Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Unser Titelthema lautet: „Die ausgestreckte Hand der Russisch-Orthodoxen Kirche“. Den Anstoß dazu hat ein Interview mit Metropolit Hilarion, dem Außenamtsleiter des Moskauer Patriarchats, gegeben. Neben dem Patriarchen gilt er als zweitwichtigster Amtsträger der Russisch-Orthodoxen Kirche. Wir freuen uns, dieses exklusive Interview in voller Länge wiedergeben zu dürfen. Allein schon die Aussagen, die sich darin finden, können als ausgestreckte Hand des Moskauer Patriarchats in Richtung katholischer Kirche verstanden werden. Doch geht es uns mit diesem Leitartikel um mehr.

Der Dialog mit der Ostkirche zeigt, dass wir alle vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Es geht um die Frage der Zukunft des christlichen Glaubens. Die Jugend, die im digitalen Zeitalter aufwächst, stellt die Kirche im Westen wie im Osten vor eine gewaltige Aufgabe. Wie können wir heute unseren Kindern die Botschaft Jesu Christi noch glaubwürdig bezeugen und die junge Generation wieder für ein Leben aus den Sakramenten gewinnen? Dieser brennenden Frage hat sich nicht nur eine Bischofssynode in Rom gewidmet, mit ihr beschäftigt sich, wie man sieht, auch das Moskauer Patriarchat. Und dort ist man im Blick auf die katholische Kirche überzeugt: „Wir können viel voneinander lernen!“

Die umfangreichen Beiträge, die wir zum Thema ausgewählt haben, sind also in erster Linie nicht als Aufruf zum ökumenischen Gespräch mit der orthodoxen Kirche gedacht, sondern als Zusammenstellung von Zeugnissen, die auf ganz unterschiedliche Weise Impulse zur Neuevangelisierung enthalten. Selbst wenn das Thema Russland für jemanden keine Priorität besitzt, kann er in den Artikeln hilfreiche Anregungen für das persönliche Leben oder die pastorale Arbeit finden.

Gleichzeitig aber ist es natürlich eine ökumenische Sensation, dass Metropolit Hilarion dem Fernsehsender K-TV ein Interview gewährt und ihm alle Türen für weitere Aufnahmen in Kirchen und Klöstern der Russisch-Orthodoxen Kirche geöffnet hat. Hilarion, der 1995 an der Universität Oxford promoviert wurde und sich 2005 an der Universität Fribourg habilitierte, war Bischof von Sorouzh in Großbritannien sowie von Wien und Österreich. Er vertritt die Russisch-Orthodoxe Kirche bei den Europäischen Institutionen in Brüssel und pflegt intensive Kontakte mit dem Vatikan. Den Westen mit seinen kirchlichen Traditionen kennt er wie kaum ein anderer und gilt in Russland bei vielen als „geheimer Katholik“. Seine Aufgeschlossenheit, die er wieder einmal unter Beweis gestellt hat, ist ein Zeichen der Hoffnung, bedeutet aber auch eine besondere Verpflichtung auf katholischer Seite.

Veranschaulicht werden seine Aussagen mit der eindrücklichen Geschichte der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Ein interessantes Pendant zu den Ausführungen des orthodoxen Metropoliten ist das Interview mit dem katholischen Erzbischof von Moskau, Paul Pezzi. Eine spannende Ergänzung findet dieser Bogen im Zeugnis des katholischen Pfarrers von Wladimir, Sergej Sujew, der aus der orthodoxen Kirche kommt und mit ihr tief verbunden geblieben ist.

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Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Die ausgestreckte Hand der Russisch-Orthodoxen Kirche

Wir können viel voneinander lernen

Unter dem Titel „Licht aus dem Osten“ plant der katholische Fernsehsender K-TV eine Dokumentationsreihe über Russland. Im Rahmen dieses Projekts führte Dr. Thomas Maria Rimmel, der Geistliche Assistent des Senders, am 15. Juli 2019 in Moskau ein Interview mit dem russisch-orthodoxen Metropoliten Hilarion Alfejew (geb. 1966). Seit 2009 ist er Leiter des Außenamts des Moskauer Patriarchats und hat damit neben Patriarch Kyrill I. das wichtigste Amt in der russischen Kirche inne. Er steht der geplanten Sendereihe positiv gegenüber und hat dem Fernsehteam alle wichtigen Türen für Aufnahmen und Gespräche geöffnet. Auch war er selbst bereit, in seinem Amtssitz ein Interview zu geben. Auf die Fragen antwortete er in freier Rede und brachte seine Wertschätzung gegenüber der katholische Kirche zum Ausdruck. Beide Kirchen sieht er auf einem Weg zur Einheit. Angesichts der zunehmenden Säkularisierung hält er die Intensivierung der Zusammenarbeit für eine vordringliche Aufgabe. Aus Hochachtung geben wir das Interview ohne jede Kürzung wieder. Die Aussagen über den Kleriker-Zölibat sollen informieren und wollen nicht als Plädoyer für dessen Abschaffung im Rahmen der Amazonas-Synode vom 6. bis 27. Oktober 2019 verstanden werden.

Interview mit Metropolit Hilarion

K-TV: Eminenz, Sie sind zuständig für die Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats. Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?

Metropolit Hilarion: Die Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, die ich leite, hat eine sehr breite Agenda. Das ist die ganze Bandbreite der Beziehungen zur katholischen Kirche, das sind die Beziehungen zu den orthodoxen Ortskirchen, das sind auch die Beziehungen zu verschiedenen protestantischen Konfessionen, das ist der interreligiöse Dialog und das ist die Arbeit mit Landsleuten, die außerhalb des kanonischen Territoriums der russischen Kirche leben. So haben wir ein sehr umfangreiches Aufgabengebiet und es ist daher schwierig, die wichtigsten Schwerpunkte zu benennen.

Das derzeit vielleicht schmerzlichste Thema ist das der Ukraine, wo es zu einem Kirchenschisma gekommen ist. Leider hat der frühere Präsident der Ukraine, Poroschenko, diese Spaltung unterstützt. Und der Patriarch von Konstantinopel übergab den Schismatikern den Tomos, die Urkunde über die Autokephalie. Dies führte zu einer sehr komplizierten Krisensituation. Ein wesentlicher Teil unserer Bemühungen ist derzeit darauf ausgerichtet, die Folgen dieser schwierigen Situation zu bewältigen.

K-TV: Sie sprechen von einer sehr komplizierten Lage in der Ukraine. Wie sehen Sie die Zukunft dieses Landes?

Metropolit Hilarion: Ich denke, dass das Problem der Spaltung in der Ukraine derzeit damit zusammenhängt, dass sich staatliche Autoritäten dazu entschieden haben, sich in kirchliche Angelegenheiten einzumischen. Präsident Poroschenko hatte beschlossen, die Kirche zu lenken und kirchliche Angelegenheiten anzuführen, anstatt sich damit zu beschäftigen, was zu seinem Mandat als Präsident gehörte. Und dieses Eingreifen weltlicher Macht in kirchliche Angelegenheiten führte zu der Situation, wie sie heute entstanden ist. Anstatt diese Spaltung, die von Anfang an feststand, zu heilen, konnten sie die Spaltung nur vertiefen.

Und jetzt besteht diese Spaltung nicht nur zwischen den ukrainischen religiösen Gemeinschaften, sondern auch zwischen der Russisch-Orthodoxen Kirche insgesamt und dem Patriarchat von Konstantinopel. Es tut mir sehr leid, dass der Patriarch von Konstantinopel unsere Warnungen nicht beachtet hat. Wir haben ihn darauf hingewiesen, dass es auf dem Weg der Legalisierung der Spaltung nicht möglich sein werde, die Spaltung zu heilen. Er hörte nicht auf uns. Jemand hat ihm eingeredet, sobald er ein Papier über die Autokephalie unterschreibe, würden sich sofort alle orthodoxen Bischöfe der Ukraine vereinigen. Aber das ist nicht geschehen und das hätte auch nicht geschehen können. Wir haben trotz allem die reale Situation viel besser gekannt als er. Aber er hat eben so gehandelt, wie er gehandelt hat. Was passiert ist, ist passiert.

Ich hoffe, dass die Zeit hilft, die richtige Lösung des Problems, das aufgetreten ist, zu finden. Dabei hoffe ich jedoch sehr, dass sich die weltlichen Autoritäten nicht in diesen Prozess einmischen werden. Dann werden die Kirchenleute dieses Problem auf irgendeine Weise lösen können.

K-TV: Wie sehen Sie die Beziehungen zwischen dem Moskauer Patriarchat und der katholischen Kirche in Russland?

Metropolit Hilarion: Ich denke, wir haben eine ausgezeichnete Beziehung, wir haben keinerlei Probleme. Mit Erzbischof Paolo Pezzi, der die katholische Kirche in Russland leitet, sind wir sehr freundschaftlich verbunden. Und wenn Fragen auftauchen, lösen wir diese gemeinsam.

K-TV: Haben Sie direkten Kontakt zur Deutschen Bischofskonferenz, also zur katholischen Kirche in Deutschland?

Metropolit Hilarion: Ja, wir haben direkte Kontakte zur katholischen Kirche in Deutschland. Wir führen regelmäßig theologische Gespräche. Auch pflegen wir einen Austausch durch Besuche und haben viele andere gemeinsame Themen, gemeinsame Interessen.

K-TV: Sicherlich verfolgen Sie die derzeitigen Probleme der katholischen Kirche in Westeuropa. Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung der katholischen Kirche in Deutschland?

Metropolit Hilarion: Ich denke, das Christentum existiert schon 2000 Jahre. Und es existiert in verschiedenen Ländern, in verschiedenen Epochen, unter verschiedensten Gegebenheiten. Ich denke, das Wichtigste für uns ist, dass wir der Lehre des Evangeliums treu bleiben – der theologischen und der moralischen Lehre des Evangeliums. Damit wir nicht den Einflüssen erliegen, die aus der säkularen Welt kommen, damit wir nicht auf die Stimmen hören, die uns sagen, ihr müsst euch der heutigen Mode, der modernen Agenda anpassen, ihr müsst integrativer, ihr müsst liberaler, moderner sein, ja, auf solche Herausforderungen müssen wir in aller Ruhe reagieren und in der Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Christus voranschreiten. Und alles andere wird uns Gott selbst geben.

K-TV: Die Säkularisierung in den westeuropäischen Ländern verdrängt immer mehr die christlichen Werte. Welche Möglichkeiten sehen Sie für die christlichen Kirchen, diesem Prozess entgegenzuwirken?

Metropolit Hilarion: Ich denke, es ist sehr wichtig, mit der Jugend zu arbeiten. Denn, seien wir ehrlich, der größte Teil unserer Gemeindemitglieder, und dies gilt sowohl für die Katholiken als auch für die Orthodoxen, sind doch Menschen mittleren und hohen Alters. Es mag sehr schwierig sein, die Jugend für unsere Fragestellungen zu begeistern. Wir sehen in unseren Kirchen nicht so viele junge Menschen, wie wir es gerne hätten. Und gerade die Jugend ist die Risikogruppe, auf die diese säkulare Ideologie großen Einfluss hat. Um mit Jugendlichen arbeiten zu können, müssen wir in der Lage sein, ihre Sprache zu sprechen. Wir müssen ihnen das, woran wir glauben, auf eine solche Weise vermitteln, dass sie es nicht nur verstehen, sondern dass sie davon auch inspiriert werden.

Und wie wir das machen können, müssen wir von Christus selbst lernen, wir müssen lernen vom Apostel Paulus und von unseren Missionaren, die uns vorangegangen sind, die eine Sprache gesucht haben, die der Zeit entsprochen hat, die den Adressaten entsprochen hat. Und in diesem Fall ist unser Adressat die Jugend. Insbesondere müssen wir in den sozialen Netzwerken arbeiten. Wir müssen dort präsent sein, wo die Jugend präsent ist, auch in der virtuellen Welt. Und wir dürfen nicht vergessen, dass in der virtuellen Welt, auch wenn sie virtuell ist, doch reale Menschen leben. Und das ist alles unsere Herde oder unsere potenzielle Herde.

K-TV: Eminenz, welche Bedeutung messen Sie dem Treffen zwischen Patriarch Kyrill und Papst Franziskus auf Kuba am 12. Februar 2016 bei?

Metropolit Hilarion: Dieses Treffen hatte eine gewaltige Bedeutung für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der römisch-katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche. Papst und Patriarch trafen sich als Oberhäupter von Kirchen, welche die Verantwortung für Millionen von Menschen tragen und denen es nicht gleichgültig ist, was in der Welt geschieht. Das Thema ihres Treffens spiegelt sich vollständig in ihrer gemeinsamen Erklärung wider, die natürlich im Voraus vorbereitet worden war, aber das Gespräch zwischen dem Papst und dem Patriarchen fand seinen Widerhall in diesem Text. Und ich denke, dass wir, nachdem schon mehr als drei Jahre seit dem Treffen vergangen sind, noch lange damit zu tun haben werden, die Aufgaben, die der Papst und der Patriarch unseren Kirchen gestellt haben, im Leben umzusetzen.

K-TV: Und wie hat sich dieses Treffen hier in Russland ausgewirkt?

Metropolit Hilarion: In Russland steht das Volk diesem Treffen insgesamt sehr positiv gegenüber, insbesondere nachdem bekannt wurde, dass eine Frucht dieses Treffens darin bestand, dass die Reliquien des heiligen Nikolaus nach Moskau und St. Petersburg gebracht wurden. Diese Überbringung der Reliquien, an der mehr als zweieinhalb Millionen Menschen persönlich teilgenommen haben, dabei handelt es sich um diejenigen, die es geschafft haben, die Reliquien während der zweieinhalb Monate zu verehren, in denen sie sich in Russland befanden. In diesem Sinn hat tatsächlich ganz Russland an dem Ereignis teilgenommen, denn diejenigen, die nicht kommen konnten, schauten sich das ganze Geschehen zumindest im Fernsehen an. Dies war sicherlich das erste derartige Ereignis in der Geschichte unserer Beziehungen, an dem im wahrsten Sinne des Wortes das ganze Land teilgenommen hat.

K-TV: Wie haben sich die Beziehungen zwischen Moskau und dem Vatikan seit Kuba weiterentwickelt?

Metropolit Hilarion: Ja, ich denke, dass sich die Beziehungen zwischen Moskau und dem Vatikan natürlich weiterentwickeln werden. Ein Zeugnis dafür ist der kürzliche Besuch von Präsident Putin im Vatikan, sein Gespräch mit Papst Franziskus. Aber ich möchte nicht zwei Linien vermischen, die zwischenkirchlichen Beziehungen und die zwischenstaatlichen Beziehungen. Es gibt Beziehungen zwischen der russischen Kirche und der römisch-katholischen Kirche, und es gibt Beziehungen zwischen dem Vatikan als Staat und Russland als Staat. Dies sind zwei parallel verlaufende Linien, die sich parallel entwickeln und praktisch nicht schneiden.

K-TV: Sie haben die gemeinsame Erklärung angesprochen, die Patriarch Kyrill und Papst Franziskus bei ihrem Treffen in Havanna unterzeichnet haben. Welche Bedeutung messen Sie dieser Erklärung bei?

Metropolit Hilarion: Nun, wie ich schon gesagt habe, werden in dieser Erklärung die wichtigsten Punkte umrissen, in denen Katholiken und Orthodoxe zur Zusammenarbeit aufgerufen sind. Und die Bedeutung der Erklärung liegt gerade darin, dass sie uns Leitlinien für die Zukunft aufzeigt, das heißt, wo die Bereiche sind, in denen unsere Zusammenarbeit am meisten gefordert ist: dies ist die Hilfe für die leidenden Christen im Nahen Osten, dies ist die Verstärkung unserer christlichen Präsenz in Europa, dies und vieles mehr, was in dieser Erklärung erwähnt wird. Und wir beschäftigen uns gerade damit, zielstrebig das umzusetzen, was der Papst und der Patriarch in Havanna vereinbart haben.

K-TV: In welchen Punkten sehen Sie Übereinstimmungen mit der katholischen Kirche und auf welchen Gebieten sollten die beiden Kirchen ihre Zusammenarbeit verstärken?

Metropolit Hilarion: Ich denke, wir sollten vor allem in den Bereichen arbeiten, die in direktem Zusammenhang mit dem Leben der Menschen stehen. Das ist so ein Thema wie der Schutz des menschlichen Lebens – vom Moment der Empfängnis bis zum Moment des natürlichen Todes. Es ist das Thema, bei dem es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gibt. Aber es gibt sehr ernsthafte Meinungsverschiedenheiten zwischen uns einerseits und der säkularen Welt andererseits. Hier sagen viele Ideologen der säkularen Welt, dass eine Frau frei sei, über ihren Körper zu verfügen, was bedeutet, dass sie eine Abtreibung durchführen kann. Dies ist ihr gesetzliches Recht. Und wir sind der Ansicht, dass das menschliche Leben vom ersten Moment der Empfängnis an geschützt werden muss. Das Gleiche gilt für die Sterbehilfe, das Gleiche gilt für viele andere Themen. Ich denke also, je enger wir in diesen Themen zusammenarbeiten, desto erfolgreicher wird unsere Antwort auf die Herausforderungen der säkularen Welt sein.

