichen ist so klar: Maria kann man niemals mit Schwäche in Verbindung bringen. Unterwürfigkeit ist genau das Gegenteil davon. Die schmerzhaften Rosenkranzgeheimnisse erzählen eine Geschichte von der übergroßen Stärke einer Mutter, deren Sohn vor ihren Augen gefoltert und getötet wurde, doch rührt diese Stärke daraus, dass sie die „Magd des Herrn“ ist – ohne Bedingungen. Darin enthüllt sich die äußerste Vollkommenheit und Stärke, die ein menschliches Wesen überhaupt nur haben kann. Sie hat Christus so geliebt, wie wir ihn auch lieben sollen, und diese Liebe bestand in der Selbsthingabe, die nichts für sich selbst fordert. Sie ist aber auch das Vorbild der mütterlichen Liebe zwischen den Menschen. Ich könnte weinen, wenn ich daran denke, wie sie ihren Sohn geliebt hat, genau wie ich meine Söhne liebe, und wie sie dabeistehen musste, als er litt, wie kein Mensch je gelitten hat. Welche Mutter kann das ertragen? So viele Mütter haben ebenso gelitten, als sie ihre Kinder verloren, ohne helfen zu können; aber sie waren fähig, bis zum Ende zu lieben.

In allen lutherischen Gotteshäusern Finnlands hängt eingerahmt ein Brief des Generals Mannerheim, der während des Zweiten Weltkriegs die finnische Armee befehligte.

Er ist an die finnischen Mütter gerichtet, zum Dank für die Opfer, die sie für ihr Land gebracht haben. Sie hatten ihre Söhne in diesem furchtbaren Krieg verloren. Gewöhnlich denkt niemand an die stillen Mütter und deren Leiden aus Liebe. Für mich ist Maria ein nachahmenswertes Vorbild als Frau und als Mensch, so viel weiß ich. Sie wusste, wie man liebt, mehr als irgendein anderer Mensch. Das liegt auf der Hand. Den Rest – ihre Rolle im geistigen Leben von so vielen – muss ich mir noch in größerem Maß erschließen. Doch in Lourdes habe ich immerhin etliche meiner Vorurteile abgestreift. Die vielen Millionen, die Jahr für Jahr kommen, um Maria zu ehren und um ihre Fürsprache zu bitten, haben meine Vorurteile nicht. Sie kennen Maria wahrscheinlich schon ihr ganzes Leben lang. Wie meine Freundin sagte: „Sag es ihr, dass du sie nicht kennst.“ Vielleicht ist es am Ende wirklich so einfach. Ich werde es versuchen.   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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[1] Janne Haaland Matláry: Love-Story – So wurde ich katholisch, geb., 256 S., 18,95 Euro (D), 19,50 Euro (A), ISBN: 978-3-9454018-7-3, Verlag Media Maria, Tel. 07303-9523310, E-Mail: buch@ media-maria.de

Zur Aufhebung der Ordensgemeinschaft der „Weißen Schwestern“

Folgen der Isolierung Russlands

Pfarrer Erich Maria Fink, der seit Beginn des Jahres 2000 für den seelsorglichen Dienst in Russland freigestellt ist, beobachtet die gesellschaftspolitische Entwicklung des Landes mit gemischten Gefühlen. Einerseits begrüßt er die Stärkung des kirchlichen Lebens in der Öffentlichkeit, andererseits aber sieht er in der Abhängigkeit der Kirche vom Staat auch Gefahren. Die Aufhebung der russisch-orthodoxen Gemeinschaft der „Weißen Schwestern“ betrachtet er als Signal, das dem Westen zu denken geben sollte.

