Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Als Titelthema haben wir das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe gewählt. „Der 26. Februar 2020 stellt einen dunklen Tag für die deutsche Rechtsprechung dar.“ Mit diesen Worten beginnt Prof. Dr. Dr. Ralph Weimann, promoviert in Theologie und Bioethik, seinen Leitartikel, den er aus diesem Anlass für uns verfasst hat.

Erschreckend ist nicht nur die Tatsache, dass nun auch in Deutschland die geschäftsmäßige Tötung sterbewilliger Menschen legalisiert wird, sondern vor allem auch die Urteilsbegründung. Sie stellt einen unmittelbaren Angriff auf die Menschenwürde dar. Von der Pflicht der staatlichen Gemeinschaft, dem Leben einen übergeordneten Wert beizumessen und es mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen, ist kein Ton zu hören. Eiskalt wird der Mensch einer angeblich verbrieften Selbstbestimmung geopfert. Und um ja keinen Zweifel an diesem neu definierten Menschenrecht zum Selbstmord aufkommen zu lassen, wird hervorgehoben, dass Staat und Gesellschaft verpflichtet seien, den Sterbewilligen in der Ausübung ihrer Selbstbestimmung zu Diensten zu stehen, d.h. allen Lebensmüden die notwendige Hilfe zur Verfügung zu stellen, um sich das Leben nehmen zu können. In diesem Licht wird nun das bisherige Verbot der „geschäftsmäßigen“ Euthanasie als verfassungswidrig zurückgewiesen. Doch im Grunde genommen ist es genau umgekehrt. Die Urteilsbegründung hebt das Fundament unseres Staates aus den Angeln, der nach den Schrecken des Dritten Reichs auf dem Wert der unantastbaren Würde jedes Menschen aufgebaut worden ist. Wer schützt uns nun vor den Ansichten der Personen, die im Bundesverfassungsgericht sitzen?

Unser demokratischer Rechtsstaat hat wieder einmal gezeigt, dass er sich vom Wertefundament, das aus dem christlichen Menschenbild erwachsen ist, verabschiedet hat. Der Geist nationalsozialistischer Euthanasiegesetze hat uns eingeholt. Welche gewaltige Aufgabe kommt da auf uns Christen zu! Nie dürfen wir uns mit dieser „Kultur des Todes“ abfinden. Unsere Perspektive von der göttlichen Würde und von der Berufung eines jeden Menschen zum ewigen Leben muss uns dazu anleiten, Gott als einzigen Herrn über Leben und Tod anzuerkennen, selbst aber mit all unseren Kräften dem Leben zu dienen und die am Leben Verzweifelten, die Pflegebedürftigen und Schwachen, die Menschen, die keinen wirtschaftlichen Profit mehr bringen, mit dem Licht unserer Hoffnung zu erleuchten und mit selbstloser Liebe zu begleiten. Vor allem müssen wir uns dem nun aufkommenden Druck auf Schwerkranke entgegenstellen und christliche Solidarität zeigen. Denn aus dem Recht zur Selbsttötung wird schnell die „Pflicht zum Sterben“, wie es der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Voderholzer in seiner Stellungnahme zum Urteil ausgedrückt hat.

Als Christen glauben wir an die liebende Vorsehung Gottes und seinen erlösenden Plan für die Menschheit. So besteht unser Zeugnis darin, dass wir bereit sind, alles aus der Hand Gottes anzunehmen und uns von allem, was auf uns zukommt, führen und formen zu lassen. Gleichzeitig versuchen wir, auch unseren menschlichen Beitrag zu leisten und die christlichen Tugenden einzubringen. Das gilt nicht nur für die Frage der Sterbehilfe, sondern nun auch in besonderer Weise für den Umgang mit der Corona-Pandemie. Das Virus hat die Welt fest im Griff. Keiner weiß wirklich, wie man reagieren sollte. Deshalb brauchen wir niemanden verurteilen, weder die Verantwortlichen im Staat noch in der Kirche. Wir dienen Gott, der allein weiß, warum er all dies zulässt, am besten, wenn wir uns den Gegebenheiten, auch Regeln der Hygiene und sozialen Distanzierung, fügen und zugleich jede Gelegenheit wahrnehmen, Bedürftigen ohne Furcht vor eigenem Schaden beizustehen. In dieser Zeit schwerer Heimsuchung sind wir im Gebet füreinander innig verbunden und wünschen Ihnen auf die Fürsprache Mariens Gottes Schutz und Segen. Vergelt’s Gott und frohe Ostern!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Die Würde des Menschen ist in Deutschland nun auch geschäftsmäßig antastbar

Urteil zur Sterbehilfe – ein totaler Dammbruch

Für Prof. Dr. Dr. Ralph Weimann stellt die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe einen totalen Dammbruch dar. Mit der Urteilsbegründung löse sich die deutsche Rechtsprechung vom christlichen Verständnis der Menschenwürde, wie sie im Grundgesetz verankert sei. Die verhängnisvolle Umdeutung der Werte, die es gerade durch das oberste Gericht zu schützen gelte, höhle das Fundament unseres Rechtsstaats aus und rücke ihn in die Nähe der Euthanasiegesetze des Dritten Reichs. Leider hätten wir aus der Geschichte nichts gelernt. Der 26. Februar 2020 werde als dunkler Tag in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen. Wir Christen stehen vor einer großen Herausforderung!