K-TV: Papst Franziskus hat ein Dokument veröffentlicht, in dem er die Gender-Ideologie scharf verurteilt. Wie sieht die Russisch-Orthodoxe Kirche den weltweiten Gender-Mainstream, der unaufhaltsam immer mehr Länder zu erfassen scheint?

Metropolit Hilarion: Wir sind nicht einverstanden und werden auch nie zustimmen, dass man ein Bündnis zwischen zwei Männern oder zwei Frauen oder irgendwelche andere Verbindungen Familie nennt. Wir gehen davon aus, dass die Familie, dass die Ehe ein von Gott eingerichteter Bund zwischen einem Mann und einer Frau ist, dass es in der Familie einen Vater und eine Mutter geben muss und nicht nur Elter Nummer eins und Elter Nummer zwei. Vaterschaft und Mutterschaft sind verschiedene Dienste, verschiedene Sendungen. Und natürlich werden wir wie auch die katholische Kirche immer das traditionelle Ideal der Familie vertreten – dasselbe Ideal, das im Evangelium beschrieben ist, das in den Briefen des heiligen Apostels Paulus beschrieben ist, und das wir nie aufgeben werden – trotz aller neuen Trends, ungeachtet einer neuen Mode.

K-TV: In Deutschland gibt es auch die Evangelische Kirche, die EKD, die auf die Glaubensspaltung durch die Reformation zurückgeht. Unterhalten Sie offizielle Kontakte auch zur EKD und auf welche Schwierigkeiten treffen Sie hier?

Metropolit Hilarion: Wir haben offizielle Kontakte zur EKD. Seit mehreren Jahrzehnten gibt es einen theologischen Dialog und es gibt auch verschiedene gemeinsame Projekte. Die Hauptschwierigkeiten hängen natürlich mit der Liberalisierung zusammen, welche in der gesamten protestantischen Gemeinschaft stattfindet und welche die Thematik der Moral betrifft. Trotzdem hoffen wir, dass wir ungeachtet der unterschiedlichen Ansichten und Positionen unsere Zusammenarbeit fortsetzen können.

K-TV: Welchen Beitrag könnte Russland für die Rettung der christlichen Wurzeln Europas leisten?

Metropolit Hilarion: Russland ist Teil Europas. Auch wenn Russland politisch nicht Teil der Europäischen Union ist, so ist Russland doch geografisch, kulturell und geistig Teil Europas. Und natürlich hat Russland bereits einen sehr bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der europäischen Identität geleistet. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Russland noch nicht sein letztes Wort gesprochen hat, und zwar auch in Bezug auf die Probleme, die uns gemeinsam sind.

Eines dieser gemeinsamen Probleme ist der Versuch europäischer Politiker, die christlichen Wurzeln Europas dem Vergessen anheimzugeben. Hier ist die Wiedergeburt der Kirche, die sich in Russland und in anderen Ländern des postsowjetischen Raums seit den letzten dreißig Jahren vollzieht – ein Phänomen, das in seiner Reichweite beispiellos ist. Es genügt zu erwähnen, dass die russische Kirche vor dreißig Jahren sechstausend Kirchen hatte, jetzt aber haben wir vierzigtausend Kirchen. Wir hatten zwanzig Klöster und jetzt haben wir fast tausend Klöster. Und das alles ist mit einer gewaltigen Explosion religiöser Gefühle verbunden. Wir haben keinen Mangel an Berufungen zum klösterlichen Leben, wir haben keinen Mangel an Priesterberufungen. Und wir können diese Erfahrung mit den Christen Westeuropas teilen. Wir können davon berichten, wie wir mit der Jugend arbeiten, wie wir mit anderen Teilen unserer Gesellschaft arbeiten. Ich hoffe, dass diese einzigartige Erfahrung, die wir haben, die Erfahrung eines Lebens mehr als siebzig Jahre lang unter den Bedingungen der Verfolgung und danach eben schon dreißig Jahre unter den Bedingungen der kirchlichen Wiedergeburt, dass diese Erfahrung unseren Brüder und Schwestern im Westen nützlich sein kann.

K-TV: Die Spannungen zwischen der westlichen Allianz und Russland haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Welchen Beitrag könnten unsere Kirchen zum Abbau der gesellschaftspolitischen Spannungen leisten?

Metropolit Hilarion: Ich denke, dass diese Trennung auf der politischen Ebene stattfindet, aber die Kirchen, sie arbeiten auf der geistlichen Ebene. Und auf der geistlichen Ebene sehe ich keine großen Widersprüche zwischen der katholischen Kirche in Europa und der orthodoxen Kirche in dem Teil Europas, der Russland heißt. Ich denke, wir haben gemeinsame Positionen, gemeinsame Interessen, wir haben eine sehr ähnliche Sichtweise auf all die fundamentalen Probleme unserer Zeit. Ich denke, je intensiver wir unsere Zusammenarbeit entwickeln, desto mehr Nutzen können wir der westlichen Welt bringen, auch in Bezug auf die Spaltung, über die Sie sprechen und die durch unsere gemeinsamen Anstrengungen überwunden werden kann.

K-TV: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht Russland für die ganze Menschheit und den Frieden unter den Völkern?

Metropolit Hilarion: Nun, es scheint mir, dass Russland im Verlauf vieler Jahrhunderte seinen Beitrag zur Verwirklichung des Friedens unter den Völkern geleistet hat. Und dies war nicht nur ein politischer Beitrag. Es war das Blut unserer Soldaten, das im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg, in den Balkankriegen des neunzehnten Jahrhunderts vergossen wurde. Überall haben unsere Soldaten ihr Blut vergossen. Und der Frieden, der sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg einstellte, wurde mit dem Preis des Blutes von mindestens zwanzig Millionen unserer Soldaten bezahlt, einschließlich derer, die jetzt auf den Schlachtfeldern in Deutschland, in Polen und in anderen Ländern Westeuropas liegen. Wohin ich auch in Europa komme, überall gibt es Friedhöfe und auf diesen Friedhöfen gibt es Stätten mit russischen Soldaten. Kürzlich war ich in Griechenland und besuchte dort einen Friedhof, auf dem ungefähr vierhundert russische Soldaten liegen. Dies ist der Beitrag, den Russland geleistet hat. Ich wünschte es sehr, dass Russland nie mehr einen solchen Beitrag leisten muss. Und ich möchte nicht, dass irgendein Land einen solchen Beitrag leistet. Denn der Aufbau des Friedens unter den Völkern muss das Ergebnis eines politischen Konsenses sein. Und die Politiker dürfen die Dinge nicht dazu kommen lassen, dass Probleme mit militärischen Methoden gelöst werden müssen.

K-TV: Wie sehen Sie die Aufgabe der christlichen Kirchen angesichts der Herausforderungen durch den Islam und speziell durch den fundamentalistischen Islam?

Metropolit Hilarion: Wissen Sie, ich zitiere oft Kardinal Koch, der sagte, wir sollten nicht den starken Islam fürchten, sondern ein schwaches Christentum. Daher denke ich, dass das schwache Christentum eine echte Bedrohung für unsere Kirchen darstellt. Und der starke Islam ist die Realität, mit der wir jetzt konfrontiert worden sind und der wir mit einer Verstärkung unserer eigenen missionarischen Arbeit in unserer Bevölkerung begegnen müssen. Ich glaube an die Kraft Gottes, die sich, wie der Herr dem Apostel Paulus gesagt hat, in der Schwachheit erweist. Trotz unserer menschlichen Schwächen wird sich diese Kraft Gottes auch weiterhin im Leben unserer Kirche entfalten. Ich sehe dies auf dem Hintergrund der Erfahrung von dreißig Jahren des Lebens unserer Kirche, die wiedergeboren wurde, nachdem man siebzig Jahre lang auf jede erdenkliche Weise versucht hatte, sie zu zerstören. Und sie wurde nicht nur nicht zerstört, sondern im Gegenteil, sie wurde wie ein Phönix aus der Asche wiedergeboren und gedeiht und wächst.

K-TV: Eminenz, was kann die katholische Kirche von der Russisch-Orthodoxen Kirche lernen?

Metropolit Hilarion: Ich möchte hier keine Empfehlungen aussprechen oder über irgendwelche Vorteile der orthodoxen Kirche sprechen. Aber ich denke, dass die orthodoxe Kirche durch viele Jahrhunderte von Prüfungen und Verfolgungen hindurchgegangen ist. Und diese Erfahrung der Märtyrer, die wir besitzen, ist eine einzigartige Erfahrung, die wir gerne mit unseren katholischen Brüdern teilen möchten.

Darüber hinaus glaube ich, dass es in der orthodoxen Tradition einige Punkte gibt, die die katholische Kirche interessieren könnten. Wir haben zum Beispiel einen verheirateten Klerus und glauben, dass dies ein durchaus geeignetes Format für den Pfarrdienst ist, wenn ein Priester eine Frau hat, Kinder, wenn er sich aufgrund seiner eigenen Erfahrung in die Lage von Menschen mit Familie hineinversetzen und qualifizierte und kompetente Ratschläge erteilen kann. Ich verstehe, dass sich die Frage des Kleriker-Zölibats in der katholischen Kirche jetzt ziemlich stark zuspitzt, aber aus irgendeinem Grund wird sie oft in Zusammenhang mit dem Thema des Priestertums der Frau gebracht. Da sagt man, man müsse katholischen Priestern erlauben, zu heiraten, und man müsse Frauen erlauben, katholische Priester zu werden. Aber für uns sind dies völlig unterschiedliche Themen.

Denn das Thema eines Kleriker-Standes mit Familie wurde in der Kirche in verschiedenen Epochen auf unterschiedliche Weise entschieden. Wir wissen, dass es in der frühchristlichen Kirche verheiratete Bischöfe gab. Später hat die Kirche im Osten und im Westen beschlossen, dies aufzugeben. Aber nicht, weil ein Bischof per Definition nicht verheiratet sein kann. Der Apostel Paulus sagt ja umgekehrt: Ein Bischof muss der Ehemann von einer einzigen Frau sein. Aber die Kirchen haben verstanden, dass, wenn der Bischof seinen Dienst mit dem Familienleben vermischt, daraus nichts Gutes für die Kirche entspringt.

In Bezug auf das Thema eines Klerus mit Familie gibt es im Osten und im Westen unterschiedliche Traditionen. Und jede Tradition verdient Achtung. Aber ich denke, dass unsere Tradition, nach der Mönche hauptsächlich in Klöstern leben und verheiratete Priester hauptsächlich in den Pfarreien dienen, eine Tradition ist, die auch von Ihrer Seite zumindest Respekt verdient. Vielleicht könnten Sie ihr etwas Nützliches entleihen.

Insgesamt denke ich, dass wir viel voneinander lernen können. Und aus diesem Grund müssen wir meiner Meinung nach unseren Dialog verstärken, unsere Zusammenarbeit verstärken und weiterentwickeln, uns häufiger miteinander treffen, miteinander sprechen, unsere Meinungen austauschen, die Erfahrung auszutauschen und alle guten Dinge voneinander lernen.

K-TV: Eminenz, ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch hier in Ihrem Sitz des Außenamtes der Russisch-Orthodoxen Kirche in Moskau. Herzlichen Dank!

Metropolit Hilarion: Vielen Dank! Auf Wiedersehen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
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Die unglaubliche Geschichte der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau

Symbol der geistigen Auferstehung Russlands

Die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau spiegelt auf einzigartige Weise das wechselhafte Drama wider, das Russland in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten durchlebt hat. Die Geschichte des Gotteshauses lässt eindrücklich die unterschiedlichen Epochen der russischen Nation aufleuchten, und zwar vom Zarentum mit seiner staatlichen Vereinnahmung der Russisch-Orthodoxen Kirche über die Christenverfolgung unter der Herrschaft des atheistischen Sozialismus bis hin zum Neuaufbruch des kirchlichen Lebens nach der Perestroika. Die Kathedrale gilt als wichtigstes Symbol für die geistige Auferstehung Russlands in der heutigen Zeit.

Von Erich Maria Fink

Zentrum der Russisch-Orthodoxen Kirche

Wie ein Leuchtturm erhebt sich in unmittelbarer Nähe des Moskauer Kremls die gewaltige Christ-Erlöser-Kathedrale der Russisch-Orthodoxen Kirche. Nach ihrer Einweihung im 19. Jahrhundert war sie unweigerlich in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens getreten. Von Anfang an galt sie als neues Zentrum der Russisch-Orthodoxen Kirche, welche damals ganz unter dem Einfluss der Zarenherrschaft stand. Doch der staatskirchliche Triumphalismus währte nicht lange. Ihm bereitete der revolutionäre Umsturz im Jahr 1917 schon bald ein jähes Ende. Zunächst waren sich die Bolschewiken allerdings unsicher, wie sie mit diesem monumentalen Gebäude verfahren sollten. Verkörperte es doch wie kaum ein anderes all die Werte, gegen die sie sich erhoben hatten, die Monarchie mit ihrer Staatskirche, die religiöse Deutung der Geschichte, die damit verbundene Rechtfertigung des Machtanspruchs der Zaren, aber auch das christliche Weltbild überhaupt, das die Menschwerdung Gottes als Angelpunkt der gesamten Wirklichkeit betrachtet und alle Fragen des irdischen Lebens im Licht der Erlösung durch Jesus Christus beantwortet. Erst unter Stalin konnten sich die Kommunisten durchringen, diese dem Erlöser geweihte Kathedrale tatsächlich zu beseitigen. An ihrer Stelle sollte das höchste Gebäude der Welt entstehen, der sogenannte „Palast der Sowjets“, gekrönt von einer überdimensionalen Lenin-Statue.

So wurde die Kathedrale 1931 gesprengt, doch die neuen Pläne ließen sich letztlich nicht verwirklichen. Erst 1960 wurde die Baugrube in ein Freibad umgewandelt, das ein Großteil der Moskauer Bevölkerung noch in lebendiger Erinnerung hat.

Einem Wunder kommt der Neubau der Kathedrale nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gleich. Er konnte in dem kurzen Zeitraum von nur sechs Jahren verwirklicht werden. Das herrlich ausgestattete Gotteshaus ist von neuem das faktische Zentrum der Russisch-Orthodoxen Kirche geworden. Der Moskauer Patriarch ist jeweils Vorsteher der Kathedrale und vollzieht in ihr die wichtigsten Gottesdienste und Feiern, die im Lauf des Jahres stattfinden, wie z.B. die Weihnachts- und Ostergottesdienste oder Staatsbegräbnisse. Meistens nehmen daran auch Regierungsvertreter wie der russische Präsident teil. Die Übertragungen all dieser Veranstaltungen im staatlichen Fernsehen üben einen großen Einfluss auf das ganze Land aus und prägen heute nachhaltig die neu gewonnene Identität des russischen Volkes.  

Der Sieg über Napoleon 1812

Dass die Truppen Napoleons Russland letztlich nicht bezwingen konnten, hatte für das nationale Selbstwertgefühl der russischen Nation eine gewaltige Bedeutung. Der Ausgang des „Vaterländischen Kriegs“, wie er in Russland genannt wird, ließ den Mythos von der Unbesiegbarkeit des russischen Zarentums entstehen. Eigentlich gab es gar keinen richtigen Sieg über Napoleon, doch sein Russlandfeldzug endete in einer beispiellosen Tragödie. Mehr als eine halbe Million Soldaten der Grande Armée gingen innerhalb weniger Monate elend zugrunde, nicht zuletzt an der bitteren Kälte des russischen Winters. Nachdem alle feindlichen Kräfte vom russischen Territorium vertrieben worden waren, schlugen sich die westeuropäischen Länder nach und nach auf die Seite Russlands und bereiteten Napoleon die endgültige Niederlage.

Aber auch Russland musste einen hohen Preis bezahlen. Nachdem sich die russischen Einheiten samt Bevölkerung aus Moskau zurückgezogen hatten und Napoleon im Kreml eingezogen war, ging die Stadt in Flammen auf. Innerhalb von vier Tagen wurden drei Viertel der Wohnhäuser zerstört. Über 200.000 Menschen ließen auf russischer Seite in diesem Krieg ihr Leben. Zar Alexander I. wollte allen Opfern ein Denkmal setzen und der Göttlichen Vorsehung für die Rettung des Vaterlandes danken. So heißt es in einem von ihm unterzeichneten Manifest. Es hatte in Russland bereits Tradition, nach historischen Siegen durch die Errichtung von Kirchen Zeichen der Erinnerung zu setzen. So wurde nach der Befreiung Moskaus von der polnisch-litauischen Besatzung 1625 auf dem Roten Platz die Kasaner Kathedrale gebaut.

