Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Durch den Missbrauchsskandal ist die katholische Kirche massiv unter Druck geraten. Nun sieht sie sich Erwartungen und Forderungen ausgesetzt, die an ihr Wesen und ihr Selbstverständnis rühren. Wie soll sie sich verhalten? Was dient im jetzigen Augenblick tatsächlich dem Wohl der Kirche und ihrem göttlichen Auftrag in der Welt? Die aufgebrachte Öffentlichkeit legt den Finger auf Wunden, die tatsächlich geheilt werden müssen. Ohne offene und ehrliche Aufarbeitung der Krise kann die Kirche ihrer Sendung auf keinen Fall gerecht werden. Sie muss sich den Herausforderungen stellen.

Die deutschen Bischöfe haben sich dafür entschieden, einen sog. „synodalen Weg“ zu beschreiten, um einerseits mit allen Beteiligten unvoreingenommen ins Gespräch zu kommen und andererseits eine Reinigung und Erneuerung des kirchlichen Lebens in Gang zu bringen.  „Die Kirche braucht ein synodales Voranschreiten. Papst Franziskus macht dazu Mut.“ So betont Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, in seinem Pressebericht zum Abschluss der Frühjahrs-Vollversammlung der deutschen Bischöfe am 14. März 2019. Und er erklärt: „Wir wollen eine hörende Kirche sein. Wir brauchen den Rat von Menschen außerhalb der Kirche.“ Und so verspricht er „eine verantwortliche Teilhabe von Frauen und Männern aus unseren Bistümern“.

Grundsätzlich stellt der synodale Weg eine gute Lösung dar. Er kann die Wogen glätten und den Zeitdruck wegnehmen, der für ein besonnenes Vorgehen hinderlich wäre. Doch kommt bei einem synodalen Weg, alles darauf an, dass die Bischöfe ihre Hirtenpflicht erfüllen und die Kirche vor zerstörerischen Kräften schützen. Denn es besteht kein Zweifel daran, dass der Missbrauchsskandal solche Kräfte auf den Plan gerufen hat. So sehr die Kirche auf die enttäuschten und verunsicherten Gläubigen eingehen muss, so klar muss sie sich auch dafür entscheiden, in dieser Situation nicht die Agenda kirchenfeindlicher Interessensgruppen zu bedienen und das Evangelium zu verraten.

Der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Dr. Nikola Eterović, ermahnte die Bischöfe in seinem Grußwort: „Die Skandale des Missbrauchs von Minderjährigen sind eine Herausforderung auch für die Theologie, vor allem für die Moraltheologie. Sie sollte zum Beispiel vertieft die zehn Gebote reflektieren und sich dabei der Beziehung von Freiheit und Verantwortung der menschlichen Person bewusst bleiben, die von Gott gerufen ist, auf dem Weg zur Heiligkeit immer weiter voranzuschreiten, denn dieses Ideal soll jeder Christ anstreben und erreichen. Es ist also nötig, immer wieder zu bekräftigen, dass alle Christen zur Heiligkeit berufen sind, wie das Zweite Vatikanische Konzil daran erinnert, dass die Kirche heilig ist, jedoch aus Sündern besteht, die zur Bekehrung und Heiligkeit gerufen sind (vgl. LG, Kap. V).“

Demgegenüber klingt die Zielsetzung, die Kardinal Marx im Abschlussbericht vorlegt, irritierend und beunruhigend: „Die Sexualmoral der Kirche hat entscheidende Erkenntnisse aus Theologie und Humanwissenschaften noch nicht rezipiert. Die personale Bedeutung der Sexualität findet keine hinreichende Beachtung. Das Resultat: Die Moralverkündigung gibt der überwiegenden Mehrheit der Getauften keine Orientierung. Sie fristet ein Nischendasein. Wir spüren, wie oft wir nicht sprachfähig sind in den Fragen an das heutige Sexualverhalten. Geeignete Formate zur Klärung von Neuausrichtung und Veränderung werden wir in diesem Jahr bei der Vorbereitung des synodalen Prozesses suchen.“

Liebe Leser, mit unserem Heft möchten wir Hilfen zur Orientierung und Hoffnungszeichen anbieten. Mit der Bitte um großherzige Unterstützung und einem aufrichtigen Vergelt’s Gott wünschen wir Ihnen Gottes reichen Segen. Möge uns Maria, die Mutter der Kirche, schützen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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Zu den brennenden Fragen auf der Frühjahrs-Vollversammlung der deutschen Bischöfe in Lingen

Was bewegt uns?

Der Augsburger Weihbischof Florian Wörner (geb. 1970) legt in seinem Beitrag dar, was ihn „im Blick auf die Frühjahrs-Vollversammlung der deutschen Bischöfe in Lingen bewegt“. Dabei geht er auf die drei Hauptthemen „Amt und Macht“, „kirchliche Sexualmoral“ sowie „Zölibat der Priester“ ein, denen sich die deutschen Bischöfe in den kommenden Jahren auf einem sog. „synodalen Weg“ widmen möchten. Florian Wörner, der 2012 die Bischofsweihe empfing, wurde 2015 zum Leiter der Hauptabteilung „Schule“ und 2018 zum „Bischofsvikar für Schule“ im Bistum Augsburg ernannt. Zugleich ist er Beauftragter der Freisinger Bischofskonferenz für Jugendseelsorge und kirchliche Jugendverbände in Bayern sowie Mitglied der Jugendkommission und der Kommission für Schule und Erziehung der Deutschen Bischofskonferenz. Nachfolgende Stellungnahme verfasste er für die religionspädagogische Fachzeitschrift „Kontakt“ der Diözese Augsburg.

Von Weihbischof Florian Wörner, Augsburg

Die diesjährige Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischöfe in Lingen hat nicht nur die Öffentlichkeit aufgewühlt und ein starkes, widersprüchliches Echo ausgelöst. Auch mir als Teilnehmer gingen die Debatten zu den drei Hauptthemen – Amt und Macht in der Kirche, kirchliche Sexualmoral und priesterliche Lebensform (Zölibat) – noch lange nach. Ich möchte deshalb in diesem Beitrag meine Sicht der Dinge darlegen. 

1. Amt und Macht in der Kirche

Die Erfurter Dogmatikprofessorin Dr. Julia Knop[1] sprach mit Blick auf die MHG-Studie von „systemischen Risiken“ der Institution Katholische Kirche, die Gewalt und Amtsmissbrauch begünstigten. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Dr. Reinhard Marx, nahm in seinem Abschlussbericht darauf Bezug und bescheinigte den kirchlichen Strukturen einen „erheblichen Entwicklungsbedarf“ hinsichtlich einer „Teilung und klar geregelten Kontrolle von Macht“.

Dass es letzteres in profanen Institutionen geben muss, steht außer Zweifel, und sicher auch in bestimmten Bereichen einer institutionell verfassten Kirche. Dennoch besitzt die Kirche von ihrem Wesen her einen anderen Charakter und damit auch das in sie eingestiftete Amt: Sie ist, mit den Worten Jesu gesagt, „nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36), und das „Amt“ in ihr beruht auf Berufung durch den Herrn, nicht auf Selbstwahl oder demokratischer Wahl. Es ist ein Dienstamt, nicht mit „Macht“, sondern mit „Vollmacht“ ausgestattet im Sinne einer Teilhabe an der geistlichen Vollmacht Jesu, die dieser vom Vater erhalten hat,[2] um die Menschheit in die ursprüngliche Gemeinschaft mit Gott zurückzuführen oder – anders gesagt – um die Welt mit Gott zu versöhnen (vgl. 2 Kor 5,19). Priester und Bischöfe erhalten diese Vollmacht durch Berufung und Weihe von Gott selbst und üben sie durch die Verkündigung und die Spendung der Sakramente aus, und zwar im Dienst an den Menschen.[3] Das Weiheamt bevollmächtigt sie „in persona Christi“, d.h. stellvertretend für ihn und in seinem Auftrag, den Menschen die Liebe Gottes, sein Erbarmen, seine Erlösungstat täglich neu zu vermitteln, damit der Gnadenstrom seines Heilshandelns zu allen Zeiten der Geschichte zu den Menschen fließen kann. Das Weiheamt ist somit in der Tat ein „heiliger“ – „sakraler“ – Dienst, den die Menschheit dringend braucht und der von seinem Wesen her nichts mit Machtausübung, sondern mit Dienst und Nachfolge und das heißt auch mit Kreuzesnachfolge und Tragen der Lasten anderer zu tun hat. Das Amt in der Kirche ist von daher nicht einfach mit einer Leitungsfunktion einer gesellschaftlichen Institution vergleichbar und kann deshalb auch nicht ohne weiteres unter das Gesetz von Gewaltenteilung und Machtkontrolle gestellt werden. 

Natürlich ist es wahr, dass ein Priester oder Bischof, der seine Vollmacht missbraucht, in einem erschreckenden Maße verantwortungslos handelt, weil er das Bild Gottes in den Herzen der Menschen verdunkelt oder gar zerstört. Und es ist klar, dass dann unbedingt eingegriffen werden muss. Die Lösung sehe ich aber dennoch nicht in einer Teilung und Kontrolle von „Macht“, wie wir sie aus dem profanen Leben kennen. Auch dort führen diese nicht automatisch zur Verhinderung von Missständen. Im kirchlichen Bereich muss dem Missbrauch von Macht meines Erachtens vor allem dadurch begegnet werden, dass sich die Amtsträger ständig auf den Geist des Evangeliums zurückbesinnen und zu ihrer von Gott geschenkten Berufung des Dienens zurückkehren. Präventiv wären u.a. eine stärkere geistliche Begleitung und ein persönliches Bemühen um geistliche Vertiefung wie regelmäßiges Gebet und Empfang des Bußsakramentes wünschenswert. Zur Kontrolle der Macht müsste insbesondere darauf geachtet werden, dass sich alle Glieder der Kirche, Laien wie Priester, welche unter Machtmissbrauch leiden, an zuständige Anlaufstellen wenden können, bei denen sie Gehör finden und in ihren Anliegen ernst genommen werden.

2. Kirchliche Sexualmoral

Besonders hat mich die Diskussion über die kirchliche Sexualmoral bewegt. Ich frage mich, ob man Augustinus gerecht wird, wenn man ihm vorwirft, „ein vergiftetes Bild der Sexualität“ entworfen zu haben, das die kirchliche Sexualmoral bis heute beeinflusse. Wenn ich Prof. Schockenhoff richtig verstanden habe, dann tauscht er die schöpfungstheologisch begründete kirchliche Sexuallehre gegen eine sog. „gegenwärtige Sexualethik“ aus, die sich mehr an den Ergebnissen der Humanwissenschaften orientiert und dementsprechend das Bedürfnis des Subjekts zum Bewertungsmaßstab sexuellen Handelns macht. Das bedeutet aber doch in letzter Konsequenz, dass nicht der Schöpfer, sondern das Geschöpf, nicht die von Gott in die Schöpfung hineingelegte Ordnung, sondern die Bedürfnisse des Menschen, wie sie die Humanwissenschaften eruieren, normativ sind. Die Folge ist, dass nun jede Form von sexuellen Handlungen für erlaubt, ja sogar für gut erklärt wird, solange sie nur Rücksicht nimmt auf die Befindlichkeit des anderen: Sex vor der Ehe, zwischen Unverheirateten, zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern und nicht zuletzt die Selbstbefriedigung. Befinden wir uns hier noch auf dem Boden der biblisch-offenbarungs-theologischen Aussagen über das Wesen des Menschen im Bereich der Sexualität?

Es ist außerdem sehr bedauerlich, dass die 129 Kurzansprachen von Papst Johannes Paul II. (Mittwochsaudienzen zwischen 1979 und 1984) – zusammengefasst unter dem Arbeitstitel „Theologie des Leibes“ – kaum oder abwertend Berücksichtigung finden. In dieser kühnen und visionären Konzeption des heiligen Papstes, die die Humanwissenschaften sehr wohl einbezieht, wird die positive Bedeutung der menschlichen Leiblichkeit, besonders im Blick auf die Sexualität und die erotische Liebe, dargelegt. Der Leib ist mehr als nur Körper; in ihm kommt die Person, die Identität eines Menschen zum Vorschein. Gott hat einen menschlichen Leib angenommen und im Tod und in der Auferstehung Jesu die Tür zur Auferstehung des Leibes geöffnet. Der menschliche Leib hat eine göttliche Würde, er ist Tempel des Heiligen Geistes (vgl. 1 Kor 6,19). Und von daher ist er „nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn und der Herr für den Leib“ (1 Kor 6,13). Nicht nur die Prüderie, sondern auch der Libertinismus sind Formen von Leibfeindlichkeit. Die Sexualität ist eine wunderbare Gabe, die Gott uns anvertraut hat, damit wir Liebe und Leben schenken können. Ihre Abkoppelung von der Fruchtbarkeit und von der Liebe bringt allerdings eine Banalisierung der Sexualität und des Leibes mit sich und entspricht weder unserer innersten Sehnsucht noch unserer Bestimmung und Würde. Darum sind die Kirche und ihre Sexualmoral keine „Spaßbremsen“, sondern eine echte Hilfe auf dem Weg zu einem glücklichen und erfüllten Leben.

Ein Blick auf die Schöpfungsberichte zeigt, dass die bis heute gültige kirchliche Sexuallehre nichts anderes darstellt als die Entfaltung der dort getroffenen Aussagen über Sinn und Ziel der vom Schöpfer in den Menschen hineingelegten Sexualität. Beide Schöpfungsberichte stellen, vermittelt in der literarischen Form mythischer Erzählungen, tiefgehende Reflexionen über bleibende Wahrheiten hinsichtlich der „conditio humana“ dar. Während im jüngeren Schöpfungsbericht, Gen 1, der Schwerpunkt auf der Erschaffung des ganzen Kosmos liegt, steht im älteren, Gen 2,4-25, die Erschaffung des Menschen, sein Verhältnis zu Gott und seine Stellung in der Schöpfung im Mittelpunkt. In zwei sich ergänzenden Schöpfungsakten wird letzteres entfaltet:[4]

Im ersten Schöpfungsakt schildert der Autor, wie Gott den Menschen planvoll und liebevoll „formt“ (wie ein Töpfer sein Gefäß), um ihn sodann durch die Einhauchung seines Lebensodems zu einer „lebendigen Seele“, d.h. zu einem geistbegabten Gegenüber oder Freund Gottes zu machen (2,7). Die grundlegende „conditio humana“ ist demnach die Bestimmung des Menschen zu einer tiefen inneren Herzensbeziehung, ja Freundschaft mit Gott.

Mit der Erschaffung des „Gartens in Eden im Osten“ und der „Versetzung“ des Menschen in diesen Garten stellt Gott sodann dem Menschen einen Lebensraum zur Verfügung, den er in Besitz nehmen und in dem er Verantwortung übernehmen soll („damit er ihn bearbeite und hüte“: 2,8-9. 15). Alle Güter der Welt darf der Mensch gebrauchen („von allen Bäumen des Gartens darfst du essen“), nur eine Grenze muss er achten: die von Gott der Schöpfung eingestiftete Schöpfungsordnung – und d.h. letztlich auch die moralische Weltordnung. Sie steht dem Menschen, da er ja selbst Geschöpf ist, naturgemäß nicht zur Verfügung – in der mythischen Sprache des Schöpfungsberichtes ausgedrückt: „doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen“ (2,16-17).

Der zweite Schöpfungsakt (2,18-25) wird eröffnet mit der Feststellung Gottes: „Es ist nicht gut, dass der Mensch („adam“) allein ist. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm ebenbürtig ist“ (2,18). Das hebräische „adam“ bedeutet nicht „Mann“ im Sinne einer Geschlechterbezeichnung, sondern „Mensch“ im Sinne einer Gattungsbezeichnung. Es geht also nicht um die Einsamkeit des Mannes ohne Frau, sondern um das „Alleinsein“ des Menschen, der sich ohne Ausdifferenzierung in zwei Geschlechter nicht in die Geschichte hinein fortpflanzen kann. Gott aber möchte mit der ganzen Menschheit eine Freundschaftsbeziehung aufnehmen. Deshalb muss der Mensch sein „Alleinsein“ überwinden und sich in die Geschichte hinein erstrecken, also fortpflanzen. Dazu braucht er eine Hilfe, die ihm entspricht, ein gleichwertiges Gegenüber.