Von Ralph Weimann

Der 26. Februar 2020 stellt einen dunklen Tag für die deutsche Rechtsprechung dar. Der oberste deutsche Gerichtshof hat unter Berufung auf das Persönlichkeitsrecht entschieden, dass es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt. In der Presseerklärung heißt es dazu: „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen."[1] Damit wurde festgestellt, dass das in §217 des Strafgesetzbuches „normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gegen das Grundgesetz verstößt und nichtig ist, weil es die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend entleert“.[2]

Obwohl sich das Bundesverfassungsgericht in der Urteilsbegründung sogar auf Art.1 Abs.1 des Grundgesetzes beruft, in dem die Ewigkeitsklausel, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, festgelegt wird –, steht gerade dieses Urteil im absoluten Widerspruch zu der Würde des Menschen. Darüber hinaus lässt das Urteil deutlich werden, was sich seit Jahrzehnten angebahnt hat: Deutschland nimmt Abschied von den christlichen Fundamenten, die die Väter des Grundgesetzes zum Garant erhoben haben, um einen Rückfall in eine Barbarei zu verhindern, wie sie im Dritten Reich ausgeübt wurde.

Diese Aussagen mögen übertrieben klingen, wähnt man sich doch in der Sicherheit einer Demokratie mit parlamentarischen Beschlüssen. Reicht aber eine Mehrheit aus, um über die Wahrheit zu entscheiden? Gerade die Geschichte zeigt, wie problematisch ein derartiger Ansatz ist. Genau aus diesem Grund hat das Grundgesetz, wie der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio betont, an den Ursprung der demokratischen Werte erinnert und in seiner Präambel festgeschrieben, die Gesetzgebung erfolge „im Bewusstsein seiner [des deutschen Volkes] Verantwortung vor Gott und den Menschen“. „Jede geistige und politische Konstruktion, die diese Demut vor Gott verlacht, die die Symbole einer zweitausendjährigen Kulturgeschichte missachtet und sich allein auf die Evidenz ihrer jeweiligen tagesaktuellen Überzeugungen verlässt, führt die Menschen in gefährliche Irrtümer."[3]

Zu einem solchen Irrtum ist es am 26. Februar 2020 gekommen, als das Bundesverfassungsgericht feststellte, dass nun auch noch geschäftsmäßig der Mensch über den Menschen verfügen kann. Damit sind all jene roten Linien überschritten, die zu garantieren den Bundesverfassungsrichtern eigentlich aufgetragen ist. Um diese durchaus schwerwiegenden Aussagen besser zu verstehen, soll zunächst der Blick auf die dem Grundgesetz zugrundeliegenden Prämissen geworfen werden, dann auf die jüngere Geschichte, um schließlich einen Ausblick im Hinblick auf den Urteilsspruch aus Karlsruhe zu ermöglichen.

1. Dem Grundgesetz zugrundeliegende Prämissen

Der Begriff der Würde des Menschen ist nicht zu trennen vom biblischen Gottesbild. Der als „Abbild Gottes“ (vgl. Gen 1,26) geschaffene Mensch hat eine intrinsische (innewohnende) Würde, weil er das Bild Gottes – im Christentum wurde dies als Seele bezeichnet – in sich trägt. Diese Würde ist weder abhängig von einer Religion, noch von anderen Festlegungen, sondern kommt unterschiedslos jedem Menschen zu. Niemand kann sich diese Würde selber geben, sonst würde dem Menschen eine Verfügungsgewalt über den Menschen zukommen. Diese Würde ist auch nicht graduell, also abzustufen in weniger oder mehr, sie kommt vielmehr jedem Menschen unterschiedslos zu, ob er auch alt, krank, gesund oder behindert ist. Wenn immer von dieser Sicht – der ein Menschenbild zugrunde liegt – Abstand genommen wird, kommt es zur Herrschaft des Menschen über den Menschen. Auf diesem Hintergrund kommt den Worten Udo di Fabios, die aber von den Bundesverfassungsrichtern von heute nicht mehr verstanden zu werden scheinen, große Aktualität zu.

