Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Der Herr selbst hat seine Kirche auf den Felsen Petri gegründet. Seinem Wesen nach besteht dieser Felsen im Bekenntnis des Glaubens, dass Jesus, der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes ist. Es hat eine tiefe Bedeutung, dass Jesus die Erwählung des Petrus in dem Augenblick ausspricht, als dieser stellvertretend für alle Apostel die Frage des Meisters beantwortet: „Für wen haltet ihr mich?“ Das Fundament der Kirche ist der Glaube an Jesus Christus. Und dieser Glaube ist es, der alle Jünger miteinander verbindet. Natürlich schafft die Taufe, die auf dem Glauben aufbaut, die tiefste Einheit, indem sie alle Christen in den Leib Christi einfügt und als dessen Glieder geheimnisvoll vereint. Sichtbar aber tritt die Einheit der Jünger Christi vor der Welt an erster Stelle durch das Bekenntnis des gemeinsamen Glaubens in Erscheinung. So ist das Amt des Petrus als Garant für den wahren Glauben an Jesus Christus das sichtbare Zeichen der Einheit der Kirche.

Der Felsen Petri lebt im Amt des Papstes bis ans Ende der Zeiten fort. Bezeichnenderweise nennt die Tradition der Kirche den Nachfolger des hl. Petrus „Pontifex“, „Brückenbauer“. Der Papst ist nicht nur als Repräsentationsfigur Zeichen der Einheit, vielmehr hat er die Berufung, im Dienst an der Einheit der Kirche Brücken zu bauen. Dabei geht es nicht in erster Linie um Vermittlung und Zusammenführung im weltlichen Sinn. Eine solche geschieht gewöhnlich durch Ausgleich und Kompromisse. Der Papst hingegen ist vorrangig Brückenbauer durch die Stärkung im Glauben, wo immer sich Glieder der Kirche vom Glauben der Weltkirche entfernen.

Papst Franziskus, der in unseren Tagen den Petrusdienst ausübt, hat nun einen eigenen Brief „an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ gerichtet. Es handelt sich um einen außerordentlichen Vorgang, der höchste Beachtung verdient. Denn relativ selten wendet sich ein Papst in dieser Form an die Katholiken eines bestimmten Landes. So hat etwa Papst Benedikt XVI. 2007 an die chinesischen Katholiken geschrieben. Mit väterlicher Sorge versuchte er einen Weg der Annäherung und Aussöhnung zwischen der romtreuen Untergrundkirche und der sog. „Chinesischen Katholisch-Patriotischen Vereinigung“, den staatshörigen Katholiken, in Gang zu setzen. Außerdem hatte Benedikt XVI. 2010 im Zusammenhang mit den Missbrauchsskandalen einen Hirtenbrief an die Katholiken in Irland gerichtet, ähnlich wie Franziskus 2018 an die Katholiken in Chile.

Mit seinem Brief an die katholische Kirche in Deutschland greift Papst Franziskus vollkommen überraschend in den Diskussionsprozess ein, den die deutschen Bischöfe mit ihrem sog. „synodalen Weg“ eingeleitet haben. Dieser Weg hängt zwar auch mit der Aufarbeitung der Missbrauchsskandale zusammen, doch der Papst geht auf dieses Thema nicht ausdrücklich ein. Ihn bewegt vielmehr eine andere Sorge. Als Pontifex, als Brückenbauer, hat er die Einheit im Blick. Die Lösung der Probleme sieht er allein in der Erneuerung des Glaubens. So haben wir den Papstbrief, der sehr unterschiedlich interpretiert wird, als Titelthema gewählt und versuchen dazu eine Orientierungshilfe zu geben. Die Akzente, die Franziskus in seinem Schreiben setzt, werden durch den Vortrag, den Prof. George Weigel (USA) vor kurzem in München gehalten hat, sehr konkret vertieft.

Liebe Leser, wir sind Papst Franziskus für seinen Brief ausgesprochen dankbar und wünschen Ihnen eine gewinnbringende Lektüre dieser Doppelausgabe. Wir bitten Sie, unser Apostolat großherzig zu unterstützen und sagen Ihnen für Ihre Spenden ein aufrichtiges Vergelt’s Gott. Möge Sie auf die Fürsprache unserer himmlischen Mutter Maria Gottes Segen begleiten!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Der Brief des Papstes an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland

Pastorale Bekehrung

Der Papstbrief an die Katholiken in Deutschland ist für Pfarrer Erich Maria Fink ein eindeutiges Signal. Franziskus habe die deutschen Bischöfe nicht einfach ermutigt, den eingeschlagenen „synodalen Weg“ fortzusetzen, wie es vielfach dargestellt werde. In Wirklichkeit habe Rom mit höchster kirchlicher Autorität gleichsam die Notbremse gezogen. Denn der Papst sehe die Gefahr, dass unter dem Vorzeichen von „Synodalität“ nationale Alleingänge durchgesetzt werden, die zu Spaltungen führen könnten. Die aufgetretenen Probleme würden dadurch nicht überwunden, sondern im Gegenteil noch verstärkt. Weder die Abschaffung des Zölibats, noch eine Aufweichung der kirchlichen Sexualmoral könnten die Kirche in Deutschland aus ihrer Krise herausführen, sondern nur eine „pastorale Bekehrung“. Dabei geht Pfarrer Fink der Frage nach, was Papst Franziskus unter „Synodalität“ versteht und welche Hilfe er mit seinem Brief der Kirche in Deutschland anbietet.

Von Erich Maria Fink

Papst Franziskus hat einen „Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ geschrieben. Das Dokument umfasst 19 Seiten und ist eine Reaktion auf den „synodalen Weg“, wie ihn die deutschen Bischöfe auf ihrer Frühjahrsvollversammlung dieses Jahres in Lingen beschlossen haben. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Prof. Dr. Thomas Sternberg, erklärten noch am Tag der Veröffentlichung des Briefes, sie fühlten sich durch das päpstliche Schreiben ermutigt, den „angestoßenen Prozess“ fortzusetzen.

Tatsache ist jedoch, dass der Papst mit dem Brief auf sehr ungewöhnliche Weise in diesen Prozess eingegriffen hat. Er macht sich Sorgen um eine Entfremdung der Kirche in Deutschland von der Weltkirche und mahnt mit überdeutlichen Worten eine umfassende Umkehr an. Gleichzeitig ist der Brief weit davon entfernt, die Adressaten einfach nur zur Ordnung rufen zu wollen. Papst Franziskus möchte den Katholiken in Deutschland bei der Lösung ihrer Probleme beistehen und ihnen die Augen dafür öffnen, dass Erneuerung auf einer ganz anderen Ebene ansetzen muss. Nach den Aussagen des Papstes läuft der „synodale Weg“, wie er sich bisher zeigt, Gefahr, sich in Auseinandersetzungen und Scheinlösungen zu verfangen, die letztlich am Evangelium verbeigehen (vgl. Nr. 12).

„Evangelisierung“ als Leitkriterium

Wenn das Augenmerk nicht auf Jesus Christus gerichtet wird, wenn die Gläubigen nicht auf den gekreuzigten und auferstandenen Erlöser ihr Vertrauen setzen und bereit sind, ihm zu dienen, kann das Reich Gottes nicht wachsen. In seinem Brief stellt Papst Franziskus fest: „Unsere Sendung und unser Daseinsgrund wurzelt darin, dass ,Gott die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben‘ (Joh 3,16).“ (Nr. 6). So muss es der Kirche immer um die Frage gehen, wie sie Menschen zum Gauben an Jesus Christus führen kann, in dem allein ewiges Leben zu finden ist.

„Evangelisierung“ ist das Hauptthema, das sich wie ein roter Faden durch den Papstbrief zieht: „Pastorale Bekehrung ruft uns in Erinnerung, dass die Evangelisierung unser Leitkriterium schlechthin sein muss, unter dem wir alle Schritte erkennen können, die wir als kirchliche Gemeinschaft in Gang zu setzen gerufen sind; Evangelisieren bildet die eigentliche und wesentliche Sendung der Kirche. Deshalb ist es, wie Eure Bischöfe bereits betont haben, notwendig, den Primat der Evangelisierung zurückzugewinnen, um die Zukunft mit Vertrauen und Hoffnung in den Blick zu nehmen, denn ,die Kirche, Trägerin der Evangelisierung, beginnt damit, sich selbst zu evangelisieren. Als Gemeinschaft von Gläubigen, als Gemeinschaft gelebter und gepredigter Hoffnung, als Gemeinschaft brüderlicher Liebe muss die Kirche unablässig selbst vernehmen, was sie glauben muss, welches die Gründe ihrer Hoffnung sind und was das neue Gebot der Liebe ist‘.“ (Nr. 6f.).

Und Franziskus fährt fort: „Die Evangelisierung ist ein Weg der Jüngerschaft in Antwort auf die Liebe zu Dem, der uns zuerst geliebt hat (vgl. 1 Joh 4,19); ein Weg also, der einen Glauben ermöglicht, der mit Freude gelebt, erfahren, gefeiert und bezeugt wird.“ (Nr. 7).

Synodalität als „konstitutive Dimension der Kirche“

Papst Franziskus selbst hat immer wieder zur „Synodalität“ bzw. zum „synodalen Weg“ aufgerufen. Umso wichtiger ist es ihm nun, dass er dabei richtig verstanden wird. Im Brief selbst erinnert er daran: „Meinerseits habe ich meine Betrachtungen zum Thema Synodalität anlässlich der Feier des 50-jährigen Bestehens der Bischofssynode dargelegt (Apostolische Konstitution Episcopalis communio, 15. September 2018). Es handelt sich im Kern um einen synodos, einen gemeinsamen Weg unter der Führung des Heiligen Geistes. Das aber bedeutet, sich gemeinsam auf den Weg zu begeben mit der ganzen Kirche unter dem Licht des Heiligen Geistes, unter seiner Führung und seinem Aufrütteln, um das Hinhören zu lernen und den immer neuen Horizont zu erkennen, den er uns schenken möchte. Denn die Synodalität setzt die Einwirkung des Heiligen Geistes voraus und bedarf ihrer.“ (Nr. 3).

Und in der genannten Apostolischen Konstitution, mit der er den Begriff der „Synodalität“ in die offizielle Lehrverkündigung der Kirche eingeführt hat, heißt es, die Bischofssynode sei „ein geeignetes Instrument, um dem ganzen Volk Gottes gerade durch die Bischöfe, die von Gott ,als authentische Hüter, Ausleger und Zeugen des Glaubens der ganzen Kirche‘ eingesetzt wurden, Stimme zu verleihen, und sich so von Versammlung zu Versammlung als eloquenter Ausdruck der Synodalität als ,konstitutive Dimension der Kirche, erweist“. (Nr. 6).

Papst Franziskus betont zwar immer wieder, dass sich Bischöfe und Gläubige gemeinsam auf den Weg machen müssen, dass die Bischöfe auf das Volk Gottes hinhören müssen, doch stellt er gleichzeitig klar, dass die Bischofe auf diesem Weg „die authentischen Hüter und Ausleger des Glaubens“ sind und bleiben. Ähnlich unterstreicht er gegenüber dem pilgernden Gottesvolk in Deutschland auch seine Verantwortung als Nachfolger des hl. Petrus, wenn er den Brief mit Datum vom 29. Juni 2019, dem Hochfest der heiligen Apostel Petrus und Paulus veröffentlicht hat.

Auch im Zusammenhang mit der Jugendsynode im Oktober 2018 stellte Franziskus die „Synodalität“ als wichtigen Aspekt des kirchlichen Lebens heraus. Sie war für ihn sogar das Entscheidende an der ganzen Versammlung. Im nachsynodalen Schreiben „Christus vivit“ hebt er hervor, das Dokument sei zwar „an alle jungen Christen“ gerichtet, „da es jedoch auch einen Meilenstein auf einem synodalen Weg darstellt, wende ich mich ebenso an das ganze Volk Gottes, an die Hirten und an die Gläubigen, denn das Nachdenken über und für die jungen Menschen fordert uns alle heraus und spornt uns an.“ (Nr. 3).

Das pilgernde Gottesvolk auf der Suche nach dem Willen Gottes

Für Franziskus ist „Synodalität“ eine bestimmte Form des Miteinanders in der Kirche, durch welche sie besser erkennen kann, was Gott in der heutigen Zeit von ihr will und auf welchem Weg er sie in die Zukunft führen will. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Heilige Geist auf besondere Weise wirken kann, wenn sich Hirten und Gläubige miteinander auf den Weg machen, wenn alle Beteiligten versuchen, aufeinander zu hören und einander zu verstehen, wenn sie vertrauensvoll und in aufrichtiger gegenseitiger Hochschätzung ihre Erfahrungen austauschen und dabei die Autorität, die Verantwortung und das Charisma eines jeden einzelnen anerkennen.

Der Papst sieht „Synodalität“ als authentische Form, wie das „pilgernde Volk Gottes“ sein übernatürliches Wesen verwirklichen kann. Sie ist weit davon entfernt, kirchliches Leben auf reine Demokratie zu verkürzen oder auf sozilogische Mechanismen einzuebnen. So betont Franziskus, dass Synodalität unter dem Vorzeichen des Evangeliums gelebt werden muss. Das heißt, dass es allen, die an diesem Austausch teilnehmen, um die Ausbreitung des Reiches Gottes gehen muss, dass alle ganz ehrlich nach dem Willen Gottes fragen und bereit sein müssen, sich selbstlos für den Dienst an Gott und den Menschen einzusetzen. Echter missionarischer Eifer sowie der Geist des Dienens und der Hingabe sind für Papst Franziskus die Voraussetzungen für wahre „Synodalität“, durch welche sich göttliches Wirken entfalten kann.

Franziskus drückt es auch in diesem Zusammenhang auf seine gewohnte Weise aus: „Diese Haltung der Entäußerung erlaubt es uns auch, die kreative und immer reiche Kraft der Hoffnung zu erfahren, die aus der Armut des Evangeliums geboren wurde, zu der wir berufen sind; sie macht uns frei zur Evangelisierung und zum Zeugnis.“ (Nr. 12).

Gleicht euch nicht dieser Welt an!

Papst Franziskus nennt weder den Skandal des Missbrauchs beim Namen, noch verliert er überhaupt ein Wort zu den drei Themen „des synodalen Wegs“, nämlich den Zölibat, die Sexualmoral und die kirchlichen Machtstrukturen. Er lässt sich bewusst nicht auf solche Diskussionen ein und möchte damit zum Ausdruck bringen, dass damit von vornherein der falsche Ansatz gewählt wäre. Er antwortet auf den eingeschlagenen Weg mit einer zweifachen Mahnung, nämlich den Sensus Ecclesiae und die Umkehr zu leben.