Von Erich Maria Fink

Am 11. April 2018, es war der Mittwoch nach dem russisch-orthodoxen Osterfest, wurde ich vom orthodoxen Metropoliten Methodius zu einem geistlichen Konzert eingeladen. Es fand in einem der größten Theatersäle unserer Gebietshauptstadt Perm, dem sog. „Soldatenpalast“, statt. Im Rahmen der Veranstaltung gratulierte die politische Führung der Permer Region sowie der Stadt Perm dem Metropoliten und der Bevölkerung zum Fest der Auferstehung Christi. Abschließend hielt der Metropolit eine eindrucksvolle Festansprache. Er entfaltete das Geheimnis der Ausbreitung des Reiches Gottes. Es seien einfache Fischer gewesen, ohne Reichtum und staatliche Macht, die Zeugnis für Christus abgelegt und seine Botschaft bis an die Grenzen der Erde getragen hätten. So habe der Apostel Andreas, wie es am Beginn des Konzerts gezeigt worden sei, das Evangelium auch nach Russland gebracht. Vor dem Kreuz hätten alle ihre Knie gebeugt, ebenfalls von den Artisten eindrucksvoll gespielt. Daraus habe die „Heilige Rus“, also das Kiewer Reich, aus dem das spätere Russland hervorgegangen sei, die ganze Geschichte hindurch ihre Kraft und ihr Selbstverständnis geschöpft. Schließlich schwor der Metropolit die Anwesenden auf eine aufrichtige Treue zur christlichen Überlieferung ein.

Letztlich war das ganze Programm, das zu diesem Abend im Kulturpalast vorgestellt wurde, ein einzigartiges Zeugnis für den christlichen Glauben, wie es auf einer öffentlichen Veranstaltung in unserem säkularisierten Westen unvorstellbar wäre. Man muss anerkennen, dass ein solches Osterkonzert einen nachhaltigen Beitrag zur Neuevangelisierung der Gesellschaft leisten kann und eine tiefgehende Rückbesinnung auf die christlichen Ursprünge der russischen Nation darstellt.

Für mich persönlich war es eine völlig unverdiente Auszeichnung, dass ich nach dem Konzert im kleineren Rahmen vor den Ehrengästen sprechen durfte. Der Metropolit scheute sich nicht, mich bei den politischen Verantwortlichen als Vertreter der katholischen Kirche einzuführen und von der freundschaftlichen Beziehung zu sprechen, die uns verbindet.

Erstarken eines neuen Patriotismus

Das ist die eine Seite, die ich positiv hervorheben möchte. Doch gleichzeitig beobachte ich im heutigen Russland eine Entwicklung, die in Richtung Abschottung geht. Die politische Isolierung des Landes durch die internationale Staatengemeinschaft führt verständlicherweise zu einer Gegenbewegung. Ich möchte dafür niemandem die alleinige Schuld geben. Doch ist die Politik des Westens gegenüber Russland ohne Zweifel mitverantwortlich für den Weg, den die russische Gesellschaft insbesondere seit dem Ukraine-Konflikt eingeschlagen hat. Und wer die Auswirkungen auf die Bevölkerung ehrlich betrachtet, kann die Kursänderungen nachvollziehen. Es bildet sich immer stärker eine Bewegung heraus, die offiziell „Patriotismus“ genannt wird und auf eine Art Selbstverteidigung abzielt. Sie verbindet verschiedene Aspekte miteinander und weist auch religiöse Züge auf. Im Vordergrund steht das Bemühen, dem Volk ein Ehrgefühl zurückzugeben. Dazu versucht man, das Bewusstsein der eigenen Identität zu stärken, und zwar besonders mithilfe der russisch-orthodoxen Traditionen. Auf dieser Grundlage soll die Bereitschaft wachsen, die eigene Nation gegen Anfeindungen von außen zu verteidigen. Ich möchte nicht von einer Militarisierung des Landes sprechen, doch spielt militärische Stärke für diese neue Art des russischen Patriotismus natürlich auch eine wichtige Rolle.

Konsequenzen für die Russisch-Orthodoxe Kirche

Im Grunde genommen sind die Anliegen alle berechtigt. Doch konkret gerät nun die Russisch-Orthodoxe Kirche in die Gefahr, als Instrument zur Stärkung der patriotischen Bewegung benützt zu werden. Offenkundig wird sie für den staatlich geförderten Patriotismus in Dienst genommen und soll ihm Gestalt verleihen, ihm gleichsam den national geprägten, kulturellen Stempel aufprägen.