Die anschließende Schilderung der Erschaffung der Frau aus der Rippe des Menschen weist in mythischer Sprache auf diese grundlegende Wahrheit über die „conditio humana“ hin, dass der Mensch („adam“) von Gott in zwei Geschlechtern geschaffen wurde mit dem Ziel, dass eine Liebesgemeinschaft zwischen Mann und Frau entstehen kann, die zugleich fruchtbar wird für neues Leben, so dass der Weg Gottes mit der Menschheit, seine „Liebesgeschichte“ mit ihr, durch die Geschichte hindurch in Gang kommt. Diese „Liebesgeschichte“ ist ja schon im Alten Testament nicht von ungefähr im Bild des Ehebundes zwischen Gott und Israel und im Neuen Testament im Bild der Brautschaft zwischen Christus und seiner Kirche dargestellt.

Bedenkt man dies alles, dann wird klar, weshalb die kirchliche Sexualmoral daran festhält, dass die Betätigung der Sexualität innerhalb der ehelichen Gemeinschaft von Mann und Frau ihren Platz hat, und zwar nicht nur einen bevorzugten, sondern den ausschließlichen Platz (vgl. KKK 2351-2372). Dadurch wird Sexualität zu einer Sprache der Hingabe und des Beschenkt-Werdens. Bei aller menschlichen Schwäche gilt es, für diese Sprache fähig zu werden. Nur die eheliche Gemeinschaft, die mit ihrer Fruchtbarkeit garantiert, dass es einen Weg Gottes mit der Menschheit durch die Geschichte hindurch überhaupt gibt, entspricht dem Heilsplan Gottes.

Wir stehen als Katholiken heute also vor keiner geringeren Entscheidung als der erste Mensch im Paradies; und es gibt auch für uns heute keine andere Alternative als die: entweder den „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“, d.h. die von Gott in die Welt hineingelegte Schöpfungsordnung und damit auch die Verortung der menschlichen Sexualität in der Ehe, zu respektieren oder uns darüber hinwegzusetzen. Wenn wir jedoch letzteres tun, machen wir uns dann nicht selbst zum Maß aller Dinge? Wiederholen wir dann nicht den Sündenfall? Und was leitet uns dabei? Ist es nicht das gleiche Motiv, das auch den ersten Menschen leitete, als er nach der Frucht des Baumes griff: die von der Macht des Bösen in Aussicht gestellte Illusion, selbst zu werden wie Gott, nicht gebunden an eine vorgegebene Ordnung? Doch als dem Menschen die Augen aufgingen, erkannte er nur seine eigene Ohnmacht und Erbärmlichkeit ohne Gott (vgl. Gen 3,1-7).

3. Die priesterliche Lebensform (Zölibat)

Ein weiteres Thema, das zur Debatte steht, ist die zölibatäre Lebensform des Priesters. Sie ist ein Charisma, das Jesus selbst gelebt und auch von seinen Aposteln gefordert hat. Die westliche Kirche hat deshalb diese Lebensform nach langem Ringen als kostbares Gut für alle Priester und Bischöfe beibehalten und verpflichtend gemacht. Sie stellt die Weise totaler Hingabe an den Herrn und vollkommener Verfügbarkeit für ihn dar. Allerdings setzt sie auch eine tiefe Liebe zu Jesus Christus voraus, die täglich durch den Umgang mit ihm im Gebet und in der Feier der hl. Messe vertieft und regelmäßig im Sakrament der Versöhnung erneuert werden muss.

Trotzdem ist eine solch radikale Lebensform auch ein „Stachel im Fleisch einer übersexualisierten Gesellschaft"[5] wie der unsrigen heute. Das macht dem Priester die Treue zu seiner einmal selbst gewählten Lebensform nicht leicht. Erschwerend kommt noch hinzu, dass es heute gängig ist, die Sexualmoral hinter das Vorzeichen der Humanwissenschaften zu platzieren, d.h. die menschliche Sexualität aus ihrer Hinordnung auf die Ehe herauszulösen und den menschlichen „Lust-Trieb“ zu verabsolutieren. Wenn dann noch das Schwergewicht des Alltags sowie eine gewisse Frustration im priesterlichen Dienst hinzukommen, kann der Zölibat als eine Lebensform liebender Hingabe und totaler Verfügbarkeit für den Herrn seinen Glanz verlieren und nach und nach als Last und Einschränkung empfunden werden.

Damit aber weicht auch die ursprüngliche, tiefe Liebesbeziehung zu Jesus zunehmend einer wachsenden Distanz und Leere bis hin zu einer regelrechten „Abwesenheit Gottes"[6] im Lebensalltag eines Priesters bzw. Bischofs. Auf der anderen Seite bleibt aber im Menschen die Sehnsucht nach Liebe und Hingabe, nach Gegenliebe und Erfüllung erhalten, so dass die Versuchung aufkommt, sich ein anderes Objekt der Liebe zu suchen. Die Ursache für den Missbrauchsskandal ist demnach nicht die zölibatäre Lebensform[7] als solche, sondern die „Abwesenheit Gottes“ im Leben des Geistlichen, der Verlust der „ersten Liebe“ (vgl. Offb 2,4f.).

Deshalb bin ich der Meinung, dass es keinen Sinn macht, ja sogar falsch wäre, auf dem von der Bischofskonferenz angekündigten „Synodalen Weg“ den Zölibat zur Disposition zu stellen. Das einzig Nötige und Zielführende erscheint mir in der gegenwärtigen Situation der Kirche die Rückkehr zur ersten Liebe zu sein. Papst Benedikt spricht es in seinem Aufsatz vom April 2019 klar aus: „Eine erste Aufgabe, die aus den moralischen Erschütterungen unserer Zeit folgen muss, besteht darin, dass wir selbst wieder anfangen, von Gott und auf ihn hin zu leben. Wir müssen vor allen Dingen selbst wieder lernen, Gott als Grundlage unseres Lebens zu erkennen und nicht als eine irgendwie unwirkliche Floskel beiseite zu lassen."[8]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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[1] Sämtliche Vorträge der Referenten auf der Bischofskonferenz sind nachzulesen auf der Internetseite der DBK, veröffentlicht am 13.03.2019 – www.dbk.de/de/presse/aktuelles/meldung/studientag-zum-thema-die-frage-nach-der-zaesur-zu-uebergreifenden-fragen-die-sich-gegenwaertig-stel/detail/
[2] Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Presbyterorum Ordinis – Dekret über Dienst und Leben der Priester, 2: „Daher hat Christus die Apostel gesandt, wie er selbst vom Vater gesandt war, und durch die Apostel den Bischöfen als deren Nachfolgern Anteil an seiner Weihe und Sendung gegeben. Ihr Dienstamt ist in untergeordnetem Rang den Priestern übertragen worden.“
[3] Vgl. ebenda, 5: „Gott … wollte sich Menschen gleichsam zu Gefährten und Helfern erwählen, dass sie dem Heiligungswerk demütig dienten. Darum werden die Priester von Gott durch den Dienst des Bischofs geweiht, um in besonderer Teilhabe am Priestertum Christi die heiligen Geheimnisse als Diener dessen zu feiern, der sein priesterliches Amt durch seinen Geist allezeit für uns in der Liturgie ausübt.“
[4] Zum Folgenden vgl. Renate Brandscheidt: Die Heiligkeit des Lebens im Urteil der Bibel, in: Herausforderung „Mensch“. Philosophische, theologische und medizinische Aspekte, hg. von Renate Brandscheidt/Johannes Brantl/Maria Overdick-Gulden/Werner Schüßler, Paderborn 2012, 71f.
[5] Ebda, 8.
[6] So Papst Benedikt in seinem Aufsatz, den er anlässlich der Missbrauchskrise im April 2019 in VATICAN NEWS veröffentlichte: www. vaticannews.va/de/papst/news/2019-04/papst-benedikt-xvi-wortlaut-aufsatz-missbrauch-theologie.html – 11.
[7] Dies ist inzwischen ja allgemein anerkannt: vgl. dazu auch Bischof Rudolf Vorderholzer in seinem Brief an die Mitbrüder im geistlichen Dienstamt und die Mitarbeiter im pastoralen Dienst vom 22.04.2019, 8.
[8] Papst Benedikt, ebenda, 11.

Wie überraschend sind die Skandale?

Licht aus dem Westen

Prof. Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea beleuchten den derzeitigen Missbrauchsskandal auf dem Hintergrund von Ereignissen, die bereits 400 Jahre zurückliegen, jedoch von atemberaubender Aktualität sind. Es handelt sich um das Lebenszeugnis der spanischstämmigen Ordensfrau Mutter Mariana de Jesus Torres (1563-1635), die im deutschsprachigen Raum fast völlig unbekannt ist. Zwischen 1594 und 1634 erschien ihr in Quito im heutigen Ecuador wiederholt die Gottesmutter und kündigte ihr detailliert eine Krise der Kirche an, die kurz nach der Mitte des 20. Jahrhunderts ausbrechen werde. Wie genau sich all ihre Prophezeiungen bis in unsere Tage hinein erfüllt haben, ist geradezu frappierend. Die Visionen können Orientierung geben, machen aber auch Hoffnung. Denn sie münden in die Verheißung ein, dass die Kirche durch all diese Prüfungen hindurch zu einer neuen Blüte gelangen werde.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Endlich ein klares Wort aus dem Vatikan!“, atmen viele Katholiken auf, als sich der Papa emeritus zur „Krise des Glaubens und der Kirche“ äußert, „nach Kontakten mit Staatssekretär Parolin und dem Heiligen Vater“, wie er schreibt, also abgestimmt.[1] Auch wenn er „als Emeritus nicht mehr direkt Verantwortung“ trage, so habe er doch „zum Zeitpunkt des öffentlichen Ausbruchs der Krise und ihres Anwachsens an verantwortlicher Stelle als Hirte in der Kirche gewirkt“. Seine „Hilfe in dieser schweren Stunde“ kann also nur willkommen sein.

Aber nur wenige lesen, was Benedikt tatsächlich geschrieben hat. Mögen es viele tun![2] Denn groß ist der Aufschrei der Medien und aller, die sich von Benedikts Analyse getroffen fühlen. Ungewollt offenbart mancher Theologe dabei den Verlust seines biblischen Glaubens und kirchlichen Sinnes.[3] Andere Stimmen muss man beachten, auch wenn sie unangemessen formulieren.[4] War denn der junge Theologieprofessor Joseph Ratzinger nicht auch ein 68er? Anscheinend war er das! Wie erstaunlich, was er zunächst mitgetragen hat. Aber wenn er ein 68er war, dann ein solcher, der unter dem Kreuz des Hirtenamtes zu sehen lernte, wohin all das führt, was vor, während und nach dem Konzil ausbrach. Insofern ist der Joseph Ratzinger ein Zeichen für Umkehr und Hoffnung.

Vom Felsen und der Mater Ecclesiae

In seinem neuen Buch spricht der Exeget Klaus Berger vom Humor Jesu, ja seinem Sinn für Ironie.[5] Offenbart sich die göttliche Allwissenheit Jesu darin auf menschliche und für Menschen fassliche Weise? Ein Katholik, der seine Kirche liebt und an dem leidet, was er an ihr heute sieht, wäre versucht, Jesu Rede vom „Felsen“ für ein Element „jesuanischer Ironie“ zu halten. Bei aller Kraft und Stärke, die das Wort suggeriert, weiß doch der Herr von Anbeginn um die Brüchigkeit dieses Felsens. Denn dreimal möchte er nach seiner Auferstehung hören, dass Petrus ihn liebt, und dreimal wiederholt er den Auftrag, seine Lämmer und Schafe zu weiden. Aber dreimal hatte ihn dieser „Fels“ ja auch verleugnet, wie er es Petrus vorhersagte.

Allwissend errichtet der Herr seine Kirche auf einem solchen Felsen. Damit aber „die Pforten der Hölle“ ihn nicht überwinden können, hinterlässt er dieser seiner Kirche, allbarmherzig am Kreuze sterbend, seine unbefleckt empfangene Mutter, die der Schlange den Kopf zertritt. Maria wird so zur „Mutter der Kirche“ und muss nicht wie Petrus erst nach Reue und Umkehr ihre Aufgabe finden. Das große Mosaik der Mater Ecclesiae am Apostolischen Palast, gleich rechts neben St. Peter, erinnert alle Welt daran. Es mag also eine tiefe Bedeutung haben, wenn sich der Papa emeritus ins Kloster Mater Ecclesiae zurückzieht, aus dem er jetzt spricht.

Spätestens seit Ambrosius von Mailand bezeichnen die Kirchenväter Maria als Mutter der Kirche, des mystischen Leibes Christi. „Sie ist ausdrücklich Mutter der Glieder Christi“, formuliert der Katechismus, „weil Sie in Liebe mitgewirkt hat, dass die Gläubigen in der Kirche geboren werden, die jenes Hauptes Glieder sind“.[6] Am Festtag Unserer Lieben Frau von Lourdes 2018, die sich dort „Unbefleckte Empfängnis“ nannte, nahm Papst Franziskus das „Fest der seligen Jungfrau Maria, Mutter der Kirche“ in den Römischen Generalkalender auf. Am Pfingstmontag wird Maria also als Mutter der Kirche gefeiert – wie sinnreich! Denn Sie war ja „im Obergemach“ inmitten der Apostel, als sie alle den Heiligen Geist erwarteten.

Unsere Liebe Frau vom guten Ausgang

Auf einem Hügel mitten in Quito, der Hauptstadt Ecuadors, erinnert seit 1976 eine moderne, aussagekräftige Statue aus über 7000 Aluminiumteilen an die Erscheinungen „Unserer Lieben Frau vom guten Ausgang“, Nostra Signora del Buen Suceso de la Purificación. Gemeint ist der gute Ausgang der Schwangerschaft Mariens und der Geburt ihres Sohnes. Daher verbindet sich ihr kirchlicher Titel de la Purificación mit dem Fest Mariä Lichtmess am 2. Februar. Die über 45 m hohe Statue stammt von dem bedeutenden baskischen Künstler Agustín de la Herrán Matorras (*1932), dessen eindrucksvolles religiöses Werk in der spanischsprachigen Welt über die Kontinente verbreitet und wohlbekannt ist.[7] Wie auf der Wunderbaren Medaille aus der Pariser Rue de Bac zertritt die hl. Jungfrau in 3000 m Höhe über dem Meeresspiegel das Haupt der Schlange.

Der Konvent der Unbefleckten Empfängnis Mariens bewahrt in Quito nicht nur das barocke Gnadenbild Unserer Lieben Frau vom Guten Ausgang auf, das am Fest Mariä Lichtmess 1611 geweiht wurde, sondern auch den unversehrten Leib von Mutter Mariana de Jesús Torres OConc (1563-1635), der die hl. Jungfrau vom 2. Februar 1594 an bis zum Fest der Unbefleckten Empfängnis 1634 erschien. So populär dieser Marienwallfahrtsort in der Neuen Welt ist, so unbekannt ist er in der Alten. Umfassend dokumentiert wurde Mutter Marianas Leben und ihre Erscheinungen von dem Franziskaner Manuel Sousa Pereira. Seit 2005 existiert eine englische Übersetzung.[8] Eine Kurzfassung auf Deutsch liegt seit 2013 vor.[9]typo3/#_ftn1

Aber warum sind die Ereignisse vor 400 Jahren in Ecuador gerade für uns und gerade heute so interessant? Ja – warum möchte man beinahe die Luft anhalten, wenn man zuerst davon hört? Und warum kann von ihnen in den Stürmen, die heue in Europa über die Kirche hereinbrechen, wieder Mut und Zuversicht ausgehen?

Ein Bild der gegenwärtigen Kirchenkrise

1577 gelangt die junge Spanierin Mariana dreizehnjährig mit einigen Nonnen des Ordens von der Unbefleckten Empfängnis Mariens nach Ecuador,[10] die in Quito ein Kloster der Konzeptionistinnen gründen. Bereits als junges Mädchen mystisch begnadet, vernimmt Mutter Mariana den Wunsch Mariens, sich als Opfer zur Wiedergutmachung der Sünden des 20. Jahrhunderts anzubieten. Des 20. Jahrhunderts? Wir haben uns nicht verlesen!

Prägnant fasst die kanadische Publizistin Jane Stannus (*1989) das Geschehen zusammen.[11] „Ich lasse Dich wissen“, habe Mutter Mariana am Morgen des 21. Januar 1610 von der Gottesmutter erfahren, „dass vom Ende des 19. Jahrhunderts an und kurz nach der Mitte des 20. Jahrhunderts […] Leiden ausbrechen werden und es zu einer völligen Zerrüttung der Moral kommen wird“. Offenbar ist die Zeit gemeint, von der auch der Papa emeritus spricht. Vor allem werde die Unschuld der Kinder zerstört werden. Es werde nicht mehr selbstverständlich sein, dass katholische Kinder die Sakramente der Taufe und Firmung empfingen. Sterbenden würde aus Unwissenheit oder fahrlässig die Letzte Ölung verweigert. Die Heilige Eucharistie würde entweiht, ja aus den Kirchen gestohlen, „auf den Boden geworfen und mit schmutzigen Füßen zertrampelt“ werden.