Die Kirche dürfe nicht der Versuchung verfallen, so der Papst, dass sie ihr Leben „der derzeitigen Logik oder jener einer bestimmten Gruppe anpasst“ (Nr. 5). Die Synodalität „muss immer von der Gnade der Umkehr begleitet sein, damit unser persönliches und gemeinschaftliches Handeln sich immer mehr der Kenosis Christi angleichen und sie darstellen kann (vgl. Phil 2,1-11). Als Leib Christi sprechen, handeln und antworten, bedeutet auch, in der Art und Weise Christi mit den gleichen Haltungen, mit derselben Umsicht und denselben Prioritäten zu sprechen und zu handeln. Dem Beispiel des Meisters folgend, der ,sich selbst entäußerte, und wie ein Sklave wurde‘ (Phil 2,7), befreit uns die Gnade der Bekehrung deshalb von falschen und sterilen Protagonismen.“ (Nr. 12).

Schließlich fasst der Papst zusammen, was die christliche Verkündigung von der Kirche erfordert: „Jesus Christus ist der Herr! Wir bedürfen des Gebetes, der Buße und der Anbetung, die es uns ermöglichen, mit dem Zöllner zu sprechen: ,Gott, sei mir Sünder gnädig!‘ (Lk 18,13), nicht in heuchlerischer, infantiler oder kleinmütiger Weise, sondern mit dem Mut, die Tür zu öffnen und das zu sehen, was normalerweise durch Oberflächlichkeit, durch die Kultur des Wohlbefindens und des Augenscheins verdeckt bleibt.“ (Nr. 12).

Der gelebte „Sensus Ecclesiae“

Fünfmal verwendet der Papst den Ausdruck „Sensus Ecclesiae“, was er als Denken und Empfinden mit der ganzen Kirche versteht. „Mit dem Hintergrund und der Zentralität der Evangelisierung und dem Sensus Ecclesiae als bestimmende Elemente unserer kirchlichen DNA beansprucht die Synodalität bewusst eine Art und Weise des Kirche-Seins anzunehmen, bei dem ,das Ganze mehr ist als der Teil‘, und es ist auch mehr als ihre einfache Summe. Man darf sich also nicht zu sehr in Fragen verbeißen, die begrenzte Sondersituationen betreffen, sondern muss immer den Blick weiten, um ein größeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen bringt.“ (Nr. 11). 

Es sei Aufgabe „dieses Prozesses“, und damit meint der Papst eben auch den „synodalen Weg“, „gerade in diesen Zeiten starker Fragmentierung und Polarisierung sicherzustellen, dass der Sensus Ecclesiae auch tatsächlich in jeder Entscheidung lebt, die wir treffen, und der alle Ebenen nährt und durchdringt“. Daraus ergebe sich „die Notwendigkeit, die Gemeinschaft mit dem ganzen Leib der Kirche immer lebendig und wirksam zu erhalten.“ (Nr. 9). Würde sich die Kirche in Deutschland von der Glaubenslehre und der kirchlichen Disziplin der Gesamtkirche abkoppeln, wäre sie zum Scheitern verurteilt: Falls Teilkirchen „von der Weltkirche getrennt wären, würden sie sich schwächen, verderben und sterben.“ Nur wer den Sensus Ecclesiae in Einheit mit der Gesamtkirche lebe, wir könnten auch sagen, mit dem Petrusnachfolger, könne „erblühen“. (Nr. 9).

Ausblick

Papst Franziskus spricht uns aus dem Herzen, wenn er ungeschminkt beim Namen nennt, was wir tagtäglich erleben: „Heute indes stelle ich gemeinsam mit euch schmerzlich die zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens fest mit all dem, was dies nicht nur auf geistlicher, sondern auch auf sozialer und kultureller Ebene einschließt.“ (Nr. 2).

Und die deutschen Bischöfe haben sich nicht zuletzt für einen „synodalen Weg“ entschieden, weil sie die Notwendigkeit einer neuen Evangelisierung sehen und ehrlich auf der Suche nach dem richtigen Weg in die Zukunft sind. Wir müssen den Verantwortlichen zugestehen, dass sie im Grunde genommen das Konzept der „Synodalität“ verwirklichen wollen, das uns Papst Franziskus aufgetragen hat, ganz im Sinn seiner Worte in der Einleitung seines Briefes: „Wir sind uns alle bewusst, dass wir nicht nur in einer Zeit der Veränderungen leben, sondern vielmehr in einer Zeitenwende, die neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und notwendig ist.“

Auf Pfarrei- und Diözesanebene gibt es in Deutschland bereits zahlreiche Ansätze, die einen missionarischen Aufbruch im Sinn des Papstbriefes wagen. Aber es ist noch sehr vereinzelt, dass beispielsweise Fühler nach geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften ausgestreckt werden, die Erfahrungen mit aktiver Neuevangelisierung haben. Lichtblicke sind auch Initiativen wie die „Divine Renovation Konferenz“, welche sich vor allem den Weg der Alpha-Kurse und die Impulse des kanadischen Priesters James Mallon zu eigen macht. Ein anderes Bespiel ist der Kongress „Adoratio“, der nun zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum organisiert wird. Bischöfe wie Stefan Oster von Passau und Gregor Maria Hanke von Eichstätt spüren auch, dass wir eine Evangelisierung mit den Schätzen der katholischen Tradition brauchen und beginnen, in Ergänzung zu den „Alpha-Kursen“ sog. „Beta-Kurse“ auszuarbeiten. Einen besonderen Schritt hat auch der emeritierte Augsburger Bischof Konrad Zdarsa vollzogen, als er die Zusammenarbeit mit dem Augsburger Gebetshaus von Dr. Johannes Hartl wagte. Dass an der nächsten Mehr-Konferenz sogar Kurt Kardinal Koch mitwirken wird, ist ein Signal von höchster Ebene, dass diese Aufbrüche eine zukunftsträchtige Richtung anzeigen.     

In dieser „Zeitenwende“, von der Franziskus spricht, kommt nun alles darauf an, dass solche Aufbrüche und Initiativen nicht einsame Rufer in der Wüste bleiben oder an den Rand gedrängt werden, sondern dass sich die Kirche in Deutschland auf allen Ebenen dazu entschließt, die reichen Erfahrungen der Evangelisierung auf Weltebene auch für unser Land fruchtbar zu machen. Welche segensreiche Frucht könnte ein „synodaler Weg“ bringen, wenn er von der Bischofskonferenz dazu genützt würde, beherzt ein gemeinsames Konzept einer katholischen Evangelisierung auszuarbeiten und anzugehen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
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„Wenn Gott sein Haus saniert“

Vom 7. bis 9. Oktober 2019 findet in Fulda eine Divine Renovation Konferenz statt. Die Tagung richtet sich an alle, denen die Erneuerung ihrer Gemeinden ein Herzensanliegen ist. Veranstalter ist Alpha Deutschland e.V. in Zusammenarbeit mit der Stadtpfarrkirche Fulda.

„Divine Renovation – Wenn Gott sein Haus saniert“ – Selten hat ein theologisches Buch in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit gefunden wie dieser Titel, in dem Pfarrer James Mallon aus Halifax im Osten Kanadas den Weg seiner Pfarrei St. Benedict beschreibt und da-bei theologisch fundiert wesentliche Prinzipien der Erneuerung unserer Pfarrgemeinden in der westlichen Hemisphäre aufzeigt. Vom 7. bis 9. Oktober 2019 kommt James Mallon mit seinem Team nach Fulda zur ersten Divine Renovation Konferenz im deutschsprachigen Raum. Mit bestechender Klarheit weist er Pfarrgemeinden den Weg in die Zukunft: „Aus Konsumenten Jünger machen – Von einer bewahrenden zu einer missionarischen Pastoral“ lautet einer der Leitsätze von Divine Renovation.

Ein Schlüsselweg der Erneuerung sind die Alpha-Kurse, die Mallon und die Pfarrei St. Benedict seit Jahren mit großer Fruchtbarkeit veranstaltet. Viele Pfarrgemeinden im angelsächsischen Raum haben in den letzten Jahren die Prinzipien von Divine Renovation mit großem Erfolg erprobt. Die Konferenz in Fulda ermöglicht nun auch deutschsprachigen Gemeinden, sich mit diesem Erneuerungsweg für Pfarrgemeinden näher vertraut zu machen.

Mitwirkende sind neben Pfr. Mallon Pfr. Christoph Baumgarten (Leipzig), Dr. Johannes Hartl (Augsburg), Dekan Bernhard Hesse (Kempten), Sr. Dr. Theresia Mende OP (Augsburg), P. Dr. Karl Wallner OCist (Wien), Pfr. Andreas Süß (Bergisch-Gladbach), Pfr. Leo Tanner (St. Gallen) und andere, die in Seminaren praktische Schritte zur Umsetzung von Divine Renovation in unseren Breiten vorstellen. Die Eröffnungsmesse zur Konferenz hält Bischof Dr. Michael Gerber im Hohen Dom zu Fulda am Montag, 7. Oktober 2019 um 9:30 Uhr.

Am Mittwoch, 9. Oktober 2019 schließt sich ein „Priestertag“ an, der Priestern, Diakonen und Seminaristen ermöglicht, Divine Renovation noch intensiver kennen zu lernen und sich mit der Umsetzung dieses Evangelisationsweges näher zu beschäftigen.

Die Konferenz selbst findet in den Räumen des Priesterseminars Fulda sowie im großen Saal („Orangerie“) des Hotels Maritim Fulda statt. Die Teilnahme ist nur für angemeldete Besucher möglich.

Weitere Informationen, etwa das ausführliche Programm, finden Sie unter www.dr-konferenz.de (dort ist auch der Erwerb eines Teilnahmetickets möglich).

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„Christus erneuert uns und die Welt“

Der Kongress „Adoratio“ wird zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum organisiert und vom 15. bis 17. November 2019 in der St. Anna Basilika und im Kultur+Kongress Forum in Altötting stattfinden. „Adoratio“ widmet sich der an einigen Orten wieder aufblühenden Tradition der eucharistischen Anbetung und deren Auswirkungen auf das Leben und den Glauben der Menschen.

Anbetung – was heißt das wirklich? Wie und warum beten wir überhaupt an? Bischof Stefan Oster SDB aus Passau lädt alle Interessierten nach Altötting ein, um diesen und weiteren Fragen nachzugehen und Erfahrungen auszutauschen. Es wird viele Möglichkeiten geben, verschiedene Formen der Anbetung kennenzulernen, konkrete Hilfen dafür zu bekommen – und um gemeinsam anzubeten. Referenten sind neben Bischof Oster Weihbischof Florian Wörner (Augsburg), Pater Hans Buob SAC (Hochaltingen), Dekan Bernhard Hesse (Kempten) und Père Florian Racine MSE, der seit fünf Jahren Adoratio (Anbetung) in St Maximin-la-Sainte-Baume in Südfrankreich organisiert.

In einem Grußwort schreibt Bischof Oster: „Die Krise der Kirche, die wir derzeit erleben, ist nach meiner festen Überzeugung zuerst eine geistliche Krise: Denn wo immer im Alten oder im Neuen Bund die Mitte, der Tempelkult, der Heilige selbst vergessen oder vernachlässigt wurde, folgte Verfall. Und wo immer in der Geschichte Israels und in der Geschichte der Kirche der Aufbau wieder gelungen ist, hatte er mit der Umkehr der Menschen zum Herrn, zum Tempel, zu Jesus und zur aufrichtigen Anbetung begonnen. Die Rückkehr zum Herrn, zur Gottesliebe, die uns erst zur rechten Nächsten- und Selbstliebe befähigt, ist Gebot der Stunde.

Ich bin überzeugt, dass es keine Erneuerung in der Kirche gibt, ohne dass Gott ihre Mitte wäre – und ohne dass wir in die rechte Weise der Anbetung finden. ,Seht, ich mache alles neu‘, sagt der Herr in der Offenbarung (21,5). Und wir können es sehen: An unzähligen Orten dieser Welt, wo es lebendige Aufbrüche gibt, gründen sie in der eucharistischen Anbetung und ähnlichen Gebetsformen und -bewegungen.“

Anmeldeschluss ist am 31. Oktober 2019. Unterkunft und Verpflegung sind selbstständig zu organisieren. Infos dazu erhalten Sie bei der Tourist Info Altötting unter www.altoetting.de oder telefonisch unter +49(0)8671-506219.

Weitere Infos zu den Workshops finden Sie auf www.adoratio-altoetting.de (dort auch die Anmeldung ausfüllen), unter Tel. +49(0)851-393-5161 oder auch via E-Mail: neuevangelisierung@ bistum-passau.de

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„Zehn-Punkte-Programm“ für einen katholischen Aufbruch

Kirche der Neuevangelisierung

Prof. George Weigel ist leitender Wissenschaftler des „Ethics and Public Policy Center“ in Washington. Als Autor hat er einen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche und kirchliche Leben in den USA. Ihm wurden neben anderen Auszeichnungen 18 Ehrendoktorwürden verliehen. Er ist ein großer Verehrer des hl. Papstes Johannes Paul II. und mit seinem Denken bestens vertraut. Bekannt sind seine „Tertio Millennio-Seminare“, die er jeden Sommer zusammen mit anderen katholischen Intellektuellen aus den USA und Europa in Krakau durchführt. Am 26. Juni 2019 hielt er in München einen Vortrag, den wir in eigener Übersetzung und mit leichten Kürzungen nachfolgend wiedergeben. George Weigel beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Erneuerung der Kirche.[1] Dabei spricht er gerne vom „evangelikalen Katholizismus“, was besser mit „evangeliumsgemäßem Katholizismus“ zu übersetzen wäre und gleichbedeutend mit der „Kirche der Neuevangelisierung“ ist.

Von George Weigel

Seit dem Pontifikat von Papst Leo XIII. (1878-1903) ist eine tiefgreifende Reform der katholischen Kirche im Gang. Sie stellt eine entscheidende Wende zur vornehmlich defensiven Strategie dar, die Papst Pius IX. und dessen unmittelbare Vorgänger gegenüber kultureller und politischer Moderne eingeschlagen hatten. Was Papst Leo in seinem umfangreichen Lehramt angestoßen hatte, wurde durch die großen Bewegungen der liturgischen, biblischen, philosophischen, theologischen und pastoralen Erneuerung Mitte des 20. Jahrhunderts beschleunigt und erreichte im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) seinen dramatischen Höhepunkt. Die maßgebliche Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils durch Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. konzentrierte diese jahrzehntelange Entwicklung auf das Prisma dessen, was von diesen beiden Teilnehmern des Konzils als Neuevangelisierung bezeichnet wurde. Neuevangelisierung ist nun die große Strategie der katholischen Kirche für das 21. Jahrhundert und darüber hinaus, zumindest für die aktiven Bereiche der Kirche auf der ganzen Welt.