Die allen Menschen eigene Würde ist ein auf dem biblischen Gottesbild basierendes Proprium, das es bei anderen Religionen (siehe z.B. Islam) nicht gibt und was auch der Staat, der entweder den Prinzipien der Mehrheit oder dem Willen Einzelner folgt, aus sich heraus nicht garantieren kann. Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte dies in dem Satz ausgedrückt, dass der säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht zu garantieren vermag.[4]

Diese Voraussetzungen wurden in den letzten Jahren mehr und mehr aufgegeben. Es kam zu einem Entfremdungsprozess von christlichen Grundlagen, der schon sehr weit vorangekommen ist und sich nun immer deutlicher zeigt. Dazu gehört auch, dass der Gesetzgeber das Leben zu schützen hat und es nicht zur Disposition stellen darf. Wenn nun der oberste deutsche Gerichtshof erklärt, dass die Bürger die Freiheit haben „sich das Leben zu nehmen“, wird darin die Abwendung von den eigenen christlichen Fundamenten deutlich. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass eine solche Praxis nach christlichem Verständnis als Todsünde bezeichnet wird.

2. Keine Lehren aus der Geschichte

Das Gesagte wird noch augenscheinlicher, wenn das Karlruher Urteil vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte gesehen wird. Ausgehend vom revolutionären Menschenbild des Darwinismus und seiner Mutation zum Sozialdarwinismus war bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Bewegung entstanden, die sich für ein selbstbestimmtes Sterben einsetzte. Da der Mensch zum Produkt des Zufalls erklärt wurde und sich ohnehin der Stärkere durchsetzt, liegt es in der Logik dieser Sichtweise, das Leben nicht mehr als (von Gott) gegeben anzunehmen, sondern selbst darüber zu bestimmen. Daher verwundert es wenig, dass die deutsche Rassenlehre, in enger Anlehnung an den Sozialdarwinismus, auf eben diesen Prinzipien basiert.[5] Der Nobelpreisträger Ernst Häckel u.a. führten diesen Gedanken konsequent weiter und kamen schließlich zur Unterscheidung zwischen lebens- und nicht lebenswert. Wann immer es zur Verfügbarkeit über das Leben kommt, ist die Büchse der Pandora geöffnet und nachher lassen sich keine Grenzen mehr ziehen, wenn das dann überhaupt noch gewünscht sein sollte.

Diese Lehre ließe sich aus dem sogenannten T-4 Programm der Nationalsozialisten ziehen. Etwas einfallslos haben sie ihr Euthanasieprogramm nach dem Haus in Tiergarten 4 (Berlin) benannt, wo entsprechende Beschlüsse gefasst wurden. Hier lohnt sich ein Blick auf die vorgebrachte Argumentation. Die Nationalsozialisten haben keineswegs, wie man es annehmen würde, plump und aggressiv versucht, die Menschen von ihrem Euthanasieprogramm zu überzeugen, sondern haben sich einer perfiden Strategie bedient. Als Hauptmotiv wurde auf Mitleid mit den Kranken, Leidenden und Behinderten verwiesen. Zugleich wurde – dies wird überdeutlich im für diese Zwecke erstellten Propagandafilm „Ich klage an“ – auf die Selbstbestimmung des Kranken oder Leidenden hingewiesen. Die Forderung wurde erhoben, dass Menschen selbst bestimmen können, wann sie ihr Leben beenden wollen. Schlimmere Konsequenzen, die aus dieser Art der „Selbstbestimmung“ entstehen können, wurden geleugnet und ganz subtil wurde die Unterscheidung von aktiver und passiver Euthanasie zunächst in Frage gestellt und später aufgegeben. Nun waren Tor und Tür für jede Art von Willkür geöffnet.

Aus dem „selbstbestimmten Sterben“ wurde bald ein „fremdbestimmtes Sterben“, was eine gewisse Geschäftsmäßigkeit einschloss; schließlich wurden die betreffenden Personen zu gewissen Kliniken gebracht.

Überraschend ist die Tatsache, dass die sozialdarwinistischen Einflüsse, die diesem Menschen verachtenden System zugrunde gelegen haben, in der Aufarbeitung nach dem Krieg kaum Erwähnung fanden und sich somit nach und nach den Weg in die Gesellschaft und Gesetzgebungen bahnen konnten.

Auf jeden Fall haben die Gräueltaten der Nationalsozialisten, vor allem in Deutschland, nach dem Krieg zu einem restriktiveren Umgang mit Vorhaben geführt, die auch nur vage an die Euthanasie erinnern, schließlich – Politiker werden nicht müde dies zu betonen – dürfe sich so etwas nie wiederholen. Aber ist nicht genau das gerade geschehen? Wieder wird dem Menschen über den Menschen Verfügungsgewalt gegeben und dazu darf geschäftsmäßig Hilfe in Anspruch genommen werden.