Das Sakrament der Ehe, „das die Vereinigung Christi mit seiner Kirche symbolisiert“, heißt es weiter, würde durch Gesetze angegriffen werden, welche die Ehe abschaffen und ein Leben in Sünde fördern. Die Unmoral, die aus all dem folge, führe zu einem Mangel an religiösen Berufungen. Der Teufel werde alle Energie daransetzen, die Priester von ihren Berufungen abzuwenden und viele von ihnen verderben. „Diese verkommenen Priester, die das christliche Volk skandalisieren, werden den Hass schlechter Katholiken und der Feinde der Kirche auf alle Priester herabfallen lassen“.

Bewegend ist die Auskunft Mariens an Mutter Mariana am 2. Februar 1634, die päpstliche Unfehlbarkeit werde „als Glaubenssatz vom gleichen Papst verkündet, der auch erwählt sei, das Dogma vom Geheimnis meiner Unbefleckten Empfängnis zu verkünden“.

Heilmittel der Mutter vom guten Ausgang

Die Muttergottes verspricht Mutter Mariana aber auch, dass in jenen schweren Tagen alle, die sie als Unsere Liebe Frau vom guten Ausgang anriefen, besondere Gnaden erhalten und unter ihrem besonderen Schutz stehen werden. Und sie verhieß einzugreifen, wenn alles verloren scheint, um die Kirche zu retten. Sie würde sich also als Mater Ecclesiae erweisen.

Das Gnadenbild von Quito wurde nach dem Wunsch der Gottesmutter nach genauen Angaben Mutter Marianas geschaffen. Maria de Buen Suceso de la Purificación solle das Jesuskind zeigen und zusammen mit den Schlüsseln des Konvents einen Äbtissinnenstab tragen. Salben solle der Bischof ihre Statue, um sie so als Äbtissin einzuführen „zum Trost und zur Erhaltung meines Klosters und der treuen Seelen jener Zeit, einer Epoche, in der es eine große Hingabe an mich geben wird; denn ich bin die Königin des Himmels unter vielen Anrufungen. […] Diese Hingabe wird der Schild sein zwischen der Gerechtigkeit Gottes und einer Welt, die ihm ausweicht“.

Im Jahr 1906 wird Mutter Marianas Grab geöffnet, das ihren Körper unversehrt enthält. Aber erst 1986 eröffnet die Diözese Quito den Seligsprechungsprozess für sie. 1990 legt der Postulator, Mons. Luis Cadena y Almeida, Direktor des Erzbischöflichen Archivs in Quito eine wissenschaftliche Dokumentation über ihr Leben und die Marienerscheinungen vor.[12] Schließlich nimmt der Erzbischof von Quito, Antonio José González Zumárraga (1925-2008), später Primas von Ecuador und Kardinal, mit päpstlicher Erlaubnis 1991 die kanonische Krönung Unserer Lieben Frau vom guten Ausgang als „Königin von Quito“ vor. Seit dieser Zeit ist der Konvent der Unbefleckten Empfängnis ein anerkanntes Marienheiligtum. Die Leiber von neun weiteren Konzeptionistinnen ruhen dort. Wie man hört, sprechen die Schwestern fröhlich von „unseren schlafenden Schönheiten“.

Ex occidente lux – Licht aus dem Westen

Das Jahr über ist das Gnadenbild hinter den Gittern der Klausur verborgen. Aber in den neun Tagen vor Mariä Lichtmess wird es bei Tag und bei Nacht von Tausenden Quiteños und Pilgern verehrt und in Prozessionen unter spektakulären Feuerwerken durch die Straßen von Quito getragen, einem der besterhaltenen historischen Stadtzentren in Lateinamerika, das seit 1976 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt.

Wäre es nicht lohnend, gerade in diesen unseren kirchlichen Krisenzeiten Licht und Hoffnung aus dem äußersten Westen des christlichen Abendlandes wieder auf unser Land scheinen zu lassen und auszugießen? Die Dokumente liegen ja vor. Aber wer kennt sie in Deutschland? Sie wären zu übersetzen, auszulegen und den Gläubigen bekannt zu machen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Msgr. Georg Gänswein: Benedikt-Text zu Missbrauch mit Franziskus abgestimmt, 03.05.2019, www.katholisch.de
[2] BENEDIKT XVI. (2019): Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs, Wortlaut in: https: //www.vaticannews.va/de/papst/news/2019-04/papst-benedikt-xvi-wortlaut-aufsatz-missbrauch-theologie.html
[3] Vgl. z.B. F. PROSINGER (2019): Striet vs. Benedikt. Leuchttürme einer wahren Befreiung oder Anpassung an die Lebenswirklichkeit?, in: Die Tagespost, 25. April 2019, 10.
[4] V. ZASTROW (2019): Der Irrweg eines alten Papstes, in: F.A.Z., 23.04.2019, www.faz.net aktuell/politik/inland/kindesmissbrauch-in-der-kirche-der-irrweg-eines-ehemaligen-papstes-16150661.html
[5] K. BERGER (2019): Ein Kamel durchs Nadelöhr? Der Humor Jesu, Freiburg i. Br.
[6] Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 963, www.vatican.va
[7] M. ANTOLÍN PAZ (1994): Diccionario de pintores y escultores españoles del siglo XX. Editorial Forum Artis, Madrid.
[8] M. S. PEREIRA (1790): The Admirable Life of Mother Mariana, 2 Bände, Übers. von Marian T. Horvat, Los Angeles 2005.
[9] J. M. URRATE (2013): Kurze Geschichte Unserer Frau vom Guten Erfolg und Novene, Dolorosa Press, USA; außerdem verfügbar: Unsere Frau Vom Guten Erfolg. Geschichte, Wunder & Prophetien, ein Film von Matthew Arnold, 50 min., Pro Multis Media, USA, beziehbar via Amazon.
[10] 1484 von der hl. Beatrix da Silva Meneses (1424-1490) in Toledo gegründet.
[11] J. STANNUS (2009): The remarkable story behind Our Lady’s prophecies from Ecuador, in: The Catholic Herald, February 2, 2009, https: //catholicherald.co.uk
[12] L. E. CADENA Y ALMEIDA (1990): A Spanish mystic in Quito: Sor Mariana de Jesús Torres, Hanover, PA, USA.

„Du wirst ganz erneuert“

Das geistliche Tagebuch, das der italienische Priester Don Stefano Gobbi (1930-2011) vom 29. August 1973 bis zum 31. Dezember 1997 niedergeschrieben hat, geht auf innere Einsprechungen zurück. Die mutmaßlichen Botschaften der Gottesmutter besitzen das Imprimatur von Bernadino Kardinal Echeverría, das er am 2.2.1998 als Apostolischer Administrator von Ibarra und emeritierter Erzbischof von Guayaquil (Ecuador) erteilt hat. Die nachfolgende Botschaft stammt vom 15. Januar 1977, also noch aus der Zeit des hl. Papstes Paul VI., und wirft ein außerordentliches prophetisches Licht auf die Situation unserer Tage.

Von Don Stefano Gobbi (†)

Meine Kirche ist heute mehr denn je zur Zielscheibe der heftigsten Angriffe seitens meines Widersachers geworden. Der Stellvertreter meines Sohnes Jesus hat diesen Moment des Entscheidungskampfes vorausgeahnt. Er hat mich feierlich zur Mutter der Kirche erklärt. So wie ich die wahre Mutter Jesu bin, bin ich auch die wahre Mutter der Kirche, die sein mystischer Leib ist. Als Mutter blicke ich heute mit immer größerer Sorge und mit immer tieferem Schmerz auf diese meine Tochter.

Mein Herz wird aufs Neue von einem Schwert durchbohrt, wenn ich sehe, wie die Kirche von meinem Feind immer mehr verwundet wird. Satan hat sich wahrhaftig in ihr Inneres eingeschlichen. Jeden Tag erntet er seine Opfer, selbst unter den Hirten. Es ist ihm gelungen, das Licht durch die Finsternis des Irrtums zu verdunkeln, der alles zu erfassen sucht.

Der Stellvertreter meines Sohnes ist oft wie isoliert von seinen Söhnen, die er doch führen soll. Das Kreuz seiner Leiden wird von Tag zu Tag schwerer. In seiner Umgebung befinden sich mitunter Menschen, die nicht aus Liebe zu ihm handeln, sondern eher aus Stolz und Herrschsucht.

Satan will die Hierarchie auch in ihrer gegenseitigen Liebe und Verbundenheit treffen. Wie viele Hirten lieben einander nicht und bieten sich gegenseitig keine Hilfe. Viele kritisieren und behindern sich untereinander, suchen rasch Karriere zu machen, wobei sie oft die natürlichsten Forderungen der Gerechtigkeit mit Füßen treten. Wie viele handeln noch aus Liebe zur Wahrheit und Einheit, wenn es um wichtige Probleme des kirchlichen Lebens und um das Seelenheil der Menschen geht? Und so kann es – als Konsequenz davon – soweit kommen, dass die Priester, diese Söhne meiner besonderen mütterlichen Liebe, sich selbst überlassen sind.

Auf diese Weise werden die Opfer der allgemeinen Verwirrung und des Irrtums immer zahlreicher. Sie entfernen sich von meinem Sohn Jesus und von der Wahrheit des Evangeliums. Damit aber erlöscht ihr Licht, und die Gläubigen wandeln in der Finsternis. Wie viele leben gewohnheitsmäßig in der Sünde und nehmen meinen eindringlichen Ruf zur Umkehr nicht mehr ernst! Ja, sie suchen sich zu rechtfertigen. Sie passen sich dem Geist der Welt an, die heute auch die größte moralische Unordnung legitimiert. Wie viele meiner Priester beten nicht mehr! Sie verlieren sich im Aktivismus und finden keine Zeit mehr zum Gebet.

„Du wirst schöner werden!“

Meine arme Kirche! Als Mutter komme ich zu dir und finde dich krank, meine Tochter. Fast möchte es scheinen, du seiest dem Tode nahe… Wie groß ist deine Betrübnis und Verlassenheit! Mein Feind schlägt dich Tag für Tag immer mehr in deinen Hirten, die dich verraten, in den Priestern, die zu untreuen Dienern werden. Deine schwere Krankheit, der scheinbare Sieg meines Widersachers über dich führt aber nicht zu deinem Tod! Sie dient zur Verherrlichung Gottes.

Ich selbst, deine Mutter, stehe dir in dieser Agonie deiner überaus schmerzvollen Reinigung zur Seite. Ich nehme dich in meine Mutterarme und ziehe dich an mein Unbeflecktes Herz. Als Mutter gieße ich Balsam auf deine Wunden und erwarte die Stunde deiner vollen Genesung. Ich selbst werde dich heilen, wenn die Stunde gekommen sein wird. Dann wirst du noch viel schöner werden! Du wirst ganz erneuert und vollständig gereinigt. Durch dein neues Leben wird der Triumph des Herzens Jesu und meines Herzens auf der ganzen Welt sichtbar werden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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Der Apostolische Nuntius an die deutschen Bischöfe

Papst Franziskus zum Missbrauch

In seinem Grußwort an die Deutsche Bischofskonferenz anlässlich ihrer Frühjahrs-Vollversammlung vom 11. bis 14. März 2019 in Lingen zeigte der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Dr. Nikola Eterović, anhand markanter Zitate die Haltung des Papstes zum Missbrauch auf. Einige Auszüge aus seiner Ansprache.

Von Erzbischof Nikola Eterović

Verschiedene Male hat der Heilige Vater Franziskus sich zum Geschwür des sexuellen Missbrauchs in der Kirche und in der Welt geäußert. Anführen möchte ich seine Worte an die Mitglieder der römischen Kurie beim Weihnachtsempfang am 21. Dezember 2018: „Seit einigen Jahren bemüht sich die Kirche ernsthaft um die Beseitigung des Übels des Missbrauchs, das zum Herrn nach Vergeltung schreit, zu Gott, der nie das Leid vergessen wird, das viele Minderjährige durch Geistliche und Gottgeweihte erfahren haben: Missbrauch von Macht, Missbrauch des Gewissens und sexueller Missbrauch.“ Der oberste Pontifex illustriert seine Ausführungen, indem er sich auf König David bezieht, „den Gesalbten des Herrn“, der dreifach gesündigt hat, „das heißt einen dreifachen schweren Missbrauch: sexuellen Missbrauch, Missbrauch von Macht und Missbrauch des Gewissens. Drei verschiedene Arten von Missbrauch, die jedoch gemeinsam auftreten und sich überschneiden“. Leider gibt es auch heute, so fährt der Papst fort, „viele ‚Gesalbte des Herrn‘, Gottgeweihte, die die Schwachen missbrauchen und ihre moralische Macht und Überredungskunst ausnutzen. Sie begehen abscheuliche Taten und üben weiter ihren Dienst aus, als ob nichts wäre; sie fürchten weder Gott noch sein Gericht, sondern haben einzig davor Angst, entdeckt und entlarvt zu werden. Amtsträger, die den Leib der Kirche verletzen, indem sie Skandale verursachen und den Heilsauftrag der Kirche und die aufopferungsvolle Hingabe vieler ihrer Mitbrüder und -schwestern in Misskredit bringen“. Der Bischof von Rom fordert die solcher Verbrechen Schuldigen auf: „Bekehrt euch, stellt euch der menschlichen Justiz und bereitet euch auf die göttliche Gerechtigkeit vor. Erinnert euch dabei an die Worte Christi: ‚Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde. Wehe der Welt wegen der Ärgernisse! Es muss zwar Ärgernisse geben; doch wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt!‘ (Mt 18,6–7).“

Verantwortung. Um das Ziel zu erreichen, dass „alles Tun und jeder Ort der Kirche für Minderjährige vollkommen sicher sind; dass die Kirche wieder absolut glaubwürdig und in ihrer Mission des Dienstes und der Erziehung der Kleinen nach der Lehre Jesu vertrauenswürdig wird“, hat der Heilige Vater zugesagt, mit allen Menschen guten Willens und mit allen positiven Kräften in jedem Land und auf internationaler Ebene zusammenarbeiten zu wollen, „denn wir kämpfen bis zum Ende und auf jede Weise gegen die ernste Geißel von Gewalt gegenüber Millionen von Minderjährigen, Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt“.

Bekehrung. Der Bischof von Rom führt aus: „Das beste Ergebnis und die wirksamste Resolution, die wir den Opfern, dem Volk der heiligen Mutter Kirche und der ganzen Welt bieten können, besteht im Bemühen um eine persönliche und gemeinschaftliche Bekehrung sowie in der Demut, zu lernen und den am meisten Verwundbaren zuzuhören, ihnen beizustehen und sie zu schützen.“ Auf diese Weise und unter der Führung des Heiligen Geistes werden wir bei diesem anspruchsvollen, aber möglichen Prozess unseren Beitrag leisten, „dieses Übel zu einer Chance der Reinigung werden zu lassen“. Mit der Bekehrung verbunden ist wesentlich „ein wiederholtes und ständiges Bemühen um die Heiligkeit der Hirten nötig, deren Gleichgestaltung mit Christus, dem guten Hirten, ein Recht des Gottesvolkes ist“. Für die Hirten besteht der Weg zur Heiligung im beständigen Hören auf das Wort Gottes, auch im Stundengebet, und in der Praxis eines sakramentalen Lebens, insbesondere durch die tägliche Feier der Eucharistie und eine häufige Beichtpraxis.