Die Entstehung dieser Kirche der Neuevangelisierung, was ich auch als „evangelikalen Katholizismus“ bezeichne, ist eine vom Geist geleitete Entwicklung, die sowohl die kulturellen und geschichtlichen Bedingtheiten als auch andere Weiterentwicklungen in den letzten zwei Jahrtausenden widerspiegelt: die Entwicklungsgeschichte von der frühen Kirche zur Kirche der Väter oder dem patristischen Christentum; von der patristischen Ära zum mittelalterlichen Katholizismus; die Entwicklung des Gegenreformationskatholizismus aus dem mittelalterlichen Katholizismus. Der gegenreformatorische Katholizismus, der als Reaktion auf die Herausforderungen der protestantischen Reformation und der ersten Phasen der westlichen Moderne entstand, war zu seiner Zeit ein starker Ausdruck des Glaubens, der immer alt und immer neu ist. Es war der Katholizismus, der einen Großteil der westlichen Hemisphäre zum katholischen Glauben bekehrte und mit dem die neuzeitliche Evangelisierung Afrikas und Asiens begann. Es war die Form des Katholizismus, die dem Ansturm der Französischen Revolution standhielt und neue Religionsgemeinschaften sowie neue missionarische Kräfte hervorbrachte. Es war der Katholizismus, der die Herausforderung des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts erfolgreich meisterte und in seinen letzten Phasen dazu beitrug, den Boden für das Zweite Vatikanische Konzil zu bereiten.

Nun ist seine Zeit, also die Zeit des gegenreformatorischen Katholizismus, vorüber. Die innere Dynamik der Kirche selbst, die auf die Führung des göttlichen Bräutigams achtet, sowie die einzigartigen Herausforderungen der Spätmoderne und der Postmoderne haben zusammen eine neue Entwicklung des Selbstverständnisses und der Selbstdarstellung der Kirche bewirkt. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist Ausdruck der vier bleibenden Merkmale des christlich kirchlichen Lebens – Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität. Die Kirche der Neuevangelisierung spiegelt diese Zeichen im Licht der tiefgreifenden Reform wider, wie sie seit 1878 im Gang ist. Sie weist zehn charakteristische Merkmale auf, die zusammengenommen das Profil der katholischen Kirche der Zukunft bilden. Diese zehn Punkte sind der Maßstab für die tiefgreifende Reform, welche die Kirche durchlaufen muss, wenn sie ihrer Sendung im 21. Jahrhundert gerecht werden will.

1. Freundschaft mit Jesus Christus

Der Katholizismus der Gegenreformation forderte das Volk der Kirche auf, zu verstehen, wer Jesus Christus ist, und ihm durch dieses Wissen über ihn zu begegnen. Der evangelikale Katholizismus beginnt mit der persönlichen Beziehung zu Jesus Christus, dem Ursakrament der menschlichen Begegnung mit Gott.

In der Freundschaft mit Jesus Christus lernen wir das Gesicht des barmherzigen Vaters kennen. Denn wer die Kraft des Sohnes zur Sündenvergebung erlebt, sieht den barmherzigen Vater, der die verlorenen Söhne und Töchter zuhause willkommen heißt und sie neu mit dem Gewand der Heiligkeit kleidet. In der Freundschaft mit Jesus Christus lernen wir auch die volle Wahrheit über unsere Menschlichkeit kennen. Denn die Freundschaft mit dem Herrn passt unser Leben an das Vorbild seines Lebens an. Er ist sich selbst schenkende Liebe und befähigt auch uns, unser Leben als Geschenk zu sehen und es für andere einzusetzen. So ermöglicht uns die Freundschaft mit Jesus Christus, schon hier und jetzt einen Blick auf das ewige Leben zu werfen, und zwar im Licht des innertrinitarischen Lebens, einer Gemeinschaft radikaler Selbsthingabe und vollkommenen Empfangens.

Die Kirche der Neuevangelisierung bekundet das große Geschenk der Freundschaft mit Jesus Christus nicht als eine attraktive Möglichkeit im Supermarkt der Spiritualitäten, sondern als den von Gott gegebenen und einzigen Weg zum Heil für jeden Menschen. Wer gerettet werden will, wird allein durch Jesus Christus gerettet, der kein bloßes moralisches Vorbild ist, kein bloßer Lehrer einer edlen Wahrheit über ein rechtschaffenes Leben, sondern der Sohn des höchsten Gottes, der im Fleisch und in der Geschichte Mensch geworden ist.

Neuevangelisierung versteht sich darin, dass sie jedem die zutiefst gegenkulturelle Möglichkeit der Freundschaft mit dem Herrn Jesus aufzeigt. Sie bietet der postmodernen Welt etwas an, das die Postmoderne dringend braucht: eine Begegnung mit der göttlichen Barmherzigkeit. Wie der Gott der Bibel in die antike Welt kam als einer, der die Menschheit von den Launen der olympischen Götter oder den Schrecken Molochs befreite, so befreit das Evangelium die postmoderne Menschheit von ihrem Zynismus, ihrem Skeptizismus und der Last ihrer Schuld. Das Gefühl der Schuld stammt aus einem stillschweigenden, meist unartikulierten Verständnis der Schrecken, welche die Menschheit im Lauf des 20. Jahrhunderts selbst verursacht hat und von denen sie gleichzeitig heimgesucht worden ist.

Die Freundschaft mit Jesus Christus findet sich im Wort Gottes, das uns nach der Lehre der Kirche vor allem in der Heiligen Schrift geschenkt ist, in den Sakramenten, in den Werken der Nächstenliebe und in der Gemeinschaft derer, die den Auferstandenen erkannt und angenommen haben. Trotz der Sündhaftigkeit ihrer Glieder, deren wir uns in den letzten Jahren schmerzlich bewusst geworden sind, ist die Kirche immer der privilegierte Ort der Begegnung mit dem lebendigen Gott, der sein Volk kontinuierlich zu einer Gemeinschaft formt, in der die volle Wahrheit über den Menschen erkannt wird. Jede wirklich katholische Reform beginnt mit dieser Wahrheit, so wie jede wirklich katholische Reform die Menschen dazu hinführt, eine Freundschaft mit Jesus Christus einzugehen. Wahrheit und Mission sind daher die beiden Kriterien einer authentischen katholischen Reform.

2. Bekenntnis zur göttlichen Offenbarung und zur Lehrautorität der Kirche

Die Kirche der Neuevangelisierung bekennt sich zur göttlichen Offenbarung und erkennt deren Autorität an, die sich durch die Geschichte in der Lehrautorität der Kirche fortsetzt. Jesus als das zu akzeptieren, was er von sich selbst sagt, nämlich als „den Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6), ist wesentlich, um mit ihm Freundschaft zu schließen. Und dies ist in der Postmoderne zutiefst gegenkulturell. Wenn der kontra-intuitive Anspruch des Evangeliums der Wahrheit entspricht, nämlich dass die Welt durch den ungerechten Tod eines gerechten Menschen erlöst wurde, so ist auch seine Behauptung wahr, die Wahrheit zu sein, die der Weg zu einem echten menschlichen Leben und zum ewigen Leben ist. Wer ihn angenommen hat, ihn, der die Wahrheit als die Wahrheit ist, weil er mit ihm eine Freundschaft begonnen hat, ist vom seelenverkümmernden Skeptizismus der Postmoderne befreit. Er ist befähigt, die Autorität zu bejahen, die Jesus darstellt und verkörpert: die Autorität des lebendigen Gottes, der sich dem Volk Israel in Tat und Wort und schließlich in seinem Sohn endgültig offenbart hat. Diese göttliche Autorität gibt sowohl der Schrift als auch der Kirche ihre einzigartige Autorität.

Wenn Jesus Christus in der Tat die Wahrheit ist, möchte er seine Nachfolger in der Wahrheit bewahren. Evangelikale, d.h. evangeliumsgemäße Katholiken, glauben, dass der Herr die Apostel ermächtigt und ihnen den Heiligen Geist gegeben hat, der seinerseits im Laufe der Geschichte eine Sukzession von Lehrern hervorbringt, die mit Vollmacht lehren: das Kollegium der Bischöfe, die in voller Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom stehen. Die Kirche der Neuevangelisierung, die auf den Geist und die Zeit eingestellt ist, wird daher ihre Bischöfe unter solchen Männern auswählen, die die Fähigkeit bewiesen haben, ein gegenkulturelles Zeugnis abzulegen, indem sie die Menschen zur Freundschaft mit dem Herrn Jesus einladen – und sie weiß auch, dass diese Männer zu verschiedenen Formen des Martyriums berufen sind, wobei Schande und Spott oft das Geringste sind, was sie zu erwarten haben.

Der evangelikal-katholische Mensch wird mit seinem Willen notwendigerweise „alles glauben und bekennen, was die heilige katholische Kirche glaubt, lehrt und verkündet, und was von Gott offenbart wurde“ (wie es im Ritus der Konversion diejenigen bekennen, die in die volle Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden). „Dies alles“ meint das, was die Bischöfe der Kirche in voller Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom, dem lebenswichtigen Zentrum der Einheit der Kirche, lehren. Dabei trägt der Papst eine besondere Verantwortung für die Bewahrung der vollen Wahrheit, die Christus seiner Kirche gegeben hat. Wie John Henry Newman lehrte, gibt es in diesem Sinn kein „privates Urteil“.

3. Feier der sieben Sakramente als göttlich gegebene Mittel zur Heiligung des Lebens

Die Freundschaft mit dem Herrn Jesus wird durch die sieben Sakramente des Neuen Bundes genährt. Dies sind sieben privilegierte Wege, auf denen wir unsere Begegnung mit Jesus, dem Ursakrament, dem Heiligen, der Gott für uns vergegenwärtigt, vertiefen. Die Kirche der Neuevangelisierung legt besonderen Wert auf die Taufe und die heilige Eucharistie.

Die Kindertaufe und ihre pastoralen Auswirkungen können nur unter Bezugnahme auf die Erwachsenentaufe verstanden werden. Ein Erwachsener wird getauft, weil er dem Herrn begegnet ist, zur Freundschaft mit ihm bekehrt wurde und im Glauben die Eingliederung in seinen Leib und die Vergebung der Sünden sucht. Daher ist bei der Kindertaufe der Glaube der Kirche, der sich im Glauben der Eltern und Paten niederschlägt, von entscheidender Bedeutung. In der Vorbereitung der Eltern und Paten vor der Taufe ist daher die Möglichkeit einer tieferen Evangelisierung zu sehen, die nicht mehr durch die umgebende Kultur erfolgt.

Die heilige Eucharistie steht im Zentrum des evangelikal-katholischen Lebens. Es ist das Sakrament, in dem die Kirche am wahrhaftigsten sich selbst darstellt, indem das Volk Gottes täglich durch die Gabe des Leibes und des Blutes des Herrn zum Leib Christi geformt wird. Es ist das Sakrament „für die Reise“ – viaticum – nicht nur, wenn sich der Tod nähert, sondern während des gesamten Lebens: Es ist die Begegnung mit Christus selbst, die die Freunde Christi zu Nächstenliebe und zum Dienst und vor allem zu Mission und Evangelisierung ermächtigt.

Durch die regelmäßige Teilnahme an der Eucharistie können die Gläubigen besser in die glorreiche Gemeinschaft der Heiligen eintreten, deren Zeugnis während des gesamten Kirchenjahres gefeiert wird. Durch die Zyklen der zur Liturgie gehörenden Lesungen kann das Volk Gottes den Reichtum des Wortes Gottes besser erkennen. Die Kirche der Neuevangelisierung ermutigt auch zur regelmäßigen eucharistischen Anbetung, bei der die Freunde des Herrn auf ihn schauen und er sie ansieht, während diese eucharistische Gemeinschaft der Gläubigen für die Kirche und ihre Bedürfnisse betet.

4. Aufruf zur ständigen Bekehrung während des ganzen Lebens

Die Kirche der Neuevangelisierung bestätigt die Notwendigkeit von Regeln, also des kanonischen Rechts, ist sich aber gleichzeitig bewusst, dass ein zu enger Fokus auf die kanonischen Grenzen der Kirchenmitgliedschaft sowohl echte Probleme der katholischen Identität als auch deren mögliche Lösungen verdunkelt. Das eigentliche Problem ist, dass einige und vielleicht auch viele Katholiken innerhalb der kanonischen Grenzen der Kirche bleiben, aber keine Katholiken mit Überzeugung sind, die ihren Glauben bekennen. Dieses Phänomen des getauften katholischen Heiden ist ein Hindernis für die Sendung der Kirche, denn es legt nahe, dass die Kirche die von ihr verkündete Wahrheit oder die Konsequenzen, die diese im Leben (und in der Nichtbeachtung im Leben) bedingen, nicht ernst nimmt.

Die Kirche der Neuevangelisierung betont, dass die Freundschaft mit dem Herrn Jesus eine Aufgabe der ständigen Bekehrung im Leben ist. Diese Bekehrung umfasst sowohl die Ablehnung des Bösen als auch die aktive Teilnahme an den Werken der Nächstenliebe und des Dienstes. Mit der Ablehnung des Bösen ist die sakramentale Versöhnung mit Christus und der Kirche verbunden, wenn wir versagt haben. Dabei gibt es Grade der Gemeinschaft mit der Kirche, die nicht identisch mit den kanonischen Grenzen der Kirche sind. Die Bekehrung ist eine lebenslange Angelegenheit, für die das christliche moralische Leben ein Wachstum in der Güte ist. Das moralische Gesetz ist wichtig, aber es ist wichtig, weil die von ihm vorgeschlagenen Regeln Grenzen und Verkehrszeichen sind, die den Menschen auf den Weg zur Seligkeit leiten.

Daher fordert die Kirche der Neuevangelisierung das verbotsorientierte Verständnis des moralischen Lebens heraus, in dem beide, sowohl die katholischen Traditionalisten (die auf festen Regeln bestehen) als auch die katholischen Progressiven (die „die Regeln“ bis zur Auflösung lockern wollen) feststecken. Beide Formen des Gegenreformationskatholizismus sehen das moralische Leben in erster Linie als Willensbekundung an, während der evangeliumsgemäße Katholizismus das moralische Leben als eine Frage der Bildung von Geist und Herz, des Verstands und des Willens versteht, um die Entscheidungen zu treffen, die wirklich da-zu beitragen, Güte, menschliches Gedeihen und Glückseligkeit zu verwirklichen, die es den Freunden Jesu ermöglicht, für immer im Licht und in der Liebe der Allerheiligsten Dreifaltigkeit zu leben.