3. Ein Ausblick

Ein Blick auf Länder wie die Niederlande, Belgien oder die Schweiz, wo derartige Gesetzgebungen seit längerer Zeit schon Anwendung finden, zeigt deutlich, in welche Richtung der Weg geht. Dabei braucht keine detaillierte Analyse zu erfolgen, wohl aber können einige grobe Linien aufgezeigt werden.

Mit Zustimmung der Eltern dürfen in Belgien inzwischen auch Minderjährige ihr Leben beenden, wenn sie beispielsweise an Depressionen leiden.[6] In den Niederlanden erfreut sich die Organspende nach Euthanasie einer gewissen Beliebtheit, um wenigstens mit einem altruistischen Gefühl aus dem Leben zu scheiden.[7] Da im Hinblick auf die Euthanasie die Unterscheidung von aktiv/passiv (oder auch direkt/indirekt) aufgegeben wird, nehmen die Fälle von unfreiwillig Euthanasierten zu. Selbst in Deutschland ist 2017 – schon vor diesem Gerichtsurteil – bei ca. 21.000 Menschen gegen ihren Willen das Leben beendet worden.[8] Wie wird dies erst werden, wenn das Ganze nun geschäftsmäßig möglich ist?

Schätzungen zufolge sind beim nationalsozialistischen T-4 Programm ca. 70.000 Menschen ermordet worden.[9] Dennoch war es der Bevölkerung trotz Diktatur und Krieg gelungen, durch Widerstand und Protest – nicht zuletzt der katholischen Bischöfe – das Programm zu stoppen. Nach der Karlsruher Entscheidung hingegen haben sich die meisten Politiker positiv zu dem Urteil geäußert. Der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm konnten sich immerhin gemeinsam dazu durchringen, dieses Urteil als „einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur“ zu beschreiben.[10]

Das Urteil aus Karlsruhe ist aber deutlich mehr als ein Einschnitt. Dies wird besonders deutlich bei der Anführung jener Gründe, die als ausreichend erachtet werden, um das Leben zu beenden. Diesbezüglich heißt es: „Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren."[11]

Schon ein Grundwissen im Bereich der Bioethik müsste bei einer derartigen Begründung alle Alarmglocken läuten lassen. Der Begriff „Lebensqualität“ ist gänzlich im Bereich des Subjektiven verortet und damit beliebig. In Konsequenz erklärt somit der oberste deutsche Gerichtshof die absolute Verfügungsgewalt des Menschen über den Menschen aus jedem Grund und fügt noch hinzu, dass dies von Staat und Gesellschaft zu respektieren ist. Eine beachtliche Begründung, die nicht nur als totaler Dammbruch bezeichnet werden muss, sondern diesen Dammbruch auch noch Staat und Gesellschaft verpflichtend vorschreibt. Wenn das Tor so weit aufgerissen wird, ist eine Einschränkung oder Reglementierung – sollte sie vom Bundestag denn überhaupt beabsichtigt werden – gar nicht mehr möglich. Damit muss die traurige Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Würde des Menschen in Deutschland nun auch geschäftsmäßig antastbar geworden ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Bundesverfassungsgericht: Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig, Pressemitteilung Nr. 12/2020 vom 26. Februar 2020, in: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-012.html [6.3.2020].
[2] Ibid.
[3] Udo Di Fabio: Einführung in das Grundgesetz, in: Grundgesetz mit Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, Menschenrechtskonvention, Verfahrensordnung Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Parteiengesetz, Untersuchungsausschussgesetz und Gesetz über den Petitionsausschuss, Textausgabe mit ausführlichem Sachverzeichnis und einer Einführung von Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio, München 402005, VII.
[4] Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Berlin 1976, 60.
[5] Vgl. Richard Weikart: Hitler’s Ethic. The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress, New York 2009.
[6] Vgl. Albert II: The Belgian Act on Euthanasia of May, 28th 2002, Transl. by Dale Kidd, Centre for Biomedical Ethics and Law, Leuven, in: Ethical Perspectives 9 (2-3/2002), 182-188.
[7] Vgl. Frans J. van Ittersum, Lambert Hendriks: Organ Donation after Euthanasia, in: NCBQ, Vol. 12 (2012) 431-437.
[8] Vgl. Karl H. Beine, Jeanne Turczyknski: Tatort Krankenhaus. Wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert, München 2017.
[9] Vgl. Ernst Klee (Ed.): Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt am Main 1985, 232.
[10] Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, 27.2. 2020, in: bistumlimburg.de/beitrag/ ein-einschnitt-in-die-bejahung-und-foerderung-des-lebens/ [5.3.2020].
[11] Bundesverfassungsgericht: Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig.