Opfer. Die Bekehrung schließt in besonderer Weise die Haltung zu den Opfern von sexueller Gewalt ein, die sich bewusst ist: „Das Übel, das ihnen widerfahren ist, lässt in ihnen unheilbare Wunden zurück, die sich auch in Form von Hass und selbstzerstörerischen Tendenzen zeigen.“ Der Heilige Vater fordert die Bischöfe und andere in diesem Bereich Verantwortliche auf, „ihnen jede notwendige Hilfe zukommen zu lassen und dabei auf Fachleute auf diesem Gebiet zurückzugreifen“. An erster Stelle ist es nötig, auf die Opfer zu hören. „Das Zuhören schenkt dem Verwundeten Heilung, es heilt auch uns selbst vom Egoismus, von der Distanz, von der Einstellung ‚Das ist nicht meine Aufgabe‘, von der Haltung des Priesters und des Leviten im Gleichnis vom barmherzigen Samariter.“

Dank an die Priester. Ich schließe, indem ich den vielen Priestern und gottgeweihten Personen danke, die auch in Deutschland ihre priesterliche Berufung und ihre Ordensgelübde in Treue vor Gott leben, indem sie sich großherzig und mit Selbstverleugnung dem Dienst an Gott und dem Nächsten widmen. Ich tue dies mit den Worten des Heiligen Vaters: „Lasst mich nun allen Priestern und gottgeweihten Personen innigen Dank sagen, die dem Herrn vollkommen und treu dienen. Sie fühlen sich vom schändlichen Verhalten einiger ihrer Mitbrüder entehrt und in Misskredit gebracht. Alle – die Kirche, gottgeweihte Personen, das Volk Gottes und sogar Gott selbst – tragen wir die Folgen ihrer Untreue. Im Namen der ganzen Kirche danke ich der überwältigenden Mehrheit der Priester, die nicht nur den Zölibat treu leben, sondern in einem Dienst aufgehen, der heute durch die Skandale einiger weniger (aber immer zu viele) ihrer Mitbrüder schwieriger geworden ist. Und Dank gilt auch den Gläubigen, die ihre tüchtigen Hirten sehr wohl kennen und weiter für sie beten und sie weiterhin unterstützen.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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„Kirche in Not“ in Sorge über zunehmende Gewalt

„Eines der blutigsten Jahre für Christen“

Die Bombenanschläge am Ostersonntag auf christliche Gottesdienste in Sri Lanka haben es erneut an den Tag gebracht: Christenverfolgung ist in vielen Regionen der Welt grausame Realität. Das weltweite päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ steht seit über 70 Jahren an der Seite verfolgter und notleidender Christen. Gleichzeitig macht das Hilfswerk auf Verstöße gegen die Religionsfreiheit weltweit aufmerksam. Im Interview gibt Florian Ripka, Geschäftsführer von „Kirche in Not“ Deutschland, Auskunft über die aktuellen Entwicklungen.

Interview mit Florian Ripka

Herr Ripka, am Ostersonntag hat Sri Lanka eine Reihe von blutigen Anschlägen erlebt, die sich überwiegend gegen Christen richteten. Hat Sie das überrascht?

Eine Mitarbeiterin von „Kirche in Not“ hat noch am Ostersonntag, wenige Stunden nach den Anschlägen, mit Bischof Valence Mendis gesprochen. Er kommt aus Chilaw, das 80 Kilometer nördlich der Hauptstadt Colombo liegt. Er hat uns gesagt, dass der Terror für die christliche Gemeinschaft völlig überraschend kam. Mittlerweile hat das öffentliche Leben wieder begonnen. Die Schulen haben auf, es finden Gottesdienste statt – allerdings unter schärfster Bewachung. Die Angst unter den Christen ist allgegenwärtig. Die Bischöfe wie Malcolm Kardinal Ranjith aus Colombo haben die Menschen aufgerufen, sich nicht zu Racheaktionen hinreißen zu lassen. Das kommt für die Christen nicht infrage. Aber die Trauer ist unermesslich.

Was lesen Sie aus dieser Terror-Serie heraus?

Die Anschläge vom Ostersonntag sind der blutige Höhepunkt einer Entwicklung, die jetzt schon seit Jahren anhält: Die Christenverfolgung kennt keine Grenzen. Sie kennt keine Pause, erst recht nicht an den höchsten christlichen Feiertagen. Sie kennt kein Erbarmen mit unschuldigen Menschen, die oft zu Sündenböcken gemacht werden für weltweite Entwicklungen.

Was meinen Sie damit?

Neben einer lokalen islamistischen Gruppe hat auch der sogenannte „Islamische Staat“ die Bombenattentate für sich beansprucht. Sicherheitsbehörden vermuten, dass es sich um eine Vergeltungsaktion für das Massaker im neuseeländischen Christchurch gehandelt haben könnte. Dort hatte Mitte März ein 28-jähriger Mann in zwei Moscheen 49 Menschen getötet. Blut mit unschuldigem Blut zu vergelten – das ist eine diabolische Entwicklung. Sie trifft leider immer mehr Christen.

Welche aktuellen Erkenntnisse hat „Kirche in Not“ zum Ausmaß der Christenverfolgung?

Die Christenverfolgung bleibt seit einigen Jahren auf einem konstant hohen Niveau. Und das ist absolut besorgniserregend. Schon zum jetzigen Zeitpunkt ist 2019 eines der blutigsten Jahre für Christen. Allein von Januar bis April haben wir bei „Kirche in Not“ neben den Ereignissen auf Sri Lanka von vier weiteren antireligiösen Übergriffen erfahren und darüber berichtet.

Welche zum Beispiel? Wo haben es Christen besonders schwer?

Zunächst nenne ich Nigeria, das schwer unter islamischem Terror leidet. Ich erwähne nur Boko Haram, das als gefährlichste Terrorsekte der Welt gilt. Millionen Menschen wurden durch Boko Haram heimatlos. Kürzlich kamen Übergriffe von mehrheitlich muslimischen Nomaden, den Fulani, auf Dörfer vor. In einem Dorf im Bundesstaat Kaduna wurden bei einem solchen Überfall Mitte März über 130 Menschen brutal getötet. In allen Fällen sind Christen am stärksten betroffen.

Nigeria ist auch eines der reichsten Länder Afrikas. Geht es tatsächlich um Religion – oder um Bodenschätze und Reichtum?

Es geht um Politik und um Besitzverhältnisse ebenso wie um Religion. Alles spielt zusammen. Die Extremisten arbeiten mit religiösen Kampfbegriffen, aber sie sind auch wirtschaftlich interessiert. Man muss sich eines klarmachen: Extremismus bedeutet, dass Muslime unter den Islamisten genauso leiden. Zum Beispiel in der Zentralafrikanischen Republik. Dort überfallen islamistische Séléka-Truppen immer wieder kirchliche Flüchtlingslager und Missionsstationen. Zehntausende Menschen sind dadurch obdachlos geworden, Christen wie Muslime. Es trifft die gesamte Bevölkerung.

Wie beurteilen Sie die Lage im Nahen Osten?

Dort können wir nach wie vor von einem Pulverfass sprechen. Der IS mag militärisch weitgehend besiegt sein. Aber daraus zu schließen, die Terroreinheit sei nicht mehr existent, ist ein Irrglaube. Die Ideologie lebt, die Anhänger leben, die Kontaktkanäle scheinen zu funktionieren. Unsere Projektpartner im Nahen Osten sind weiterhin in höchster Sorge. Die Zahl der Christen in der Region hat sich massiv reduziert. Im Irak lebten beispielsweise früher 1,5 Millionen Christen, heute sind es gerade noch 300.000. Auch in anderen Ländern des Nahen Ostens ist es angespannt. Christen haben in diesen Regionen oft keinen Fürsprecher. Das versuchen wir zu ändern. Gerade in Syrien brauchen die Gemeinden unsere ganze Sorge. Den Menschen geht es weiterhin schlecht, auch wenn die Medien nur noch selten berichten. Die Kirchen dort sind oft die einzigen Anlaufstellen für die Bevölkerung.

Wenn wir nochmals Sri Lanka anschauen: Gibt es auch gewaltbereite Buddhisten oder Hindus?

Das Problem sind immer die extremen Ränder, die zur Gewalt greifen. Wenn man nur an Myanmar denkt; dort verbinden sich buddhistische Strömungen mit einem Ultra-Nationalismus, der sich gegen eine Minderheit wie die muslimischen Rohingya wendet. In Indien beobachten wir nationalistische Hindus, die auf Christen losgehen. Erst vor Ostern verzeichneten wir einen Übergriff auf eine christliche Schule im Bundesstaat Tamil Nadu. Dabei wurde auf die dort tätigen Ordensfrauen regelrecht Jagd gemacht. Auch hier treten nationalistische Hindus als Drahtzieher in Erscheinung.

Gibt es noch andere Ursachen für Gewalt gegen Christen?

Neben dem religiösen Extremismus und einem übersteigerten Nationalismus sind autoritäre Regierungen die dritte Hauptursache für Diskriminierung und Gewalt. In jüngster Zeit machen wir uns Sorgen um Länder wie Mexiko, Nicaragua oder Venezuela. Dort kommt es infolge der politischen Turbulenzen immer wieder zu Übergriffen auf Bischöfe und Priester. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus politischer Ideologie und dem Vorwurf, die Kirche würde sich unberechtigt einmischen, weil sie zum Widerstand gegen autoritäre Regierungen und Korruption aufruft. Das macht die Kirche zur Zielscheibe für Aggression und Gewalt.

Was können die Christen in Deutschland für ihre verfolgten Glaubensgeschwister tun?

Christen sind gefordert, die bittere Entwicklung in Sachen Christenverfolgung beim Namen zu nennen und unseren notleidenden Brüdern und Schwestern Gehör zu verschaffen. Dazu gehört auch politischer Druck: Es ist Sache der Regierungen und der Vereinten Nationen, Religionsfreiheit zu garantieren und antireligiöse Übergriffe abzuwehren.

Und ganz praktisch?

Jeder Christ kann das tun, was auch für unser Hilfswerk „Kirche in Not“ der Fahrplan ist: Beten, informieren, handeln. „Kirche in Not“ ist eine Päpstliche Stiftung, die auch geistlich bei den notleidenden Gemeinden weltweit steht. Wir rufen unsere Förderer immer wieder zum Gebet für verfolgte Christen auf. Nach den Osteranschlägen zum Beispiel haben wir ein Gebetsblatt für die Christen in Sri Lanka herausgegeben. Das wollen wir weit verbreiten. Man kann es kostenlos bei uns bestellen (Tel. 089/64 24 888-0, E-Mail: kontakt@kirche-in-not.de).

Zum Gebet kommt die Information: Wir bei „Kirche in Not“ sehen es als unsere Aufgabe, dass wir pausenlos an jene Gläubigen erinnern, die verfolgt werden und nicht so frei leben können wie wir in Mitteleuropa. Wenn wir das nicht tun, geraten diese Christen in Vergessenheit – und das wäre das Schlimmste. Das Dritte ist die Unterstützung der pastoralen Arbeit der Kirche, das heißt: dass sie auch unter schwierigsten Umständen seelsorgerisch bei den Menschen sein kann. Dazu ist jeder Beitrag willkommen.

„Kirche in Not“ ist in 149 Ländern der Welt aktiv. Werden in all diesen 149 Ländern Menschen verfolgt wegen ihres Glaubens?

Nicht überall findet eine Verfolgung statt, aber die Not ist überall groß, zum Beispiel durch Kriege, politische Unsicherheiten oder Naturkatastrophen. In unserem Zweijahresbericht „Religionsfreiheit weltweit“ haben wir uns 196 Länder angeschaut. In 38 ist die Religionsfreiheit schwer eingeschränkt. Von den 38 Ländern sind es 17 Länder, wo die Menschen wegen ihres Glaubens diskriminiert werden. In 21 Ländern werden sie massiv unterdrückt und verfolgt – das bedeutet also Gefahr für Leib und Leben.

Wieso weisen Sie auch auf andere Gruppen hin, die Nachteile durch ihren Glauben erleiden?

Als Christen gilt unser Blick dem Wohl der gesamten menschlichen Gemeinschaft. Religionsfreiheit ist ein universales Menschenrecht. Wo sie fehlt, leiden auch andere Grundrechte wie zum Beispiel Meinungs- oder Versammlungsfreiheit. In unserem Zweijahresbericht – zu finden unter www.religionsfreiheit-weltweit.de – sind deshalb auch andere religiöse Minderheiten beleuchtet und aufgeführt.

Schwerpunkt der Hilfe von „Kirche in Not“ bleiben die verfolgten und notleidenden Christen. Wir helfen über die Diözesen und Gemeinden vor Ort. Ihr Einsatz für die Schwächsten der Gesellschaft fragt nicht nach dem Taufschein. Er kommt allen Menschen zugute, denn christliche Nächstenliebe schließt keinen aus.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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Grünes Licht für Wallfahrten nach Medjugorje

„Reiche Früchte der Gnade“

Papst Franziskus bemüht sich seit langem um die kirchliche Einbindung des Marienwallfahrtsorts Medjugorje. Am 12. Mai 2019 hat er einen weiteren Schritt in diese Richtung unternommen. Bislang war es nicht erlaubt, offizielle Wallfahrten nach Medjugorje durchzuführen. Dieses Verbot des Vatikans hat er nun aufgehoben. Seine Entscheidung ist seelsorglich motiviert. Angesichts des „beträchtlichen Zustroms nach Medjugorje und der reichen Früchte der Gnade, die daraus entstanden sind“, ist es dem Papst ein Anliegen, dass sich die Kirche intensiv um die Pilger kümmert und das Potential für die Evangelisierung nützt. Ein Beitrag von CNA Deutsch.

Von Anian Christoph Wimmer

Papst Franziskus hat grünes Licht für die Organisation offizieller Wallfahrten nach Medjugorje gegeben, auch wenn die Kirche noch kein Urteil über die Echtheit der Erscheinungen getroffen hat. Die Genehmigung der Wallfahrten des Papstes zum Ort sei nicht als „Echtheitsbestätigung“ der Berichte von Marienerscheinungen zu verstehen, „die noch einer Prüfung durch die Kirche bedürfen“, sagte Papstsprecher Alessandro Gisotti in einer Erklärung am 12. Mai.

Gisotti fügte hinzu, dass jeder, der Pilgerfahrten zum Ort leitet, vermeiden sollte, „Verwirrung oder Unklarheit“ über die Lehre der Kirche zu stiften. Dies gelte auch für Priester, die dort die Messe feiern wollen. Die Entscheidung sei auch eine Anerkennung „der reichen Früchte der Gnade, die daraus entstanden sind“, und den „beträchtlichen Zustrom“ von Wallfahrern nach Medjugorje, so Gisotti.

Die Ankündigung der päpstlichen Erlaubnis erfolgte am 12. Mai durch den Apostolischen Visitator des Vatikans, Erzbischof Henryk Hoser, und Erzbischof Luigi Pezzuto, der als Apostolischer Nuntius in Bosnien und Herzegowina tätig ist.

Papst Franziskus hat sich wiederholt skeptisch über die Erscheinungen von Medjugorje geäußert, jedoch betont, es müsse differenziert werden und eine sachgemäße Prüfung stattfinden.

Hintergrund: Die Erscheinungen

Die ersten Erscheinungen sollen sich am 24. Juni 1981 zugetragen haben, und sechs Kinder erklärten, diese erlebt zu haben. Die Botschaft der Umkehr, des Fastens und des Gebets um des Friedens willen erinnert in mancher Hinsicht an die Botschaft Fatimas.

Mittlerweile sollen sich diese Erscheinungen jedoch beinahe täglich wiederholt haben – drei der sechs ursprünglichen Seher haben erklärt, jeden Nachmittag Visionen gehabt zu haben.

Die Erscheinungen beschäftigen seither mehrere Studiengruppen und Kommissionen des Vatikans sowie die Ortskirche. 

„Platz in der Neuevangelisierung“

Anfang April hatte der im Februar 2017 ernannte Sonderbeauftragte des Heiligen Stuhles, Monsignore Henryk Hoser, erklärt, dass „Medjugorje bereits einen Platz in der Neuevangelisierung“ habe.

Monsignore Hoser sagte wörtlich: „Ich glaube, dass Medjugorje bereits zur Neuevangelisierung gehört. Die Zahlen, die ich ihnen übermittelt habe, sind Zeugnis dafür. Die Dynamik der steigenden Pilgerzahlen zeigt, dass auch die Bedürfnisse wachsen.“

Zu den Zahlen, auf die er sich bezieht, gehört auch jene der 610 Berufungen aus Ländern wie den Vereinigten Staaten, Italien und Deutschland, die ihren Ursprung in Medjugorje haben, und jene der 2,5 Millionen Pilger, die nach seinen Angaben jährlich diesen Ort in Bosnien-Herzegowina besuchen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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Warum hat Pius XII. nach dem Weltkrieg nichts zum Holocaust gesagt?

Das Dilemma Pius‘ XII.

Papst Pius XII. hat sich während der Nazi-Herrschaft mit aller Kraft um die Rettung von Juden bemüht. Öffentliche Stellungnahmen vermied er, um nicht zu provozieren. Er fürchtete, das Schicksal der Verfolgten noch zu verschlimmern. Ein Dilemma aber besteht darin, dass Pius XII. auch nach dem Zusammenbruch Deutschlands geschwiegen hat. Warum äußerte er sich von 1945 bis zu seinem Tod 1958 nie zum Holocaust? Erzbischof Braun erklärt, wie Pius XII. den Anspruch des Papstes, oberste moralische Autorität der Welt zu sein, eben dadurch zu wahren versuchte, dass er durch strikte politische Neutralität über dem Streit der Parteien stand.