Nach dem Sieg über Napoleon dachte der Zar an eine Kathedrale zu Ehren Christi, des Erlösers. Bereits 1813 begannen die Vorbereitungen, doch die Umsetzung sollte sich lange hinziehen. Das erste Vorhaben, nämlich auf den 70 Meter hohen Sperlingsbergen im Süden Moskaus ein Gotteshaus nach dem Vorbild der römischen Petersbasilika zu errichten, musste 13 Jahre nach der Grundsteinlegung aus technischen Gründen aufgegeben werden. Es wurde der Beschluss gefasst, das Projekt westlich des Kremls zu verwirklichen. Dazu musste zunächst ein Frauenkloster umgesiedelt werden. Außerdem besann man sich auf die russische Architektur und entschied sich für einen völlig neuen Plan, der nach 44 Jahren vollendet werden konnte. Erst am 26. Mai 1883 wurde die Kathedrale eingeweiht und zugleich die Krönung des neuen Zaren Alexander III. vorgenommen.

Die Feier hatte sich verzögert, da Zar Alexander II. am 13. März 1881 in St. Petersburg einem revolutionären Attentat zum Opfer gefallen war. Doch in der Kathedrale, die im Wesentlichen bereits 1881 fertiggestellt war, fand neun Monate vor der Einweihung am 20. August 1882 ein Ereignis statt, das bis heute nachwirkt. An diesem Tag nämlich wurde die berühmt gewordene „Ouvertüre 1812“ uraufgeführt, die Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840-1893) in Erinnerung an den Sieg über Napoleon komponiert hatte. Es ist kein Zufall, dass diese Ouvertüre in unseren Tagen wieder besondere Aufmerksamkeit erfährt.

Die Zerstörungswut der Bolschewiken

Nach der Revolution im Herbst 1917 begann in Russland eine grausame Verfolgung der Kirche. Noch nie hatte es zuvor in der Geschichte einen solchen Ausbruch an Hass gegen die christliche Religion gegeben wie unter der Sowjetherrschaft in der UdSSR. Mit satanischer Zerstörungswut fielen die Bolschewiken im ganzen Land über die Kirchen und Klöster her. Selbst in den abgelegensten Dörfern versuchten sie, alles Sakrale zu entweihen und auszulöschen. Wie es gelingen konnte, ein an sich tief religiöses Volk zu einem solch barbarischen Vernichtungsfeldzug anzustiften, bleibt ein Geheimnis. Lediglich herausragende Kulturstätten, die auch im Ausland bekannt waren, wurden von den neuen Machthabern nicht angerührt. Sie wollten allzu heftige diplomatische Reaktionen vermeiden.

So war es zunächst auch mit der Christ-Erlöser-Kathedrale. Gleich 1918 demontierten die Bolschewiken zwar das imposante Denkmal, das 1912 zum hundertjährigen Gedenken an den „Vaterländischen Krieg“ gegenüber der Kathedrale aufgestellt worden war und Zar Alexander III. auf dem Thron sitzend mit Machtinsignien und Doppelkopfadlern zeigte. Doch an das Gebäude selbst legten sie noch nicht Hand an. Sie überließen es der sogenannten „Renovationskirche“, einer Abspaltung von der Russisch-Orthodoxen Kirche, die sich demonstrativ hinter das sozialistische Regime gestellt hatte.

Dazu muss man wissen, dass die Bolschewiken interessanterweise das Patriarchat wieder einführten, das Zar Peter, der Große, aufgehoben hatte. Nach dem Tod von Patriarch Adrian im Jahr 1700 ließ der Zar den Patriarchenstuhl nicht wieder besetzen. Vielmehr stellte er 1721 die Russisch-Orthodoxe Kirche vollkommen unter die Verwaltung des Staates. Konsequenterweise verabschiedeten sich die Sowjets von diesem System. Dass sie der Wahl eines Patriarchen zustimmten, war politisches Kalkül. Nach dem Sturz Nikolaus II. brauchte die Kirche ein neues Oberhaupt. Zugleich bemühte sie sich um Unabhängigkeit vom Staat. So wählte sie schon am 5. November 1917 Tichon zum Patriarchen, dem ersten seit über 200 Jahren. Dass er schon bald in Konflikt mit den Kommunisten kommen würde, war abzusehen. Und ein Zugang zur Christ-Erlöser-Kathedrale blieb ihm ohnehin verwehrt.

1927 kam Josef Stalin an die Macht, der die Sowjetunion als Partei- und Staatschef bis 1953 mit eiserner Hand regierte. In diktatorischem Größenwahn entwarf er die Idee eines höchsten Gebäudes der Welt, das die sozialistische Sendung der Sowjetunion für die ganze Menschheit zum Ausdruck bringt. Der Wolkenkratzer sollte 415 Meter hoch werden und dazu noch eine hundert Meter hohe Figur von Lenin tragen. Es war auch ein ideologisch motivierter Plan, dass das als „Palast der Sowjets“ geplante Gebäude an die Stelle der Christ-Erlöser-Kathedrale tritt. So wurde das Gotteshaus geschlossen und zum Abriss bestimmt. Doch erkannte man bald, dass das Abtragen des Bauwerks immense Kraft kosten würde. So gab Stalin die Zustimmung, das Gebäude am 5. Dezember 1931 zu sprengen. Die Maßnahme wurde genauestens vorbereitet und für die atheistische Propaganda auf Filmen festgehalten. Heute lassen sich diese Zeitdokumente von jedem im Internet abrufen. Es stockt einem der Atem, wenn man sieht, wozu die „zivilisierte“ Welt im 20. Jahrhundert fähig war.

Schwimmbad statt Wolkenkratzer

Viele Faktoren kamen zusammen, die den Plänen Stalins einen Strich durch die Rechnung machten. Zum einen war es der Zweite Weltkrieg, zum anderen hegten die Ingenieure immer größere Zweifel, dass der Baugrund an dieser Stelle für das immense Gebäude tragfähig genug sein würde. Eineinhalb Jahre hatte es bereits gedauert, bis der Schutt weggeschafft war. Die Fundamente waren immerhin noch gelegt worden. Doch sogar Stalin selbst war von der Dringlichkeit und Vorrangigkeit des Projekts bereits abgerückt. Trotzdem wagte man erst nach seinem Tod, das Vorhaben ganz aufzugeben.

Unter Nikita Chruschtschow wurde die Entscheidung getroffen, auf den vorhandenen Fundamenten ein Schwimmbad anzulegen. Damit wurde eine Notlösung getroffen, welche das peinliche Bild der Bauruine aus der Welt schaffte und die Beteiligten ihr Gesicht einigermaßen wahren ließ. Von 1958 bis 1960 wurde somit das größte Freibad der Welt mit einem Durchmesser von 129 Metern und einer Beckenfläche von 13.000 Quadratmetern fertiggestellt. Es war das ganze Jahr über beheizt und bei der Bevölkerung äußert beliebt.

Bis 1994 war dieses Moskwa-Freibad in Betrieb. Die meisten Bewohner der Stadt erinnern sich gerne an die Zeit zurück, als sie auch bei strengem Frost ins warme Wasser springen konnten. Doch gab es keinerlei Widerstand gegen die Veränderungen, die im Zug der Perestroika bald auch das Schwimmbad treffen sollten. So ist das Intermezzo mit dem Freibad letztlich als symbolisches Zeichen für das Wesen des Sozialismus in die Geschichte eingegangen. Es kamen seine Grenzen zum Vorschein, aber auch das menschliche Antlitz, das sich bei aller Verirrung hinter vielen Bemühungen der Vertreter dieser Ideologie verbarg.

Politische und geistige Wende

Der Wiederaufbau der Christ-Erlöser-Kathedrale zeigt, wie zielstrebig die Pioniere der Wende ans Werk gingen. Erst 1989 hatte sich eine Vereinigung formiert, die es gewagt hatte, den Plan einer Neuerrichtung der Kathedrale vorzuschlagen und sich dieses Projekt konkret zum Ziel zu setzen. Unzählige erhaltene Dokumente, Unterlagen und Fotografien wurden zusammengetragen, von Fachleuten ausgewertet und zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Einerseits wollte man den ursprünglichen Plänen des russisch-deutschen Architekten Konstantin Thon (1794-1881) möglichst nahe kommen, andererseits aber versuchte man, auch den modernen technischen Möglichkeiten und der neuen geschichtlichen Situation gerecht zu werden. So wurde der gesamte Rohbau in einer zeitgenössischen Stahlbetonweise gefertigt oder in der Innenausstattung beispielsweise die Darstellung des inzwischen heiliggesprochenen Seraphim von Sarow aufgenommen.

Doch entscheidend waren die Verantwortlichen in Kirche und Staat. Die Politik war am Zug, auch wenn die Finanzierung letztlich durch Spenden erfolgte. Mit welcher Überzeugung der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow ans Werk ging, wie nachhaltig Präsident Boris Jelzin die Initiative unterstützte, wie weitsichtig Patriarch Alexej II. die Planungen inspirierte, wie entschieden sie gemeinsam die Stadträte und Behörden zu gewinnen versuchten, war einfach unglaublich.

Die Bauzeit von nur sechs Jahren ist angesichts des Umfangs des Projekts und der Qualität der ausgeführten Arbeiten eine absolute Meisterleistung. Zur Finanzierung haben über eine Million Privatleute und etwa 1000 Organisationen bzw. Unternehmen beigetragen. Insgesamt kostete der Bau rund 200 Millionen Dollar. Bedenkt man die Tatsache, dass sich Russland in den Neunziger Jahren aus einer schweren wirtschaftlichen Krise erheben musste, ist diese finanzielle Leistung umso erstaunlicher.

In der Kathedrale finden 10.000 Menschen Platz. Bis zum Kreuz auf der Kuppel hat sie eine Höhe von 103,5 Metern, im Inneren eine Höhe von 79 Metern. Die Fresken nehmen eine Fläche von 22.000 Quadratmeter ein. Zusätzlich zum ursprünglichen Plan aus dem 19. Jahrhundert wurden eine Unterkirche zu Ehren der Verklärung Christi, die an das ehemalige Frauenkloster an dieser Stelle erinnert, ein Museum, das die bewegte Geschichte der Kirche dokumentiert, sowie Versammlungsräume insbesondere für den Heiligen Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche in den Gebäudekomplex aufgenommen.

Brücke zur katholischen Kirche

Auch die Ausstattung der Kirche ruft Bewunderung hervor. Sie zeigt, dass auch in der heutigen Zeit sakrale Schönheit geschaffen werden kann. Manche westlichen Besucher meinen etwas verächtlich, die Darstellungen seien reines Handwerk und hätten mit Kunst nicht viel zu tun. Vor allem wird der Kathedrale nach bekanntem Vorurteil eine Nähe zum westlichen Nazarener-Stil konstatiert. Doch wird eine solche Einschätzung der gewaltigen künstlerischen Leistung nicht gerecht. Tatsache ist, dass die Russische Kunstakademie unter Leitung ihres Präsidenten, des georgisch-russischen Bildhauers Surab Zereteli, versuchte, den Schätzen des 19. Jahrhunderts nahezukommen und diesem ursprünglichen Vorbild gerecht zu werden. Für uns als katholische Kirche ist es zudem faszinierend festzustellen, wie sehr die Russisch-Orthodoxe-Kirche im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der sakralen Kunst die Annäherung an den Westen gesucht hat und sich mit katholischen Darstellungsformen vollkommen identifizieren konnte.

Die Grundsteinlegung für den Neubau der Kathedrale wurde am 7. Januar 1995, dem Tag des orthodoxen Weihnachtsfestes, vorgenommen. Dieser Tag sollte darauf hindeuten, dass mit dem Projekt etwas ganz Neues, eine neue Menschwerdung im russischen Volk Gestalt anzunehmen beginnt. Für die Einweihung aber wurde das Fest der Verklärung Christi im Jahr 2000 gewählt, das in Russland nach dem julianischen Kalender am 19. August gefeiert wird. Mit aufrichtiger und froher Dankbarkeit können wir feststellen: Diese Kathedrale ist ein Licht für die Welt, ein Tabor, zu dem Russland aus der Finsternis eines atheistischen Regimes aufgestiegen ist, ein Licht der Verklärung, in das die russische Kirche nach einem unvergleichlichen 70-jährigen Kreuzweg eintreten durfte.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
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Gleicht Euch nicht dieser Welt an!

Ohne Erneuerung keine Zukunft

 

Erzbischof Paolo (Paul) Pezzi FSCB (geb. 1960) gehört der Priesterbruderschaft der Missionare des heiligen Karl Borromäus an, die 1985 von Pater Massimo Camisasca als apostolische Ordensgemeinschaft gegründet wurde und heute etwa 130 Mitglieder zählt. Pezzi stammt bezeichnenderweise aus dem Dorf Russi in der italienischen Region Emilia-Romagna. 1993 wurde er von seiner Ordensgemeinschaft denn auch zu einem missionarischen Einsatz nach Russland entsandt. Von 1998 bis 2005 war er Generalvikar seiner Priesterbruderschaft und zugleich Leiter der Bewegung Comunione e Liberazione für Russland. Ab 2004 war er am katholischen Priesterseminar in Sankt Petersburg tätig, bis er 2007 zum Erzbischof der Erzdiözese der Mutter Gottes von Moskau ernannt wurde. Im Interview, das er K-TV am 11. Juli 2019 gewährte, ging er besonders auf die Situation der katholischen Kirche in Russland und die Beziehungen zur Russisch-Orthodoxen Kirche ein.

Interview mit Erzbischof Paul Pezzi

K-TV: Exzellenz, wie sehen Sie die heutige Situation der Erzdiözese der Gottesmutter von Moskau?

Erzbischof Paul Pezzi: Die Erzdiözese der Mutter Gottes von Moskau ist territorial gesehen, so kann man sagen, eine große Diözese. Sie umfasst eine Fläche, die drei bis vier Mal so groß ist wie Deutschland. Im Bistum befinden sich 65 Pfarreien. Etwa 135 Priester und 100 Ordensleute üben hier ihren Dienst aus. Ich denke, von der Situation in unserer Diözese konnte man einen sehr guten Eindruck auf unserer letzten gesamtdiözesanen Pastoralkonferenz gewinnen, auf der wir versucht haben, den heutigen Zustand und die notwendige Entwicklung unserer Pfarreien zu ermitteln. Und in diesem Sinne ergab sich folgendes Bild: Wir sind eine Kirche, die Wege der Erneuerung finden muss, Wege der inneren Reform, um, wie es auf der Konferenz gesagt wurde, das Evangelium weitergeben und sich selbst erhalten zu können. In dieser Hinsicht, so denke ich, müssen wir unbedingt unseren Geist der Evangelisierung erneuern und weiterentwickeln, wir müssen die Attraktivität Christi für unser Leben wieder neu entdecken. Wir kommen nicht umhin, das Prinzip als grundlegend anzuerkennen, das Papst Benedikt XVI. im Heiligtum von Aparecida in Brasilien zum Ausdruck gebracht hat, als er sagte, die Kirche wachse durch die Attraktivität Christi und nicht durch irgendeinen Proselytismus. Dazu muss hinzugefügt werden, dass unsere Kirche heute ein weiteres wichtiges Prinzip verwirklichen muss, und dies ist ein Prinzip, von dem ebenfalls Papst Benedikt gesprochen hat. Es ist das Prinzip kreativer, schöpferischer Minderheiten. Was bedeutet das? Jede Minderheit in einem Land muss sich ihrer Identität bewusst sein, dessen, was sie der gesamten Gesellschaft geben kann. Und unsere Kirche, die hier eine Minderheit ist, besitzt eine tiefe Identität gerade in der Zugehörigkeit zu Christus, um in unserem Land ein Zeichen für die ganze Weltkirche zu sein.

K-TV: Wie entwickeln sich die katholischen Pfarreien seit der Perestroika?

Erzbischof Paul Pezzi: Nun, wie ich es sehe, wurden katholische Pfarreien nach der Perestroika zuallererst deshalb gegründet, weil es keine Pfarreien gab. Während der Sowjetzeit gab es nur zwei Kirchen, die in Betrieb geblieben sind, zumindest auf dem Gebiet der heutigen Russischen Föderation. Daher war es zunächst erforderlich, Pfarreien zu errichten. So wie ich es sehe, geht es heute in unserer Zeit vor allem darum, Gemeinschaft zu schaffen. Wenn es in der ersten Phase notwendig war, so weit wie möglich Räumlichkeiten zu suchen, die Gemeinden zu registrieren, das heißt, ihnen einen rechtlichen Status zu verleihen, so müssen wir heute im Anschluss an diese Tätigkeiten vor allem die Gemeinschaft selbst entwickeln.