Natürlich ist anzuerkennen, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche davon zunächst auf vielen Gebieten profitiert. Sowohl in den Bereichen Bildung und Kultur als auch in Rechts- und Grundstücksfragen wird sie bevorzugt. Dies stärkt sie ungemein und hilft ihr beim Wiederaufbau nach all den Zerstörungen durch den atheistischen Sozialismus. Unzählige Bau- und Renovierungsarbeiten konnten mit staatlicher Unterstützung verwirklicht werden. Zehntausende von Kirchen und Kapellen wurden bereits neu eingeweiht.

Damit geht jedoch eine andere Entwicklung einher. Es besteht eben die Tendenz einer Neuauflage des Staatskirchentums, wie es in Russland eine lange Tradition hat. Die Bestimmung des Staates über die Kirche sowohl in organisatorischen als auch in inhaltlichen Fragen ist ein Erbe des byzantinischen, oströmischen Reichs, das unter der Herrschaft von Zar Iwan IV. (1530-1584), bekannt als Iwan der Schreckliche, in Russland Eingang gefunden hat. Voll zur Entfaltung kam es unter Peter dem Großen, der das Patriarchat abschaffte und den Heiligen Synod gleichsam als staatliches Organ zur Leitung der Kirche einsetzte. Ausgerechnet die Bolschewiken stellten 1917 das Patriarchat wieder her, allerdings um auf ganz andere Weise die Kirche zu kontrollieren.

Was sich nun in Russland vollzieht, lässt sich mit keiner vorausgehenden Periode vergleichen, doch beginnt der Staat wiederum, der Kirche im nationalen Interesse den Weg zu weisen. Denn man bemüht sich darum, die Kirche in die Lage zu versetzen, der russischen Bevölkerung eine nationale Identität zu verleihen. Dadurch verliert sie in gewisser Weise ihre Unabhängigkeit und wird zu einem kulturellen, gesellschaftspolitischen Werkzeug umgeformt.

Karitative Ordensgemeinschaft unter orthodoxem Vorzeichen

Es ist nicht zu übersehen, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche auf diesem Hintergrund von allem gereinigt werden soll, was sie irgendwie in die Nähe der katholischen Kirche oder der kulturellen Traditionen des Westens rücken könnte.

Ich darf ein Beispiel nennen, wie sich diese Entwicklung in der Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche bemerkbar macht. In ganz Russland ist die hl. Elisabeth von Hessen-Darmstadt (1864-1918) hoch verehrt. Hier ist sie als Großfürstin Jelisaweta Fjodorowna Romanowa bekannt. Sie stammte aus Deutschland, heiratete 1884 den Bruder von Zar Alexander III., nämlich den Großfürsten Sergej Alexandrowitsch, und trat 1891 vom evangelisch-lutherischen zum russisch-orthodoxen Bekenntnis über. Im selben Jahr wurde ihr Mann zum Generalgouverneur von Moskau ernannt, doch 1905 von einem revolutionären Attentäter ermordet. Daraufhin gründete Elisabeth, die ihr ganzes Leben ausgesprochen sozial engagiert war, eine Ordensgemeinschaft für Schwestern, welche mit dem Gebetsleben auch die Werke der Nächstenliebe verbinden sollten, die „Gemeinschaft der Schwestern der Liebe und Barmherzigkeit“. Sie gab der ersten Niederlassung den bezeichnenden Namen „Martha-Maria-Kloster der Barmherzigkeit“.

Das Moskauer Patriarchat hatte damals die Statuten für ihren Orden nach langem Ringen und intensiver Überarbeitung anerkannt. Das war nicht selbstverständlich. Denn in Russland hatte es immer nur eine einzige Form des gottgeweihten Lebens gegeben und nicht unterschiedliche Ausrichtungen wie im Westen, wo sich unzählige unterschiedliche Ordensgemeinschaften mit ganz spezifischen Charismen herausgebildet haben. Mit der Gründung eines karitativ geprägten Ordens also hatte Elisabeth in der Russisch-Orthodoxen Kirche ein ganz neues Terrain betreten.