Von Erzbischof em. Karl Braun, Bamberg

Die Weihnachtsansprache Papst Pius‘ XII. von 1942 erwähnt den gewaltsamen Tod vieler Menschen „wegen ihrer Nationalität oder Rasse“. Gemeinhin wird diese Formulierung als Urteil über den Holocaust verstanden; Kritiker beanstanden zwar, dass der Papst das italienische Wort „stirpe“ verwendete, das nicht unbedingt „Rasse“ bezeichnet. Nach dem Zusammenhang ist jedoch keine andere Bedeutung als „Rasse“ möglich.

Diese Äußerung des Papstes war situationsbedingt: In den Monaten zuvor war unter den Diplomaten der Kriegsgegner Deutschlands die Möglichkeit diskutiert worden, in einer förmlichen Erklärung die von den Deutschen in den von ihnen besetzten Gebieten verübten Gewalttaten zu verurteilen. Für eine solche Erklärung wollte man auch den Papst gewinnen, obwohl man darüber nicht sicher war. Einerseits gab man zu bedenken, dass die Autorität des Papstes durch sein Schweigen erschüttert werden könne; andererseits kannte man seine Abneigung, nicht einzelne Taten zu beurteilen, sondern Grundsätze einzuschärfen. Auch nahm man an, dass die negativen Erfahrungen Papst Benedikts XV. Pius XII. zu größerer Zurückhaltung veranlassen werde.[1]

Die geplante Aktion der Alliierten sollte die „German atrocities“ (deutsche Grausamkeiten) in den besetzten Gebieten verurteilen und im Maße des Möglichen in der Zukunft verhindern. Die (deutschen wie die europäischen) Juden waren ursprünglich nicht als Opfer dieser atrocities erwähnt. Ihre Verfolgung trat erst in der zweiten Jahreshälfte 1942 in den Gesichtskreis der alliierten Diplomatie, die jedoch hinsichtlich der Zuverlässigkeit entsprechender Berichte anfänglich zweifelhaft war. Im Dezember 1942 waren jedoch solche Zweifel überwunden und am 16. Dezember 1942 hatten die Alliierten die Behandlung der Juden formell verurteilt. Der Papst stand vor dem Problem, entweder zu schweigen oder sich den Kriegsgegnern Deutschlands anzuschließen. Seine Weihnachtsansprache war der Ausweg aus diesem Dilemma.

Pius XII. hat darin keinen Zweifel gelassen, dass die Juden tatsächlich aufgrund ihrer Rasse verfolgt wurden. Damit war der Holocaust – entgegen der vatikanischen Tradition – als historisches Phänomen, nicht als Doktrin verurteilt. Auf der anderen Seite hatte sich Pius nicht in die alliierte Front einreihen lassen, die Deutschland als Urheber von Kriegsverbrechen beschuldigen wollte. Der Papst hatte sich der Vereinnahmung in die alliierte Front gegen Deutschland entzogen und doch seine moralische Autorität gewahrt.

Die Stellung des Papstes über den Parteien musste jedoch als verletzt gelten, wenn seine Weihnachtsansprache lediglich die Juden erwähnte. Pius hat darum in einem Gespräch mit dem amerikanischen Gesandten in der Schweiz betont, dass er die Nationalsozialisten nicht ausdrücklich als Urheber der Gräueltaten habe nennen können, ohne auch die Bolschewisten als Täter zu nennen, was den Alliierten nicht angenehm gewesen sein könne. Alles in allem stimmte der Gesandte dem Papst in der Auffassung zu, dass seine Botschaft im amerikanischen Volk dankbar aufgenommen worden sei.[2]

Die Frage, welche seither nicht ganz verstummt, bezieht sich auf die Folgezeit: Warum hat die Kirche das Urteil über den Holocaust nicht wiederholt?

Hier ist zu erinnern, dass der Papst sich hinsichtlich der in großer Zahl ermordeten Polen in grundsätzlicher gleicher Lage befand: Er hat die „wegen ihrer Nationalität“ Ermordeten in seiner Weihnachtsansprache erwähnt, aber die wie kein anderes von den Deutschen und Russen (!) systematisch verfolgten Polen nicht ausdrücklich genannt und damit die gleiche Frage hervorgerufen.

Die Antwort ergibt sich in beiden Fällen aus dem bereits Gesagten: Die Weihnachtsansprache von 1942 war der Ausweg aus dem Dilemma, entweder als Gegner der alliierten Aktion und somit als Begünstiger der Achsenmächte wahrgenommen zu werden – oder als Partner der Alliierten, somit als Gegner Deutschlands und seiner Verbündeten. Die Erwähnung der Juden hob das Verhalten Deutschlands hervor, ohne das Urteil auf deren Verfolger zu begrenzen, und traf für Kriegsverbrechen der anderen Seite – etwa die Erschießung der polnischen Offiziere in Katyn, die damals noch nicht bekannt geworden war – in gleicher Weise zu.

Damit war sowohl der Anspruch des Papstes gewahrt, oberste moralische Autorität der Welt zu sein, wie seine Position, über dem Streit der Parteien zu stehen.

Für eine Wiederholung der Aussagen aus der Weihnachtsansprache zu späterer Zeit gab es für den Papst weder Gelegenheit noch Anlass. Eine Erinnerung an die Weihnachtsansprache nach 1945 wäre nicht frei geblieben von der Missdeutung zu Gunsten oder zu Lasten des neuen Staates Israel, dessen reale wie diplomatische Existenz lange Zeit ungesichert blieb und bis heute immer wieder zu bitteren Kämpfen führt.

Der Papst befand sich in späterer Zeit nicht mehr in der prekären Lage, durch Schweigen heimlicher Partner einer der kämpfenden Parteien zu werden, aus der er sich nur durch eine abgewogene Erklärung hätte befreien können.

Eine solche Äußerung hätte lehramtlich nichts Neues gebracht, wohl aber mit den unvermeidlichen Interpretationen neues Unheil zwischen den unversöhnten Parteien gebracht.

So lässt sich die Vermutung wagen, dass aus der Sicht der Kurie für eine erneute Erklärung über die Verfolgung der Juden kein Anlass bestand.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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[1] Foreign Relations of The United States 1942. Diplomatic Papers (= FRUS), vol. III, Europe, 1961.
[2] FRUS, 1943, vol. II, 1964, S. 912.

„Öffnet eure Tore für die Juden!“

2018 veröffentlichte der Historiker Michael Hesemann das Buch „Der Papst und der Holocaust: Pius XII. und die geheimen Akten im Vatikan“.[1] Er konnte Dokumente im Geheimarchiv des Vatikans analysieren, zu denen er als einer der ersten Zutritt erhalten hatte. Professor Dr. Peter Gumpel SJ, der Relator im Seligsprechungsprozess für Pius XII., verfasste dazu ein Vorwort. Paul VI. hatte Gumpel bereits am Ende des Konzils beauftragt, das Verfahren einzuleiten. Ein Auszug aus dem Vorwort.

Von P. Peter Gumpel SJ

Es ist völlig abwegig, zu behaupten, dass Pius XII. antijüdisch gewesen sei, war doch sein bester Freund schon in Schultagen ein Jude, Guido Mendes, dem er 1938 die Ausreise in die Schweiz ermöglichte, von wo aus er dann nach Palästina übersiedelte. Die beiden sind zeitlebens Freunde geblieben, und als Mendes bereits ein berühmter Arzt in Israel war, kam er zweimal nach Rom, um den Kontakt zu seinem Freund wieder zu erneuern. Als Pius XII. am 9. Oktober 1958 starb, war er es, der voll Lobes seines Freundes gedachte. Doch er war nicht allein; auch die damalige Außenministerin Israels, Golda Meir, der erste Ministerpräsident Mosche Scharett und so viele andere jüdische Instanzen haben Pius XII. gelobt und gepriesen für alles, was er von Anfang an für die Juden getan hatte, während so viele andere ihnen die Hilfe verweigert hatten.

Pius XII. hat sich immer und immer wieder bemüht und auch hier in Rom dafür gesorgt, dass der Vatikan und über 200 kirchliche Institutionen ihre Tore für die Juden öffneten, als ihre Verfolgung die Ewige Stadt erreichte. Ich kann das bezeugen, denn als ich selbst 1947 als blutjunger Dozent der Philosophie im päpstlichen Kollegium Germanicum hier in Rom war, hatte ich die Gelegenheit, viele von ihnen zu sprechen. Priester erzählten mir, wie sie vom Papst beauftragt worden waren, von einem Kloster zum anderen zu gehen und zu sagen: „Öffnet Eure Tore für die Juden.“ Selbst da, wo dies eigentlich verboten ist, etwa in Klausur- und Frauenklöstern, wurden Ausnahmen gemacht.

Das hohe Ziel war, Menschenleben zu retten – nur darum ging es. Die beiden Nachfolger von Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI., haben beide später bestätigt, dass sie bei allen Bemühungen, Juden zu retten, immer nur das getan hatten, was der Papst von ihnen verlangt hatte. Es gibt heute, Gott sei Dank, viele Juden, die das anerkennen. Ich nenne da an erster Stelle die Pave the Way Foundation von Herrn Gary Krupp aus New York. Aber es gibt auch renommierte jüdische Wissenschaftler wie Sir Martin Gilbert, der von der Queen aufgrund seiner wissenschaftlichen Verdienste in den Adelsstand erhoben wurde und der Pius XII. immer wieder verteidigt hat, in seinen Büchern und in seinen Vorträgen, und der persönlich nach Yad Vashem ging, um dagegen zu protestieren, dass Pius XII. in der sogenannten Hall of Shame neben Hitler und Eichmann zu sehen war. Aber leider gibt es auch andere, deren Behauptungen das vorliegende Buch so eindrucksvoll widerlegt.

Auch ein anderes wichtiges Kapitel erwähnt dieses Buch, nämlich die Verschwörung deutscher Generäle und Admiräle gegen Hitler, ihren Plan, ihn aus dem Weg zu räumen, und ihre Zusammenarbeit dabei mit Pius XII., der, anders als sonst, nicht erst lange überlegte, sondern ihnen spontan und innerhalb von wenigen Stunden seine Unterstützung zusicherte. Das war ein äußerst mutiger Entschluss, denn wenn Hitler das je erfahren hätte, hätte der katholischen Kirche in Deutschland eine noch unerbittlichere Verfolgung gedroht, als sie ohnehin schon stattfand.

Hätten alle seine Bemühungen um Frieden und um eine Beseitigung Hitlers Erfolg gehabt, hätte weder der Zweite Weltkrieg stattgefunden noch die Schoah, der schreckliche Holocaust. Es ist die Tragik seines Lebens, dass es ihm trotz aller Versuche nicht gelungen ist, diese Schrecken zu verhindern. Doch es ist sein Verdienst, alles Menschenmögliche versucht zu haben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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[1] Michael Hesemann: Der Papst und der Holocaust. Pius XII. und die geheimen Akten im Vatikan, HC, 448 S., ISBN 978-3-7844-3449-0, Euro 28,00 (D), Euro 28,80 (A)

Die Mauer des Eigenwillens überspringen

Aufstieg zum Urquell der Liebe

Dr. Peter Dyckhoff, geb. 1937, hat das sog. „Ruhegebet“ für unsere Zeit neu erschlossen. Es handelt sich um eine Gebetsweise, die auf Johannes Cassian (360-435), einen hochgebildeten Priestermönch der alten Kirche, zurückgeht. Für Dyckhoff birgt das Ruhegebet ein gewaltiges Potential, das verschiedenen Bedürfnissen des heutigen Menschen entgegenkommt. Es geht nicht nur darum, in der Hektik der modernen Welt Ruhe zu finden und zur inneren Einkehr zu gelangen. Vielmehr leitet es den Gläubigen an, sein Leben auf Gott auszurichten und in eine ständige Verbindung mit ihm hineinzuwachsen. Als Einstieg schlägt Cassian vor, den bekannten Psalmvers „Gott, komm mir zu Hilfe. Herr, eile mir zu helfen!“ (Ps 70,2) in jeder Situation zu betrachten und im Rhythmus des Atems zu einem immerwährenden Gebet werden zu lassen. Von da aus steigt er mit Christus zum Urquell der göttlichen Liebe auf. Im Vaterunser kann der Beter einen „Zustand“ erlangen, „der im Schauen Gottes und im Feuer der Liebe Gestalt annimmt. In diesem Gottesbewusstsein ist der Geist ganz in die Liebe Gottes versunken und die Seele öffnet sich vollkommen der Liebe Gottes, wenn sie sich von ihm geliebt weiß und ihn liebend erfährt.“ So heißt es im Standardwerk von Dyckhoff über die „Einübung in das Ruhegebet“ (Bd. I, S. 279). Nun hat er eine Anleitung in kompakter Form herausgebracht[1] – nachfolgend seine Hinführung.

Von Peter Dyckhoff

Gegen die Ruhelosigkeit

Das Ruhegebet hat seinen Ursprung im Neuen Testament und basiert zudem auf den Erfahrungen der frühchristlichen Mönchsväter. Diese Gebetsweise wurde erstmals von Johannes Cassian (360-435) aufgezeichnet und somit für alle zugänglich gemacht. Gerade in der Ruhelosigkeit unserer Zeit bietet dieses Gebet – auf heutige Erfordernisse hin aktualisiert – einen bewährten Weg zu innerer Ruhe und tieferer Erfahrung des Glaubens.

Bei der enormen Reizüberflutung, der wir ständig ausgesetzt sind, muss zur Ruhe der Nacht eine weitere, geistige Erfahrung der Stille kommen, damit wir nicht krank werden. Es muss Zeiten der Stille und des Schweigens geben, in denen wir uns von allem Sichtbaren und Hörbaren lösen und uns dem „Unsichtbaren“ zuwenden. Wenn wir unser Leben entsprechend einrichten, werden wir von dem Zuviel und der damit verbundenen Dunkelheit befreit, sodass uns das Licht, Christus, einleuchten kann.

Möchten wir, dass unsere Innerlichkeit schneller zur Entfaltung kommt und wir mehr aus unserer Mitte leben, so ist es ratsam, sich wiederholt in die Stille zurückzuziehen. Dies kann durch das Ruhegebet geschehen. Wenn Jesus immer wieder in die Einsamkeit ging, um im Gebet mit seinem himmlischen Vater allein zu sein, um wie viel mehr haben wir es nötig, das Eine, die Stille, immer wieder dem Vielen vorzuziehen?

Doch wo bleibt in unserem Leben Raum und Zeit für das Gebet, für das Schweigen und die Ruhe, von der Gott am siebten Schöpfungstag spricht, der auch uns bittet, diesen Tag durch Ruhe zu heiligen? Um in ein gesundes Gleichgewicht zu kommen oder in ihm zu bleiben, ist es neben unseren Aufgaben notwendig, etwa ein Siebtel unserer Zeit in der von Gott geheiligten Stille und Ruhe zu verbringen. Die tiefe Ruhe für Körper, Geist und Seele, die sich dem Betenden im Ruhegebet schenkt, befreit uns von schmerzhaften, im Wege stehenden Eindrücken und bringt uns dem Urgrund der Schöpfung, Gott, näher. – Wir dürfen und müssen uns in der Begrenztheit unseres menschlichen Wesens immer wieder in die Stille zurückziehen, um nicht leer und krank zu werden. Es darf nicht sein, dass wir in Spannungen hineingeraten, die uns dem wahren Leben mehr und mehr entfremden.

Wie ein lebendiger Organismus die Möglichkeit bietet, von jedem Teil seiner Oberfläche zu der ihn durchflutenden Lebensenergie zu gelangen (wie bei der Pflanze der Saft), so ist für Cassian das Ruhegebet ein umfassendes Gebet, das ständig – immer und überall – einen Zugang zu Gott ermöglicht. Das tiefste Anliegen Cassians ist es, dass der Betende in allem und durch alles in seinem Leben eine Begegnung mit dem Schöpfer erfährt, dem Urgrund allen Seins, mit Gott, der die Liebe ist. Cassian möchte seine Schüler in eine solche Weite des Bewusstseins führen, in der jede Wahrnehmung zu einer Gottesbegegnung wird. Wie Cassian in seiner Zeit durch seine gelebte Spiritualität und seine Werke, die Wissen und Erfahrung verbinden, für viele ein großer Anstoß war, so dürfte auch heute sein Ruhegebet eine Herausforderung sein, aus der Grauzone, der Routine des Alltags und der Mittelmäßigkeit des Glaubens herauszutreten, um Entgrenzung zu erfahren.