K-TV: Welche Akzente versuchen Sie als katholischer Bischof in Russland zu setzen?

Erzbischof Paul Pezzi: Ich denke, dass ein katholischer Bischof in Russland derselbe sein sollte wie an anderen Orten der Welt, das heißt, er muss ein Vater, ein Bruder und ein Freund seiner Herde sein.

K-TV: Wie hat sich die Lage in Russland verändert, seit Sie Ihren Dienst in Moskau angetreten haben?

Erzbischof Paul Pezzi: Nun, die Lage in Russland hat sich im Verlauf dieser zwölf Jahre, seitdem ich Bischof geworden bin, natürlich verändert. Nehmen wir die Welt der Wirtschaft. Die Entwicklung hat sich beschleunigt, aber gleichzeitig sind erste Fragen der Arbeitslosigkeit aufgetaucht, die uns natürlich Sorge bereiten. Auch in politischer Hinsicht sehen wir eine nicht einfache Konstellation auf der ganzen Welt, besonders in der Beziehung zu Russland. Was die religiöse Seite betrifft, so kann man sagen, dass es immer noch eine große Frage nach dem Sinn des Lebens gibt, nach Gott – nach dem Wirklichen, nicht nach einer Idee. Und auf diese Frage können wir eine Antwort geben. Wenn wir in wirtschaftlicher oder politischer Hinsicht normalerweise nicht tätig sind, so sind wir auf religiösem Gebiet dazu berufen, uns dafür einzusetzen, den Menschen auf seiner Suche nach Gott zu unterstützen und ihm einen Platz in dieser Beziehung zu Gott vorzuschlagen. Dann kann er selbst, gerade als Bürger dieses Landes, im Licht des Glaubens, im Lichte des Christentums seinen Beitrag sowohl auf wirtschaftlichem als auch auf politischem Gebiet leisten.

K-TV: Was bedeutet die Botschaft von Fatima für die katholische Kirche in Russland und für Sie als Erzbischof von Moskau?

Erzbischof Paul Pezzi: In Russland haben wir eine Ikone, auf der, wie mir scheint, der Geist Unserer Lieben Frau von Fatima sehr gut dargestellt ist. Diese Ikone ruft zärtlich zur Bekehrung zu Christus auf. Ich denke, dies ist das Wichtigste, das wir nicht aus den Augen verlieren dürfen. Andernfalls laufen wir Gefahr, die Botschaft der Gottesmutter von Fatima zu ideologisieren. Und das wäre nicht gut. Im Gegenteil, Unsere Liebe Frau von Fatima ruft in erster Linie zur Bekehrung auf, zur Bekehrung zu Christus, unter diesen Bedingungen, in diesem Land.

K-TV: Wie erleben Sie die Beziehungen zur Russisch-Orthodoxen Kirche?

Erzbischof Paul Pezzi: Ich kann sagen, dass im Lauf dieser Jahre unsere Beziehungen immer konstruktiver werden. Wir können, wie mir scheint, folgende Momente, folgende Etappen hervorheben:

Erstens ist es ein tieferes Bedürfnis, sich kennenzulernen. Die Treffen nehmen zu, bei denen nicht nur die katholische Kirche aus dem Ausland ihren Wunsch nach gegenseitigem Kennenlernen zum Ausdruck bringt. Vielmehr vervielfachen sich solche Treffen auch hier in Russland.

Zweitens ist es die Einsicht, dass wir eine gemeinsame Herde, ein gemeinsames Volk Gottes haben. Bis heute ist mir in Erinnerung geblieben, wie mir dies in der Weihnachtsnacht vor elf Jahren Patriarch Alexi II. sagte.

Drittens haben wir besonders im kulturellen und karitativen Bereich großartige Möglichkeiten, das zu verwirklichen, was Patriarch Kirill und Papst Franziskus in der gemeinsamen Erklärung bei ihrem Treffen in Havanna auf Kuba vor drei Jahren zum Ausdruck gebracht haben, und zwar, dass wir berufen sind, ein gemeinsames Zeugnis für Christus abzulegen.

K-TV: Welchen Beitrag kann die katholische Kirche leisten, um auf dem Weg zur Wiederherstellung der sichtbaren Einheit voranzukommen?

Erzbischof Paul Pezzi: Ich denke, vor allem können und müssen wir ein Zeichen, ein sichtbares Zeichen dieser Einheit sein. Dies bedeutet, dass wir zuallererst in unserem Herzen eine gute, strahlende und freudige Einheit mit der Weltkirche leben müssen.

K-TV: Was kann die katholische Kirche von der Russisch-Orthodoxen Kirche lernen?

Erzbischof Paul Pezzi: Meiner Meinung nach gibt es vor allem zwei Grundprinzipien, die wir von der orthodoxen Tradition der Ostkirche lernen können.

Das erste ist das Prinzip der Verklärung, der Verwandlung. Denn die Verwandlung stellt ihrem Wesen nach die eigentliche Sendung Christi dar. Christus verwirklicht die Sendung, alles mit seinem Vater zu versöhnen, indem er es an sich anzieht. Er selbst sagt, wenn ich erhöht sein werde, dann werde ich alle an mich ziehen, und das impliziert natürlich zum Vater selbst. Und wie macht er das? Christus tut dies, indem er den Menschen und die Welt verwandelt. Ich erinnere mich noch an den wunderbaren Ruf des hl. Papstes Johannes Paul II., als er uns jungen Menschen 1984 in Rom zurief: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir an Jesus Christus glauben, an Jesus Christus, der auferstanden ist, der hier und jetzt gegenwärtig ist, der den Menschen und die Welt verändern kann und sie tatsächlich verändert, verwandelt.

Und das zweite ist das Prinzip, das in der östlichen Tradition Kollegialität genannt wird. Es ist das, was wir nach unserem kirchlichen Verständnis gut mit Synodalität übersetzen können, oder, was ich noch besser finde, mit Kommunikation. Es gibt in dieser Tradition der orthodoxen Kirche genau diese Synodalität. Und dieses zweite Prinzip ist meiner Meinung nach für unsere Kirche von grundlegender Bedeutung.

K-TV: Welche Erfahrungen kann die Kirche in Russland den Christen und insbesondere der katholischen Kirche in Westeuropa vermitteln?

Erzbischof Paul Pezzi: Es ist immer gefährlich zu glauben, dass wir etwas Großes haben, das wir an andere arme Menschen weitergegeben können, weshalb ich es normalerweise nicht sehr liebe. Aber vielleicht, so könnte man sagen, wurde uns die Möglichkeit gegeben, unseren Brüdern in Westeuropa das zu zeigen, was der große Theologe Josef Zvěřina, ein tschechischer Theologe in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, gesagt hat, und zwar, sich nicht dieser Welt anzugleichen. Um die Worte des Apostels Paulus am Anfang des 12. Kapitels des Briefes an die Römer zu verwenden: Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euer Denken und eure Herzen! Ich denke, wir haben die vielleicht einzigartige Gelegenheit erhalten zu zeigen, dass eben dies die Wahrheit ist, dass es eine Freude ist, sich nicht diesem Zeitalter anzupassen, sondern sich zu wandeln, indem wir unsere Herzen in Jesus Christus verwandeln.

K-TV: Was wünschen Sie unserem Projekt der Dokumentation über Russland unter dem Titel „Licht aus dem Osten“?

Erzbischof Paul Pezzi: Zunächst möchte ich meine Dankbarkeit für Ihren Dienst zum Ausdruck bringen, denn ich denke, dass das, was Sie tun, ein sehr guter und wertvoller Dienst ist, und zwar im Geist der Bekehrung, im Geist der Evangelisierung. Und ich erlaube mir, es im Geist der Botschaft Unserer Lieben Frau von Fatima zu sagen. Und zum anderen wünsche ich Ihnen, dass Sie immer den tiefen Wunsch haben, den Willen Gottes zu erfüllen, denn in diesem Dienst, in diesem Wunsch ist alles enthalten, der Schlüssel zu einem wirklich glücklichen Leben schon auf dieser Erde.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
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Zeugnis des katholischen Pfarrers von Wladimir

Im Dienst an der Einheit

Sergej Sujew ist katholischer Priester der Erzdiözese der Mutter Gottes von Moskau. Er wurde am 15. März 1969 in der Stadt Leningrad geboren, hat seine Schulausbildung also noch zur Sowjetzeit erhalten. Beruflich war er Vollblut-Musiker mit Hochschulabschluss, bevor er seine Berufung erkannte und 1995 ins katholische Priesterseminar in St. Petersburg eintrat. Erst wenige Jahre zuvor hatte er die katholische Kirche kennengelernt, nachdem er mit zwölf Jahren in der Russisch-Orthodoxen Kirche getauft worden war. Die Priesterweihe empfing er am 10. Juni 2001 und war anschließend in Petrosawodsk und Kaliningrad eingesetzt. Seit 2004 ist er Pfarrer der katholischen Gemeinde in Wladimir mit der Kirche vom „Heiligen Rosenkranz der allerseligsten Jungfrau Maria“, die aus dem 19. Jahrhundert stammt. Sujew versteht sich als Brücke zwischen Ost- und Westkirche. In nachfolgendem Zeugnis, das er in freier Rede abgelegt hat, wird sein leidenschaftlicher Einsatz für die Einheit deutlich.

Von Sergej Sujew

Mein Weg in die katholische Kirche

Ich heiße Sergej Sujew. Als Priester nennen mich die Gläubigen „Vater Sergej“. Mein Namenspatron ist der hl. Sergius von Radonesch. Auf diesen himmlischen Beschützer wurde ich in der Russisch-Orthodoxen Kirche getauft. Wenn ich von mir erzähle, nenne ich mich in der Regel einen „künstlichen“ Katholiken. Denn ich stamme aus einer orthodoxen Familie und sie wird auch orthodox bleiben. Meine Mutter wurde 1944 während der Blockade in Leningrad geboren. Es waren sehr schwere Zeiten. Mein Vater, der 1939 geboren wurde, war in der Partei. Als es darum ging, mich zu taufen, machten sich meine Eltern große Sorgen. Sie befürchteten, Probleme zu bekommen. Deshalb brachten sie mich nach Rostow am Don ganz im Süden Russlands. Dort empfing ich mit zwölf Jahren die Taufe. Ich erinnere mich an die Tauffeier, an die Kirche und auch an den Priester. Die Frage des Glaubens trug ich immer in mir, auch eine gewisse Beziehung zur Kirche. Aber für unsere Familie stand fest, dass wir das Thema Glauben in der Schule, auf der Straße, im gesellschaftlichen Leben nie anklingen lassen. Doch meine Mutter betonte und dies war meine erste Katechese: „Gott existiert. Wir haben uns Ihn nicht ausgedacht. Deshalb streichen wir Ihn auch nicht aus unserem Leben.“ In einer solchen Atmosphäre bin ich aufgewachsen.

Den katholischen Glauben habe ich erst im Lauf der Zeit erworben. Gott hat mich dabei auf besondere Weise geführt. Ich besuchte eine Chorschule in Leningrad, eine musikalische Eliteschule. Dort beschäftigten wir uns mit vielen ausländischen Klassikern wie Bach, Mozart, Händel und Haydn. Die Werke, die wir sangen, hatten letztlich alle einen religiösen Hintergrund. Aber sie erklangen in einer Fremdsprache, nämlich auf Latein, das wir nicht verstanden haben. Dabei war religiöse Musik eigentlich verboten. So durften wir leider keine kirchenslawischen Werke singen, die eher verständlich gewesen wären. Ich erinnere mich an den geistlichen Zyklus „Stabat Mater“ des russischen Komponisten Alexander Nikolajewitsch Serow (1820-1871). Als Kind habe ich den Text wie ein Gedicht aufgenommen, ohne irgendetwas zu verstehen. Aber es war wohl damals schon eine verborgene Begegnung mit der Kultur der lateinischen Kirche.

Eines Tages wurde ich in eine katholische Kirche gebracht, um dort eine echte Kirchenorgel zu sehen. Es war die Kirche Unserer Lieben Frau von Lourdes in der Kowensker Gasse. Nachdem ich die Schwelle dieser Kirche überschritten hatte, fing Gott an, mich durch verschiedene Ereignisse zu führen. Als ich bereits an der Musikhochschule studierte und für eine Musikschule arbeitete, hatte ich meinen eigenen Mädchenchor. Da wurden wir eingeladen, in der katholischen Kirche der hl. Katharina am Newskij-Prospekt eine Kinder-Messe zu begleiten. Ich war weder katholisch, noch nahm ich am Leben der orthodoxen Kirche teil. Doch das Wort Gottes wirkt wie ein zweischneidiges Schwert. So nahm ich auf, was bei dieser Messe erklang, das Wort Gottes und die Predigt. Was Pater Jewgenij Geynrikhs, einer der ersten russischen Dominikaner-Priester, sagte, berührte irgendwie mein Herz. Ich begann über die Bedeutung des Glaubens nachzudenken, nicht nur darüber, was Gott ist, sondern darüber, was glauben überhaupt heißt. Und so kam ich in die katholische Kirche. In diesem Prozess verstand ich, etwas gefunden zu haben, das ich bis dahin in der orthodoxen Kirche nicht gefunden hatte.

Ich atme mit beiden Lungenflügeln

Sehr oft bekomme ich zu hören, auch heute noch, ich hätte die orthodoxe Kirche verraten, ich hätte sie verlassen. Vielleicht ist es keine theologische Antwort, aber aus dem Herzen kann ich ganz einfach und aufrichtig dazu sagen: Ich habe die orthodoxe Kirche in keiner Weise verlassen, ich habe einfach, und zwar entsprechend der Natur der Kirche selbst, wie sie auch der Orthodoxie zu eigen ist, den nächsten Schritt in den Schoß der katholischen Kirche gemacht. Und nun habe ich, wie ich denke, ein großes Glück, denn ich atme wirklich mit zwei Lungen. Für mich ist die orthodoxe Kirche die Kirche, aus der ich gebürtig herkomme, in der ich aufgewachsen bin, und so ist sie für mich meine Heimat-Kirche. Ich kenne die orthodoxe Kirche, Religion, Liturgie vielleicht besser als manche Orthodoxen. Und heute, da ich bereits Diener der katholischen Kirche bin, kenne und liebe ich natürlich auch sie. Sie ist für mich nun ebenfalls eine Heimat-Kirche. Auf diese Weise atme ich die Fülle der ganzen Kirche. Für mich ist es eine vollständige Wahrnehmung der ganzen Kirche und darin schätze ich mich sehr glücklich. So bin ich heute, wie gesagt, zwar ein „künstlicher“ Katholik, aber trotzdem ein katholischer Priester. Groß geworden mit der Muttermilch der katholischen Kirche übe ich meinen Dienst in diesem Geist aus, wie es auch auf meinem priesterlichen Wappen nach dem bekannten Motto heißt: Damit alle eins seien!

Das ist der Wunsch Christi und ich predige dies mit meinem Leben, meiner Denkweise, meiner Kultur, denn in mir ist es unteilbar. Und ich denke, hier in Russland ist es wichtig, den Orthodoxen zu zeigen, dass man den Lungenflügel, der Katholizismus genannt wird, nicht auslöschen kann, aber auch den Katholiken zu sagen, sowohl hier in Russland als auch in anderen Ländern, dass der orthodoxe Lungenflügel für die Lunge als einen einzigen Organismus unverzichtbar ist. Er durchtränkt mich ganz und gar und ich versuche ihn den Menschen zu vermitteln.

Ich habe das Priesterseminar in St. Petersburg absolviert, als das Leben der katholischen Kirche in Russland wieder neu aufgebaut wurde. Ich bin froh, dass ich meine Ausbildung in dieser Zeit der Restauration der katholischen Kirche in Russland erhalten habe. Die 90er Jahre waren für unser Land nicht einfach. Doch bei all diesen Schwierigkeiten waren wir die „Pioniere“, wie Don Bernardo, mein erster Rektor, sagte. Durch uns ist die Geschichte dieser Kirche geschrieben worden. Die Liturgie, das Wort, die Ausbildung – all das war sehr wichtig. So hat mich Gott geführt und vorbereitet. Und heute kann er durch meinen Dienst etwas Gutes wirken, zum Wohl der Menschen. Ich sehe es als Modell. Denn gerade die Erfahrung, die ich als Russe habe, ist hier wichtig. Nicht als ob ich besser oder klüger wäre, sondern Gott wollte mich einfach als Werkzeug nutzen, um zu zeigen, welche Art von Christentum hier auf dem Territorium orthodoxer Kultur möglich ist. Das eine oder andere können wir annehmen, während wir leider noch in der Situation der Spaltung verbleiben, wie sie heute besteht. Wir müssen diese Trennung anerkennen. Sie existiert. Die Erfahrung dieser Spaltung dauert schon tausend Jahre. Es ist natürlich ein schwieriges, schmerzhaftes Thema, auf theologischer, aber auch auf menschlicher Ebene. Anthropologisch ruft es uns dazu auf, mehr auf das zu schauen, was uns verbindet, als auf das, was uns trennt, und zu verstehen, dass Orthodoxie und Katholizismus zusammen mehr vermögen als getrennt. Und dies verlangt heute die Situation selbst.