Dieses Wachstum in der Fähigkeit, das Gute zu wählen – sich für die Seligkeit zu entscheiden –, setzt sich ein Leben lang fort, und auf dem Weg dorthin werden selbst die am tiefsten bekehrten Menschen fallen und scheitern. Diese Misserfolge sind kein Grund, die Erwartungen zu senken und unser Streben nach dem Guten, das für das ewige Leben notwendig ist, zu reduzieren. Sie sind ein Grund, wieder aufzustehen, Versöhnung zu suchen und die Reise in das Leben der Seligkeit fortzusetzen. Der Heilige Geist, der „Ratgeber“, der Trost spendet, macht es möglich. In der Kirche der Neuevangelisierung geht es bei der Beichte der Sünden nicht nur darum, wöchentlich oder monatlich ein spirituelles Bad zu nehmen, auch wenn die daraus resultierenden Entlastungen ein wichtiger Bestandteil der lebenslangen Bekehrungsreise sind. Es geht vor allem um das Wachstum in der Heiligkeit des Lebens.

Vor diesem Hintergrund nähern wir uns der Frage der katholischen Identität nicht in erster Linie durch die rechtliche Frage der kanonischen Grenzen, sondern durch die theologische Realität unterschiedlicher Grade der Gemeinschaft mit der Kirche. Das aus der ökumenischen Theologie entwickelte Bild der „Grade der Gemeinschaft“ lässt sich in der Kirche analog anwenden. Katholiken, die bestimmte Wahrheiten leugnen, die von der Kirche als wahr gelehrt werden, oder die Aktionen unterstützen, die die Kirche als unmoralisch bezeichnet, können im formalen, kanonischen Sinn Katholiken bleiben. Aber sie führen ein Leben von einer solchen geistigen Inkohärenz, dass ihre eigene Integrität sie dazu veranlassen sollte, durch das Sakrament der Buße Versöhnung zu suchen, und dies zu tun, bevor sie sich zur vollständigen Gemeinschaft mit der Kirche bekennen, indem sie bei der heiligen Messe die Kommunion empfangen.

Es ist die Verantwortung und vorrangige Pflicht der Bischöfe, über die Verwirklichung der katholischen Wahrheit in ihren Ortskirchen zu wachen, die Katholiken, die sich in einem defizitären Zustand der Gemeinschaft befinden, zu einer umfassenderen Gemeinschaft mit der Kirche aufzurufen. Dabei geht es weniger darum, „die Regeln durchzusetzen“ oder „zu zeigen, wer die Verantwortung trägt“, als vielmehr um einen pastoralen Imperativ: Die Hirten rufen zur Bekehrung des Lebens auf. Die Priester nehmen an dieser Verantwortung der Bischöfe in den Pfarreien teil, für die sie zuständig sind.

Diese ständige Bekehrung ist eine wesentliche Grundlage für die Werke der Nächstenliebe und des Dienstes, obwohl diese Werke selbst die Freundschaft mit dem Herrn Jesus vertiefen, der uns befiehlt, in seinem Namen eine Tasse Wasser zu geben, da er sich selbst mit demjenigen identifiziert, dem sein Volk dient.

5. Liturgisch zentrierte Form des katholischen Lebens

Die Kirche der Neuevangelisierung umfasst sowohl die alten Traditionen des katholischen Gottesdienstes als auch die authentische Erneuerung der Liturgie gemäß den Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie nähert sich der Liturgie durch ein theologisch fundiertes Verständnis von Schönheit. Der gegenreformatorische Katholizismus inspirierte die große religiöse Kunst, indem sie auf das Transzendente hinwies, das die Menschheit auf Gott ausrichtet. Die liturgische Bewegung im 20. Jahrhundert betonte die Schönheit als theologische Kategorie und als Mittel zur Erfassung des Göttlichen. In einer entzauberten Welt ist die Verzauberung des Schönen ein Flüstern der Engel, ein Hinweis auf das Transzendente, ein Weg zu Gott.

Eine schöne und würdevolle Feier der Liturgie heilt den Verlust der christlichen und menschlichen Sensibilität, ermutigt zur christlichen Mission und zum christlichen Dienst. Sie erinnert uns daran, dass die Jünger des Herrn Botschafter des Königs der Herrlichkeit sind. So kann die Kirche bezeugen, dass die gegenwärtigen Dinge durch das Ostergeheimnis im Licht der radikalen Neuordnung von Geschichte und Kosmos vergehen. Die Herangehensweise an Kirchenarchitektur, Kirchenschmuck, Musik, Gewänder und alle anderen Aspekte des liturgischen Lebens der Kirche geht daher von der Frage aus: „Ist dies so schön, dass es dazu hilft, den lebendigen Gott in Wort und Sakrament zu offenbaren?“ Darüber hinaus müssen wir die liturgischen Gesetze und Rubriken der Kirche ernst nehmen, da sie dem Verfall der Liturgie zu einer gemeinsamen Feier unserer selbst vorbeugen. Eine solche Betrachtung der Liturgie liegt also nicht „zwischen“ den von den Traditionalisten und liturgisch Progressiven favorisierten Herangehensweisen, sondern vor der Kurve der jetzt ermüdenden Liturgiekriege.

Die Kirche der Neuevangelisierung versucht, den Reichtum der alten liturgischen Traditionen der Kirche in den Novus Ordo aufzunehmen. Sie begrüßt die Verfügbarkeit des außerordentlichen Ritus der Messe in der Hoffnung, dass dies eine Reform der Liturgiereform beschleunigen wird, indem der Novus Ordo zu seinem angemessenen Glanz gebracht wird. Obwohl sie anerkennt, dass Schönheit viele Formen annehmen kann, betrachtet sie mit Zurückhaltung die Ausdrucksfähigkeit der stark modernistischen Architektur, Kunst und Gestaltung und stellt infrage, ob diese das Geflüster der Engel in eine entzauberte Welt übermitteln können. Umgekehrt ist sie nicht altertümlich und betrachtet die liturgischen Verhältnisse, die in den 1940er und 1950er Jahren populär waren, nicht als ästhetische Norm. Obwohl sie verschiedene Musikformen aufnimmt, sieht sie im Gregorianischen Gesang, wie es im Zweiten Vatikanischen Konzil der Fall war, eine Art universelle katholische Musik. Gleichzeitig begrüßt sie modernere Gesangsformen und versucht, die großen Hymnentraditionen anderer christlicher Gemeinschaften in den katholischen Lobpreis einzubeziehen.

Diese Betonung der Schönheit im liturgischen Leben der Kirche ist ein weiterer Grund, warum Neuevangelisierung die sakramentale Vorbereitung und die Katechese für Erwachsene so ernst nimmt. Wer nicht wirklich versteht, was die Liturgie bedeutet, und nicht genau weiß, was das Evangelium ist, kann, wenn er „in die Kirche kommt“, im lebendigen Glauben nicht wachsen. Liturgie ohne Evangelium ist Aberglaube oder Selbstverehrung oder beides.

6. Biblisch zentrierte Form des katholischen Lebens

Die Kirche der Neuevangelisierung liest die Bibel als das Wort Gottes zur Errettung der Seelen. Der Katholizismus der Gegenreformation verehrte die Bibel, jedoch mit einer gewissen Distanz. Die tiefgreifende Reform der Kirche seit dem Pontifikat von Leo XIII. beinhaltete die Rückkehr des Buches der Kirche an das Volk der Kirche als besonderes Mittel der Begegnung mit dem lebendigen Gott. So war die gesamte Bewegung von der Enzyklika Leos XIII. Providentissimus Deus (18.11.1893) bis zur Dogmatischen Konstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils über die göttliche Offenbarung (18.11.1965) eine reformistische Bekräftigung des Grundsatzes des hl. Hieronymus, dass derjenige, der die Heilige Schrift nicht kennt, auch Christus nicht kennt, der die lebendige Mitte des Wortes Gottes ist, das in der Heiligen Schrift gelesen und in der Predigt verkündet wird.

Die biblische Renaissance, wie man sie vor und während des Zweiten Vatikanischen Konzils im Blick hatte, fand im Wesentlichen jedoch nicht statt. Es stimmt, dass heute mehr Katholiken die Bibel lesen als Mitte der 1950er-Jahre. Aber was viele Katholiken im Westen aus der modernen Bibelwissenschaft gelernt haben, ist ein tiefes Misstrauen gegenüber der Bibel. Sie meinen: Dies ist nicht geschehen, das ist nur eine Metapher, das ist ein Mythos. Die biblische Kompetenz des 21. Jahrhunderts und die biblische Spiritualität beinhalten daher notwendigerweise ein Maß an historisch-kritischer Deprogrammierung, da sowohl die Kirche als auch die Welt fälschlicherweise angenommen haben, ein sezierender Ansatz zur Bibel sei der einzige intellektuell ausgereifte Ansatz. Dies hat zu einem Misstrauen gegenüber der Heiligen Schrift geführt, das aufgearbeitet werden muss. Erst dann kann die Begegnung mit dem fleischgewordenen Wort durch das Wort Gottes in schriftlicher Form erfolgen.

Mit Papst Benedikt XVI. erkennt die Kirche der Neuevangelisierung an, dass die wesentlichen Früchte einer modernen historisch-kritischen Bibellese geerntet wurden und dass die Aufgabe der Kirche im 21. Jahrhundert nun darin besteht, das Lesen der Bibel noch einmal durch theologische Linsen zu lernen, und zwar als ein Buch, dessen Mittelpunkt Jesus Christus ist, auf den das Alte Testament hinweist und zu dem das Neue Testament seine Leser zur Freundschaft einlädt. Daher werden die allegorische Erklärung der Schrift durch die Kirchenväter des ersten Jahrtausends und die theologische Erklärung der Bibel durch mittelalterliche Kommentatoren eine neue Würdigung erfahren. Die Kirche der Neuevangelisierung praktiziert dabei die Ökumene in ihrer Lectio Divina und Exegese.

Eine wahrhaft kirchliche Bibelwissenschaft unterstützt die evangliumsgemäße Mission der Kirche, indem sie der katholischen Predigt, der katholischen Katechese und der katholischen Evangelisation neue Kraft verleiht. Formen der Exegese oder biblischen Interpretation, die die homiletischen und erzieherischen Missionen der Kirche nicht unterstützen, mögen ihren Platz in der Akademie haben, aber sie sind Teilmengen der Religionswissenschaft, nicht der Theologie. Kein ernsthafter missionarischer Prediger predigt aus dem historisch-kritischen Notizbuch. Seine Predigt beruht gewiss auf Informationen aus einem historisch-kritischen Studium der Bibel, aber die Substanz, die gepredigt wird, ist theologisch geprägt. Der Fokus liegt immer auf der Begegnung mit Jesus Christus durch die Worte des geschriebenen Wortes Gottes.

7. Ein hierarchisch geordneter Katholizismus respektiert eine Vielzahl von Berufungen

Die Verkündigung des Herrn Jesus Christus als dem einzigen Erlöser der Welt ist der tiefste Punkt eines kontrakulturellen Konflikts zwischen der katholischen Kirche und der Postmoderne. Darauf folgt als nächst höhere kontrakulturelle Überzeugung der Kirche, dass ihre hierarchische Struktur den Willen Christi und nicht eine antike soziale Konvention verkörpert. In einem kulturellen Umfeld, in dem jede Autorität als verdächtig gilt und der Begriff der göttlichen Autorität als psychologische Altlast der vormodernen Welt angesehen wird, muss die Behauptung, dass diese göttliche Autorität in einer ununterbrochenen Kette apostolischer Nachfolge durch die Bischöfe der Kirche in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom weitergegeben wird, als buchstäblich unglaublich betrachtet werden. Die Kirche der Neuevangelisierung verkündet, erklärt und verwirklicht diese von Christus gestiftete Struktur durch die hierarchische „Konstitution“ der Kirche innerhalb des Rahmens von Gottes Ruf an jeden Christen zu einer einzigartigen Berufung.

Das II. Vatikanum beschrieb den örtlichen Bischof als einen wahren Lehrer, Leiter und Führer auf dem Weg der Heiligung der Menschen in seiner Ortskirche und nicht nur als einen Filialleiter der Katholischen-Kirchen-AG. Die geplante Reform des Episkopats wird in Bischöfen verwirklicht, die dem Vorbild der Kirche folgen, wie es in den großen lehrenden Bischöfen der Vergangenheit verwirklicht war: Clemens, Leo der Große und Gregor der Große, Ambrosius und Augustinus, Athanasius und Johannes Chrysostomus, Karl Borromäus und Franz von Sales, Clemens von Galen und Ildefonso Schuster, Andrey Sheptytsky und Karol Wojtyła. Von Galen, Schuster und Sheptytsky nahmen den erneuerten Katholizismus vorweg, während Wojtyła durch sein Zeugnis und sein Wirken als Erzbischof von Krakau und Bischof von Rom Schlüsselelemente der evangeliumsgemäßen katholischen Reform definierte.

Im gegenreformatorischen Katholizismus wurde das Priestertum häufig in erster Linie funktional verstanden: Priester waren Männer, die die Erlaubnis hatten, bestimmte kirchliche Tätigkeiten auszuüben, und die zu einer geistlichen Kaste gehörten. Der erneuerte Katholizismus versteht das Priestertum in bildlichen Begriffen: Der katholische Priester ist ein Mann, dessen Ordination ihn zu einer lebendigen Darstellung des Herrn Jesus macht. So ist der Priester wie der Bischof zunächst Hirte – Prediger, Lehrer, Katechet und zur Heiligung der Menschen Führender, bevor er Verwalter ist.

Die Laienberufung, wie sie von der Kirche der Neuevangelisierung verstanden wird, verwirklicht sich in erster Linie in der Evangelisation: in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft und somit in der kulturellen Welt, in der Wirtschaft und der Politik, indem sie das Evangelium in all jene Teile der „Welt“ bringt, wo die Laien einen größeren Zugang haben als die Ordinierten. Nachdem die Laien die große Gnade der Taufe empfangen und eine angemessene Katechese über „die Geheimnisse“ erhalten haben, verstehen, schätzen und verwirklichen sie die biblische Wahrheit der christlichen Berufung, wie sie der hl. Paulus definiert hat: „Nun gibt es verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allem. Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt“ (1 Kor 12,4-7).