Ihr Kloster im Zentrum Moskaus, in dem sie eine Armenküche, ein Krankenhaus, Operations- und Verbandszimmer, eine Apotheke, eine Bibliothek und Mädchenklassen einrichtete, war für Russland jedenfalls etwas Ungewöhnliches. Der Orden blühte auf und entfaltete eine unglaubliche Tätigkeit. Doch die Bolschewiken setzten diesem Wirken ein jähes Ende. Im April 1918 wurde zunächst Elisabeth als Mitglied der Zarenfamilie verhaftet. Das Kloster selbst wurde erst 1926 geschlossen, als die letzten Schwestern nach Zentralasien deportiert wurden. Der Zusammenbruch des Kommunismus aber brachte auch für dieses Martha-Maria-Kloster eine Wende. 1994 wurde es wiederbelebt und erfuhr einen neuen Aufbruch weit über die Grenzen Russlands hinaus.

Reinigung der Gesellschaft und der Kirche von westlichen Einflüssen

Als ich die Geschichte dieser hl. Elisabeth von Hessen-Darmstadt kennenlernte, erwählte ich sie zur Patronin unserer sozialen Projekte im Ural. Sie wurde für mich persönlich zu einem geistlichen Begleiter vom Himmel her und zu einem Vorbild für unser katholisches Russlandapostolat in Beresniki und Umgebung. Ich stellte einen Kontakt zu dem wiedereröffneten Kloster in Moskau her und pflegte rege Beziehungen mit den dortigen „Weißen Schwestern“, wie sie im Gegensatz zu den traditionellen Ordensfrauen der orthodoxen Kirche in Russland genannt werden. Schließlich richtete ich sogar eine offizielle Anfrage an das Kloster, ob der Orden nicht eine Niederlassung hier in Beresniki gründen könnte, um mit uns auf sozialem Gebiet zusammenzuarbeiten. Wir boten sogar eines unserer Häuser in Jajwa an, wo sich unser Rehabilitationszentrum für Drogen- und Alkoholabhängige befindet. Damals hieß es, die Gemeinschaft habe für solche Pläne noch zu wenige Mitglieder. Doch war ich als Gast in der Moskauer Niederlassung immer willkommen, sogar beim gemeinsamen Essen im Refektorium der Klostergemeinschaft.

Ende August dieses Jahres besuchten wir nun dieses Kloster im Rahmen einer „Geistlichen Studienreise“, welche Pfr. Erwin Reichart, der neue Leiter der Wallfahrtskirche Maria Vesperbild in meiner Heimatdiözese Augsburg, nach Moskau organisiert hatte. Ich erzählte den 34 Teilnehmern schon im Vorfeld mit großer Begeisterung von der Geschichte dieses Ordens und erklärte, dass er eine echte Brücke zwischen West- und Ostkirche darstelle. Als wir dort ankamen, fanden wir das gesamte Gelände als Baustelle vor. Die Anlage wird mit kostbaren Materialen restauriert und zu einem Vorzeigeobjekt umgebaut. Mich wunderte bereits, dass nicht eine der „Weißen Schwestern“ die Führung durch das Museum hielt, wie ich es von früher her gewohnt war, sondern eine weltliche Museumsdirektorin. Auch die Ausführungen selber ließen uns etwas ratlos zurück, sodass ich als Übersetzer ständig etwas ergänzen musste. Denn der Akzent lag nicht auf dem karitativen Engagement der hl. Elisabeth, sondern auf dem Leben des Priesters, der das Kloster als erster geistlicher Leiter betreut hatte und inzwischen auch heiliggesprochen wurde. Es handelt sich um Archimandrit Sergej, mit bürgerlichem Namen Mitrofan Wassiljewitsch Srebrjanskij. Am Ende der Exkursion fragten wir die Führerin, wie viele „Weiße Schwestern“ es heute gebe. Da erhielten wir eine Antwort, welche das Rätsel löste. Etwas überrascht nämlich sagte die Direktorin des Museums, ob wir denn nicht wüssten, dass der Russisch-Orthodoxe Patriarch Kyrill vor zwei Jahren den Orden aufgelöst und das Kloster in eine klassische Gemeinschaft von „Schwarzen Schwestern“ umgewandelt habe. Davon gebe es im Moment 20 Schwestern. In den sozialen Einrichtungen aber würden nun weltliche Angestellte arbeiten.

Entwicklung auf Kosten der freien Religionsausübung

Dass die „Reinigung“ der orthodoxen Kirche von westlichen Elementen sogar so weit gehen würde, dass der karitative Orden der hl. Elisabeth von Hessen-Darmstadt einfach eliminiert wird, hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten. Diese Maßnahme ist nur auf dem Hintergrund des neuen russischen Patriotismus erklärbar.