Aus diesem Grund bin ich im Jahr 2004 auch zum Pfarrer dieser katholischen Kirche in Wladimir ernannt worden. Die Stadt kann, wie wir scherzhaft sagen, „Mekka“ der Orthodoxie genannt werden. An diesem Ort erleben wir eine Konzentration orthodoxer Kultur. Und wir scheinen hier Fremde zu sein. Aber wie die Praxis meines langjährigen Dienstes an diesem Ort zeigt, sind wir hier keine Fremden. Wir sind anders, aber wir sind Christen. Die wahre Schönheit der katholischen Kirche besteht ja gerade in ihrer Vielfalt. Davon sprechen alle Dokumente der Kirche. Das Evangelium selbst offenbart uns die Schönheit der Vielfalt. In dem, was das Wesen des Glaubens ausmacht, dass wir zu einem Gott gehören, dass wir an den einen Christus glauben, besteht Einheit, auch wenn die Wege zu diesem Verständnis, zu dieser Gemeinschaft unterschiedlich sein können.

Ökumene der Märtyrer

Die Kirche, in der ich meinen Dienst versehe, zeigt die gesamte Geschichte des Leidens und des Martyriums, das die Kirche hier auf dem Gebiet der Sowjetunion durchlebt hat. Schon 1930 wurde diese Kirche, die im 19. Jahrhundert erbaut worden war, geschlossen. Viele Mitglieder der katholischen Gemeinde wurden inhaftiert, manche auch erschossen. Der letzte Rektor dieser Kirche war Pater Antonius Dsemeschkjewitsch, der auch am Priesterseminar in St. Petersburg studiert hatte und 1929 verhaftet wurde. Er kam in das berühmte Straflager auf den Solowezki-Inseln und wurde am 3. November 1937 in Sandarmoch hingerichtet.

In unserer Kirche befindet sich eine Ikone des seligen Klimentij Scheptizkij, einer bewundernswerten Mönchsgestalt. Er war Abt des ukrainischen griechisch-katholischen Mariä-Entschlafens-Klosters in Uniw und half seinem berühmt gewordenen Bruder Andrej während der deutschen Besatzung, Juden zu verbergen und ihnen die Flucht zu ermöglichen. Klimentij lehnte es ab, seinen Glauben und seine Treue zur katholischen Kirche aufzugeben, und wurde 1947 verhaftet. Schließlich kam er hierher ins Zentralgefängnis von Wladimir, wo er am 1. Mai 1951 starb. Ein Brief aus seiner Gefängniszelle zeigt die Tiefe seines Glaubens. Darin schrieb er: „Ich danke Dir, Herr, dass du mir eine so wunderbare Zelle gegeben hast, in der ich Dir so viel Gebet schenken kann. Denn, als ich Abt war, hatte ich die ganze Zeit organisatorische Angelegenheiten und anderes zu erledigen. Und hier kann ich so viel beten.“ Das ist ergreifend! Im Jahr 2001 wurde er von Johannes Paul II. seliggesprochen. Vielleicht werden wir noch Zeugen seiner Heiligsprechung.

Außerdem hängt in unserer Kirche ein Bild des seligen Erzbischofs Teofilius Matulionis. Er wurde 1929 verhaftet, verbrachte eine Zeit im Straflager auf den Solowezki-Inseln und später auch im Zentralgefängnis von Wladimir, kam aber 1956 frei und starb 1962 an den Folgen der Misshandlungen im litauischen Hausarrest. 2017 wurde er seliggesprochen.

Auch der bekannte Bischof Mečislovas Reinys ist im Zentralgefängnis von Wladimir gestorben, und zwar 1953. Er war von 1925 bis 1926 sogar Außenminister des unabhängigen Litauens und wurde 1926 zum Weihbischof von Vilnius ernannt. 1947 wurde er der antisowjetischen Tätigkeit angeklagt und inhaftiert. Zu acht Jahre war er verurteilt worden, starb jedoch nach sechs Jahren an den Folgen der Folterungen. Auch für diesen Diener Gottes ist ein Seligsprechungsprozess im Gang.

Die Treue zum Evangelium trotz schlimmster Verfolgungen verbindet Orthodoxe und Katholiken. In diesen schweren Zeiten waren sie zusammen. Der heilige Athanasius Sacharow, der orthodoxe Bischof von Kovrov, 85 km östlich von Wladimir, wurde Ende 1925 Bischofsvikar von Wladimir. 1927 wurde er das erste Mal inhaftiert und nach verschiedenen Lageraufenthalten erst 1953 entlassen. In seinen Memoiren erwähnt er auch, dass er zusammen mit dem katholischen Mönch Klimentij Scheptizkij im selben Gefängnis saß. Sie teilten also die Leiden, die sie um Christi willen zu tragen hatten. Diese Beispiele sollten uns bis heute inspirieren. Auch in unserer Zeit stehen wir ernsten Herausforderungen gegenüber und aus der Geschichte können wir Anregungen für unseren Weg als Christen heute finden.

Die Ikone der Gottesmutter von Wladimir

Wenn ich in den Westen komme, kann ich dort eine zunehmende Liebe zu ostkirchlichen Ikonen beobachten. Auf einer Reise nach Frankreich hatte ich die Gelegenheit, an einem Sonntag in einer kleinen Friedhofskapelle die heilige Messe zu feiern. An der Wand hing ein Foto, das bereits von der Sonne verblasst war. Ich entdeckte darauf die uns so vertraute Ikone der Gottesmutter von Wladimir. Ich war überrascht und fragte, was dieses Bild darstelle. „Das ist unsere Lieblings-Ikone“, lautete die Antwort. „Und wie heißt sie“, fragte ich nach. „Ikone von Wladimir“, antworteten die Gläubigen. Da sagte ich: „Und von da komme ich her.“

Diese Ikone hat natürlich auch für uns Katholiken hier in Russland eine besondere Bedeutung. Wir lieben und verehren sie. Auch hier ist es unsere Lieblingsikone. Das wundertätige Original befindet sich heute in Moskau. Unser Erzbischof Paul Pezzi erzählte uns, dass er die Gelegenheit hatte, mit Papst Franziskus in seinen Privaträumen zu sprechen. Im Haus der heiligen Martha durfte er auch den Ort sehen, wo der Papst schläft. Auf seinem Nachttisch stand ein einziges kleines Bild, nämlich eine Ikone der Gottesmutter von Wladimir, die er aus Argentinien mitgebracht hatte.

In diesen einfachen Zeichen verbergen sich die wunderbare Gegenwart Gottes und die Fürsprache der Muttergottes auf der ganzen Welt. Die Ikone stellt ein Bild der Einheit dar, ein Bild der Liebe, ein Bild der Verehrung sowohl im Osten als auch im Westen. Diese Ikone ist wirklich ein großartiges Licht des Ostens für den Westen. Und sie ist eine große Freude aus der Tiefe des Glaubens vom Westen in den Osten.

Fatima und die Bekehrung Russlands

In unserer Kirche steht auch eine wunderbare Statue Unserer Lieben Frau von Fatima. Natürlich sind die Erscheinungen der Gottesmutter in Fatima für die Gläubigen hier in Russland etwas Besonderes. Was sie über das Schicksal unseres Landes und unseres Volkes vorausgesagt hat, hat sich erfüllt. Wir können es hier tatsächlich sehen. Und ich denke, wir dürfen darin die Teilnahme der Liebe Gottes durch die himmlische Mutter an dieser besonderen Mission sehen, die wir nie übersehen dürfen. Wir müssen verstehen, dass im Plan Gottes jedes Volk eine Bedeutung hat. Und es ist umso wichtiger, unseren Sturz, den Fall eines so großen Landes in dieser Sowjetzeit, im Licht der Kreuzwegstation zu betrachten – Jesus fällt und steht wieder auf. Sehr wichtig ist dieses Aufstehen vom Fall. Darin besteht der Sinn der Verwandlung, die mit jedem Menschen geschieht und eben auch mit Russland selbst. Und dies können wir beobachten.

Ich kann sagen, dass ich ein Patriot meines Vaterlandes bin, aber ich sehe, dass es nicht das Land ist, das es zu Sowjetzeiten war. Wenn ich den Westen besuche und mich mit Glaubensgenossen unterhalte, mache ich die Erfahrung, und das ist offensichtlich, dass man uns immer noch mit der Sowjetzeit verbindet. Diese Assoziationen bedauere ich sehr. Wir sind inzwischen ein anderes Land. Auch ich bin schon ein anderer Mensch geworden, obwohl ich noch aus der Zeit der Sowjetunion komme. Durch die Vorsehung Gottes, in der Tiefe des Glaubens und des Vertrauens auf Gott, findet tatsächlich eine schrittweise Verwandlung statt. Ich möchte nicht sagen, dass uns alles gelingt und dass bei uns alles in Ordnung ist. Aber es ist offensichtlich, dass sich bei denjenigen, die Glauben haben, eine grundlegende Verwandlung vollzieht.

Zeugnis für die Weltkirche und Weg zur Einheit

Mit unserem katholischen Pilgerzentrum hier in Wladimir wollen wir so etwas wie ein Außenposten für Christen aus dem Westen sein. Wenn sie Russland besuchen, sollen sie sich bei uns der Kultur nahe fühlen, in der sie aufgewachsen sind. Durch uns sollen sie aber auch mit Vertrauen der orthodoxen Kultur entgegengehen können. Wir möchten als Katholiken hier in Russland eine Brücke sein, welche hilft, mit offenem Herzen die Schönheit und Tiefe der orthodoxen Kultur und natürlich auch der orthodoxen Kirche zu entdecken. Umgekehrt können wir auch den Orthodoxen helfen, die katholische Kirche mit ihrem Verständnis und ihrer Kultur kennenzulernen.

Ich denke, wir dürfen nicht einfach so weitermachen wie bisher. Wir müssen noch viel deutlicher hervorheben, was uns Katholiken und Orthodoxe verbindet. So kann die katholische Kirche für die Christen hier in Russland ein großer Segen werden. Wir müssen den orthodoxen Christen zeigen, dass die katholische Kirche dieselben geistlichen Grundlagen besitzt wie sie, auf dieselbe Einsetzung durch Christus zurückgeht und dieselbe Sendung besitzt wie die orthodoxe Kirche. Immer wieder sage ich unseren Pfarrangehörigen: Wenn wir Katholiken die orthodoxe Kirche nicht lieben, nicht annehmen, dann sind wir schlechte Katholiken. Denn in dieser Hinsicht gibt es nur eine Kirche, die Kirche Christi. Und wir haben nur einen Glauben.

Aus verschiedenen Gründen ist es passiert, dass es Unterschiede im Bekenntnis des christlichen Glaubens gibt. Aber gerade deshalb bin ich überzeugt, dass unser Dienst hier wirklich gebraucht wird. Die Katholiken müssen in der hiesigen orthodoxen Kultur immer wieder in Erinnerung bringen, dass die Kirche viel größer ist, als wir sie sehen und aneinander wahrnehmen können. Sie ist größer, weil Christus zu allen gekommen ist. Pfingsten gilt allen Völkern. Gerade darin besteht das Evangelium.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
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Solschenizyn zur Vergötzung der Freiheit

Appell an das Abendland

Robert Kardinal Sarah ist für die Kirche ein großes Geschenk, eine Lichtgestalt in den Wirren der heutigen Zeit. Er kann verunsicherten Gläubigen und Priestern wirklich Orientierung geben. Was er sagt, ist nicht das Ergebnis intellektueller Gedankenspiele oder kirchenpolitischer Manöver, sondern kraftvoller Ausdruck seiner Gottesbeziehung. Es kommt aus der Tiefe eines gläubigen Herzens, das für Jesus Christus brennt und bereit ist, sich für die Erneuerung der Kirche und die Rettung der Welt in die Waagschale zu werfen. Nun brachte er neues Buch heraus, das wieder im Gespräch mit Nicolas Diat entstanden ist.[1] Zu Beginn schreibt Sarah: „Auf den folgenden Seiten biete ich Euch heute das Herzstück meines Lebens an: den Glauben an Gott.“ Unter dem Titel „Herr, bleibe bei uns! Denn es will Abend werden“ liegt das ursprünglich auf Französisch erschienene Buch jetzt auch auf Deutsch vor. Ein Auszug.

Von Robert Kardinal Sarah

Muss Humanismus areligiös sein?

Alexander Solschenizyn sagte 1978 in seiner berühmten Harvard-Re-de mit einer unverblümten Aufrichtigkeit, die viele Menschen aus dem Westen überraschte, weil sie sich bereits an eine politisch korrekte Sprache gewöhnt hatten: „Wenn mich jemand fragen würde, ob ich den Westen, wie er sich heute darstellt, als Vorbild für mein Land empfehlen könnte, müsste ich frei heraus widersprechen. Nein, ich kann Eure Gesellschaft nicht als Ideal zur Umgestaltung unserer eigenen empfehlen. Aufgrund seines tiefen Leids hat das Volk unseres Landes eine so fruchtbare geistige Reifung erfahren, dass das westliche System in seinem gegenwärtigen geistigen Zerfall alles andere als attraktiv für uns erscheint."[2]

Wenn der Mensch lediglich seiner eigenen Vernunft und den materiellen Gütern Bedeutung beimisst, wenn Gott im großen Getöse der Ideologien untergeht – wen wundert es da noch, dass der Westen eine Krise von nie gekanntem Ausmaß durchmacht? Die Quintessenz der Aufklärung ist die Behauptung, die Vernunft müsse sich – um sie selbst zu sein – vor jedem göttlichen Licht abschirmen. Die Aufklärung wollte Gott so weit wie möglich aus unserer Welt verbannen. Der Kult des „Höchsten Wesens“ während der Französischen Revolution zeigt diese kindische Albernheit mit ihren schweren Folgen hervorragend. Überheblichkeit und Auflehnung des Menschen richten sich schlussendlich immer gegen ihn selbst. Nie zuvor hat sich eine Zivilisation in diesem Ausmaß zu Atheismus und Unglauben bekannt. Nie zuvor hat eine Gesellschaft die Vernunft in diesem Ausmaß als einzigen Weg in eine bessere Zukunft propagiert.

Warum muss Humanismus unbedingt areligiös sein? Der Wille, den Menschen zu schützen, sollte das Abendland vielmehr näher zu Gott führen. Ich bin ganz sicher, dass die Vernunft erst voll erblüht, wenn sie sich dem Licht des Glaubens öffnet.

Rechtsnormen gegen die Moral

Atheistische Gesellschaften verlieren zwangsläufig den Sinn für das Übernatürliche. Alles Transzendente ist ihnen fremd. Der Mensch wähnt sich nun mächtig genug, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Der moderne Mensch ist seines Schöpfers überdrüssig. Also tritt er immer mehr moralische Regeln mit Füßen und ersetzt sie durch sogenannte demokratische Rechtsnormen. Die primitivsten Triebe werden zum Maß aller Dinge. Nach und nach stellt die Mehrheit, die oft durch das Parlament der Staaten repräsentiert wird und von den Medien manipuliert ist, neue moralische Normen auf. Dabei ist die individuelle Ungebundenheit das einzige Kriterium, die persönliche Befriedigung das einzige Ziel. Jeder kann tun, was er will. Das Sittengesetz wird verachtet. Subjektive Regungen werden von den Hohepriestern der Medien beweihräuchert. Will jemand sein Leben beenden, kann er es tun. Will ein Mann eine Frau werden, kann er es tun. Will eine junge Frau sich im Internet prostituieren, kann sie es tun. Will ein Jugendlicher im Internet Pornographie anschauen, kann er es tun. Will eine Frau abtreiben, kann sie es tun. Das ist ihr Recht. Alles ist möglich.