8. Sowohl kulturbildend als auch gegenkulturell

Der evangelikale Katholizismus schafft eine eigene Kultur. Diejenigen, die in der Gemeinschaft der Kirche mit dem auferstandenen Herrn in Freundschaft leben, sprechen eine bestimmte Sprache, in der beispielsweise „Gehorsam“ und „Vergebung“ eine größere Bedeutung haben als in der postmodernen Kultur. Sie leben nach einem bestimmten zeitlichen Rhythmus, in dem der Sonntag nicht einfach ein Tag ist, an dem die Einkaufszentren früher schließen. Sie zelebrieren einzigartige Rituale, halten eine einzigartige Reihe von Gesetzen ein, hegen und erzählen eine einzigartige Reihe von Geschichten und nehmen das Leben (und den Tod) im Hinblick auf den einzigartigen Horizont wahr.

In den letzten Jahrzehnten des Gegenreformationskatholizismus, der mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenfiel, fanden die Katholiken im Westen eine relativ angenehme Verbindung zwischen der Kirche und der umgebenden öffentlichen Kultur. Die öffentliche Kultur war in vielerlei Hinsicht noch erkennbar christlich. Christsein im Westen bedeutete nicht, die Kirche als Gegenkultur zu erleben. Diese Erfahrung scheint die eher optimistische Sichtweise des Dialogs der katholischen Kirche mit der modernen Kultur geprägt zu haben, wie sie in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der modernen Welt Ausdruck gefunden hat. Doch kurz nach dem Konzil nahm die Hochkultur des Westens eine scharfe Wendung in Richtung eines aggressiven und hegemonialen Säkularismus, der sich jetzt als Christophobia manifestiert: eine tiefe Feindschaft gegenüber der Wahrheit des Evangeliums (insbesondere gegen die moralische Wahrheit) und eine Entschlossenheit, Christen, die diese Wahrheiten bekräftigen, aus dem öffentlichen Leben zu vertreiben und ihnen höchstens noch eine privatisierte Existenz am Rand der Gesellschaft zuzugestehen. Eine vom Nihilismus und Relativismus dominierte öffentliche Kultur zwingt die öffentliche Autorität, diesen Nihilismus und Relativismus durch den erzwungenen Einsatz staatlicher Macht allen aufzuerlegen.

Das Christentum ist Christus, keine abstrakte Ansammlung von „christlichen“ Ideen. Es ist Christus, den Christophobe im 21. Jahrhundert fürchten. Der Westen ist dabei, sich in der Krise der Zivilisationsmoral selbst aufzugeben. Diese Krise kann dadurch überwunden werden, dass Christus durch die Vertretung der Stadt Gottes, die in der Gegenkultur der Kirche vorausschauend präsent ist, eine Humanisierung der irdischen Stadt bewirkt. Dieser Herausforderung kann sich der schüchterne oder lauwarme Katholizismus nicht stellen. Sie kann nur von einem stark evangelikalen Katholizismus bewältigt werden, der das Evangelium auf überzeugende und mutige Weise vorträgt und der darauf besteht, dass die Verantwortlichen der Kirche ihren Freiraum dazu nützen, das Evangelium offen zu verkünden und anderen den Dienst der Nächstenliebe anzubieten. Die Kultur des evangelikalen Katholizismus will also eine kulturbildende Gegenkultur zum Wohl der Welt, zu ihrer Heilung und Bekehrung sein.

9. Stimme der Vernunft mit der Überzeugung des Evangeliums im öffentlichen Raum

Die Kirche der Neuevangelisierung ist zweisprachig, weil sie unter zwei Herrschern lebt. Das Evangelium kann nicht in einer anderen Sprache als ihrer eigenen gepredigt werden: einer Sprache, die tief von der Heiligen Schrift geprägt ist, einer Sprache, die offenbart und aufgenommen worden ist und nicht neu gefasst werden darf, wenn die weltliche Kultur dies der Kirche nahelegt. Indem sie sich jedoch mit der öffentlichen Ordnung in einer pluralistischen und säkularen Gesellschaft befasst, spricht sie ihre zweite Sprache, die Sprache der Vernunft.

Die ordinierten Führer der Kirche und die Laien, die die Hauptzeugen Christi im öffentlichen Raum sind, treten nicht etwa in das öffentliche Leben ein und verkünden: „Die Kirche lehrt…“ Wenn es beispielsweise um eine unmoralische Praxis geht, treten sie in die Debatte ein und erklären: „Das ist böse. Es kann nicht vom Gesetz sanktioniert werden. Und dies ist die Begründung, die jeder vernünftige Mensch begreifen wird.“ Wenn es darum geht, etwas Gutes zu fördern, bekräftigen sie als Erstes: „Das ist gut. Es ist gerecht und notwendig, dass das durch das Gesetz anerkannt wird. Das ist die Begründung dafür, weshalb es gut und gerecht ist.“

Der Gebrauch der Sprache der Vernunft ist eine Frage guter demokratischer Sitte. Man muss so sprechen, dass sich unsere Mitbürger auf unsere Argumente einlassen können. Es ist auch eine Frage des politischen gesunden Menschenverstands: „Wenn Sie wollen, dass ein Argument gehört, übernommen und akzeptiert wird, dann machen Sie es in einer Sprache, die diejenigen, die Sie überzeugen wollen, verstehen können!“ Darüber hinaus geht es darum, dass diejenigen, die behaupten, die Lehre der katholischen Kirche über Abtreibung, Sterbehilfe und Ehe sie eine „sektiererische“ Lehre, die einer pluralistischen Gesellschaft nicht „auferlegt“ werden könne, zu Sinnen kommen.

Die Kirche der Neuevangelisierung schöpft den Willen, die Energie, die Kraft und – falls erforderlich – die Hartnäckigkeit aus der Kraft des Evangeliums, um die Würde des Menschen weiter zu verteidigen und zu fördern. Sie spricht öffentlich in säkularen, pluralistischen Demokratien, und zwar so, dass ihre Worte gehört werden und die Wahrheiten, die sie ausdrückt, von jedermann wahrgenommen werden können. Nur religiöse und weltliche Sektierer werden hier einen Widerspruch finden.

10. Verkündigung des Evangeliums zur Errettung der Welt

Die Kirche hat keine Mission, als wäre „Mission“ eine von einem Dutzend Dingen, die von der Kirche getan werden. Die Kirche ist eine Mission und alles, was die Kirche tut, ist dieser Mission zugeordnet. Sie besteht in der Verkündigung des Evangeliums für die Bekehrung der Welt zu Christus. An der Mission und der missionarischen Wirksamkeit wird also alles und jeder in der Kirche gemessen.

In der heiligen Liturgie – jenem Teil des kirchlichen Lebens, der ein Schritt zurück von der Welt zu sein scheint, oder besser, ein Schritt in die reale Welt, die das Reich Gottes im Hochzeitsfest des Lammes ist –, wird die Kirche durch die sakramentale Gnade tatsächlich für die Mission ausgestattet. Sogar jene kontemplativen Berufungen, die sowohl von der Welt als auch vom Rest der Kirche als solche abgesondert sind, sind missionarisch ausgerichtet. Denn das geweihte Leben, wie es Johannes Paul II. im Apostolischen Schreiben Vita Consecrata von 1996 unterstrichen hat, ist der geistige Motor der Kirche. In ihm werden die Energien der Evangelisation verfeinert und in einem großen Austausch von Gaben verteilt, durch welche die gesamte Kirche, die Braut Christi, zur Vereinigung mit ihrem göttlichen Bräutigam strebt. Aus der evangelikal-katholischen Perspektive ist jeder Katholik ein Missionar, ein Evangelist, ein Jünger, der vom Herrn beauftragt wurde, jeder Nation das Evangelium zu bringen, und alle dazu aufruft, im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit getauft zu werden.

Mission ist somit das zweite große Kriterium authentischer katholischer Reformen. Die Dinge, die in der Kirche geändert werden müssen und die geändert werden können, müssen im Interesse der Mission geändert werden. Diejenigen Dinge in der Kirche, die nicht geändert werden können, weil sie zur göttlich geordneten Verfassung der Kirche gehören, müssen erforderlichenfalls reformiert werden, damit sie ihren Beitrag zur Mission leisten, den sie erbringen sollten. Die Vorstellung einer Kirche, die immer gereinigt und reformiert werden muss, entspringt nicht der reformatorischen Losung ecclesia semper reformanda, sondern der tiefsten inneren Dynamik der Kirche: der Sehnsucht, mit ihrem Oberhaupt und Bräutigam, Christus, dem Herrn, verbunden zu sein, und dem tiefen Wunsch, seine Liebe mit denen zu teilen, denen das Evangelium gebracht werden soll, das heißt mit allen.

Daher müssen alle Getauften ständig für die Mission ausgebildet werden. Das kann dadurch geschehen, dass ein öffentlich bezeugtes Leben in Treue zu Christus in anderen Menschen die Hoffnung auf einen ähnlichen Glauben und eine ähnliche Nächstenliebe weckt. Andere verkünden das Evangelium ob gelegen oder ungelegen, im Bewusstsein, dass ihr Wort, wenn es wirklich vom Wort Gottes geformt wird, nicht ohne Wirkung bleibt. Doch wie auch immer die Mission erfolgt, alle sind aufgerufen, sie in der Freude, im Vertrauen und im festen Glauben darauf zu verwirklichen, dass der Herr, der Sünde und Tod besiegt hat, seinen Sieg im Hochzeitsfest des Lammes, im Neuen Jerusalem, vollenden wird, wo jede Träne weggewischt wird: „Und der Tod wird nicht mehr sein, und es wird weder Trauer noch Weinen noch Schmerz mehr geben, denn die früheren Dinge sind vergangen“ (Offb 21,4).

Der verstorbene französische Journalist André Frossard konvertierte vom Atheismus, der in seiner Klasse in Mode war, zum Katholizismus. Dieser Atheismus, der einst in Paris eine intellektuelle Modeerscheinung war, hat in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts einen viel härteren, christophoben Aspekt angenommen. Als Frossard Johannes Paul II. zu Beginn seines öffentlichen Amtes bei der heiligen Messe als Papst sah, telegrafierte er an seine Pariser Zeitung: „Dies ist kein Papst aus Polen; dies ist ein Papst aus Galiläa.“ Es war eine brillante Metapher, die in einem reichen biblischen Bild die Natur und Aufgabe des evangelikalen Katholizismus veranschaulicht.

Die Reform, die mit Leo XIII. begonnen hat und nun die Kirche der Neuevangelisierung hervorbringt, ist eine Einladung des Herrn, nach Galiläa zu kommen – und dann über die Grenzen von Galiläa hinauszugehen. Die katholische Kirche ist eingeladen, dem auferstandenen Herrn in der Schrift, in den Sakramenten und im Gebet zu begegnen und die Freundschaft mit ihm zum Zentrum des katholischen Lebens zu machen. Jeder Katholik hat diese Aufforderung bei der Taufe erhalten: die Aufforderung, den großen Auftrag anzunehmen, als Missionar zu handeln. Daran wird sich die Wahrhaftigkeit seines katholischen Lebens messen. Jedes Mitglied der Kirche ist dazu berufen, aus geistlicher Solidarität heraus, die aus der Freundschaft mit Christus, dem Herrn kommt, andere zu dieser Freundschaft einzuladen. Die Kirche der Neuevangelisierung erwartet voller Vorfreude das Kommen des Herrn Jesus in Herrlichkeit. Bis zu diesem Zeitpunkt ist sie zur Mission – zur Verkündigung des Evangeliums zur Errettung der Welt – beauftragt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] George Weigel: Die Erneuerung der Kirche – Tiefgreifende Reform im 21. Jahrhundert, geb., 416 S., ISBN 978-3-9454011-2-5, Euro 24,95 (D), 25,65 (A), Tel.: 07303-952331-0; Fax: 07303-952331-5; Mail: buch @media-maria.de – Website: www.media-maria.de

Online-Petition an das Bundesfamilienministerium

Nein zum „Regenbogenportal“

„Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ treffen vor dem Bundesfamilienministerium auf „Mutter, Vater und Kind“ und ziehen den Kürzeren. Mit dieser kreativen Straßenaktion protestierte das „Aktionsbündnis für Ehe & Familie – DemoFürAlle“ Anfang Juli in Berlin gegen das sog. „Regenbogenportal“ des Familienministeriums. Damit untermauert „DemoFürAlle“ die Forderung der vor wenigen Wochen gestarteten Online-Petition „Familie ohne Vater-Mutter-Kinder? Niemals, Frau Familienministerin“ nach einer echten Familienpolitik statt ideologisierter Klientelpolitik.

Das „Regenbogenportal“ wurde Anfang Mai vom Bundesfamilienministerium unter dem Vorwand der Antidiskriminierung initiiert. Hauptzielgruppe des Portals sind Eltern und Pädagogen, die auf Kinder und Jugendliche Einfluss im Sinne der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ und der Gender-Ideologie nehmen sollen.

Dazu Hedwig v. Beverfoerde, Sprecherin von DemoFürAlle: „Das ,Regenbogenportal‘ ist ein Frontalangriff gegen die natürliche Familie. Es ist monströs, Kinder von klein auf mit LSBT- und Gender-Ideologie zu belästigen und Vater und Mutter durch ,Elternteil 1‘ und ,Elternteil 2‘ zu ersetzen, wie es das Ministerium auf seinem Portal fordert. Das machen wir nicht mit.“

Über 24.000 Bürger haben die Petition gegen das „Regenbogenportal“ auf CitizenGO bereits unterschrieben und Bundesministerin Dr. Franziska Giffey damit aufgefordert, einen umfassenden Aktionsplan für Ehe und Familie einschließlich einer Willkommenskultur für Kinder zu starten. Familien benötigen Wahlfreiheit in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder, deutliche finanzielle Entlastung und Schutz vor ehe- und familienfeindlichen Lobby-Gruppen und Propaganda in KiTas und Schulen.

Die Online-Petition im Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Bundesministerin Dr. Giffey, Anfang Mai starteten Sie das „Regenbogenportal“ des Bundesfamilienministeriums. Darin werden Pädagogen und Eltern angehalten, die Gender- und LSBT-Ideologie sowie die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ zu verbreiten und Kindern das Bild einer Familiennormalität von Vater-Mutter-Kind gezielt abzugewöhnen. Das ist ein Frontalangriff auf unsere Familien.

Weitere Portalsinhalte fördern die Verwirrung von Kindern und Jugendlichen in ihrer natürlichen Geschlechtsentwicklung und bezüglich Ihrer Geschlechtsidentität. All dies hat schädliche psychische Auswirkungen für die Kinder sowie schwerwiegende soziale und kulturelle Folgen für unsere Gesellschaft.