Hochproblematisches Urteil

Die Deutsche Bischofskonferenz bedauert in ihrer Stellungnahme zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 sehr, dass die Gefahren für die Selbstbestimmung kranker und alter Menschen überhaupt nicht zu zählen scheinen. Nachfolgenden Bericht stellte der neue Vorsitzende der DBK, Bischof Dr. Georg Bätzing, zum Abschluss der Frühjahrs-Vollversammlung vor.

Die Deutsche Bischofskonferenz

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 26. Februar 2020 die Vorschrift des §217 StGB – das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – für unvereinbar mit dem Grundgesetz und damit für nichtig erklärt. Das Gesetz war im Jahr 2015 mit breiter und fraktionsübergreifender Mehrheit im Deutschen Bundestag nach jahrelanger Debatte beschlossen worden. Zeitgleich hatte der Gesetzgeber deutliche Verbesserungen der palliativen und hospizlichen Versorgung in Deutschland beschlossen.

Die katholische und evangelische Kirche haben den Diskussionsprozess eng begleitet und selbst zahlreiche Foren gebeten, das Thema breit gesellschaftlich zu diskutieren. Sie haben §217 StGB ausdrücklich begrüßt – als maßvolle gesetzgeberische Maßnahme allein gegen die organisierten Suizidangebote, die in erster Linie von Sterbehilfevereinen angeboten werden. Dabei stand stets der Schutz der Selbstbestimmung von Menschen im Mittelpunkt, die in besonders verletzlichen Situationen wie Krankheit oder Alter innerlich oder äußerlich unter Druck geraten könnten, von organisierten Sterbehilfeangeboten Gebrauch zu machen. Nach der Veröffentlichung des Urteils am 26. Februar 2020 haben sich Kardinal Reinhard Marx und Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm gemeinsam geäußert (Zur Pressemitteilung Nr. 026 vom 26.02.2020).

Das Urteil: Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung zwar den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck als legitim anerkannt und die angeführten Gefahren für die Selbstbestimmung alter und kranker Menschen als nachvollziehbar und plausibel bezeichnet. Gleichwohl befand es das Verbot in §217 StGB als nicht angemessen, da es das Grundrecht auf selbstbestimmte Selbsttötung faktisch verunmögliche. Hierzu konstruierte es ein aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde folgendes Grundrecht auf selbstbestimmte Selbsttötung, das höchster Ausdruck der menschlichen Individualität und Identität sei. Und es betonte, dass dieses Recht nur zur Geltung gebracht werden könne, wenn es dem Suizidwilligen auch faktisch ermöglicht werde, Hilfe Dritter zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen. Dies gelte in jeder Lebensphase, völlig unabhängig von Alter oder Krankheit – es komme allein auf die selbstbestimmte Entscheidung an. Solange Ärzte sich mehrheitlich nicht bereitfänden, Menschen beim Suizid zu helfen, gebe es einen Bedarf für die Sterbehilfevereine.

Bewertung: Das Urteil stellt mit seiner Verabsolutierung der freiheitlichen Selbstbestimmung gegenüber solidarischer Verbundenheit eine Abkehr von der bisherigen, dem Lebensschutz sehr zugewandten Rechtsprechung des BVerfG dar. Obwohl die Gefahren für die Selbstbestimmung kranker und alter Menschen durchaus anerkannt werden, zählen sie in der Abwägung des Gerichts nicht. Es ist somit zu befürchten, dass die Suizidhilfe insbesondere durch die bereits in Deutschland agierenden Vereine nunmehr stark zunehmen wird und wir schon bald Normalisierungstendenzen wie in der Schweiz, den Niederlanden oder Belgien erkennen werden. Dies schwächt besonders die Angebote palliativer und hospizlicher Versorgung. Hoch problematisch erscheint auch der Umstand, dass dem Gesetzgeber nur minimale Spielräume zur Gestaltung wichtiger gesellschaftspolitischer Fragen belassen werden.

Weiteres Vorgehen: Als Kirche besteht unsere vornehmste Aufgabe darin, Menschen in schwierigen Lebenssituationen noch bessere Unterstützung und Hilfe zuteilwerden zu lassen. Die Möglichkeiten haben wir durch unsere Einrichtungen. Gerade vor wenigen Tagen haben Caritas, Diakonie und der Deutsche Hospiz- und Palliativverband ein Handbuch für die stationäre Hospizarbeit vorgestellt, das der Sicherung der hohen Qualität der Betreuung dienen soll.