Umso mehr wird natürlich die katholische Kirche in Russland selbst zunehmend als Fremdkörper wahrgenommen. Wer sich zur katholischen Kirche bekennt, gilt im Sinn des neuen patriotischen Identitätsbewusstseins schon als verdächtig. Es verbreitet sich die Stimmung, als ob diejenigen, die in unsere Kirche gehen, dadurch einen Verrat üben oder bereits mit dem amerikanisch dominierten Westen kooperieren würden. Für einfache Gläubige kann eine solche öffentliche Meinung sehr belastend werden, so dass sie sich lieber von der katholischen Kirche ganz zurückziehen.

Faktisch geht die derzeitige Entwicklung somit auf Kosten der freien Religionsausübung anderer Konfessionen, auch wenn bislang immer die verfassungsmäßig garantierte Neutralität des Staates hervorgehoben wird. Wir müssen zugestehen, dass wir als katholische Kirche bislang keine ernsthaften Einschränkungen spüren. Wir können tatsächlich völlig frei arbeiten. Aufgrund der Atmosphäre, die durch die Medien geschaffen wird, entstehen jedoch Spannungen und Widerstände. Diese können sich beispielsweise in rechtlichen und administrativen Fragen des täglichen Lebens bemerkbar machen.

Ausblick

Es geht nicht nur um die „Weißen Schwestern“, sondern um die Stellung des sozialen Engagements in der Russisch-Orthodoxen Kirche überhaupt. Dort hat sich die Diakonie, der caritative Dienst, nie richtig entwickelt. Außer Almosengeben bildet die soziale Komponente bei den Orthodoxen kein wesentliches Element des kirchlichen Lebens. So gibt es beispielsweise auch keine Soziallehre, wie sie von der katholischen Kirche seit über hundert Jahren – beginnend mit Papst Leo XIII. – vorgelegt und entfaltet wurde.

Umso mehr sind wir als katholische Kirche in Russland gefordert, mit unserer Arbeit unbeirrt fortzufahren und nach dem Vorbild der hl. Mutter Teresa unser Zeugnis für das Evangelium Jesu Christi abzulegen. „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe“, so sagt Jesus und er macht klar, dass daran die Welt erkennen soll, dass wir seine Jünger sind. Gleichzeitig gilt es Verständnis für die Situation der orthodoxen Kirche aufzubringen. Auf der Krim beispielsweise hat sie sich seit der Wende vehement jedem Vorhaben der römisch-katholischen Kirche zur Wehr gesetzt. Nach dem Besuch von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin bei Präsident Putin und Patriarch Kyrill genügte ein Anruf aus dem Kreml und die orthodoxe Kirche musste klein beigeben. So haben die Behörden dieses Jahr ganz überraschend das alte Gotteshaus in Sewastopol der katholischen Kirche zurückgegeben und ihr in Simferopol einen Bauplatz für eine katholische Kathedrale zur Verfügung gestellt.

Auch die Bemühungen, der orthodoxen Kirche, in der Ukraine die Autokephalie zuzuerkennen und sie dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel zuzuordnen, haben politische Hintergründe. Der Westen unterstützt die Maßnahmen, um dadurch die Ukraine weiter von Russland loszulösen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche wird damit in eine existentielle Zerreißprobe hineingeworfen. Sie kann sich aufgrund ihrer eigenen politischen Abhängigkeit von Russland nie mit einem solchen Schritt abfinden und muss deshalb den völligen Bruch mit Konstantinopel in Kauf nehmen.

Die katholische Kirche jedoch kann sich über die neu entstehenden Wunden innerhalb der Orthodoxie nicht freuen, denn dadurch werden die Bemühungen um die Einheit zwischen Ost und West um ein Vielfaches erschwert und auf unbestimmte Zeit zurückgeworfen. Ich kann nur dafür plädieren, von katholischer Seite aus der Russisch-Orthodoxen Kirche trotz aller Vorbehalte gegenüber ihrer Abhängigkeit vom russischen Staat Verständnis und behutsame Solidarität entgegenzubringen.   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2018
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