Zusätzlich verbreitet Ihr Ministerium einen falschen Begriff von Familie, in dem Vater, Mutter und Kinder nicht einmal mehr vorkommen. Dabei wachsen 73 Prozent aller Kinder in Deutschland bei ihren verheirateten Eltern auf. Das ist die reale Normalität.

Ihre erste Aufgabe als Bundesfamilienministerin ist der Schutz von Ehe und Familie, wie sie auch im Grundgesetz festgeschrieben ist (Art. 6. Abs. 1). Ihnen obliegt es, Eltern dabei zu unterstützen, dass sie ihre Kinder in Frieden und Freiheit erziehen, ihnen Werte vermitteln und sie auf Familiengründung und Berufsleben vorbereiten können. Dieser Verpflichtung kommen Sie bisher nicht nach.

Frau Bundesministerin Dr. Giffey, machen Sie endlich echte Familienpolitik! Wir brauchen keine ideologisierte Klientelpolitik. Familien benötigen Wahlfreiheit in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder, deutliche finanzielle Entlastung und Schutz vor ehe- und familienfeindlichen Lobby-Gruppen und Propaganda in KiTas und Schulen. Wir fordern einen umfassenden Aktionsplan für Ehe und Familie einschließlich einer Willkommenskultur für Kinder.

Bitte machen Sie mit unter: 

www.citizengo.org/de/fm/171102-familie-ohne-vater-mutter-kinder-niemals-frau-familienministerin

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Zur Treue der Kirche gegenüber ihrer Berufung

Montserrat – Berg der Erneuerungen

Prof. Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea gehen vom Brief des Papstes „an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ aus und spannen einen Bogen zum Gnadenbild des Montserrat bei Barcelona. Die Entdeckungen, die sie auf dem Hintergrund der Geschichte des Marienheiligtums machen, sind eine einzigartige Überraschung.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Peter und Paul, das Fest, am dem der Herr seit je her seiner Kirche neue Priester schenkt – Papst Franziskus konnte kein besseres Datum wählen, um dem „pilgernden Volk Gottes in Deutschland“ zu schreiben. Aber ist sein Brief nur „ein Zeichen der Wertschätzung des kirchlichen Lebens in unserem Land“, wie ihn die Deutsche Bischofskonferenz deutet?[1] Lesen ihr Vorsitzender und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ihn zu Recht als Einladung, auf ihrem „synodalen Weg“ weiterzugehen?[2] Für den Regensburger Bischof ist er „ein Weg der Zerstörung“; von „Etikettenschwindel“ spricht der scheidende Augsburger Bischof.[3] Da der Papst uns allen schreibt, lesen wir doch selbst! Denn er schreibt einen Brandbrief.

Was schreibt der Papst uns Deutschen?

„Schmerzlich“ stellt er „die zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens“ fest, bekräftigt die Analysen seines Vorgängers und beklagt „auch in traditionell katholischen Gebieten“ einen „drastischen Rückgang der Besucher der Sonntagsmesse sowie beim Empfang der Sakramente“. Wir stünden an „einer Zeitenwende, die neue und alte Fragen aufwirft“. Was „Synodalität“ konkret bedeutet, lässt er offen. „Im Kern“ sei sie ein „gemeinsamer Weg unter der Führung des Heiligen Geistes“. Was sie nicht sein darf, schärft er den Kirchenfunktionären dagegen ein; ja er spricht von „einer der ersten und größten Versuchungen im kirchlichen Bereich“. Sie bestehe in dem Glauben, dass „in der gegenwärtigen Lage“ Lösungen „auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen seien“. Sie würden „in keiner Weise die vitalen Punkte berühren, die eigentlich der Aufmerksamkeit bedürfen“. Vielleicht mit Blick auf jene pressure groups, die in Lehre und Moral eine „andere Kirche“ wollen, spricht er von einer „Versuchung, die dazu führt, das Volk Gottes auf eine ‚erleuchtete Gruppe‘ reduzieren zu wollen“.

Ohne „Treue der Kirche gegenüber ihrer eigenen Berufung“ werde jede neue Struktur in kurzer Zeit verderben. Als ob er vor einem Schisma warnen wollte, spricht er erneut von „Versuchung“: „Achten wir auf die Versuchung durch den Vater der Lüge und der Trennung, den Meister der Spaltung, der beim Antreiben der Suche nach einem scheinbaren Gut oder einer Antwort auf eine bestimmte Situation letztendlich den Leib des heiligen und treuen Volkes Gottes zerstückelt!“ Eindringlich beschwört er die Einheit: „Die Weltkirche lebt in und aus den Teilkirchen, so wie die Teilkirchen in und aus der Weltkirche leben und erblühen; falls sie von der Weltkirche getrennt wären, würden sie sich schwächen, verderben und sterben“. Es sei „die Heiligkeit der streitenden Kirche“, die sie „vor jeder ideologischen, pseudo-wissenschaftlichen und manipulativen Reduktion schützt und immer bewahrt hat“.

„Quellen der lebendigsten und vollsten Tradition“

Der Schlüssel ist für Franziskus „kirchlicher Sinn“, sensus ecclesiae, der uns erlaube, „in die Quellen der lebendigsten und vollsten Tradition einzutauchen. Ihrerseits ist diese Tradition berufen, das Feuer am Leben zu erhalten, statt lediglich die Asche zu bewahren. Sie erlaubt es allen Generationen, die erste Liebe mit Hilfe des Heiligen Geistes wieder zu entzünden“. Dies verlange „vom ganzen Volk Gottes und besonders von ihren Hirten eine Haltung der Wachsamkeit und der Bekehrung“, Gaben, die nur der Herr uns schenken könne. Grundlegend sei eine „Haltung der Entäußerung“. Sie mache uns frei zur Evangelisierung und erlaube dem Geist, unser Leben zu erneuern, „um, vor allem, anzubeten“: „Denn in der Anbetung erfüllt der Mensch seine höchste Pflicht und sie erlaubt ihm, einen Blick auf die kommende Klarheit zu werfen, die uns hilft, die neue Schöpfung zu verkosten.“

Dürfen wir diesen Brandbrief so lesen? Gewiss! Es mag andere Lesarten geben. Wer den Stil eines Pius‘ XII. liebt, wird die Klarheit des Römers vermissen. Aber unbestreitbar sieht Franziskus den Ernst der Lage und empfiehlt „wahre geistliche Heilmittel (Gebet, Buße und Anbetung)“, das Streben nach Heiligkeit und die Zuflucht zu Maria: „Denn jedes Mal, wenn wir auf Maria schauen, glauben wir wieder an das Revolutionäre der Zärtlichkeit und der Liebe. An ihr sehen wir, dass die Demut und die Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwachen, sondern der Starken sind.“ Suchen wir also nach Quellen „lebendigster und vollster Tradition“, auf dass der „Geist, der das gebrochene Schilfrohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht“, das Gute, das unser Volk auszeichnet, ernähre, belebe und erblühen lasse. „Fliehen wir nicht vor der Auferstehung Jesu“, ermutigt uns Franziskus, „Nichts soll stärker sein als sein Leben, das uns vorantreibt!“

„Das Revolutionäre der Zärtlichkeit und der Liebe“

Beispielhaft soll uns die Moreneta, die „kleine Schwarzbraune“, das uralte Gnadenbild des Montserrat bei Barcelona, jene „Tugenden der Starken“ vermitteln, die von dort immer wieder auf ganz Europa ausstrahlten. Dunkelbraungolden und geheimnisvollzart lächelnd ist sie ein „Sitz der Weisheit“. Die Augen der Moreneta, von der Kunstgeschichte als romanisch beschrieben, blicken den Pilger offen, ruhig und mütterlich an. Mit fein gezogener Nase und vollen Lippen weckt ihr Gesicht aber auch Gedanken an die „schönen Madonnen“ der Gotik. Wer sie vorn betrachtet und sich nach rechts bewegt, empfängt ihr „zärtliches“ Lächeln. Katalanische Herzen erfassen ihr Geheimnis tiefer als die Kunstgeschichte und sehen in ihr ein Werk des Marienevangelisten Lukas. Ihre rechte Hand hält eine Kugel, die ganze Macht der ganzen Welt; auf ihrem Schoß zeigt sie uns das Jesuskind. Wie seine Mutter trägt es eine Krone; seine rechte Hand segnet.

Geheimnisvoll ist also der Ursprung der Moreneta, von der immer wieder ein Wiederaufblühen nach äußerer Zerstörung und innerem Niedergang ausgeht. Die Katalanen wissen von Einsiedlern um ein Marienheiligtum, das an Stelle eines Venustempels errichtet und von den Mauren zerstört wurde. Die Moreneta aber ward ihrem Zugriff entzogen. Wie in Fatima sehen Hirtenkinder nach der Vertreibung der Mauren an einem Samstag im April eine Lichtwolke vom Himmel herabschweben. Von wundersamen Melodien begleitet, bezeichnet sie auf halber Höhe einen Ort. Die Erscheinung wiederholt sich an den folgenden vier Samstagen des Jahres 880. Schließlich zieht der Bischof von Manresa mit großem Gefolge hinauf und findet das Gnadenbild in der Santa Cova. Auf wunderbare Weise lässt es sich nicht forttragen, sondern will auf dem Montserrat verehrt werden. Heute führt der Weg zur Santa Cova an den 15 Rosenkranzgeheimnissen vorbei. Besonders bewegend sind Antoni Gaudís Skulpturen „… der von den Toten auferstanden ist“.

Vom Wiedergewinnen des Christentums

Zum Wahrzeichen der frühen Reconquista werden auch die himmlischen Melodien aus jener Lichtwolke. „Rose im April, kleine Braune der Berge“, besingt das Virolai de Montserrat, das Lob der Moreneta: „Stern des Montserrat, / erleuchte das katalanische Land / und leite uns in den Himmel“, singen jeden Tag um ein Uhr mittags die Knaben der Escolania de Montserrat. Napoleons Truppen und die Säkularisierung zerstören das Marienkloster der Benediktiner bis auf die Grundmauern. 1844 kehren erste Mönche zurück, aber erst 1858 kann der Wiederaufbau beginnen. Auch der Spanische Bürgerkrieg bringt Zerstörung und den Mönchen Vertreibung und Martyrium. Aber wieder ging von der Moreneta geistliche Erneuerung aus.

Pilger besuchen die Moreneta durch den ansprechenden modernen Torbau eines Gaudí-Schülers. Eine Inschrift spricht vom himmlischen Jerusalem, Reliefs zeigen die Verkündigung des Dogmas von Mariens Himmelfahrt, rechts davon Georg mit den Märtyrermönchen des Bürgerkriegs, links Benedikt, den Patron Europas. Zum Vorbau führt der weite Plaça de Santa Maria. Zwischen den Statuen vertrauter Heiliger weitet sich der Blick auf die grandiosen Felsen des Montserrat. Beim Durchschreiten erinnert eine Statue an Ignatius von Loyola, der 1522 als junger Hidalgo nach durchbeteter Nacht seine Waffen der Moreneta zu Füßen legt. Zurückgezogen in einer Höhle bei Manresa empfängt er von Maria die Eingebung zu seinem Exerzitienbuch. Die Ignatianischen Exerzitien mit ihrer ungeheuren Erneuerungskraft sind also ein Geschenk der Moreneta und machen die geistlichen Schätze ihres heiligen Berges für die ganze Welt fruchtbar.

Die Moreneta in tödlicher Bedrohung

Ein Fresko aus dem Jahr 1957 erinnert im Durchgang an Don Juan de Austria, den Helden von Lepanto, wie er Siegeszeichen des türkischen Admiralsschiffs der Moreneta weiht. Noch heute feiern wir am Rosenkranzfest den Seesieg vom 7. Oktober 1571, den die Zeitgenossen als unfassbares Gnadenwunder erlebten. Für seinen Vater Karl V. wird der Montserrat zum Berg der Gegenreformation. Hier legt ihm die Delegation der deutschen Kurfürsten die Kaiserkrone zu Füßen, im Gebet vor der Moreneta fasst er den Entschluss, den Reformatoren zu widerstehen, von hier bricht er zum Augsburger Reichstag von 1530 auf, von hier aus zieht er in den Schmalkaldischen Krieg. Als Karl im Kloster in der Einsamkeit der Extremadura stirbt, hält er eine Kerze vom Montserrat in der Hand, die sein Sohn Philipp II. so sehr verehrte, dass ihn die halb abgebrannte Totenkerze seines Vaters auf all seinen Reisen begleitete. „Er hielt bei seinem Tode die Kerze von Unserer Frau vom Montserrat so fest in der Hand, dass man sie nach seinem Tode kaum entfernen konnte“, erinnert sich ein Augenzeuge seines Todes im Escorial.[4] Während des Dreißigjährigen Krieges wird die Moreneta immer wieder zur Hilfe gegen die protestantischen Truppen. Ein erheblicher Teil der Siegesbeute wird ihr geweiht. Alle österreichischen Kaiser waren bis zur Josephinischen Zeit Wohltäter des Montserrat.

Erneuerung durch Kirchenmusik

Das Atrium sammelt die Pilger, die an den Wänden Sgraffiti aus den 1950er Jahren betrachten. Neben Bezügen zu Marienheiligtümern fällt das Motto Papst Pius‘ X. ins Auge: OMNIA INSTAURARE IN CHRISTO – Alles in Christus erneuern. Wie sehr sein Reformpontifikat mit der Erneuerung der Kirchenmusik verbunden ist, zeigen Sgrafitti links und rechts von einer Statue des hl. Papstes Gregor des Großen. Der Name Dom Prosper Guéranger OSB erinnert an den Begründer wahrer liturgischer Erneuerung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, den ersten Abt der wiederbegründeten Abtei Saint-Pierre de Solesmes, die als geistige Mutter auch in Deutschland das Mönchstum erneuert. Ein zweiter Name nennt Dom André Mocquereau OSB, der Dom Guérangers Werk fortsetzt.

Zwei Namen rechts erinnern an die musikalische Erneuerung, die vom Montserrat selbst ausging. Dom Gregorio Maria Suñol OSB war ein der Schule von Solesmes verpflichteter Mönch und Musikwissenschaftler. 1938 wurde er Direktor des Päpstlichen Instituts für Kirchenmusik und wenig später Abt des Cäcilienklosters auf dem Montserrat. Er stand mit der Konvertitin Justine Ward in Verbindung, deren musikpädagogisches Wirken zur weltweiten Verbreitung der Reformen Pius‘ X. kaum zu überschätzen ist. Welch ein Verlust ist doch die Verdrängung des Chorals aus dem Leben der Laien! Monsignore Dr. Lluís Carreras i Mas wurde 1909 zum Priester geweiht und wird zum Motor der religiösen Erneuerungsbewegung vor dem Bürgerkrieg. Später wird er treibende Kraft der „Amics de l‘ Art Litúrgic“, deren Wirken das kirchenmusikalische Motu proprio Pius‘ X. von 1903 zugrunde liegt. Antoni Gaudí gehörte dieser Bewegung an.