Wir haben auch eine große Verantwortung, mit den Menschen im Gespräch zu bleiben, um über die oftmals gar nicht bekannten vielfältigen Möglichkeiten der Selbstbestimmung auf dem letzten Weg zu informieren (Patientenverfügung, Behandlungsabbruch, Schmerztherapien, Seelsorgeangebote etc.). Die Erfahrung lehrt, dass Suizidwünsche oft nicht weiterverfolgt werden, wenn ernsthafte Angebote der Begleitung gemacht werden.

Die Politik wird prüfen müssen, ob es nach dem Urteil des BVerfG überhaupt noch sinnvolle Spielräume gibt, der Normalisierung von Suizidangeboten regulativ Einhalt zu gebieten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Papst Franziskus zur aktiven Sterbehilfe

Euthanasie schenkt keine Freiheit

Am 2. September 2019 empfing Papst Franziskus im Vatikan eine Gruppe von etwa 150 Mitgliedern des italienischen Verbands für Medizinische Onkologie. Der Verband „fördert Forschung und Prävention, bemüht sich um eine Verbesserung von Diagnose und Behandlung und entwickelt zahlreiche Schulungs- und Aktualisierungsinitiativen für Ärzte und andere Beschäftigte auf dem Gebiet der Onkologie“. Der Papst nützte seine Ansprache vor den anwesenden Ärzten und Patienten für klärende Worte zum Thema Euthanasie, das gerade bei der Betreuung von Krebskranken eine große Herausforderung darstellt. Er ermutigt alle Beteiligten, sich der Versuchung zur aktiven Sterbehilfe entschieden zu widersetzen und im Umgang mit den Kranken eine Kultur vertrauensvoller Beziehungen zu pflegen. Ein Beitrag von CNA Deutsch.

Von Hannah Brockhaus

Euthanasie reduziert den Menschen zum Objekt; obwohl sie den Anschein erweckt, Freiheit zu geben, ist sie wirklich eine Ablehnung der Hoffnung. Das sagte Papst Franziskus vor einem Onkologie-Verband am 2. September.

„Die Praxis der Euthanasie, die bereits in mehreren Ländern legalisiert wurde, zielt nur scheinbar auf die Förderung der persönlichen Freiheit ab“, sagte er am 2. September. „In Wirklichkeit“, fuhr er fort, „basiert sie auf einer utilitaristischen Sichtweise der Person, die nutzlos wird oder mit Kosten gleichgesetzt werden kann, wenn sie aus medizinischer Sicht keine Hoffnung auf Besserung hat oder Schmerzen nicht mehr vermeiden kann“. „Wenn man sich für den Tod entscheidet, sind die Probleme in gewisser Weise gelöst; aber wie viel Bitterkeit steckt hinter dieser Argumentation, und welche Ablehnung der Hoffnung die Entscheidung beinhaltet, alles aufzugeben und alle Bindungen zu lösen“, so Franziskus.

Der Papst erklärte, dass die medizinische Technik nicht für ihren richtigen Zweck, den Dienst am Menschen, eingesetzt wird, wenn sie diesen „zu einer Sache reduziert“ oder unterscheidet, wer die Behandlung nicht verdient, weil er angeblich „eine Last“ oder „eine Verschwendung“ ist. Der gegenteilige Ansatz sei die Verpflichtung, einen Patienten und seine Angehörigen in allen Phasen zu begleiten und zu versuchen, das Leiden durch Palliativmedizin oder das familiäre Umfeld des Hospizes zu lindern, argumentierte er. Dies „trägt dazu bei, eine Kultur und Praxis zu schaffen, die dem Wert jedes Einzelnen mehr Aufmerksamkeit schenkt“.

Die Länder mit legaler Euthanasie sind die Niederlande, Belgien, Kolumbien, Luxemburg und Kanada. In den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland sowie in knapp zehn US-Bundesstaaten ist die Beihilfe – „aktive Sterbehilfe“ – legal.

Papst Franziskus sprach am 2. September vor einer Gruppe von etwa 150 Mitgliedern der Italienischen Gesellschaft für medizinische Onkologie in einer Audienz im Vatikan. Er ermutigte das medizinische Personal, „nie den Mut zu verlieren für das Missverständnis, auf das man stoßen könnte, oder vor dem beharrlichen Vorschlag radikalerer und eiligerer Wege“, und fügte hinzu, dass ihre Arbeit die Sensibilisierung in einer Gesellschaft beinhaltet, „die nicht sehr bewusst ist und manchmal abgelenkt wird“.

Franziskus beschrieb eine Art „Büchse der Pandora“, in der alles außer der Hoffnung erklärt wird. „Und wir müssen danach suchen“, sagte er, „wie man die Hoffnung erklärt, in der Tat, wie man sie in den begrenztesten Fällen gibt.“

In der Audienz lobte der Papst die Fokussierung des Vereins auf die bestmögliche Versorgung jedes einzelnen Patienten nach seiner einzigartigen Biologie und nannte sie „eine Onkologie der Barmherzigkeit“, denn die personalisierte Pflege richte die Aufmerksamkeit auf den Einzelnen, nicht nur auf die Krankheit, argumentierte er.