Gottes Wille und Eigenwille

Nachdem der Engel Gabriel in Nazareth Maria die frohe Botschaft verkündet und ihr die Geburt Jesu verheißen hatte, antwortete Maria: Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort (Lukas 1,38). Mit dieser Antwort nimmt Maria die dritte Vaterunser-Bitte vorweg. Der Gottsuchende und auf Gott Hörende übt im Gebet der Hingabe, seinen eigenen menschlichen Willen zurückzunehmen und letztlich sogar aufzugeben. Damit gewährt er dem Willen Gottes und seiner Gegenwart in sich Raum. Gott möchte aus Liebe zu seinen Geschöpfen und der gesamten Schöpfung seinen Heilswillen allen kundtun, damit nichts und niemand verloren geht. – Der Betende, der noch in der Begrenztheit von Raum und Zeit lebt, lernt durch das Ruhegebet seine eigenen Grenzen auf Gott hin transparent werden zu lassen. Dem äußeren und inneren Schweigen folgt eine tiefe Ruhe der Seele, in der Gott seinen wohlwollenden Willen dem Menschen offenbaren kann.

Jesus hat durch sein Wort und sein Leben den Menschen gezeigt, wie es möglich ist, den Willen Gottes zu erkennen, zu bejahen und auszuführen. Gott selbst ist der Handelnde und dem Menschen kommt es zu, Empfangender zu werden, um seinen eigenen Willen im Willen Gottes aufgehen zu lassen. Daher muss es im menschlichen Leben Pausen geben, die er mit dem Gebet der Hingabe füllt, um jenseits allen eigenen Tuns zum Empfangenden zu werden.

Durch das Ruhegebet, das die Haltung „Dein Wille geschehe“ einübt, erfolgt der Aufbruch zu Gott schrittweise und nicht so schmerzhaft wie oft inmitten des Lebens, wenn Gott einen Menschen mehrmals rufen muss. Das Gebet der Ruhe verspricht die beste Übung, gelassen, frei und „willenlos“ zu werden und den Willen Gottes geschehen zu lassen oder gar noch geduldig auf ihn zu warten. Der Eigenwille eines Menschen kann wie eine Mauer zwischen ihm und Gott sein, ein Fels, an dem alles von Gott Kommende abprallt. Wenn er nun seinen verhärteten Eigenwillen aufgibt, dann kann er sagen: Mit meinem Gott erstürme ich Mauern (Psalm 18,30).

Da jedoch der Eigenwille dem Menschen überaus lieb ist, fällt es ihm schwer, ihn aufbrechen zu lassen oder ihn wie eine Mauer zu überspringen. Es kann daher vorkommen, dass das Ruhegebet, das uns für den göttlichen Willen öffnet, zeitweilig als schmerzhaft empfunden wird.

Der Betende legt im Gebet der Ruhe seinen Willen in die Hände Gottes – darauf vertrauend, dass nur etwas unendlich Gutes mit ihm geschehen kann. Durch Christus, den er in seinem Gebet immer wieder anruft, steuert er auf eine langsame, endgültige Überwindung von Zeit und Tod. Lassen wir den Willen Gottes durch uns lebendig und wirksam werden, entwickelt sich schon sehr bald „das Bild des Himmlischen“ in uns.

Nur zu gut wissen wir aus eigener Erfahrung, dass der Wille Gottes nicht in jedem und allem pulsiert, sondern dass immer wieder finstere und zerstörerische Kräfte am Werk sind, die das aufstrahlende Licht unserer Seele überschatten und auslöschen wollen. Durch Christus jedoch sind wir fähig geworden, den alten Menschen in uns abzulegen, um zu einem neuen Menschen zu werden, der nach dem Bild unseres Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen und eins mit ihm zu werden.

Entstehung des Ruhegebetes

Als heilendes Mittel, um allen dunklen und versucherischen Kräften entgegenzutreten, praktizierten und lehrten die frühen Wüstenväter das Ruhegebet, eine Gebetsweise, die sie aus dem Verhalten Jesu gegenüber dem Versucher in der Wüste entwickelten. Dieses Gebet besteht im einfachen Wiederholen bestimmter Verse aus der Heiligen Schrift. Es ist eine Art Stoßgebet, das oftmals rezitiert und dann langsam verinnerlicht wird. – Am Ende seines Aufenthaltes in der Wüste begegnet Jesus dem Widersacher, der ihn in Versuchung führen will. Jesus lässt sich jedoch nicht auf Diskussionen mit ihm ein, sondern antwortet ihm jeweils mit einem Wort Gottes, das für den Widersacher eine Absage bedeutet.

Die Väter wussten um die Gefährlichkeit und die verheerenden Folgen, wenn sie einer Versuchung erlagen. Jede Versuchung wird für sie zur Verführung und führt damit zum Abfall von Gott. Um nicht zu erliegen, nahmen sie das Verhalten Jesu zu ihrem Vorbild, indem sie jeder versucherischen Situation mit einem Wort Gottes begegneten, das sie oftmals wiederholten. Das Verhalten Jesu am Ende seiner Fastenzeit, die wiederholte Absage an das Böse und die mit dem Schriftwort verbundene Ausrichtung auf Gott wurde von den Vätern zu einem allgemeinen Prinzip erhoben.

Diese Gebetsweise, die sich zuerst „Widerspruch“ oder „Widerrede“ nannte, bildete die Grundlage für das spätere Ruhegebet, das dann regelmäßig gebetet wurde und nicht nur in einer versucherischen Situation. Es sind nur wenige, aber oft wiederholte Worte, die zum Ruhegebet werden. Dadurch werden negative, zerstörerische und ungute Kräfte abgebaut und ein Schutzwall gebildet, dass sie den Menschen nicht mehr zerstörerisch überfallen und keinen Einlass in sein Inneres finden. Auf diesem Weg findet der Betende die der Seele innewohnende Ruhe und kann sie mehr und mehr stabilisieren. Durch dieses so einfache Gebet wird die Seele frei von allen Dunkelheiten und zum Licht in die Nähe Gottes geführt; der ständig fließende Gedankenstrom wird durch die Wiederholung ein und desselben Verses aus der Heiligen Schrift unterbrochen, sodass sich Frieden und Ruhe in der Seele ausbreiten können.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Peter Dyckhoff: Das kleine Buch vom Ruhegebet, kart., 136 S., 10,00 Euro (D), 10,30 Euro (A), ISBN: 978-3-451-03174-8 – Herder, Freiburg i. Br. 2019, Tel. 0761-2717-0, E-Mail: kundenservice@herder.de

Biblische Heilungsgeschichte

Der Hauptmann von Kafarnaum

Von Mai bis Oktober dieses Jahres findet im Filmsaal des Altöttinger Marienwerks jeden Samstag eine Biblische Impuls-Katechese statt. Sie steht unter dem Thema „Biblische Heilungsgeschichten“. Am 11. Mai 2019 beschäftigte sich Pfarrer Thomas Steinberger mit der Heilung eines Dieners des Hauptmanns von Kafarnaum. Steinberger weist darauf hin, dass diese Geschichte heuer im Sonntagsgottesdienst leider wegfällt. Denn der 9. Sonntag im Jahreskreis, an dem dieses Evangelium vorgesehen wäre, fällt dieses Jahr auf das Pfingstfest. Eine Zusammenfassung seiner Betrachtung.

Von Thomas Steinberger

Die Liturgie der Kirche ist reich an Worten aus der Heiligen Schrift. So verwendet sie den Ruf Johannes des Täufers „Seht, das Lamm Gottes!“ (Joh 1,29.36) oder den Gruß Jesu „Der Friede sei mit euch!“ (Joh 20,19.21). Ein Wort, das in der heiligen Messe an einer sehr zentralen Stelle verwendet wird, stammt hingegen von einem heidnischen Mann, dem römischen Hauptmann von Kafarnaum. Wir sprechen es unmittelbar vor dem Kommunionempfang: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Die Begegnung Jesu mit dem römischen Hauptmann ist in Matthäus 8,1-13 und in Lukas 7,1-10 überliefert.

Insgesamt schildert Lukas im siebten Kapitel seines Evangeliums drei Heilungen, und zwar die Heilung des Dieners des Hauptmanns von Kafarnaum (Lk 7,1-10), danach die Auferweckung des Jünglings von Nain (Lk 7,11-17) und später die Begegnung Jesu mit der Sünderin (Lk 7,36-50). Diese Berichte sollen helfen, die Frage Johannes des Täufers an Jesus zu klären: „Bist du der, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ (Lk 7,19) Lukas möchte also aufzeigen: Die Wunder, die durch Jesus geschehen, stellen seine göttliche Vollmacht unter Beweis.

Ein gläubiger Heide

Der Hauptmann von Kafarnaum, ein hoher Beamter des römischen Heeres, hat einen Diener, den er sehr schätzt, der aber schwer krank ist. So setzt er alles daran, dass sein Diener wieder gesund wird. Als er hört, dass Jesus in der Nähe ist, versucht er alles, um von ihm Hilfe zu bekommen. Schließlich war Jesus in Kafarnaum kein Unbekannter mehr. Oft hat er sich dort mit seinen Jüngern aufgehalten und zahlreiche Wunder gewirkt. Immer waren viele Menschen anwesend, um ihn zu sehen und zu hören. Nun möchte auch der Hauptmann in seiner Not die Gelegenheit nutzen, dass Jesus in der Stadt ist. Aber er macht sich nicht selbst auf den Weg. Wie es seinem Stand gebührt, lässt er Jesus durch Boten zu sich rufen. Zur damaligen Zeit wurde die Vertretung durch Gesandte so verstanden, als ob jemand selbst kommen würde. In diesem Sinn hat es Matthäus beschrieben. Daher stellen die beiden Überlieferungen auch keinen wirklichen Widerspruch dar.

Der Hauptmann selbst ist kein Jude, doch steht er bei den Juden in hohem Ansehen. Sowohl in der Oberschicht als auch beim Volk war er wegen seiner Großzügigkeit geachtet und beliebt. Das war damals keine Selbstverständlichkeit. Schließlich war das Verhältnis zwischen römischer Besatzungsmacht und einheimischer Bevölkerung im Allgemeinen sehr angespannt. Und viele Juden erwarteten von dem kommenden Messias die Befreiung ihres Landes von der römischen Oberherrschaft. Das Ansehen, das der römische Hauptmann genoss, war also eine Ausnahme, die es hervorzuheben gilt.

Jesus ist bereit, mit den Boten des Hauptmanns mitzugehen, aber nicht, wie der hl. Ambrosius hervorhebt, weil er aus der Ferne nichts hätte bewirken können, sondern um uns allen ein Beispiel der Demut zu geben, das wir nachahmen sollen: „Zum kranken Sohn des königlichen Beamten (Joh 4, 46ff.) wollte er nicht gehen, um nicht den Anschein zu erwecken, dass ihn Reichtum beeindruckte. Hier aber bricht er auf, damit niemand denke, der verachtet den Knechtsstand.“ Beiden Seiten ist die Brisanz des Geschehens klar. Denn Jesus darf als Jude das Haus des nichtjüdischen Hauptmanns eigentlich nicht betreten. Und das ist dem Hauptmann wohl auch bewusst. So lässt er ihm durch andere Personen – dieses Mal sind es nicht nur Boten, sondern Freunde – ausrichten: „Herr, bemühe dich nicht! Denn ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst.“

Die Demut des Hauptmanns berührt Jesus zutiefst. Sie erinnert an die heidnische Frau, die Jesus mit den Worten um die Heilung ihrer Tochter bat: „Auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen“ (Mk 7,28). Und so ist es auch hier der Glaube, der Jesus das Wunder wirken lässt. Während die Juden schon auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum Volk Israel berechtigt sind, Gottes Wirken zu erfahren, treten die Heiden durch den Glauben in das neue Volk Gottes ein.

Diesen Glauben wünscht sich Jesus auch von den Juden. Er weist immer wieder auf das Problem hin, dass sie religiöse Regeln streng befolgen, aber keine innere und vertrauende Hingabe an das Wirken Gottes haben. Und so trifft er auf die mangelnde Bereitschaft, ihm nachzufolgen. Nur wenige in seinem Volk gelangen zu einem wirklichen Glauben. Doch der Glaube wird auch den Heiden ermöglichen, in das Volk Gottes einzutreten. Paulus sollte sich später intensiv mit dieser Frage beschäftigen.

Vollkommenes Vertrauen auf die Macht des Herrn

Es ist also der Glaube, der den Hauptmann von Kafarnaum für uns so wertvoll macht. Die Heilung des Dieners wird am Ende fast nur noch als Randnotiz erwähnt. Denn es geht um ein noch größeres Wunder, nämlich um den Glauben an Jesus, den der römische Hauptmann mit der Bitte zum Ausdruck bringt: „Sprich nur ein Wort, so wird mein Diener gesund.“ Der hl. Ambrosius schreibt dazu: „Sieh, wie der Glaube das Entscheidende bei der Heilung ist! Beachte ebenso, wie selbst am Heidenvolk ganz deutlich das geheimnisvolle Wirken der Gottesnähe zutage tritt! Der Herr macht sich auf den Weg, der Hauptmann wehrt ab, legt den Offiziersdünkel ab, nimmt eine ehrerbietige Haltung an, ebenso für den Glauben empfänglich wie zur Ehrenbezeigung bereit.“

Und das ist der Kern unseres Glaubens. Gott heilt und rettet durch Jesus Christus, denn dieser ist der Sohn Gottes. Notwendig ist unser Glaube an Jesus Christus. Dies bezeugt uns der heidnische Hauptmann. Voller Glauben vertraut er darauf, dass Jesus alles vermag. Dazu bedarf es auch keiner bestimmten Rituale. Allein das Wort Jesu, das durch den Glauben Aufnahme in das Herz des Menschen findet, kann den Diener gesund machen. So muss auch bei uns jeder religiöse Ritus und jedes Gebet Ausdruck eines lebendigen Glaubens sein. Dann verbinden sich darin Gott und Mensch auf innigste Weise.

Bedeutung für die Liturgie der Kirche

So haben die Worte des Hauptmanns Eingang in die Liturgie der Kirche gefunden. Wir sprechen sie in jeder heiligen Messe bei der Erhebung der Hostie, bevor wir die heilige Kommunion empfangen. Sie rufen uns jedes Mal neu ins Bewusstsein, dass die heilige Messe kein magischer Kult ist, durch den wir uns der Gottheit bedienen. Wenn Christus auf dem Altar mit Fleisch und Blut gegenwärtig wird, ist dies ein reines Geschenk der göttlichen Liebe. Auch wenn wir nicht würdig sind, diese erhabene Gabe Gottes, in der er sich selbst uns schenkt, zu empfangen, so dürfen wir doch zum Tisch des Herrn hinzutreten, weil es sein eigenes Verlangen ist, sich uns in seiner unendlichen Liebe zu schenken.

Der hl. Philipp Neri war ein inniger Verehrer der heiligen Eucharistie. In den letzten Jahren seines Lebens brauchte er oft Stunden, um die heilige Messe zu zelebrieren, weil er gerade bei der Erhebung der Hostie in tiefe Anbetung fiel. Ein Wort, das er dabei gesprochen hat, ist eines seiner letzten Worte und zugleich Ausdruck seines ganzen Lebens mit Gott: „Ich bin nicht würdig, ich bin niemals würdig gewesen; komm mein Liebster!“ Damit spricht er unser Unvermögen an, das aber ganz auf Gottes Güte bauen darf.

Was hat die Geschichte des römischen Hauptmanns jedem von uns persönlich zu sagen? Die wichtigste Erkenntnis ist die Bedeutung des Glaubens für das Wirken Gottes in unserem Leben. Am Glauben des römischen Hauptmanns dürfen wir uns ein Beispiel nehmen. Entscheidend ist aber auch, dass sich der Hauptmann um seinen Diener überhaupt solche Sorgen macht und ihn nicht einfach durch einen anderen ersetzt. Es geht also darum, wie Jesus jeden einzelnen Menschen zu achten und zu würdigen.

Auch dürfen wir aus der Begegnung lernen, dass wir stellvertretend für andere bei Gott Hilfe und Gnade erbitten können.

Schließlich zielt das Wort des Hauptmanns durch die liturgische Praxis auf das Herzstück der katholischen Kirche, nämlich auf die heilige Eucharistie und die wirkliche Gegenwart Jesu. Die Feier der heiligen Messe verlangt von uns Demut, Ehrfurcht und tiefstes Vertrauen, damit wir Gott in uns wahrhaft empfangen und aufnehmen können.