Möge kirchlicher Sinn an dieser „Zeitenwende“ uns „in die Quellen der lebendigsten und vollsten Tradition eintauchen“; möge sie „das Feuer am Leben erhalten“ und uns „die erste Liebe mit Hilfe des Heiligen Geistes wieder entzünden“.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Papst Franziskus schreibt einen Brief „an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“, 29.06.2019, www.dbk.de
[2] Bischöfe sehen sich durch Papstbrief bestärkt, 29. 06.2019, www.katholisch.de
[3] Treffen aller 27 Oberhirten in Berlin, 24.06.2019, www.katholisch.de
[4] E. Benz (1972): Der Montserrat, in: Geist und Landschaft, Stuttgart. 50. 

Einladung zum „Marsch für das Leben“ am 21. September 2019 in Berlin

Selbstbestimmung von Mutter und Kind

Am Samstag, den 21. September 2019, findet in Berlin wieder der „Marsch für das Leben“ statt. Er beginnt um 13:00 Uhr mit einer Kundgebung vor dem Reichstag in Berlin (Platz der Republik, 10557 Berlin) und führt von da aus etwa fünf Kilometer lang (barrierefrei) durch die Stadt. Im Anschluss findet ein Ökumenischer Gottesdienst statt. Die Veranstaltung endet gegen 17:30 Uhr. Eine Anmeldung zum „Marsch für das Leben“ ist nicht erforderlich. Alexandra Maria Linder, die Vorsitzende des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) e.V., legt im nachfolgenden Beitrag ein flammendes Zeugnis für den Lebensschutz ab und erklärt, warum die Teilnahme für jeden, der irgendwie kann, ein Muss darstellt.

Von Alexandra Maria Linder

Es könnte alles so einfach sein: Die Würde des Menschen ist unantastbar – so steht es in unserem Grundgesetz. Für einen Christen ist das ebenfalls selbstverständlich und hat eine noch größere Dimension mit der transzendenten Ebene der Gottesebenbildlichkeit. Aus beidem und auch nur aus einem davon ergibt sich, dass wir als Personen und als Staat und Gesellschaft dazu verpflichtet sind, uns um jeden Menschen von der Zeugung an bis zu seinem Tod zu kümmern, seine Würde zu wahren, ihn zu schützen und zu verteidigen. Vor allem in Lebenssituationen, in denen Menschen ihre Würde nicht mehr, noch nicht oder gar nicht selbst verteidigen können, sind wir gefordert. Eigentlich ein ganz klares und eindeutiges Prinzip der Humanität.

Und dennoch gibt es allein in Deutschland über 100.000 Abtreibungen pro Jahr, die meisten davon aus sozialen, partnerschaftlichen, persönlichen, beruflichen oder finanziellen Gründen. Wie kann das in einem der wohlhabendsten und sichersten Länder der Welt mit einem ausgefeilten sozialen System sein? Wir diskutieren darüber, ob Abtreibungsanbieter für ihre „Dienstleistung“ werben dürfen (obwohl es keine Notwendigkeit dafür gibt, weil die Adressen in den Beratungsstellen zur Verfügung stehen und es keine notleidenden Abtreibungseinrichtungen gibt). Natürlich ist das eigentliche Ziel dieser Bestrebungen, Abtreibung zu einem Frauenrecht zu deklarieren und zu legalisieren. Wir überlegen, die sogenannte „Leihmutterschaft“ zuzulassen, die Frauen, vor allem in ärmeren Staaten, regelrecht versklavt und zu Gebärmaschinen degradiert. Warum kommen diejenigen, die der Kirche immer vorwerfen, sie mache genau das aus Frauen, nicht darauf, dass der Begriff „Gebärmaschine“ hier tatsächlich zynischerweise einmal passt? Wir bieten schwerkranken Menschen am Ende ihres Lebens eine begleitete Selbsttötung an statt palliativer und menschlicher Versorgung, wir testen Kinder vor der Geburt und noch im Reagenzglas, ob sie auch gesund sind und auf die Welt kommen dürfen.

Frauenrechte sind selbstverständlich. In vielen Staaten müssen Frauen dennoch darum kämpfen, alleine reisen zu dürfen, einen Beruf ergreifen zu dürfen, nicht als Menschen zweiter Klasse oder Eigentum von Männern betrachtet zu werden. In anderen Staaten, in denen all dies zum Glück keine Rolle (mehr) spielt, will man im Rahmen der „reproduktiven Gesundheit“ auch Abtreibung als Frauenrecht etablieren. Selbstbestimmung aus Geschlechtsgründen wird so zum Maß aller Dinge. Damit machen die Vertreterinnen dieser Forderung genau dasselbe, was früher mit ihnen gemacht wurde: Sie diskriminieren andere Gruppen von Menschen, um sich und ihre Rechte über sie zu stellen. Wie pervers diese Frauenrechtsforderung überdies ist, wird spätestens klar, wenn man weiß, wie viele Millionen Mädchen in vielen Ländern abgetrieben werden – ausschließlich deshalb, weil es Mädchen sind. Der Aufschrei der Feministinnen bleibt hier aber aus, denn das würde die Ideologie stören. Lieber lässt man die Mädchen vor der Geburt millionenfach weiter sterben.

Selbstbestimmung ist etwas Gutes und sei jedem gegönnt. Damit aber jeder Mensch über sich selbst bestimmen kann, braucht es Grenzen, nämlich genau da, wo die Selbstbestimmung eines anderen Menschen beginnt.

Mitleid ist etwas Gutes und sollte jedem zueigen sein. Aus Mitleid die Tötung von Menschen zuzulassen oder gar zu billigen, ist falsch verstandenes Mitleid und letztendlich eine Form der versteckten Verachtung oder Feigheit. Natürlich ist es viel aufwendiger, sich um eine Familie mit genetisch besonderen Kindern zu kümmern als einen vorgeburtlichen Bluttest mit anschließender Abtreibung anzubieten. Natürlich ist es viel anstrengender, schwerkranke oder sterbende Menschen intensiv und mit Menschlichkeit zu versorgen als Euthanasie oder begleitete Selbsttötung anzubieten. Aber nur das ist human und menschenwürdig.

Autonomie ist etwas Gutes. Autonomie kann aber nicht heißen, sich selbst mit gesellschaftlicher Hilfe töten zu dürfen. Denn damit nimmt sich der Mensch seine Autonomie. Und wirklich autonom kann man nur handeln, wenn man sich nicht in einer besonders schweren Lebenssituation befindet, in der man zum Beispiel Schmerzen oder psychische Erkrankungen hat.

Gerechtigkeit ist etwas Gutes. Gerechtigkeit darin, ein Unrecht begehen zu dürfen, gibt es jedoch nicht. Das Argument, man müsse allen Frauen den vorgeburtlichen Bluttest anbieten, weil die wohlhabenderen ihn ohnehin in Anspruch nehmen könnten, ist daher genauso falsch wie das Argument, man müsse sämtliche Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin in Deutschland legalisieren, weil die Leute sonst in die Nachbarstaaten führen.

Inklusion in die Gesellschaft ist etwas Gutes. Wir können jedoch nicht auf der einen Seite nach der Geburt alles tun, um dem betreffenden Kind und der Familie zu helfen, und auf der anderen Seite vor der Geburt alles tun, fördern und finanzieren, was dafür sorgt, dass Kinder mit genetischen Besonderheiten entdeckt und in der Folge nicht inkludiert, sondern selektiert und getötet werden.

Keine Frau ist gezwungen, in Nachbarländer zu fahren, um ihr Kind abzutreiben. Tatsächlich kommen Polinnen nach Deutschland (was eigentlich illegal ist, denn es gibt keine Beratung für sie), kommen Ungarinnen nach Österreich, um die Abtreibungspille RU 486 einzunehmen, fahren Deutsche nach der 12. Schwangerschaftswoche in die Niederlande, wo man länger und ganz ohne Beratung abtreiben darf. Sie ist übrigens auch nicht gezwungen, zu Kleiderbügeln zu greifen oder zu einem Hinterhofabtreiber zu gehen, denn Schwangerschaft ist keine bedrohliche Krankheit und Abtreibung keine notwendige Heilbehandlung – so wirkt es aber, wenn man die Befürworter der Abtreibungslegalisierung hört.

Der Bundesverband Lebensrecht und seine Mitgliedsvereine treten im Schwangerschaftskonflikt für Lösungen ein, mit denen alle Betroffenen leben können. Nur so können das Selbstbestimmungsrecht und die Würde des Menschen für Mutter und Kind durchgesetzt werden. Das ist frauen- und kinderfreundlich – und es ist gerecht.

Die Tendenz in unseren „westlichen“ Staaten geht mehr und mehr hin zu rücksichtslosem Egoismus, Kinderfeindlichkeit, Vereinsamung, Alleinlassen von Menschen in Notlagen. Umso mehr sind wir alle in der Verantwortung, positive, humane Zeichen zu setzen und uns besonders zu engagieren.

Und deshalb müssen Sie auch alle zum „Marsch für das Leben“ am 21. September nach Berlin kommen. Es gibt keine Ausrede. Niemand ist zu alt, es geht jeden etwas an, die Zukunft wird eine humane Zukunft sein oder sie wird für den Menschen ganz fürchterlich. Für diese humane Zukunft engagieren wir uns auf vielen Ebenen und in vielen Bereichen: im politischen Tagesgeschäft, im gesellschaftlichen Diskurs, mit Vorträgen, Artikeln, in der Schwangerenberatung, im Bildungssystem, durch tätige Hilfe. Alle diese engagierten Menschen und viele mehr können Sie in Berlin persönlich kennenlernen – wir freuen uns auf Sie!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
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Regime schließt kirchliche Kliniken und befeuert damit Fluchtursachen

Für Eritreas Kirche ist Aufgeben keine Option

„Der Kirche die Möglichkeit zur Nächstenliebe zu nehmen, ist, als ob man ihr einen Arm amputieren würde.“ So kommentiert der Priester Mussie Zerai gegenüber „Kirche in Not“ die neue Eskalation in seinem Heimatland Eritrea. Tobias Lehner, Referent für Öffentlichkeitsarbeit beim Hilfswerk „Kirche in Not“, berichtet vom brutalen Vorgehen der Regierung, welches darauf abziele, der katholischen Kirche alle Dienste im Bereich Bildung und Gesundheit zu entziehen.

Von Tobias Lehner

Ende Juni beschlagnahmten Soldaten 21 von der eritreisch-katholischen Kirche geführte Kliniken, Arztstationen und Gesundheitseinrichtungen. Mittlerweile ist auch das letzte katholische Krankenhaus in dem nordostafrikanischen Land geschlossen. Die Patienten seien bei der Konfiszierung der Kliniken regelrecht aus den Betten geworfen worden, erzählt Zerai. Das Militär habe Fenster und Türen zerschlagen und die Angestellten unter Druck gesetzt. Die Leiterin eines Krankenhauses im Norden Eritreas, eine Franziskanerschwester, sei sogar in Haft genommen worden, als sie Widerstand leistete.

Der 44-jährige Mussie Zerai lebt in Rom und koordiniert von dort aus die Seelsorgearbeit der eritreischen Gemeinden in Europa. Die wachsen: Tausende Menschen verlassen jedes Jahr ihr Heimatland im Nordosten Afrikas. Kein Wunder angesichts der desolaten Lage. Eritrea liegt laut aktuellen Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf Platz 9 der Herkunftsländer von Asylsuchenden. Nicht erst die Rettungsaktionen im Mittelmeer haben die Debatte um Geflüchtete wiederaufflammen lassen. Über Fluchtursachen wird dabei höchstens am Rande gesprochen. Ein Fehler – wie die Lage in Eritrea zeigt.

Karitative Arbeit kam allen zugute – ohne Ansehen der Religion

„Das Regime bestraft diejenigen, die sich um die ärmsten Menschen kümmern“, sagt Zerai. Denn noch mehr als die kirchlichen Mitarbeiter litten die über 200.000 Menschen, die in den kirchlichen Gesundheitseinrichtungen Jahr für Jahr behandelt wurden. „Die meisten Patienten waren keine Katholiken, sondern orthodoxe Christen, Muslime und Angehörige anderer Religionen. Oft befinden sich die Einrichtungen in abgelegenen Gebieten“, erklärte der Priester. Manche Menschen mussten ohnehin bis zu 25 Kilometer zu Fuß gehen, um einen Arzt oder eine Klinik aufsuchen zu können.

Das Vorgehen der Regierung ist nicht neu: Schon im vergangenen Jahr seien acht Gesundheitszentren geschlossen worden. Neu hingegen sei die Brutalität. Die Gründe dahinter sind unklar. Klar sei aber in jedem Fall das Ziel, so Zerai: „Das brutale Vorgehen der Regierung Eritreas zielt darauf ab, der Kirche alle Dienste im Bereich Bildung und Gesundheit zu entziehen. Unsere Arbeit soll sich nur noch auf die Gotteshäuser beschränken.“

Stellt die Kirche zu viele kritische Fragen?

Ausländische Beobachter vermuten, der Regierung unter Präsident Isaias Aferweki sei das Engagement der Kirche im Friedensprozess mit Äthiopien zu selbstbewusst geworden. Auch wolle die Regierung den Sozialsektor allein in der Hand haben und beruft sich dabei auf ein Gesetz aus dem Jahr 1995. Für Zerai ist die Lage klar: „Die Regierung ist davon besessen, alles und jeden kontrollieren zu wollen. Sie betrachtet die katholische Kirche als Bedrohung, weil wir international vernetzt sind und Fragen stellen.“ Fragen, die das Regime nicht hören will. So auch im Fall von Mussie Zerai. Er darf nicht mehr nach Eritrea einreisen. Umso freier kann er sprechen, während sich die Christen in seinem Heimatland in Zurückhaltung üben müssen.

Die Furcht ist berechtigt: Tausende Christen säßen in eritreischen Gefängnissen, erklärt Zerai: „Oft ohne Angabe von Gründen; die Angehörigen wissen nicht, wo sie abgeblieben sind oder ob sie noch leben.“ Es ginge aber nicht nur den Christen so, sondern auch den Muslimen. Denn anders als in vielen Ländern Nordafrikas ist der Islam in Eritrea nicht Staatsreligion. Das Land sei „atheistisch geprägt. Wenn es nach der Regierung ginge, gäbe es gar keine Religion. Letztlich ist es dieselbe Denkschule wie in China“, erklärt Zerai.