Er ermutigte die Mediziner, Jesus als Beispiel zu nehmen und betonte auch die Bedeutung Christi für die Kranken. Jesus, sagte er, „hilft ihnen, die Kraft zu finden, die Bande der Liebe nicht zu unterbrechen, ihr Leiden für Brüder anzubieten, die Freundschaft mit Gott zu bewahren“.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Christa Meves feierte 95. Geburtstag

Alte Wunden – neue Schäden

Am 4. März durfte Christa Meves, die weltbekannte Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, ihren 95. Geburtstag feiern. Auch in ihrem Rundbrief zum März 2020 (nachfolgend gekürzt) leuchtet ihre prophetische Mission auf, die sie ein Leben lang erfüllt hat.

Von Christa Meves

Nein, aufhören mit dem Aufklären, mit Warnen und Raten kann ich nicht, obgleich ich demnächst in das 96. Lebensjahr einsteigen werde; denn was sich nun mit den Kindern in den Familien abspielt, ist sogar noch gravierender als das, was ich nach meinem ersten Schockerlebnis vor 50 Jahren unablässig in die Öffentlichkeit hineinzurufen begann. Diese Erfahrung machte ich 1969 bei einer Einladung zum Vortrag in einer Berliner evangelisch-lutherischen Akademie, nachdem mein Vorredner, Helmut Kentler, ein mir unbekannter Lehrer aus Ostberlin (jedenfalls benannte er sich damals so), seinen Vortrag sinngemäß mit folgender Quintessenz beendet hatte: Ab jetzt werden wir den Menschen machen. Wir allein, in eigener Regie, frei für jede Form von Sex, auch für die Kinder. Hingegen hieß das Ergebnis meiner Ausführungen: Wir müssen bei unseren Entscheidungen hinauffragen: Was erwartet unser Gott mit seiner Schöpfungsordnung von uns, damit wir zu einer gesunden Zukunft hinfinden können?

Dieser Mann, der jetzt erst nach seinem Tod als ein durch die Jahrzehnte hindurch vielfacher Kinderschänder (mit institutioneller Hilfe in Berlin) entlarvt worden ist, hatte bereits 1970 in einem Taschenbuch mit dem Titel „Sexualerziehung“ seine Parolen zur Sexualisierung der Kinder vollmundig zu Papier gebracht. Aus der Sicht meiner kinderpsychotherapeutischen Praxis hatte ich damals bereits lesen müssen, was hier geplant war. So blieb mir nichts anderes übrig, als mit einem kleinen Herder-Taschenbuch unter dem Titel „Manipulierte Maßlosigkeit“ meinen fachspezifischen Protest dagegenzusetzen; denn die Sexualität der Erwachsenen, so betonte ich, gehört nicht in die Kinderjahre.

Außerdem kam mir auf meinem Feld unverhofft eine wissenschaftliche Forschung, die mächtig anschwoll, zu Hilfe. Dadurch gewann ich die beglückende Erfahrung, dass sich meine Vorstellungen, die ich in meinem Universitätsstudium der Nachkriegszeit und in der Praxis gewonnen hatte, immer mehr durch seriöse Forschungsergebnisse bestätigten: So wurde jetzt z.B. die durchschlagende Einsicht der Hormonforscher publiziert, dass bereits im Mutterleib die Ausformung der unterschiedlichen Geschlechtsorgane von männlichen und weiblichen Kindern durch hohe Dosierungen entweder des männlichen Geschlechtshormons Testosteron für die Knaben oder des weiblichen Hormons Östrogen für die Mädchen massiv vorangetrieben wird. Aber dann – wenige Wochen nach der Geburt – sinkt schon während der Säuglingszeit die Hormonlage der Babys bei beiden Geschlechtern fast auf null zurück.[1] Erst ab der Vorpubertät, etwa um das 10. Lebensjahr herum, beginnt der Hormonspiegel sich erst wieder bei beiden Geschlechtern kontinuierlich bis ins Erwachsenenalter hinein zu steigern.