Dieses Bild mag grotesk erscheinen; aber es ist die Realität. Tatsächlich leben wir in einer Gesellschaft, die von einem Chaos der Begierden regiert ist. Und je tiefer wir uns in dieses Chaos hineinbegeben, desto deutlicher drängt sich folgender Schluss auf: Wenn der moderne Mensch der vulgären Lüste überdrüssig ist, möchte er sein Leben lieber beenden. Er zieht das Nichts vor. Außerhalb dieser Welt kennt er keine Hoffnung. Er richtet seinen Blick nicht mehr gen Himmel, sondern müht sich mit seinem Frust ab. Die Menschen im Westen sind die größten Antidepressiva-Abnehmer. Die Sprechzimmer der Psychologen und anderer Ärzte sind überfüllt. Selbstmord unter Jugendlichen ist eine gängige Erscheinung.

In Afrika gibt es quasi keinen Selbstmord. Dort, wo das Leben noch in der Tradition verankert ist, gibt es ihn überhaupt nicht. Jeder Mensch ist voll in seine kleine Gemeinschaft integriert. Er beachtet das Naturrecht und die Bräuche seines Volkes. Gott ist die Grundlage seines Lebens. Nach einem kurzen Aufenthalt auf der Erde werden die Menschen zu Bürgern des Jenseits. Kommt der Tod, nehmen sie ihn als den Weg an, der uns von dieser Welt in die eigentliche Heimat führt, wo unsere Vorfahren bereits auf uns warten.

Auf meinem Kontinent unterstützen sich alle Menschen eines Stammes gegenseitig. Es gibt keine Außenseiter, bei den abendlichen Treffen kommt jeder zu Wort. Geld ist nicht sonderlich wichtig; wichtig sind allein die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Verbindung mit Gott. Die Armen sind glücklich; sie erfahren Glück und freuen sich über ihr Leben.

Im Westen werden die neuen Gesetze durch die Medien und mit finanziellen Mitteln aktiv unterstützt. Die Bevölkerung wird beeinflusst und mit Schuldgefühlen belastet. Man will die Sterbehilfe verbreiten und liefert unentwegt tendenziöse Nachrichten, um die vielbeschworene „öffentliche Meinung“ zu verändern. Haben die Massenmedien ihr Werk vollbracht, erklären die Meinungsforschungsinstitute mit schulmeisterlicher Überheblichkeit, die Ansicht der Mehrheit habe sich gewandelt… Die Zeit sei also reif. Schamlos macht sich eine Welt der Lüge, der Konditionierung und Manipulation – eine Sklavenwelt breit. Die Techniken mentaler Manipulation sind ungeheuer subtil: Wie durch Zauberei wird das Böse unversehens gut.

Wenn die Kirche die Illusionen dieser neuen Gesetzgebung nicht verurteilt, wird sich das Chaos unwiderruflich einnisten. Und es wird die Welt in die Finsternis führen. Mit prophetischem Mut verfasste Paul VI. die Enzyklika Humanae vitae über die Ehe und die Geburtenregelung. Unentwegt sprach Johannes Paul II. von den verheerenden Schäden der Kultur des Todes. Benedikt XVI. rief Europa auf, zu seinen christlichen Wurzeln zurückzufinden. Und heute prangert Franziskus die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen an. Die westlichen Regierungen weigerten sich, dem Appell der letzten Päpste nachzukommen – und das Unheil hat sich verschlimmert. Doch wir dürfen den Mut nicht verlieren.

Diktatur der zügellosen Freiheit

Es gibt tatsächlich eine Diktatur der zügellosen Freiheit. Alexander Solschenizyn hat schon früh erkannt, dass der Westen nichts mehr vom wahren Sinn der Freiheit wusste. In seiner Harvard-Rede sagte er: „Diese Neigung der Freiheit zum Bösen bildete sich erst allmählich aus, doch sie gründet zweifellos in der durchaus wohlwollenden humanistischen Auffassung, nach welcher der Mensch – der Herr der Welt – in sich selbst nichts Böses trägt, sondern alle Mängel des Lebens durch falsche Sozialsysteme verursacht werden, die der Korrektur bedürfen."[3] Solschenizyn leistet eine objektive Kritik an der westlichen Vergötzung der Freiheit. Seine Gedanken über die Freizügigkeit und die Art, wie sie im Westen ausgelebt wird, verdienen unsere Aufmerksamkeit.

Der ehemalige Gefangene des Gulags hatte im Namen der unterdrückten Völker einen sehr scharfen Aufruf an die freien Völker gerichtet. In seinem Buch „L’Erreur de l’Occident“ („Der Fehler des Westens“) zeigte er die Wurzel des Übels auf: „Die westliche Welt steht vor dem Scheideweg. Im Laufe der nächsten Jahre könnte sie die bestehende Zivilisation aufs Spiel setzen, aus der sie hervorgegangen ist. Und ich glaube, dass sie sich dessen nicht bewusst ist. Die Zeit hat Euren Freiheitsbegriff korrumpiert. Ihr habt zwar das Wort behalten, doch es mit einem neuen Inhalt versehen. Das Wesen der Freiheit kennt Ihr nicht mehr. Als Europa ungefähr im 18. Jahrhundert die Freiheit erlangte, war dieses Wort heilig. Freiheit führte zu Heldentum und Tugend. Das habt Ihr vergessen. Für uns ist diese Freiheit immer noch eine Flamme, die unsere Nacht erhellt, doch bei Euch ist sie zu einer verkümmerten, teilweise geradezu ernüchternden Wirklichkeit geworden. Sie ist voller Kitsch und Überfluss, eigentlich eine Leere. Für diesen Schatten der eigentlichen Freiheit könnt Ihr keine Opfer bringen, bestenfalls noch Kompromisse eingehen. […] Ihr meint, die Demokratien seien von Dauer. Aber Ihr habt keine Ahnung. Wichtiger als die Politik ist die innere Einstellung. Wenn die Herrscher des Ostblocks in Euch auch nur den kleinsten Funken, den mindesten schöpferischen Lebensschwung sehen könnten, um die Freiheit in Euch zu behalten und in die Tat umzusetzen; wenn sie erkennen könnten, dass Ihr bereit seid, für sie Euer Leben zu opfern, dann würden sie sofort klein beigeben. Der Krieg spielt sich nicht zwischen Ihnen und Euch ab, sondern zwischen Euch und Euresgleichen. Im Grunde denkt Ihr im Westen, die Freiheit sei ein für alle Mal erreicht, und folglich nehmt Ihr euch heraus, sie zu missachten. Ihr befindet Euch in einer ungeheuerlichen Schlacht, aber Ihr verhaltet Euch wie in einem Tischtennis-Match. Vielleicht haltet ihr noch eine Trumpfkarte in der Hand. Die einzige Bedingung wäre, dass Ihr sie entgegen Eurer Gewohnheit wirklich ausspielen wollt und dass nichts Euch von diesem Entschluss abbringen kann."[4]

Dieser Mann hat jahrelang in den Gulags der Sowjetunion gelitten. Er kennt den Preis der wahren, der gesunden Freiheit. In unserer Zeit des moralischen Zerfalls und des weitreichenden Niedergangs ruft er uns zu geistigem Widerstand auf und dazu, uns den Herausforderungen der Freiheit wirklich zu stellen. Wie können wir uns diesem kraftvollen und klaren Appell angesichts des westlichen Niedergangs verweigern? Das Wort „Freiheit“ ist noch da, doch seinen eigentlichen Sinn hat es verloren. Es ist zu einer leeren Hülle geworden.

Die Menschen verwechseln Freiheit mit Hemmungslosigkeit. Ist Freiheit nicht die Tochter der Wahrheit, die uns antreibt, das Gute zu tun und das Schöne zu suchen? Oder ist sie lediglich Mittel zu einem angenehmen Leben? Der westliche Selbstbestimmungswahn ist nur noch ein Schatten der eigentlichen Freiheit.

Wahre Freiheit bedeutet, Herr über sich selbst zu sein; sie ist ein eiserner Kampf, der Selbstüberwindung, Disziplin und Anstrengung kostet. Als erstes erfordert sie Selbstbeherrschung und die richtige Einschätzung der eigenen Schwächen und Fähigkeiten. Die Freiheit ist eine hell leuchtende Flamme. Sie ist das Gegenteil eines blinden Gefühls, das uns in unsere Leidenschaften und in unsere Abgründe treibt.

Allein jene Menschen, die den Verlust der Freiheit erfahren mussten, kennen ihren wahren Gehalt, ihre tiefe Bedeutung.

Heute ist „Freiheit“ zu einem Werbeslogan geworden. Man kann sie kaufen und verkaufen, je nach Lage der Aktienbörse. Ich habe Angst, dass die parlamentarischen Mehrheiten im Westen nur noch durch Geld, rhetorisches Geschwafel, Medienspektakel, gesicherte Wahlsysteme, taktisches Verändern der Wahlkreise, tausend Erpressungen und verschiedenste Ausflüchte errungen werden. Die abendländische Kultur, welche der Welt die Freiheit bringen sollte, weiß nicht mehr, was es mit der Freiheit auf sich hat.

Die Kirche muss von Christus sprechen, der uns befreit. Er zerbricht die Ketten des Bösen und der Sünde. Gott schenkt die Freiheit. Wenn die Kirche nicht mehr die von Gott gewollte Freiheit lehrt, verpasst sie dramatisch ihre Sendung. Der Mensch ist nicht von Natur aus gut. Es gibt die Erbsünde. Durch die Loslösung von ihr kann Freiheit entstehen. Allein Gott kann uns helfen. Unentwegt muss die Kirche diese Wahrheit wiederholen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Robert Kardinal Sarah / Nicolas Diat: Herr bleibe bei uns! Denn es will Abend werden, 440 S., Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-86357-242-6, Euro 19,80 – Bestell-Tel.: 07563-608998-0, Fax: 07563-608998-9, Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de
[2] Rede von Alexander Solschenizyn in Harvard, englische Quelle: www.orthodoxytoday.org/articles/SolzhenitsynHarvard.php
[3] Ebd.
[4] Alexander Solschenizyn: L’Erreur de l’Occident, Paris, Grasset, 1980.

Etwas wird nicht jemand!

Mit einem neuen Rekord von 8000 Teilnehmern fand am Samstag, 21. September 2019, in Berlin der „Marsch für das Leben“ statt. Besonders ermutigend war die Anwesenheit der fünf Bischöfe Ipolt (Görlitz), Voderholzer (Regensburg), Oster (Passau), Wörner (Augsburg) und Heinrich (Berlin). Aus dem Redebeitrag von Bischof Oster auf der Kundgebung:

Von Bischof Stefan Oster SDB

Stellen Sie sich vor, Sie selbst sehen eine Ultraschallaufnahme vom Innenleben Ihrer eigenen Mutter – zu der Zeit, als sie mit Ihnen schwanger war. Sie sehen also auf dem Bild sich selbst als Embryo. Und stellen Sie sich vor, Sie zeigen die Aufnahme einem anderen Menschen. Ist es dann nicht völlig selbstverständlich, dass Sie auf den Embryo zeigen und zu Ihrem Gesprächspartner sagen: „Das bin ich“? Und zwar genauso wie Sie auf ein Kinder- oder Jugendfoto von sich zeigen und ebenso sagen würden: „Das bin ich“? Das heißt auch: Im Normalfall würde doch kaum jemand von uns mit Blick auf den Embryo sagen: „Das ist ein menschliches Gewebe oder so etwas, aus dem dann später einmal Ich geworden bin.“

Das heißt, die allermeisten von uns haben ein natürliches Empfinden dafür, dass es für unser eigenes Leben immer schon eine menschliche Identität gibt, von Anfang an. Wir waren nicht irgendwann einmal „etwas“ und werden dann „jemand“, sondern wir sind von Anfang an „jemand“. Wir gehören von Anfang an zur Gattung Menschenwesen und sind damit Personen. Die Embryonenforschung sagt uns tatsächlich auch, dass das Wachstum des Embryos ein kontinuierliches Wachstum ist, ein bruchloses Wachstum ist – weil die befruchtete Eizelle von Anfang an ein ganz selbstständiger Organismus ist, ein sich innerhalb des Organismus der Mutter entwickelnder eigener, neuer Organismus ist. Und nirgendwo ließe sich biologisch festmachen, wann der Übergang erfolgt von etwas zu jemand. Aus meiner Sicht bedeutet das: Als Angehörige des Menschengeschlechts sind wir immer schon jemand, sind wir Personen von Anfang an, unabhängig von unseren Eigenschaften und Zuständen. Jedes Wesen der Gattung Mensch ist Person – und hat damit Anspruch auf die Anerkennung seiner Personwürde – und ist unbedingt schützenswert. Auch jedes ungeborene Kind.

Und wir bleiben auch Personen, bis wir den letzten Atemzug machen – auch als Menschen im Koma und auch als Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Und wir sind vor allem auch dann Personen, wenn wir nicht gesellschaftlichen Normen entsprechen. Menschen mit Behinderung, Menschen mit nicht eindeutiger Geschlechtszugehörigkeit, Menschen aller Ethnien, aller Religionen, aller geschlechtlichen Orientierungen und andere mehr: Alle sind Personen – und alle haben ein Recht auf Anerkennung ihrer Würde, auf Schutz, auf Begleitung, auf Integration.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
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Radio Horeb sendet im Geiste Johannes Pauls II.

Das Licht weitergeben

Das Pontifikat Johannes Pauls II. war das zweitlängste in der Geschichte der Kirche. Es hatte zu tiefgreifenden Veränderungen in Kirche und Welt geführt. Die Historiker bestätigen, dass der Papst aus Polen maßgeblich am Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Osteuropa beteiligt war. Er hatte eine glaubensstarke Vision der Hoffnung, die ihn dynamisch in die Zukunft gehen ließ. Gleich in seiner ersten Predigt am 22. Oktober 1978 rief er der Welt zu: „Fürchtet euch nicht! Öffnet die Tore für Christus!“ An diesem heiligen Papst orientiert sich Radio Horeb in seinem Dienst an der Verkündigung des christlichen Glaubens.

Von Richard Kocher

40 Jahre sind es in diesem Sommer gewesen, dass Papst Johannes Paul II. erstmals nach Polen reiste und – im Rückblick betrachtet – den kommunistischen Staat aus den Angeln hob. In Warschau nahmen vier Millionen Menschen am Gottesdienst teil. So sehr die Kameraführung des Staatsfernsehens auch versuchte, die Menschenmassen auszublenden – es war einfach nicht möglich. Während seines Besuches, der auch von neutralen Beobachtern als „Triumphzug“ bezeichnet wurde, hörte der kommunistische Staat de facto auf zu existieren. Sätze aus der Liturgie der Kirche wie die Bitte an den Heiligen Geist, „das Angesicht des Landes zu erneuern“, erhielten ungeahnte Aktualität und wurden mit lang anhaltendem Beifall bedacht. Was danach folgte, ist bekannt: Erstmals entstand im kommunistischen Machtbereich eine freie Gewerkschaft, die mit ihren Streiks ganz Polen lahm legte. Die Ausrufung des Kriegsrechts konnte letztlich den Widerstand nicht mehr brechen. Interessant und hilfreich für unsere Zeit ist es, zu bedenken, wie Papst Johannes Paul II. hierbei vorging. Obwohl er die Werke von Karl Marx und anderen Kommunisten sehr gut kannte, hat er sie weder bei seinem Besuch in Polen noch in seinen sonstigen zahlreichen Veröffentlichungen erwähnt. Seine „Taktik“ war eine andere. Er verkündete genau das Gegenteil der kommunistischen Doktrin, indem er sich an den Prinzipien der katholischen Soziallehre orientierte: Statt auf den Kollektivismus, bei dem der Einzelne nichts zählt und dementsprechend behandelt wird, setzte er auf die unveräußerliche Würde des Menschen und seine Personalität, statt des Klassenkampfes und des Gegeneinanders der sozialen Schichten propagierte er das versöhnliche Miteinander im Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität und statt einer dirigistischen Zentralwirtschaft mit ihren von oben verordneten Fünfjahresplänen predigte er Subsidiarität, das heißt Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Entfaltung der Fähigkeiten des Individuums im Dienst am Gemeinwohl.