In Eritrea leben maximal 120.000 bis 160.000 Katholiken. Das sind gerade einmal drei Prozent der Bevölkerung. Dennoch sind rund 50 Prozent der Bewohner Eritreas Christen. Die meisten gehören der orthodoxen Kirche an. Sie ist neben der katholischen Kirche eine von vier Religionsgemeinschaften, die vom Staat geduldet werden. Auch die Duldung schützt nicht vor Unterdrückung, erklärt Zerai: So steht der Patriarch der orthodoxen Kirche seit 14 Jahren unter Hausarrest. Vor kurzem seien fünf orthodoxe Mönche festgenommen worden – drei von ihnen über 70 Jahre alt.

Die vier katholischen Bischöfe des Landes werden ebenfalls immer wieder bedroht. Das hat sie jedoch nicht davon abgehalten, gegen die jüngsten Klinikschließungen entschiedenen Protest einzulegen. Das Vorgehen gegen kirchliche Gesundheitseinrichtungen, von denen einige bereits 70 Jahre betrieben wurden, sei „zutiefst ungerecht“, schrieben sie an die zuständige Gesundheitsministerin. „Der Kirche diese Einrichtungen wegzunehmen, bedeutet, ihre Existenzgrundlage zu untergraben und ihre Mitarbeiter der Verfolgung auszusetzen“, erklärten die Bischöfe.

Keine gültige Verfassung, keine Menschenrechte

Derweil setzt sich die Verelendung der Bürger Eritreas fort. Der Fluchtdruck steigt. „Der Grund, warum immer mehr junge Eritreer ins Ausland gehen, ist die fehlende Rechtsstaatlichkeit“, erklärt Zerai. Das Land hat bis heute keine gültige Verfassung. „Die Menschen können deshalb ohne Grund von zu Hause abgeholt werden. Der Militärdienst ist zu einer legalisierten Sklaverei geworden. Den jungen Leuten wird die Möglichkeit zur Zukunft entzogen“, erklärt Zerai.

Eine Oppositionsarbeit im Inland gegen solche oder weitere Verletzungen der Menschenrechte sei unmöglich, erklärt Zerai: „Jede Art des Widerstands, die sich auch nur im Geringsten andeutet, wird sofort im Keim erstickt“. So stammen die meisten Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Eritrea von Flüchtlingen. Internationalen Organisationen ist die Einreise verwehrt oder wird massiv erschwert. Der Versuch der internationalen Gemeinschaft, im Blick auf die Menschenrechtslage Druck auf Eritreas Regierung auszuüben, sei bislang gescheitert. Das Land habe sich weitgehend isoliert. „Derzeit versuchen die Staaten, Eritrea auf internationaler Ebene stärker einzubeziehen, um so eine Öffnung zu bewirken“, sagte der Priester. Im Oktober 2018 wurde das Land von der UN-Vollversammlung in den Menschenrechtsrat gewählt.

Trotz der erhöhten Repressalien käme den Bischöfen, Priestern und Ordensleuten ein Aufgeben nicht in den Sinn, erklärt Zerai. „Die katholische Kirche wird ihre seelsorgerische, aber auch ihre soziale Arbeit fortsetzen. Das sagt schon die Bibel: Glaube ist nichts ohne echten Einsatz, ohne Werke.“ So bekämpft die Kirche Eritreas Fluchtursachen. „Kirche in Not“ unterstützt sie dabei – so direkt wie möglich, so diskret wie nötig.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Beim Ruhegebet achtet die Seele auf „nichts anderes als auf Gott allein“

Eine unbekannte Seite des hl. Padre Pio

Durch die Zeitschrift „Die Stimme Padre Pios“ erfuhr Dr. Peter Dyckhoff, dass Pater Pio von Pietrelcino (1887-1968) das Ruhegebet betete, was durch viele seiner Briefe belegt ist. Aus der Zeit von 1910 bis 1922 stehen uns 336 Briefe zur Verfügung, die Pater Pio an seine geistlichen Begleiter schrieb. Hinzu kommen noch 56 weitere Briefe. Dyckhoff zitiert die Stellen, die das Ruhegebet widerspiegeln, und kommentiert sie.[1] In einem Brief vom 9. Februar 1914 schreibt Pater Pio: „Was die Seele in diesem Zustand empfängt, das empfängt sie auf eine ganz andere Weise als früher. Jetzt ist es Gott selbst, der unmittelbar im Zentrum der Seele handelt und wirkt, ohne die Mithilfe der inneren oder äußeren Sinne.“

Von Peter Dyckhoff

Um das Ruhegebet bekannt zu machen und zu verbreiten, gab ich viele Kurse zur „Einübung in das Ruhegebet“ in Bildungseinrichtungen und Klöstern. Heute unterstützen mich tatkräftig ausgebildete Lehrende. Auf meinen vielen Reisen kam ich auch nach Krefeld in das Kloster „Mariae Heimsuchung“, dem die Generaloberin der Franziskus-Schwestern, Schwester Alfonsa Fischer, vorsteht. Hier war das Interesse am Ruhegebet besonders groß, und ohne es gleich zu bemerken, hinterließen die Kurse Spuren, so dass auch später viele die so einfache und wirkungsvolle Gebetsweise erlernten. Diese wurde von dem Mönchsvater Johannes Cassian (360-435) schriftlich verfasst und konnte somit bis heute unverfälscht weitergegeben werden.

Eines Tages rief mich die Generaloberin Schwester Alfonsa an und berichtete mir, sie habe in der Zeitschrift „Die Stimme Padre Pios“ der Kapuziner der Ordensprovinz „Sant Angelo de Padre Pio“ gelesen, dass Pater Pio das Ruhegebet gebetet hätte. Voll Freude darüber, dies entdeckt zu haben, und auf meine Bitte hin, las sie mir den Artikel von Bruder Luciano Lotti „… Pater Pio, die Wundmale und der Tempel“ am Telefon vor. Schwester Alfonsa versprach darüber hinaus, mir diese deutsche Ausgabe von „Voce di Padre Pio“ zu schicken. Gespannt wartete ich auf die Post und konnte dann am übernächsten Tag Folgendes lesen:

Die Briefe dieser Jahre, vor allem jene ab November 1913, führen uns in diese Richtung. In dem berühmten Brief über das „Ruhegebet“ schreibt er in Anlehnung an die „Seelenburg“ der hl. Teresa von Avila:

Die übliche Art meines Gebetes ist diese: Kaum, dass ich zu beten beginne, spüre ich sofort, wie sich meine Seele in einem Frieden und einer Gelassenheit sammelt, die ich nicht mit Worten zu beschreiben vermag. Die Sinne bleiben ausgeschaltet, mit Ausnahme des Gehörs, das manchmal nicht ausgeschaltet ist, jedoch stört mich dieser Sinn im Allgemeinen nicht, und ich muss gestehen, dass es mir nicht das Geringste ausmachte, auch wenn um mich herum der größte Lärm veranstaltet würde. (Briefe I, S. 509)

Die Experten für spirituelle Theologie beschreiben diesen Zustand als „Ruhegebet“ oder „passive Kontemplation“: Der Herr nimmt die Seele in Besitz und leitet vollkommen ihr Gebet.

Im Februar des folgenden Jahres bestätigte Padre Pio diese Handlungsweise Gottes in einem Brief an Pater Agostino:

Was die Seele in diesem Zustand empfängt, das empfängt sie auf eine ganz andere Weise als früher. Jetzt ist es Gott selbst, der unmittelbar im Zentrum der Seele handelt und wirkt, ohne die Mithilfe der inneren oder äußeren Sinne… Was ich über diesen gegenwärtigen Zustand zu sagen vermag, ist, dass die Seele auf nichts anderes mehr achtet als auf Gott allein; sie fühlt, dass sich ihr ganzes Sein auf Gott ausrichtet und in Gott sammelt, und diese Ausrichtung und Sammlung ist derart stark, dass sämtliche Fähigkeiten, selbst in ihren allerersten Regungen, auf natürliche Weise und beinahe spontan zu Gott hinführen und ihm instinktiv entgegeneilen. (Briefe I, S. 551).

„Die Stimme Padre Pios“ (Voce di Padre Pio), Ausgabe November/Dezember 2018, berichtet auf den Seiten 06 und 07 anhand von Zitaten aus Briefen von Padre Pio, dass er das Ruhegebet betete. Die genaue Angabe seiner Briefbände ist im Literaturverzeichnis angegeben.

Schon beim Lesen der kurzen Ausschnitte aus seinen Briefen spürte ich, dass ich diesem Hinweis und dieser Spur weiterhin nachgehen muss. Ich bestellte mir in San Giovanni Rotondo seine Briefbände, die Sybille Thoma Wagensommer aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt hat. Der Gedanke, eine Schrift mit dem Titel „Pater Pio und das Ruhegebet“ herauszugeben, war geboren.

Um nicht unnötig Zeit zu investieren, reflektierte ich in den folgenden Tagen dieses Vorhaben und meine anhaltende Begeisterung. Ich fragte mich nach meinem Anliegen und stellte fest, dass es ein Herzensanliegen ist. Beim Überdenken und Nachspüren dieser Idee erinnerte ich mich an die Zeiten, in denen mir erstmals Pater Pio begegnete.

In jedem jungen Leben werden Grundsteine gelegt, die oftmals vergessen werden, in späterer Zeit jedoch wieder aufleuchten und zum tragenden Lebenselement werden. Mit siebzehn Jahren hatte ich einen Unfall und verletzte mich an der Wirbelsäule. In Köln-Lindenthal wurde ich operiert, musste lange ein Gips-Korsett tragen und zeitweilig im Rollstuhl sitzen. Bedauerlicherweise musste ich in der Schule fehlen und verpasste den Anschluss, als ich sie wieder besuchen konnte. Da ich mich innerlich sehr sträubte, ein Schuljahr zu wiederholen, setzte ich alles daran, Noten zu bekommen, die es möglich machten, versetzt zu werden.

Bei allem Eifer, Versäumtes nachzuholen, gelang mir dies im Fach Mathematik nicht. Ich hatte das Glück, bei einer Studienrätin für Mathematik Nachhilfe-Unterricht zu bekommen. Wir lernten uns näher kennen, und ich erfuhr, dass sie eine sehr gläubige Frau war und in besonderer Weise Pater Pio aus Pietrelcina verehrte. Bisher – wir schrieben das Jahr 1955 – hatte ich noch nie etwas von diesem Pater gehört, der die Wundmale Jesu an seinem Körper trug. Bei aller Skepsis und allem Unglauben, den ich damals noch besaß, ging immer etwas Geheimnisvolles, ja, ich kann heute sagen, etwas Geheiligtes von meiner Lehrerin aus, wenn ich sie nach dem Unterricht nach Pater Pio fragte und sie mir von ihm erzählte. Manchmal dauerte dies länger als der Unterricht selbst.

Die Zeit bis zum Abitur wurde kürzer, und ich musste mir das Wissen im Fach Mathematik wie immer noch mühsam erwerben. Eine gewisse Angst kam auf, als ich im Unterricht im Gymnasium wie auch im Nachhilfe-Unterricht feststellen musste, dass ich vieles nicht verstand. Ohne zu überlegen wandte ich mich ganz von selbst innerlich an Pater Pio mit dem dringenden Anliegen, er möge mir in meiner Not helfen. Ein Zurück in die Unterprima gab es für mich nicht! Es wurde in mir wie auch in meiner Seele enger und enger, bis ich eines Tages eine wunderbare Erfahrung machte. Während einer schwierigen Aufgabe wanderten ohne ersichtlichen Grund meine Gedanken zu Pater Pio – und der Lösungsweg lag einfach vor mir.

Ich bestand das Abitur und trage seit vielen Jahrzehnten eine Reliquie von Pater Pio an einer dünnen Silberkette um meinen Hals: Es ist – verschlossen in einem Amulett – ein kleines Stück Stoff der kastanienbraunen Kutte, die er getragen hat.

Als die Oberin eines italienischen Klosters, in dem ich oftmals die heilige Messe feiern durfte, erfuhr, wie sehr ich Pater Pio verehrte, machte sie es möglich, dass ich direkt aus dem Kloster San Giovanni Rotondo, dem Kloster Pater Pios, diese Reliquie bekam. Sie kannte dort einen Kapuziner, der bereits in diesem Konvent war, als Pater Pio noch lebte.

Selbst wenn ich ihn oftmals über längere Zeit vergaß, so sorgte Pater Pio wiederholt bei mir dafür, dass ich mich seiner erinnerte. Kurz nachdem Pfarrer Hans Buschor 1999 den Fernsehsender „K-TV“ (Kephas-Fernsehen) gegründet hatte, lud er mich ein, nach Gossau in die Schweiz zu kommen, um Vorträge aufzunehmen. Er bat mich, auch die heilige Messe mit einer kurzen Predigt in der Hauskapelle des Senders zu feiern. Zu meinem großen Erstaunen sah ich neben dem Altar eine lebensgroße Statue von Pater Pio – aus Holz und handgeschnitzt. Ich wusste Bescheid und dankte dem Himmel, dass ein Heiliger mir nahe war und mein Leben begleitete. Ich hatte das Gefühl, dass Pater Pio mit mir am Altar stand und die heilige Messe feierte.

Jetzt, in höherem Alter, kommt Pater Pio mir in seinen vielen Briefen noch einmal entgegen. Wie ein großes Geschenk empfand ich es, als ich in seiner Korrespondenz viele Hinweise darauf fand, dass er das Ruhegebet betete. Aus der Zeit von 1910 bis 1922 stehen uns 336 Briefe zur Verfügung, die Pater Pio an seine beiden geistlichen Begleiter, Pater Agostino und Pater Benedetto, schrieb. Hinzu kommen 56 Briefe, die Pater Pio an Donna Raffaelina Cerase von 1914 bis 1915 schrieb. Aus diesen insgesamt 392 Briefen zitiere ich die Stellen, die das Ruhegebet widerspiegeln. Anschließend folgt jeweils ein kurzer Kommentar.

Möge es mit der Unterstützung des Heiligen Geistes und auch von Pater Pio gelingen, den Leserinnen und Lesern diese Gebetsweise des Heiligen, die dem Ruhegebet entspricht, ans Herz zu legen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Peter Dyckhoff: Pater Pio und das Ruhegebet, geb. mit Lesebändchen, 208 S., 10,00 Euro (D), ISBN: 978-3-86357-238-9 – Telefon: 07563 608 998-0 – Fax: 07563 608 998-9, Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de

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