Möge die Geschichte des Hauptmanns in uns den tiefen Wunsch hervorrufen, immer mehr auf Jesu Vollmacht zu vertrauen und von ihm alles für uns, die Kirche und die Welt zu erflehen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
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Die Mutter gibt ihr Leben für ihre Kinder

„Sie strahlte“

Gianna wurde am 4. Oktober 1922 als Kind einer tiefgläubigen Familie geboren. Nach ihrem Studium der Medizin spezialisierte sie sich auf dem Gebiet der Kinderheilkunde und heiratete 1955 Pietro Molla. 1961 musste sie wegen eines Tumors an der Gebärmutter operiert werden. Gianna war im zweiten Monat schwanger und entschied sich trotz des Risikos für ihr eigenes Leben gegen eine Abtreibung, um das Leben des Kindes zu retten. Im Gebet vertraute sie sich der Vorsehung Gottes an. Am 21. April 1962 kam das Kind, ein Mädchen, gesund zur Welt. Gianna Beretta Molla starb eine Woche später im Alter von 39 Jahren. Sie wurde von Johannes Paul II. am 24. April 1994 selig- und am 16. Mai 2004 heiliggesprochen. Nachfolgend ein Auszug aus einem Buch von Abbé Thierry Lelièvre, das nun zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist.[1] Lelièvre, ein langjähriger Missionar auf den Philippinen, schrieb es in engem Kontakt mit Giannas Familie. Papst Johannes Paul II. benutzte es als Grundlage für seine Predigt zur Seligsprechung im Jahr 1994.

Von Thierry Lelièvre

Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe“ (Joh 10, 11).

Gianna stand vor einer Wahl: mit ihren drei Kindern weiterzuleben und das vierte, das in ihrem Schoß heranwuchs, zu opfern – oder aber nach reiflicher Überlegung das fast sichere Risiko auf sich zu nehmen, zu akzeptieren, dass sie sterben musste, um das vierte Kind zu retten und alle vier ohne Mutter zurückzulassen.

Sie entschied sich ohne Zögern, ihr Kind, das geboren werden sollte, zu retten, da sie der Meinung war, dass dieses Kind das gleiche Recht auf Leben hatte wie die anderen Kinder.

„Wenn ihr zwischen mir und dem Kind entscheiden müsst, entscheidet euch ohne Zögern für das Kind, ich verlange es, rettet mein Kind.“

Das Kind, das kleine unschuldige Wesen, hatte den Vorrang.

Ihre Entscheidung, ihre Antwort an Gott, ihr Opfer des Lebens, das Kind auf die Welt zu bringen, war die Frucht des Gebets und der Meditation. Sie hatte sich darauf vorbereitet und hatte es so gewollt.

Sicherlich sind auch andere Mütter aufgrund einer schwierigen Schwangerschaft gestorben, jedoch hatten diese es vorher nicht gewusst und sich auch nicht dafür entschieden. Gianna war sich als Ärztin, Chirurgin und Kinderärztin der Gefahr genau bewusst, die für sie bestand. Sie wusste, dass es nur einen Aufschub um einige Monate gab, wenn nur der Tumor an der Gebärmutter entfernt würde, um den zwei Monate alten Embryo zu retten. Es wäre einfacher und sicherer gewesen, alles auf einmal zu entfernen und somit auch das Kind abzutreiben. Gianna gab ihr Leben aus freien Stücken hin, indem sie die Abtreibung, die sie gerettet hätte, ablehnte.

1. Der Entschluss zur Hingabe ihres Lebens, zum „wohlüberlegten Opfer“, ist vor allem im Zusammenhang mit ihrer Familie, in der sie aufwuchs, entstanden. Zunächst gab es da das Beispiel ihrer außergewöhnlichen Eltern, dann entschlossen sich zwei Brüder, Priester zu werden, und eine Schwester wurde Nonne: 1942 trat ihr Bruder Giuseppe, der zwei Jahre älter war, in das Priesterseminar in Bergamo ein. 1948 ging ihr Bruder Enrico, der Arzt und Priester bei den Kapuzinern war, als Missionar nach Brasilien. Er trug den Namen Pater Alberto. 1950 trat ihre Schwester Virginia bei den Canossianerinnen ein. Im Jahr 1927 starben ihre beiden kleinen Schwestern (Guglielmina und Anna-Maria), drei weitere Kinder waren schon im frühen Kindesalter vor Giannas Geburt gestorben.

In der Familie Beretta wurde das Leben als ein Geschenk Gottes betrachtet (dreizehn Kinder). Gott nahm das Leben auch wieder (fünf der dreizehn Kinder starben im Kindesalter, auch die Eltern starben früh). Man schenkte es Gott (im Falle der beiden Priester und der Ordensfrau). Es herrschte in der Familie der Geist einer großen Hochherzigkeit gegenüber dem Leben und daher rührte auch der Gedanke, das Leben Gott zu schenken und auf den Ruf Gottes zu antworten. Gianna ging auf diesem Weg weiter, indem sie Ja zum neuen Leben sagte.

Auch durch ihre spirituelle Ausbildung durch Gebet, Opfer und Hingabe ihrer selbst war sie gut vorbereitet für das höchste Opfer. Ihr beständiges Wachsen im geistlichen Leben und im Apostolat führte sie bis zum letzten Opfer, zur letzten Stufe, der ruhmvollsten, „der Mutter bis zum Ende“.

Ohne das kostbare Erbe, das sie zunächst ihrer Familie verdankte, dann der Katholischen Aktion, hätte sie schwerlich die enge Pforte, die diese Herausforderung darstellte, durchschreiten können (vgl. Mt 7,14).

Diejenigen, die heutzutage Mühe haben, Giannas Entscheidung zu verstehen, betrachten das Leben nicht aus christlicher Sicht und sie haben auch kein grenzenloses Vertrauen in die Vorsehung. Es fehlt ihnen an Opfergeist. Gleichwohl ist es die Wahrheit des Evangeliums: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein“ (Joh 12,24).

Gianna war im Übrigen bereit gewesen, ihr Leben in der Welt dem Laienapostolat zu widmen. Sie war auch bereit, in die Mission zu gehen.

Ihr Leben war also schon für die anderen hingegeben. Ihre Treue in den täglichen Aufgaben, die sie in Liebe zum Nächsten erfüllte, führte sie zum höchsten Akt der Liebe: ihr eigenes Leben für die Frucht ihres Schoßes hinzugeben. Ihre letzte Entscheidung war nicht unvorbereitet, sondern durch ihr ganzes Leben angelegt.

2. Nicht nur ihr Leben war eine Vorbereitung auf ihr „wohlüberlegtes Opfer“, sondern ihr Opfer hatte nicht nur einige Augenblicke gedauert.

Für manche Märtyrer war die Zeit des Opfers kurz: Festnahme, Verhör, Richterspruch, Hinrichtung – all das in wenigen Tagen.

Was Gianna betrifft, so darf man nicht davon ausgehen, dass ihr Opfer nur die letzten acht Tage ihres Lebens betraf, von Gianna-Emanuelas Geburt über ihren Todeskampf bis zu ihrem Tod. Sie hatte damals nur ihre Entscheidung aus Liebe erneuert, indem sie ihr Opfer vollbrachte.

Tatsächlich war ihre Entscheidung für das Leben des Kindes ausschlaggebend für die Operation des Fibroms im zweiten Monat der Schwangerschaft, indem sie die Abtreibung ablehnte. Sie wusste von diesem Zeitpunkt an, dass sie sich dem fast unvermeidlichen Risiko zu sterben aussetzte. Sieben Monate lang – welch lange Zeit! – verwirklichte sie bewusst ihr „wohlüberlegtes Opfer“, während sie immer noch das Risiko ihres Todes hätte vermeiden können, indem sie das Kind in den letzten Monaten vor der Niederkunft hätte abtreiben lassen.

Das Ende der Schwangerschaft abzuwarten, um dem Kind das Leben zu schenken, hieß für Gianna, Tag für Tag dem Ende ihres Lebens entgegenzugehen.

3. Es stellt sich eine Frage: Hat man das Recht, dem Tod entgegenzugehen, freiwillig den eigenen Tod in Kauf zu nehmen? Die Antwort ist die Person Jesu selbst: „[…] der Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“, wie der heilige Paulus im Brief an die Galater schreibt (Gal 2,20), ebenso im Brief an die Epheser (vgl. Eph 5,2-25) und im Zweiten Brief an die Korinther: „So erweist an uns der Tod, an euch aber das Leben seine Macht“ (2 Kor 4,12).

Die Kirche hat Pater Maximilian Maria Kolbe heiliggesprochen, der sein Leben anbot, um anstelle eines Mannes, der Familie und Kinder hatte, im Hungerbunker in Auschwitz im August 1941 zu sterben. Papst Johannes Paul II. sagte bei seiner Heiligsprechung: „Pater Kolbe hat an der Stätte des Todes das Recht auf Leben eines unschuldigen Mannes gefordert […], indem er sich bereit erklärte, an seiner Stelle zu sterben, weil es sich um einen Familienvater handelte und dessen Leben für die Seinen notwendig war. […] Er hat durch seine heroische Liebestat das Lebensrecht eines Unschuldigen verteidigt und das ausschließliche Recht des Schöpfers auf das Leben des Menschen bekräftigt. Er hat damit Zeugnis für Christus und die Liebe abgelegt. Der heilige Apostel Johannes schreibt in der Tat: ,Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben‘ (1 Joh 3,16). Indem er sein Leben für einen Bruder hingab, hat Pater Maximilian […] sich auf eine besondere Weise Christus ähnlich gemacht, Vorbild für alle Märtyrer, der sein Leben am Kreuz für seine Brüder hingab“ (10. Oktober 1982).

„Giannas Entscheidung war keine Entscheidung für den Selbstmord“, wie Pietro später sagte, „sondern das logische Resultat ihres ganzen Lebens: eines beständigen Fortschreitens in der Hingabe ihrer selbst. Sie erwartete nichts dafür. Was sie getan hat, hat sie nicht getan, um ,in den Himmel zu kommen‘, sondern weil sie wirklich das Verlangen hatte, Mutter zu sein. Sie liebte ihre Kinder mehr als sich selbst. Sie war als Ehefrau und Mutter überzeugt, für mich und unsere drei Kinder das Beste zu wollen, aber vor allem in diesem bestimmten Augenblick für das kleine neue Leben, das in ihr keimte, unbedingt notwendig zu sein. Ohne das bedingungslose Vertrauen, das sie in die Vorsehung hatte, hätte sie vielleicht anders entschieden. Sie war sich zutiefst bewusst, dass sie eine Entscheidung traf, die sie für vorrangig hielt.“

4. Man kann weiter einwenden: Pater Maximilian Kolbe war Priester, Zölibatär, ohne Verantwortung für eine Familie, sein Leben war nicht unbedingt notwendig (!). Aber wie konnte Gianna sich für ihr Sterben entscheiden, wenn sie vier Waisen im zarten Kindesalter zurückließ? Ist es richtig, drei Leben aufzugeben, um ein Leben zu retten? Pietros Antwort und die ihrer Schwester Virginia waren übereinstimmend: „Um dies zu verstehen, muss man wie Gianna an die Vorsehung glauben.“

Aus dem bereits Geschilderten kann man entnehmen, wie sehr Gianna unter der schwierigen Lage wegen ihres geliebten Ehemanns Pietro und ihrer Lieblinge litt. Sie war fest davon überzeugt, dass Gott, wenn sie seinen Willen erfüllte (indem sie das Leben ihres Kindes rettete, anstatt es zu vernichten), weder sie beim Sterben noch ihre Kinder, die so früh zu Halbwaisen wurden, im Stich lassen würde. Sie vertraute auch voll darauf, dass ihr Mann und ihre Schwestern die Erziehung der Kinder an ihrer Stelle übernehmen würden.

Ihr Leben war ganz auf den Glauben ausgerichtet. Durch den Glauben begründete Entscheidungen kann man ohne Glauben nicht verstehen und akzeptieren.

5. Man kann sich weiterhin fragen, ob es klug war, nach drei schwierigen Schwangerschaften und zwei Fehlgeburten sogleich eine weitere Schwangerschaft zu riskieren? Konnte man nicht durch spezielle Untersuchungen vor der letzten Schwangerschaft herausfinden, was der Grund für die vorhergehenden Fehlgeburten war?

Die verschiedenen Ärzte, die Gianna behandelten, gaben folgende Begründungen:

• Sie hat sich nach den beiden Fehlgeburten gut erholt.

• Die drei zuvor geborenen Kinder waren alle gesund, kräftig, ohne Missbildungen.

• Die serologischen Befunde und hormonellen Untersuchungen haben gezeigt, dass die Gebärmutter etwas größer als normal war, wodurch jedoch keine weiteren speziellen Untersuchungen erforderlich wurden.

• Das Fibrom, das die vierte Schwangerschaft behinderte, war serös (wässrig), folglich schwer zu orten.

Sie schlossen aus diesen Befunden, dass es keine größeren Vorbehalte gab, die gegen eine vierte Schwangerschaft sprachen oder eine Gefahr für Giannas Leben oder das des Kindes darstellten.

6. Welche Möglichkeiten hätte die medizinische Wissenschaft dreißig Jahre später, 1992, gehabt? Gibt es noch ähnliche Situationen, in denen es nicht gelingt, das Leben der Mutter zu retten?

Heute behandelt man kranke Frauen in der Schwangerschaft oder bei der Entbindung anders. Man benutzt den Monitor, Ultraschallaufnahmen, man macht sehr genaue serologische Untersuchungen. Die Betäubungsmittel und Antibiotika sind wirksamer.

Nach Professor Piero Stradella sind die Risiken für schwangere Mütter, die sich in der gleichen Lage wie Gianna befinden, geringer, selbst wenn sie nach wie vor auftreten.

So hatte eine schwangere Mutter, die an Krebs erkrankt war, der im vierten Monat der Schwangerschaft entdeckt wurde, die Chemotherapie abgelehnt, die zum Tod ihres Kindes geführt hätte. Das Kind wurde vollkommen gesund geboren, die Krebserkrankung der Mutter schritt fort. Sie starb im Alter von zweiunddreißig Jahren am 30. Oktober 1991 in Mailand, zwanzig Tage nach der Geburt ihres Kindes.

7. Man spricht heute weltweit von einem wahren „Massaker an den Unschuldigen“ aufgrund von Gesetzen, welche die Abtreibung „erlauben“. Das menschliche Leben wird auf vielfältige Weise angegriffen. Wie verhält sich die Kirche?

Sie prangert das Böse an und widmet sich der Aufgabe, den Menschen zu helfen. In seinem Brief an alle Bischöfe im Anschluss an das außerordentliche Konsistorium der Kardinäle über die Bedrohungen, die auf dem menschlichen Leben lasten, schreibt Papst Johannes Paul II.:

„Was vor allem besorgniserregend ist, ist die Tatsache, dass das moralische Gewissen sich schrecklich zu verdunkeln und immer mehr Schwierigkeit zu haben scheint, die klare und deutliche Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen zu treffen, wenn es um den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens geht.

Wenn das so verbreitete Phänomen der Vernichtung des beginnenden menschlichen Lebens oder des Lebens alter Menschen, wie es in zahlreichen Fällen geschieht, äußerst ernst und beunruhigend ist, so ist in Wirklichkeit das Schwinden der moralischen Sensibilität des Gewissens nicht weniger ernst und beunruhigend. Die bürgerlichen Gesetze und gesetzlichen Bestimmungen offenbaren dieses fortschreitende Schwinden und tragen sogar dazu bei, es zu verstärken.

Die Kirche will nicht nur das Recht auf Leben bekräftigen, dessen Verletzung ebenso die menschliche Person beleidigt wie Gott, den Schöpfer und Vater, den Ursprung allen Lebens durch seine Liebe, sondern sie will sich auch konkret mit einer immer größer werdenden Hingabe in den Dienst und die Förderung dieses Rechts stellen.

Die Kirche fühlt sich durch ihren Herrn dazu berufen. Sie erhält von Christus ,das Evangelium des Lebens‘ und sie fühlt sich verantwortlich für die Verkündigung dieses Evangeliums an jedes Geschöpf. Sie muss es mit Mut verkünden, selbst wenn sie sich durch das Wort und das Handeln ohne irgendeine Angst gegen die Zeitströmung vor den Einzelnen, die Völker und die Staaten stellen muss“ (19. Mai 1991).

Als Märtyrerin aus Liebe zu Gott, um das Gebot zu halten, das zu töten verbietet, opferte Gianna ihr junges Leben (sie war noch nicht vierzig Jahre alt), um ihr Ja zu geben zur christlichen Pflicht der Liebe. Als Märtyrerin der Mutterliebe, als Märtyrerin für die Verteidigung des Lebens, hat sie sich auf dem Altar der christlichen Mutterschaft geopfert.