Als ich vor 24 Jahren bei Radio Horeb begann, sagten mir die Initiatoren, dass sie es als ihre Aufgabe ansähen, das „Licht weiterzugeben“ und sich nicht in Rückzugsgefechten und Rechtfertigungen zu verlieren. Wer ständig in die Finsternis blickt, wird davon beeinflusst. Diesem Prinzip, das der heilige Johannes Paul II. so meisterhaft vorgelebt hat, fühle ich mich zuinnerst verpflichtet und habe es auch bei der Programmgestaltung konsequent umgesetzt. Dies hatte auch zur Folge, dass wir uns von bestimmten Referenten, die sich nicht daran halten wollten, verabschiedet haben. Polemik und unterschwellige Aggressionen helfen nicht weiter, sondern sind destruktiv. Die Kirche ist kein Panzerkreuzer, der auf alles zu schießen hat, was ihm vor die Kanonenrohre kommt. Von Abgrenzungen allein kann man letztlich nicht leben, so notwendig sie im Hinblick auf bestimmte Erscheinungen des Zeitgeistes auch sind. Matthias Matussek schrieb dazu treffend 2005 im Spiegel: „In diesem stetig verblödenden Zirkus der ständigen Quoten und politischen Beliebtheitsumfragen und hedonistischen Anpassungen“ sei es der Verdienst von Johannes Paul II. gewesen, „immer öfter ‚Nein‘ gesagt zu haben.“ Diese Programmlinie hat uns den Respekt und die Anerkennung unserer Kirche und der Gläubigen eingetragen; dies zeigt sich auch darin, dass im ersten Halbjahr 2020 etwa 50 deutschsprachige Bischöfe den Angelus in der Mittagszeit vorbeten, einen geistlichen Impuls geben und den Segen spenden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
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Seit 15 Jahren berichtet „Kirche in Not“ Deutschland in Radio und Fernsehen über Notlagen der Weltkirche

„Wir wollen Stimme der Stimmlosen sein“

Der deutsche Zweig des weltweiten katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ feiert ein kleines Jubiläum: Vor 15 Jahren starteten die TV-Reihen „Spirit“ und „Weitblick“ auf den christlichen Fernsehsendern Bibel TV, EWTN und K-TV. In im TV-Studio in München-Harlaching produzierten Talk-Formaten informiert das Hilfswerk über die Weltkirche und gibt Impulse für ein christliches Leben.

Von Volker Niggewöhner

In der Reihe „Weltblick“ wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Erörterung der geistigen Hintergründe gelegt, die für die weltweit zu beobachtende Christenverfolgung verantwortlich sind. „Das Besondere an dieser Sendung ist, dass wir nicht nur über ein Land sprechen, sondern die Betroffenen für sich selbst sprechen lassen“, so Florian Ripka, Geschäftsführer von „Kirche in Not“ Deutschland. Dies mache die Informationen authentisch und lebendig. „Wir wollen Stimme der Stimmlosen sein. Das Zeugnis der verfolgten Christen kann uns hierzulande stärken“, so Ripka.

Weltkirche und christliche Spiritualität stehen im Mittelpunkt

Das Gesprächsformat „Spirit“ möchte Impulse geben für einen christlichen Lebensstil und zur Neuevangelisierung Europas beitragen. Hier geben Menschen, die jahrelang auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens waren und teils auf verschlungenen Wegen zu Christus fanden, ihr Lebenszeugnis ab. Ebenso berichten Priester, Ordensleute und Missionare über ihre Berufungsgeschichte. Außerdem stehen spirituelle Themen im Mittelpunkt.

Zu den Höhepunkten der vergangenen Jahre zählt Produzent Ripka zwei Bekehrungserlebnisse. „Der ehemalige deutsche Top-Manager Thomas Middelhoff war bei uns zu Gast und berichtete in unserer Sendung, wie er im Gefängnis zu Christus zurückfand.“ Ebenfalls im Gefängnis bekehrt hat sich Torsten Hartung. Der ehemalige Chef einer der größten europäischen Autoschieber-Banden wurde wegen Mordes zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. In den Jahren seiner Einzelhaft begegnete ihm Gott und verwandelte ihn. Heute leitet Hartung ein „Haus der Barmherzigkeit“ für ehemalige jugendliche Strafgefangene. „Kirche in Not“ unterstützt diese Einrichtung. „Solche starken Zeugnisse sind sehr wertvoll für unsere Zuschauer“, sagt Florian Ripka. „Sie geben ihnen Kraft, im eigenen Alltag immer wieder neu im Glauben anzufangen und christlich zu leben.“

Im Laufe der Jahre hat „Kirche in Not“ seine Medienpräsenz konsequent vergrößert. Seit 2014 laufen nach der Fertigstellung eines TV-Studios der mit dem Hilfswerk verbundenen Pater-Werenfried-van-Straaten-Stiftung in München insgesamt fünf weitere Sendungen auf den christlichen Fernsehsendern. Hinzu kommen weitere Formate, die speziell für die sozialen Medien konzipiert wurden.

Ebenfalls vor 15 Jahren startete „Kirche in Not“ seine Radioreihe „Weltkirche aktuell“, die auf dem katholischen Sender Radio Horeb und den deutschsprachigen Sendern der Radio-Maria-Familie zu hören ist und Einblicke in die Weltkirche verschafft.

Der Gründer war ein Pionier der katholischen Medienarbeit

Die internationale Medienarbeit von „Kirche in Not“ gehört zum Grundcharisma des Hilfswerks. Schon der Gründer von „Kirche in Not“, der niederländische Prämonstratenser Werenfried van Straaten (1913-2003), verstand es als begeisternder Prediger auch die modernen Medien wirkungsvoll zu nutzen und war ein gern gesehener und gefragter Gesprächsgast.

Der „Speckpater“ erkannte die Zeichen der Zeit und begann die katholische Medienarbeit weltweit zu unterstützen. Der Aufbau von Radio- und Fernsehsendern in Afrika, Asien und Lateinamerika entsprang dabei oft einer seelsorglichen Notwendigkeit. In weit entlegenen Regionen der Welt, wo die Gläubigen selten einen Priester zu Gesicht bekommen, sind Radio und Fernsehen wichtige Instrumente der Verkündigung und Seelsorge.

Seinen untrüglichen Instinkt bewies Pater Werenfried auch bei der Gründung des „Catholic Radio and Television Network“ (CRTN), das 1987 damit begann, katholische und orthodoxe Radioprogramme für Russland zu produzieren. 1989 startete CRTN den russischsprachigen Radiosender „Radio Blagovest“, der noch vor der politischen Wende in Europa von Monte Carlo aus religiöse Programme in die Sowjetunion ausstrahlte. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung konnten viele Russen so erstmals wieder etwas über Gottes Liebe und das Evangelium hören. In den Jahren des politischen Umbruchs sollte der christliche Radiosender sogar Weltgeschichte schreiben: Als im August 1991 kommunistische Putschisten versuchten, Präsident Boris Jelzin zu stürzen, konnte dank der mittlerweile in Russland eingelagerten Sendetechnik von „Radio Blagovest“ Jelzin zum Volk sprechen und so eine Eskalation verhindern. Der Putschversuch war gescheitert.

Als Dank für die friedliche Revolution und den Fall des Kommunismus initiierte „Kirche in Not“ zusammen mit katholischen wie orthodoxen Kirchenvertretern und mehr als 150 russischen Fernseh- und Radiosendern am 13. Oktober 1991 eine Liveübertragung der Wallfahrtsfeierlichkeiten aus Fatima. 40 Millionen Menschen in Russland konnten die Übertragung mitverfolgen. Ein Meilenstein in der Geschichte der Medienarbeit von „Kirche in Not“.

Ein weltweites katholisches Netzwerk

Auch CRTN hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt. Bis heute wurden über 250 Dokumentarfilme über die Arbeit der katholischen Kirche in verschiedenen Ländern produziert. Auf der Internetplattform des Netzwerks werden nicht nur die unter eigener Regie produzierten Filme angeboten, sondern auch Produkte anderer Organisationen. Dadurch wird die Medienarbeit von Christen in Entwicklungsländern unterstützt. Mancherorts verfügt die Kirche zwar über Sendezeiten in Medien, aber die Finanzmittel für eigene Programme sind knapp. CRTN liefert hier geeignetes Material.

Was die Zukunft anbelangt, sieht Florian Ripka die Entwicklung der Medienwelt zwiespältig. „Das Aufkommen der sozialen Medien hat das ganze Medienverhalten der Menschen geändert, leider nicht immer zum Vorteil“, so Ripka. Andererseits seien Facebook & Co. eine Riesenchance für die Verkündigung. „Erstmals in der Menschheitsgeschichte ist es möglich, das Wort Gottes zu fast allen Menschen zu bringen.“ Gerade heute, wo überall auf der Welt die menschlichen Wertvorstellungen zunehmend von Medien geprägt seien, müsse die Kirche diese Möglichkeit dankbar annehmen und mutig nutzen. Das bedeutet auch ein Angebot auf der Höhe der Zeit: Vor kurzem ist die neue und vollkommen überarbeitete Homepage von „Kirche in Not“ Deutschland online gegangenen. Eine überarbeitete und moderne Mediathek wird demnächst folgen.

Auch in Zukunft wird „Kirche in Not“ durch seine Medienarbeit die Frohe Botschaft verkünden und sieht sich dabei in der Tradition des Gründers Werenfried van Straaten, erklärt Florian Ripka. „Pater Werenfried verstand unser Medienapostolat als seelsorglichen Dienst und als unerlässliche Bedingung für den Fortbestand unseres Werkes. Die Unterstützung der katholischen Medienarbeit weltweit und der eigene Medieneinsatz zur Evangelisierung wird darum weiterhin zu unseren Tätigkeitsfeldern gehören.“

Information zur Medienarbeit von „Kirche in Not“

Homepage: www.kirche-in-not.de

Facebook: www.facebook. com/KircheInNot.de

TV-Kanal: www.katholisch.tv

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
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„Der Islam ist ein bedeutender Faktor im aktuellen Weltgeschehen“

Herausforderung für uns Christen

Pater James Vincent Schall SJ (geb. 1928) ist am 17. April 2019 gestorben. Sein Buch „Der Islam – Friedensreligion oder Gefahr für die Welt?"[1] ist ein wertvolles Vermächtnis. Als renommierter politischer Philosoph analysierte er den fortdauernden Konflikt zwischen dem Islamismus und dem Westen. Seine ehrliche Auseinandersetzung mit diesem religiös-politischen Phänomen führte nicht zu unchristlichen Reaktionen. Er wollte weder Panik schüren, noch „islamfeindliche“ Gefühle wecken. Doch war er alles andere als blauäugig, was den Terror und die Massenmorde im Namen des Islam betrifft. Er arbeitete zwei Linien heraus: Innerhalb der islamischen Welt gelten Frieden und gegenseitige Unterstützung. Zugleich sollen alle Andersgläubigen bekämpft werden, bis die ganze Welt Allah unterworfen ist. Wie gehen wir mit dieser politischen und kulturellen Tatsache um? Pater Schall versucht eine Antwort zu geben. Im Folgenden die Einleitung und das erste Kapitel seines Buches.

Von James V. Schall SJ

Während des Philosophiestudiums hatte ich mich flüchtig mit den muslimischen Philosophen beschäftigt. Die Namen al-Fārābī, Averroës und Avicenna kamen in den Schriften des Aquinaten häufig vor. Genau genommen setzt sich die ganze Summa contra Gentiles mit der muslimischen Sicht auf Aristoteles, Plato, die Bibel und andere grundlegende Schriften auseinander. In gewisser Hinsicht wirkt es wie eine Ironie der Geschichte, dass der Voluntarismus, der für das muslimische Denken so maßgeblich werden sollte, beinahe identisch ist mit der Willensphilosophie, die dem öffentlichen Leben der westlichen Welt in großen Teilen zugrunde liegt. Der Voluntarismus vertritt die philosophisch-theologische Auffassung, dass es in den Dingen oder in der menschlichen Natur keine rationale Ordnung gibt. Hinter der gesamten Wirklichkeit steht ein Wille, der immer auch anders sein könnte. Er ist an keinerlei Wahrheit gebunden. Von jeder Position kann mit demselben Recht immer auch das Gegenteil gelten. Wenn alles, was existiert, nicht auf der Vernunft, sondern auf einem göttlichen oder menschlichen Willen basiert, dann kann das Böse gut und das Gute böse sein. Benedikt XVI. hat am 12. September 2006 in seiner Regensburger Vorlesung auf den Voluntarismus sowohl im Islam als auch im Säkularismus Bezug genommen.

Doch dass man sich in Europa ernsthaft mit der militärischen Kampfkraft der Muslime befasst hätte, schien mir Jahrzehnte zurückzuliegen. Christopher Dawson, Bernard Lewis und Arnold Toynbee allerdings – um nur einige zu nennen – waren sich über die Tragweite dieser Frage im Klaren.

Allem Anschein nach hatten sich die Wissenschaft, Philosophie, Theologie, Ökonomie und Literatur der neueren Zeit vor allem mit Fragen beschäftigt, die innerhalb der westlichen Zivilisation selbst aufkamen. Europa hatte in die übrige Welt einschließlich Chinas, Indiens, Afrikas sowie Nord- und Südamerikas expandiert. Die Schiffe der europäischen Mächte waren um das südliche Afrika herumgesegelt, das heißt, sie hatten die muslimische Welt, die die Landrouten in den Osten beherrschte, ganz einfach umgangen. Rund 200 Jahre lang waren die islamischen Gebiete von den Briten, Franzosen, Niederländern, Italienern, Portugiesen oder Russen kontrolliert gewesen. Die Deutschen hatten Interesse am Nahen Osten und an Teilen Afrikas bekundet und dort ihren Einfluss ausgeübt. Die Muslime galten größtenteils als rückständig, fanatisch und einer umfassenden Reform und Erziehung im westlichen oder gar christlichen Sinne bedürftig. Der intellektuelle Diskurs war weitgehend von den Fragestellungen der deutschen, englischen und französischen Philosophie beherrscht. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war überwiegend von Marx geprägt.

Vor diesem Hintergrund geht meine Aufmerksamkeit für den Islam als Weltmacht, mit der man rechnen muss, auf meine erste Lektüre von Hilaire Bellocs 1937 erschienenem Buch The Crusades zurück. Das Ende habe ich nie vergessen. Dort hieß es, dass der Islam, sollte er jemals wieder so mächtig werden wie einst, auch dasselbe tun würde wie damals: im Namen Allahs expandieren.

In den ersten zwei Jahrhunderten nach Mohammed eroberten muslimische Armeen Nordafrika, Spanien, den Nahen Osten und Teile Südeuropas und gelangten ostwärts bis nach Indien. Was mich – für manche vielleicht unverständlich – an Bellocs Ausführungen am meisten beeindruckte, war seine Erkenntnis, dass eine tot geglaubte Idee oder religiöse Bewegung jahrhundertelang schlafen und dann zurückkehren kann, um ihre ursprüngliche Mission zu erfüllen. In den Jahrzehnten zwischen Bellocs Buch und den Ereignissen im Vorfeld der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon (2001) war die Welt mit Kräften wie dem Nationalismus, dem Marxismus, der Demokratie und dem Sozialismus beschäftigt, die auch in den islamischen Gebieten nicht ohne Wirkung blieben.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nahmen mehrere Kommentatoren Bezug auf das, was Belloc in seinem Buch Great Heresies geschrieben hatte: dass die christliche Zivilisation weniger als 100 Jahre vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg um ein Haar von einer muslimischen Armee überrannt und vernichtet worden wäre. „Wien […] wurde beinahe erobert und nur von der christlichen Armee unter dem Befehl des Königs von Polen gerettet – an einem Datum, das eigentlich zu den berühmtesten in der Geschichte zählen sollte: dem 11. September 1683."[2]typo3/#_ftn2 Und – für diejenigen, die solche Geschichten mögen – noch einmal gut 100 Jahre früher konnte die Insel Malta einen massiven türkischen Flottenangriff unter dem Kommando von Sultan Süleyman des Prächtigen abwehren. Die berühmten Malteserritter unter Jean Parisot de La Valette hielten stand, töteten den algerischen Admiral Dragut und sahen zu, wie die geschlagene Flotte davonsegelte. Das war am 11. September 1565.

Die Anschläge vom 11. September 2001 auf amerikanischem Boden waren schockierend, doch was mich persönlich auf die Vorgänge in der islamischen Welt aufmerksam werden ließ, war etwas, das sich einige Jahre zuvor in einem entlegenen, von französischen Trappistenmönchen bewohnten Bergkloster in Algerien zugetragen hatte. Später ist daraus ein ergreifender französischer Film entstanden (Von Menschen und Göttern, 2010). Auf die schiere Brutalität, mit der diese Männer ermordet worden waren, war ich nicht vorbereitet gewesen. Mittlerweile haben wir uns durch die öffentlichen Enthauptungen von Christen in muslimisch kontrollierten Ländern beinahe daran gewöhnt. Dass sich jeder beliebige Mensch all diese Geschehnisse in ihrer ganzen Grausamkeit bewusst machen kann, wenn er einfach nur hinsieht, ist einer der Gründe, die mich bewogen haben, im Folgenden diese Chronik meiner eigenen Reaktionen und Analysen zu einer Reihe von Ereignissen vorzulegen, die sich zwischen 2002 und 2018 zugetragen haben. Eine Kollegin, mit der ich vor mehreren Jahren in Georgetown zusammengearbeitet habe, war mit dem polnisch-französischen Schriftsteller Laurent Murawiec verheiratet, der die blutige Geschichte des Islams sehr genau verfolgt hat. Ich bin keineswegs der Ansicht, dass die Geschichte des Islams ausschließlich blutig ist. Es ist nur so, dass das Blutvergießen ein Teil seiner Geschichte ist – ein Teil, der gerade jetzt, in unserer Zeit, weitergeschrieben wird und an Bedeutung gewinnt.[3]typo3/#_ftn3

Ich beende diese Einleitung mit einem Artikel, den ich verfasst habe, nachdem ich zum ersten Mal von der Ermordung der guten und unschuldigen Mönche gehört hatte. Die Erinnerung daran soll in die nachfolgende Chronik zu verschiedenen Ereignissen und Fragen einführen, die mit dem erwachenden Selbstbewusstsein des Islams und seiner Erschließung neuer spiritueller und dschihadistischer Energiequellen nach und nach überall auf der Welt akut geworden sind. Das vorliegende Buch ist eine Art Ideengeschichte, die zeigt, wie ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass der Islam ein bedeutender Faktor im aktuellen Weltgeschehen ist. Es ist kein „islamfeindliches Buch“. Ehrlich gesagt muss man den Islam als politischer Beobachter geradezu dafür bewundern, wie es ihm gelungen ist, seine expansive Dynamik in unsere Zeit hinüberzuretten. Und man beginnt zu begreifen, weshalb die westliche Welt die volle Bedeutung dieser Dynamik nicht ermisst.

Im Grunde denke ich, dass der Islam genau das ist, was er zu sein behauptet: eine Religion, die nach wie vor die Mission hat, alle Menschen der Herrschaft Allahs zu unterwerfen. Mein eigentliches Problem mit dieser Mission – die im Koran selbst ihre Wurzeln hat – betrifft nicht den bemerkenswerten Erfolg und die Ausbreitung des Islams. Mein Problem betrifft seine Wahrhaftigkeit. Der praktisch einzige Ort, an dem man heutzutage über solche Dinge sprechen kann, ist ein Buch. Eine öffentliche Diskussion findet nur selten statt, und mit den akademischen Diskussionen sieht es kaum besser aus. Ich behaupte nicht, ein beschlagener Islamwissenschaftler zu sein. Aber ich glaube, dass wir das, was ein Einzelner oder eine Gruppe im Laufe der Zeit tut, mit gesundem Menschenverstand betrachten und beurteilen können. Am Ende bilden wir uns eine Meinung, die am ehesten geeignet ist, das, was wir beinahe täglich sehen und beobachten, zu erklären.

Aus einer Reihe von Gründen – angefangen beim Niedergang des Christentums in der westlichen Welt, der sich in Europa und Amerika insbesondere in den rückläufigen Geburtenzahlen äußert, bis hin zum Erfolg der Muslime, die überall in Europa und Amerika Enklaven errichten, die von ihnen kontrolliert werden, – sieht der Islam einer glänzenden Zukunft entgegen. Wenn die islamische Expansion ins Stocken gerät oder sich verlangsamt, dann nur vorübergehend. Die Stadt Tours im 8. und Wien im 16. Jahrhundert konnten der muslimischen Invasion in Europa Einhalt gebieten, aber nur zeitweise. New York und Paris sind heute ebenfalls Schauplätze dieser Schlacht, doch auch sie sind nicht die letzten Orte, an denen wir solche Dinge erleben werden.

Sprechen wir also – in einem ersten Versuch, die aktuelle Lage zu verstehen, – über dieses Blutbad in Algerien. Damals hat es mich wachgerüttelt und mir ist klargeworden, womit die Welt es zu tun hat. 1996 schien das, was den französischen Mönchen in ihrem Kloster in den Atlasbergen widerfahren war, noch ein isoliertes Geschehen zu sein. Heute ist es in ganz unterschiedlichen Gegenden der Welt alltäglich geworden.

Wenn ich mir diesen „Zwischenfall“ – falls ein so neutrales Wort hier überhaupt angebracht ist – ins Gedächtnis rufe, dann kommt mir in den Sinn, was Robert Royal in seinem Buch The Catholic Martyrs of the Twentieth Century [4] geschrieben hat. Viele dieser Menschen, so Royal, werden im Verborgenen getötet. Niemand nimmt es zur Kenntnis. Sie sind gestorben und haben mit ihrem Tod Zeugnis abgelegt. Ich denke an das 15. Kapitel bei Johannes, wo es heißt: „Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Aber weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt. […] Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.“ Dieses Gehasstwerden für das, was man ist, scheint mir genau auf uns zuzutreffen, und zwar nicht nur gegenüber der muslimischen, sondern auch gegenüber unserer eigenen Welt mit ihrer inzwischen weitgehend „verhassten“ christlichen Vergangenheit. Das vorliegende Buch ist also eine Chronik, eine Bilanz der Ereignisse und meiner Bemühungen, sie im Licht der Philosophie, im Licht des Islams selbst und im Licht der – christlichen wie muslimischen – Offenbarung zu verstehen.

Die sieben Trappistenmönche: Die Welt ohne Reue[5]

Eines Abends – ich verbrachte gerade einige Einkehrtage in einem alten Jesuitennoviziat – las ich in der englischen Ausgabe der Zeitung L’Osservatore Romano vom 12. Juni 1996 einen unvergesslichen Brief. Darin schrieb Dom Bernardo Olivera, der Generalabt der Zisterzienser der strengen Observanz, auch Trappisten genannt, über die brutale und völlig willkürliche Ermordung von sieben Trappistenmönchen im algerischen Atlasgebirge durch die muslimische Gruppierung Groupe Islamique Ar-mé (GIA).

Dom Bernardo erinnerte daran, dass sich die Gründung von Cîteaux 1998 zum 100. Mal jährte. Er erwähnte die vielen Mönche seines Ordens, die in diesem Jahrhundert getötet worden waren: die sieben in Algerien ermordeten Mönche und die anderen katholischen Brüder und Ordensschwestern, die man dort und an anderen Orten aus demselben Grund massakriert hatte. Er erwähnte, was Johannes Paul II. in Tertio millennio adveniente über das Zeugnis des Martyriums in der Kirche schrieb. „Dieses Zeugnis darf nicht in Vergessenheit geraten“, betonte Dom Bernardo.

Der Artikel erzählt die unmittelbare Vorgeschichte dieser sieben Mönche, die ohne Zweifel sehr gute und demütige Menschen waren. Sie wussten, dass sie in einer gefährlichen Region lebten. Der apostolische Delegat, der Erzbischof und ein Beamter der muslimischen Behörden vor Ort hatten ihnen für den Fall, dass sie in eine sicherere Unterkunft umziehen würden, ihren Schutz angeboten.

Doch bei den Trappisten gibt es das Gelübde der Ortsgebundenheit. Mehrere Jahre lang hatten sie alle Optionen in Erwägung gezogen, sich aber jedes Mal zum Bleiben entschieden.

Am 29. Dezember 1993 schrieb einer der Trappisten, Pater Christophe, einen Brief an den Anführer des GIA-Kaders, der dem Kloster an Heiligabend einen bedrohlichen Besuch abgestattet hatte:

„Bruder, erlaube mir, dich so anzusprechen, von Mensch zu Mensch, von einem Glaubenden zum anderen. […] Im gegenwärtigen Konflikt […] scheint es uns unmöglich, Partei zu ergreifen. Die Tatsache, dass wir Ausländer sind, verbietet uns dies. Unser Stand als Mönche bindet uns an die Wahl, die Gott für uns getroffen hat und die in einem einfachen Leben, körperlicher Arbeit, Gastfreundschaft und darin besteht, mit allen, insbesondere den Armen, zu teilen. […] Diese Gründe für unsere Lebensweise sind für jeden von uns eine freie Entscheidung. Sie binden uns bis zum Tod. Ich glaube nicht, dass es Gottes Wille ist, dass dieser Tod durch euch über uns kommt.“

Im Frühjahr dieses Jahres, im März 1996, nahm der GIA, der inzwischen einen neuen Anführer hatte, die Mönche gefangen. Die Anklage: Evangelisierung. Dagegen gab es keine Berufung. Der Emir erklärte: „Mönche, die bei der Arbeiterklasse leben, dürfen von Rechts wegen getötet werden.“ Mit ihrer Gefangennahme änderte sich die rechtliche Situation der sieben Mönche: Es war nun legitim, sie wie nicht muslimische Kriegsgefangene zu behandeln, das heißt, sie zu ermorden, sie zu versklaven oder sie gegen muslimische Gefangene auszutauschen.

Die Franzosen hatten einen Gefangenen, den der Emir gegen die Mönche austauschen wollte. Er schickte Warnungen an das französische Auswärtige Amt, dass die Mönche hingerichtet werden würden, wenn der Austausch nicht zustande käme. Der Emir brachte die Angelegenheit auf eine einfache Formel: „Es ist Ihre Entscheidung. Wenn Sie ihn freilassen, werden wir sie auch freilassen; wenn Sie sich weigern, werden wir ihnen die Kehlen durchschneiden. Gepriesen sei Gott.“

Am Ende entschied der französische Präsident, dass man sich mit solchen Terroristen nicht auf einen Handel einlassen könne. Mit dem Ergebnis, dass die Mönche um den 21. Mai 1996 herum auf die erwähnte, grausame Weise umgebracht wurden.

Dom Bernardos Brief, dem ich diese Darstellung der Ereignisse entnommen habe, überlässt kaum etwas der Fantasie und doch schwingt beinahe etwas Mystisches darin mit. Unwillkürlich kommt uns der unerwartete Abschnitt über das Martyrium in der Enzyklika Veritatis splendor von Johannes Paul II. in den Sinn. Gläubige, friedfertige Menschen werden um einer juristischen Spitzfindigkeit willen und zur „Ehre Gottes“, wie die Mörder behaupteten, getötet.

Die Geschichte liest sich wie eine klassische Tragödie oder eher noch wie der Tod des heiligen Thomas Morus, der, glaube ich, gemeinsam mit ein paar Mönchen und einem Bischof ermordet wurde.

Der älteste der ermordeten Mönche war Bruder Luc, der während der Einkehrtage des Ordens im Januar 1994 achtzig Jahre alt geworden war. Dom Bernardo erinnerte sich in seinem Brief an eine Nonne in Angola, die als Lesung für die Messe anlässlich ihrer ersten Profess die Stelle über die Feindesliebe ausgesucht hatte. Dieses Empfangen und Vergeben schien ihm der Schlüssel zum Leben dieser Männer zu sein.

Beim Abendessen zum Abschluss der Einkehrtage hatte Bruder Luc eine Kassette abgespielt, die er für seine Beerdigung aufbewahrte. Es ist kaum zu glauben, aber das Lied, das er abspielte, war Edith Piafs Je ne regrette rien.

Für mich ist die Vorstellung, dass ein alter Trappistenmönch von einem Mitglied des GIA ermordet wird, mehr als erschütternd. Der herzlose Gläubige gehorcht seinem Gesetz und schneidet einem freundlichen alten Mann die Kehle durch, der an seinem achtzigsten Geburtstag im Refektorium das Lied von Edith Piaf hatte singen hören, das auf seiner Beerdigung gespielt werden sollte.

Ich habe diese CD mit Edith Piafs Je ne regrette rien. Immer wenn ich sie höre, bete ich für die sieben Trappistenmönche – und für die Muslime, die sie getötet haben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] James V. Schall SJ: Der Islam – Friedensreligion oder Gefahr für die Welt?, Broschur, 272 S., 19,95 Euro (D), 20,50 Euro (A), ISBN: 978-3-9479310-2-6 – Bestell-Telefon: 07303-952331-0, Fax: 07303-952331-5, Mail: buch @media-maria.de – www.media-maria.de
[2] Hilaire Belloc: The Great Heresies, Ignatius Press, San Francisco 2017, 92-93.
[3] William Kilpatrick: Good Islam vs. Bad Islam, in: Crisis Magazine, 4. Mai 2016, www.crisismagazine.com/2016/good-islam-vs-bad-islam
[4] Robert Royal: The Catholic Martyrs of the Twentieth Century, Crossroad Publishing Co., New York 2000.
[5] James V. Schall: Sense and Nonsense: Goodbye without Regret, in: Crisis Magazine, 1. November 1996, 58, www.crisismagazine.com/1996 /sense-and-nonsense-goodbye-without-regret

Ägypten: Bisher knapp 1.200 Kirchen „legalisiert“

Frucht des Dialogs

„Die islamische Kultur der ägyptischen Gesellschaft führt zur Diskriminierung von Christen und schafft zudem ein Umfeld, in dem der Staat zurückhaltend ist, die Grundrechte von Christen anzuerkennen und durchzusetzen“, so heißt es im jüngsten Bericht von Open Doors. Umso bemerkenswerter ist die Meldung von Vatican News, ein 2016 beschlossenes Gesetz habe den restriktiven „Zehn Regeln“ für Kirchenbauten oder Kirchenrenovierungen aus den 1930er Jahren ein Ende gemacht. Der Dialog von Papst Franziskus mit der Al-Azhar-Universität von Kairo scheint Frucht zu bringen.

In Ägypten schreitet der Prozess der „Legalisierung“ christlicher Gotteshäuser voran, die in der Vergangenheit ohne die erforderlichen Genehmigungen errichtet worden waren. Das „Ad hoc“-Regierungskomitee, das zur Überprüfung dieser Fälle eingerichtet worden ist, hat dieser Tage mitgeteilt, dass wieder die Legalität von weiteren 62 koptischen Kirchenbauten festgestellt worden sei. Bisher seien insgesamt 1.171 Kirchen von dem Ausschuss überprüft und „legalisiert“ worden. Der Überprüfungs- und Legalisierungsprozess begann auf Grund eines im August 2016 vom ägyptischen Parlament beschlossenen neuen Gesetzes über den Bau und die Verwaltung von Gotteshäusern.

Am 5. August untersagte ein Verwaltungsgericht in Alexandrien auch den Abriss einer griechisch-orthodoxen Kirche in der Provinz Beheira. Das Gericht berief sich auf eine bereits vor zwölf Jahren ergangene, aber nicht ausreichend implementierte höchstgerichtliche Entscheidung, wonach Kirchen und Moscheen gleich zu behandeln seien. Auch Al Azhar, die höchste Autorität des sunnitischen Islam, hat festgestellt, dass das islamische Gesetz Kirchenbauten nicht verbiete und dass christliche Gotteshäuser vor Abriss geschützt werden müssen.

Das „Ad hoc“-Komitee hat die Aufgabe, zu prüfen, ob Tausende von christlichen Kirchen, die in der Vergangenheit ohne die erforderlichen Genehmigungen errichtet worden sind, die im neuen Gesetz festgelegten Standards erfüllen. In den letzten Jahrzehnten waren viele Kirchen und Kapellen wegen der zu diesem Zeitpunkt noch äußerst restriktiven ägyptischen Gesetzeslage ohne alle erforderlichen Genehmigungen gebaut worden. Die Existenz dieser „illegalen“ Gotteshäuser wird vor allem auf dem Land immer wieder von islamistischen Gruppen als Vorwand für Gewalt gegen Christen benutzt.

Das Gesetz vom August 2016 stellt für die christlichen Glaubensgemeinschaften in Ägypten einen wichtigen Fortschritt im Vergleich zu den sogenannten „Zehn Regeln“ dar, die 1934 von schon damals islamistisch eingestellten Referenten des Innenministeriums der ohnehin restriktiven osmanischen Gesetzgebung hinzugefügt worden waren. Die osmanische Gesetzgebung untersagte u.a. bis zur „Tanzimat“-Epoche im 19. Jahrhundert die Errichtung von Kuppeln über christlichen Gotteshäusern, die Anbringung und das Läuten von Glocken.

Nach den „Zehn Regeln“ war der Bau neuer Kirchen in der Nähe von Schulen, Regierungsgebäuden, Wohngebieten, Eisenbahnlinien und Kanälen grundsätzlich verboten. Für Neubauten oder Renovierungen von christlichen Gotteshäusern wurde ein überaus kompliziertes Genehmigungsverfahren festgelegt, das für Genehmigungen die Unterschrift des Königs (bzw. später des Präsidenten der Republik) erforderte. Die strikte Anwendung dieser Regeln verhinderte den Bau neuer christlicher Kirchen in vielen vor allem ländlichen Gebieten.

Um die neue Einstellung gegenüber dem Bau christlicher Gotteshäuser sichtbar zu dokumentieren, ließ Präsident Abd-el-Fattah al-Sisi im Herzen der neuen Hauptstadt Neu-Kairo eine koptische Kathedrale – das größte christliche Gotteshaus des Nahen Ostens – und eine Moschee nebeneinander errichten. Der Brauch, Kathedrale und Freitagsmoschee nebeneinander zu bauen, war vor allem im syrischen und mesopotamischen Raum auch früher üblich.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 11/November 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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