Ihre Wahl, ihre Entscheidung, ihr Leben zu opfern, um das ihres Kindes zu retten, ist heroisch. Aber ihr ganzes Leben war eine Entscheidung für die Liebe zum Leben gemäß dem Beispiel des Herrn: „Es gibt keine größere Liebe, als sein Leben für diejenigen hinzugeben, die man liebt.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Thierry Lelièvre: Hl. Gianna Beretta Molla – Mutter bis zum Ende, broschur, 192 S., mit 16-seitig. Bildteil, 17,95 Euro (D), 18,50 Euro (A), ISBN: 978-3-9454018-8-0 – Verlag Media Maria: Tel. 07303-9523310, Fax: 07303-9523315, E-Mail: buch@ media-maria.de

Ein Leben als Vorbild – Hl. Therese von Lisieux

Die humorvolle Heilige

Am 19. Oktober 1997 wurde in Rom eine junge Frau zur Kirchenlehrerin erhoben, die kein einziges Semester Theologie studiert hatte. Die hl. Therese von Lisieux trat 1888 mit fünfzehn Jahren in den Karmel von Lisieux ein und starb nur neun Jahre später nach qualvollen Leiden an Tuberkulose. Sie verstand ihr unauffälliges Leben, das sie von der Welt kaum bemerkt in strenger Klausur verbrachte, als einen Weg der Hingabe an Gott und die Mitmenschen. Den Himmel wollte sie einmal damit verbringen, den Menschen auf der Erde Gutes zu tun: „Nach meinem Tod werde ich Rosen regnen lassen.“ Papst Pius XI. hat sie 1923 selig- und am 17. Mai 1925 heiliggesprochen. 1999 erschien das Buch „Therese von Lisieux begegnen“ von Stadtpfarrer Anton Schmid, der das Theresienwerk im deutschsprachigen Raum leitet. Nun wurde es mit den Bibelzitaten nach der neuen Einheitsübersetzung von 2016 neu aufgelegt.[1] Neben einer Kurzbiografie stellt Msgr. Schmid die geistlichen Leitlinien der Heiligen vor. Inwiefern sie „Vorbild und Wegweiserin durch unsere Zeit“ (Papst Johannes Paul II.) sein kann, zeigt der nachfolgende Auszug.

Von Anton Schmid

Einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, Hans Urs von Balthasar, nannte Therese die „fröhlichste Heilige, die er kenne“. An ihr wird deutlich, dass Heiligkeit nichts zu tun hat mit ernster Miene oder gar einem Leidensgesicht, sondern von positiven Gedanken getragen ist. In ihrer Selbstbiografie begegnen uns immer wieder die Schalkhaftigkeit und die gute Laune von Therese. Ein Beispiel dafür ist der Besuch der Vierzehnjährigen beim Bischof von Bayeux, den sie um die Erlaubnis für den Eintritt in den Karmel bitten wollte. Nicht ohne Schmunzeln lesen wir von ihren Tränen, die sie dem Bischof wie Diamanten schenkte, von ihrem Gefühl, wie „eine arme, kleine Maus“ zu sein in den bischöflichen Gemächern, und von ihren hochgesteckten Haaren, damit sie älter aussah (Selbstbiografie, 116ff).

Nach ihrem Klostereintritt hat sie ihre Mitschwestern immer wieder zum Lachen gebracht durch Wortspiele, Scherze und Mimik. Sie hatte die Gabe, spannend erzählen und andere nachahmen zu können. Als sie einmal in der gemeinsamen Erholungszeit nicht anwesend war, fragte eine Schwester schon: „Wo ist denn heute Schwester Therese? Wir haben heute gar nichts zum Lachen!“ Solche Gelassenheit und Fröhlichkeit haben ihren Grund in einem großen Vertrauen, einer tiefen Gläubigkeit und einer innigen Liebe zum Herrn, dem sie kein trauriges Gesicht zeigen wollte.

In einem Brief an ihren Onkel und ihre Tante, Herrn und Frau Guérin, zitiert sie ihre Ordensmutter Teresa von Ávila: „Mein Gott, ich bin nicht erstaunt, dass du so wenig Freunde hast; du behandelst sie so schlecht.“ Ihren Brief vom 6. Juli 1893 an ihre Schwester Céline schließt sie: „Einzig und allein dein Herz wird diesen Brief lesen können; denn ich habe selbst Mühe, ihn zu entziffern. Ich habe nämlich keine Tinte mehr und musste in unser Tintenfass spucken, um sie zu strecken. … Ist das nicht zum Lachen?“

Wenige Monate vor ihrem Tod schreibt sie an ihre Verwandten: „Wie ich weiß, haben meine Schwestern Ihnen von meiner Heiterkeit erzählt. Es ist wahr, ich bin wie ein Buchfink, außer wenn ich Fieber habe. Glücklicherweise befällt es mich gewöhnlich abends, wenn die Buchfinken schlafen und den Kopf unter die Flügel stecken. Ich wäre nicht so heiter, wie ich bin, wenn der liebe Gott mir nicht zeigte, dass die einzige Freude auf Erden darin besteht, seinen Willen zu erfüllen“ (Briefe, 372f.).

„Humor ist, wenn man trotzdem lacht!“ Die Wahrheit dieser Worte hat Therese unter Beweis gestellt. Schon schwer krank, liest eine Schwester ihr die Stelle der Heiligen Schrift vor, wo Jesus sein Kommen mit einem Dieb vergleicht, der mitten in der Nacht kommt (Mt 24,43). Therese darauf: „Bald wird der göttliche Dieb kommen und mich stehlen. Wie gern möchte ich ihm dabei helfen!“

Ihre Krankenschwester berichtete beim Seligsprechungsprozess, dass zwei Fliegen in ihrem Krankenzimmer sie sehr plagten. Die Krankenschwester wollte sie fangen und töten, doch Therese sagte: „Töten Sie sie nicht, Sie wissen ja nicht, welche von beiden mich geplagt hat! Sie könnten ja die unschuldige töten!“

Als Therese in den letzten Monaten nicht mehr essen konnte und stark abgemagert war, rief ihre Mutter Priorin bestürzt aus: „Gibt es etwas, was noch magerer wäre als Sie?“ Therese darauf: „Ja, ein Skelett!“

Ihre Originalität und ihr Einfallsreichtum scheinen sich auch nach ihrem Tod bei vielen Wundern und Gebetserhörungen fortzusetzen. Schwester Marie von der Heiligsten Dreifaltigkeit, die Lieblingsnovizin von Therese, berichtete beim Seligsprechungsprozess 1916 unter Eid Folgendes:

„Als Therese im Schwesternchor der Karmelkirche aufgebahrt war, wollten viele Menschen ihre Rosenkränze die Hände der Toten berühren lassen. Entgegen der Bitte der Verstorbenen weinte ich unaufhörlich und konnte mich über ihren Tod nicht trösten. Da reichte mir jemand wieder einen Rosenkranz durch das Gitter, damit ich mit ihm Thereses Hände berühre. Doch diese umklammerte mit einem Finger den Rosenkranz, sodass ich ihn nicht mehr wegnehmen konnte. Als ich den Finger ganz sachte anhob, um den Rosenkranz zu entfernen, wurde er sofort von einem anderen Finger ergriffen. Fünf- oder sechsmal begann ich von Neuem, ohne Erfolg. Meine liebe Schwester Therese sagte mir innerlich: ,Solange Sie mir nicht ein Lächeln schenken, gebe ich ihn nicht zurück.‘ Ich antwortete ihr: ,Nein, mein Kummer ist zu groß; ich weine lieber.‘ Die Leute am Gitter fragten ungeduldig, was ich wohl so lange zu tun haben könnte (das Ganze hatte vielleicht fünf Minuten gedauert). Das verdross mich und ich flehte meine kleine Therese an, mich den Rosenkranz wegnehmen zu lassen. Ich zog daran, um ihn mit Gewalt zu nehmen. Es war nutzlos; es war, als hielte sie ihn mit eisernen Fingern fest, und doch waren ihre Finger sehr geschmeidig geblieben. Schließlich, als ich nicht mehr konnte, begann ich zu lächeln… Gerade das war es, was sie wollte; denn sogleich ließ sie den Rosenkranz von selbst los; er lag in meinen Händen, ohne dass ich ihn hätte wegziehen müssen“ (Prozesse, Bd. II, S. 473).

Im Jahr 1910 erschien Therese der Priorin der Karmelitinnen von Gallipoli in Süditalien, weckte sie sanft aus dem Schlaf, ging mit ihr durch einige Gänge in das Zimmer, wo die Kasse mit einem Schuldschein von 300 Franken war und legte einen Schein mit 500 Franken hinein. Auf ihre Frage hin antwortete die geheimnisvolle Schwester, die sich als Therese von Lisieux offenbarte: „Der liebe Gott bedient sich der Himmelsbewohner ebenso wie der Erdenkinder, um seinen treuen Dienern zu Hilfe zu kommen.“ Beim Weggehen sagte sie: „Mein Weg ist sicher und führt gerade zum Ziel. Ich bin nicht fehlgegangen, als ich ihn einschlug.“ Wir können in diesen Worten eine himmlische Bestätigung ihres „Kleinen Weges“ erkennen.

Vor einigen Jahren trug es sich in Österreich in der Nähe von Wien zu, dass ein Priester mit dem Eilzug an einen Ort fahren wollte, wo er predigen musste. Als der Schaffner ihm eröffnete, dass der Zug dort nicht halte, betete er innig zur hl. Therese. Siehe da, der Zug hielt an diesem Ort! Der Bahnhofsvorsteher lief bestürzt heraus und fragte den Lokomotivführer, was passiert sei. Dieser antwortete: „Was soll ich denn machen? Ich kann sie doch nicht überfahren!“ Der Bahnhofsvorsteher: „Wen überfahren?“ Der Lokomotivführer: „Die Nonne, die hier auf dem Gleis stand!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Anton Schmid: Therese von Lisieux begegnen, broschur, 184 S., 14,95 Euro (D), 15,40 Euro (A), ISBN: 978-3-9479310-3-3 – Verlag Media Maria: Tel. 07303-9523310, Fax: 07303-9523315, E-Mail: buch@ media-maria.de

Nachlese zum Jubiläumsjahr „600 Jahre Niklaus v. Flüe“ (3)

Der „Rätselmann im Ranft“

Der Historiker Dr. Roland Gröbli (geb. 1960), Präsident des Wissenschaftlichen Beirats zum Gedenkjahr „600 Jahre Niklaus von Flüe“, geht in einer Hinführung zum Leben und Wirken des Heiligen auf dessen Abstinenz ein, deutet sie aber bewusst nicht sofort auf dem Hintergrund der Eucharistie, die Bruder Klaus regelmäßig empfangen hat, sondern zunächst einmal als Ausdruck „des Loslassens von Ich-Bezogenheit und von irdischen, sterblichen Dingen“.

Von Roland Gröbli

Das einfache, tägliche Leben im Ranft

Das schönste und berührendste Zeitzeugnis über Niklaus von Flüe verdanken wir Hans von Waldheim. Der Kaufmann aus Halle (Deutschland) suchte Niklaus von Flüe 1474, auf der Heimreise seiner Wallfahrt nach Santiago de Compostela, im Ranft auf. Er zeichnet das Bild eines bescheidenen, angenehmen und interessierten Zeitgenossen, den er – trotz des Wissens um die langjährige Abstinenz – als völlig normalen Menschen kennen lernte. Klaus lebte höchst genügsam. Jedes Aufheben um seine Person war ihm fremd.

Seine „cluss“ (Klause/Zelle) bestand aus zwei Zimmern, die an die Kapelle angebaut waren. Das untere Zimmer verfügte über einen kleinen Ofen. Doch dort konnte er, der 178 cm groß war, nicht aufrecht stehen. Im oberen Zimmer gab es je ein Fenster zur Kapelle und ins Freie. – Einen Großteil des Tages widmete Bruder Klaus, wie er sich nun nannte, der Betrachtung und dem Gebet. In der Nähe wohnte Bruder Ulrich im Mösli, ein weiterer Einsiedler, und ab 1477, als erster Kaplan im Ranft, der frühere Pfarrer von Horw, Peter Bachtaler. Besucher aus nah und fern unterbrachen immer wieder die Stille des Ranfts. Mehr und mehr wurde Niklaus als Ratgeber und spirituelles Vorbild bekannt und aufgesucht.

Der „Rätselmann im Ranft“

Dabei gab es „etwas“, das Niklaus von Flüe trotz persönlicher Bescheidenheit von den Mitmenschen unterschied. Seit er durch eine nächtliche Erscheinung vor Liestal zur Umkehr gewogen worden war, aß und trank er nichts mehr. Es war diese fast 20-jährige Abstinenz von Speise und Trank, die seinen Ruf weit über die Innerschweiz und die Eidgenossenschaft hinaustrug. – Man mag gegenüber dieser Abstinenz skeptisch sein. Viele Menschen waren und sind es. Historisch-kritisch bewertet ist die Abstinenz gut und glaubwürdig belegt, auch wenn sie naturwissenschaftlich nicht erklärbar ist. Wir setzen „auf jene weise Toleranz, die mehr Dinge zwischen Himmel und Erde für möglich hält, als die Wissenschaft der Universität sich träumen lässt“ (Gertrud und Thomas Sartory). Die Abstinenz ist ein entscheidender Zugang zu diesem „Rätselmann im Ranft“.

Bruder Klaus wurde der geistlichen Probe durch seinen Beichtvater Oswald Ysner, der sozialen und gesellschaftlichen durch seine Nachbarn und Freunde, sowie der politischen Kontrolle durch die Behörden von Ob dem Wald und selbst des Habsburger Erzherzogs Sigmund unterzogen. Am 27. April 1469 erfolgte eine kirchliche Kontrolle, über die wir gut und zuverlässig informiert sind und bei der auch der Berner Patrizier Adrian von Bubenberg zugegen war. Diese kirchliche Kontrolle erfolgte im Auftrag des Bischofs von Konstanz, dem gebürtigen Thurgauer Hermann von Breitenlandenberg. Viele Menschen aus der näheren Umgebung, „beiderlei Geschlechts, sowohl geistliche als weltliche“, schrieb Bischof Hermann, würden „täglich oder bei passender Gelegenheit jenen Nikolaus und seine Wohnstätte“ besuchen, „indem sie glauben, er sei ein heiliger Mann“.

Bei der Wahl der geeigneten Mittel der kirchlichen Prüfung überließ er seinem Weihbischof Thomas Wäldner, freie Hand. Dieser unterzog den Mann, der als „heilig gilt, weil er nichts isst“, nicht nur einer Gehorsamsprobe, sondern einer eigentlichen Gottesprobe. Heiliger oder Hexer, Wahnsinniger oder Auserwählter – das war die Frage. Der Weihbischof forderte Niklaus von Flüe auf, im Namen des heiligsten Gehorsams drei Bissen Brot zu essen und vom „St.-Johannis-Segen“ zu trinken. Dabei handelte es sich um Wein, der am Feiertag des Apostels Johannes [27. Dezember] gesegnet worden war und dem besondere Kräfte im Kampf wider den Teufel zugetraut wurden.

Nahe Gott und nahe den Menschen

Niklaus von Flüe bestand dieses Examen und erhielt den bischöflichen Segen. Thomas Wäldner weihte die Kapelle im Ranft auf die von Bruder Klaus gewählten Schutzpatrone: Maria, Maria Magdalena, die Kreuzerhöhung und die 10.000 Märtyrer. Die Wahl Marias, der Mutter Jesu, entsprach seinem Glaubensverständnis und jenem der Zeit. Sie war die am meisten verehrte Heilige im Spätmittelalter. Auch Maria Magdalena gehört zu den großen Heiligengestalten des 15. Jahrhunderts. Sie war ihm wegen ihres eremitischen Weges und der langjährigen Askese ein wichtiges persönliches Vorbild. Mit der Kreuzerhöhung als Patrozinium brachte Niklaus zum Ausdruck, dass ein jeder zu Besonderem berufen sei. Die zehntausend Märtyrer schließlich waren die Schutzpatrone der Eidgenossen.

Die Patrozinien belegen, wie sich Niklaus von Flüe Gott und den (Mit-)Menschen verbunden fühlte. Er war kein Prediger oder Prophet. Er lehrte nicht durch Worte, sondern durch sein Beispiel. Die langjährige Abstinenz war Ausdruck des Loslassens von Ich-Bezogenheit und von irdischen, sterblichen Dingen. Wir gehen nicht fehl, wenn wir darin eine Botschaft zur Genügsamkeit erkennen. Niklaus von Flüe hielt sich mit Äußerungen zu seiner Abstinenz, die er als Gnade empfand, zurück und ließ sich von hartnäckigen Fragern nicht mehr denn ein „Gott weiß“ entlocken.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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