Es ist einleuchtend, warum das so ist. Bei den gewichtigen Reifungsphasen zwischen dem ersten und zehnten Lebensjahr ist der Naturtrieb Sexualität nicht gefragt. Ihr natürlicher Aufgabenbereich beginnt eigentlich erst mit der Fortpflanzungsfähigkeit. Bei der Einhaltung dieser natürlichen Grundregel ist in diesem Bereich am ehesten seelische und körperliche Gesundheit im Erwachsenenalter zu gewinnen. Umso verhängnisvoller ist aber nun ein ausgedachter Zeitgeist, der das Gegenteil auf seinem Banner hat. Die ungeschriebene Vorschrift der Revoltäre „Sex von der Wiege bis zur Bahre“ ist keineswegs vom Tisch. Sie ist sogar bis in die Schulpläne für Grundschüler eingesickert. Und nun produziert zum Entsetzen verantwortungsbewusster Eltern auch noch das Smartphone ein Leck auf diesem Gebiet: Heute ist es kaum noch zu verhindern, dass es fast jedes Kind vom Grundschulalter ab zuwege bringt, eines Smartphones habhaft zu werden, um mit diesem dann herunterzuholen, was ihm beliebt. Seit dieser Neuheit landen bei mir nun zunehmend häufiger ratlos seiende Mütter, die zumeist bei ihren Kindern zwischen sechs und zwölf – Mädchen wie Jungen – mit neuen, bisher nie gekannten Verhaltensstörungen konfrontiert sind: Z.B. eine Siebenjährige in der 2. Klasse verhielt sich, als wäre sie gänzlich von der Rolle. Sie könne nun nichts mehr, sagt sie, obgleich die Mutter erklärt, dass sie vorher im Geschwisterkreis ein supergesundes, fröhliches Mädchen mit guten ersten Erfolgen in der Schule gewesen sei. Alles Befragen hülfe nichts. „Das geht nicht“, heißt dann unter Tränen die Antwort des Kindes.

Die Ursache besteht darin, dass die Kinder meist, ohne dass sie wissen, was ihnen geschieht, auf Sendungen mit Pornografie gestoßen sind. Was sich besonders bei den Sensibleren, eher auch bei hervorragend Intelligenten, hier abspielt, ist ein Bildeindruck, der weder verstanden noch verkraftet werden kann. Es entsteht so ein massives Trauma, das nun allerdings dringend zunächst der Aufklärung und dann einer fachkompetenten Therapie bedarf. Was für eine neue schwere Verantwortung aller Pädagogen ist so neu entstanden! Hier muss erst einmal darüber informiert werden, dass die Kindheit eine sexfreie Zone zu sein hat. Eigentlich müssten sämtliche Pädagogen jetzt erst einmal dazu angehalten werden, diesen Status der Kindheit zu respektieren, statt ihn unentwegt anzuheizen, wie es heute nicht einmal selten im Sexualkundeunterricht geschieht. Wie nötig wäre hier eine Vorbildhaltung auch der Eltern, statt (wie gelegentlich weiterhin) es für modern zu halten, ihre sexuellen Auslöser den Kindern so viel wie möglich hinzuhalten. Diese Seuche ist der Sündenfall eines Zeitgeistes, der von Gottes Allgegenwart abgefallen ist. Hier muss angesetzt werden, um elenden Fallen solcher Art Paroli zu bieten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Eliot, Lise: Wie verschieden sind wir? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen, Berlin 2009, für die deutsche Ausgabe © B.V., Berlin Verlag GmbH, Berlin 2010, 141.

Zum anonymen Bericht einer verzweifelten Frau

Die seelischen Leiden nach einer Abtreibung

Kristijan Aufiero ist Vorsitzender des Vorstands von 1000plus. Dabei handelt es sich um eine Initiative, die schwangeren Frauen Unterstützung anbietet, damit sie zu ihrem Kind Ja sagen können. Die wichtigste Hilfe besteht in einer lebensbejahenden und bewusst nicht „neutralen“ Beratung, welche bereits über 50.000 Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt in Anspruch genommen haben. Im Gegensatz zu jenen, die behaupten, Abtreibung sei ein Ausdruck von Freiheit und weiblicher Selbstbestimmung, und das „Post Abortion Syndrom“ leugnen, nimmt sich 1000plus auch der Frauen und Familien an, die unter den seelischen Folgen einer Abtreibung leiden.

Von Kristijan Aufiero

Die folgenden Zeilen sind Auszüge eines persönlichen „Berichts“, den „Lonely“ sich in unserem Forum – anonym und in der totalen Öffentlichkeit des Internets – von der Seele geschrieben hat. Umso irgendwie zu versuchen, das Geschehene zu verstehen und vielleicht zu verarbeiten.

„Mein Schwangerschaftsabbruch ist jetzt genau eine Woche her und es zerfrisst mich. Ich bin 31 Jahre, bin verheiratet und habe zwei wunderbare Kinder. Alles war perfekt und wir waren glücklich. Nach Kind Nummer 2 waren mein Mann und ich uns einig, dass wir keine Kinder mehr wollen. Doch dann hielt ich einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand und war unter Schock. […] Also ging die ‚Maschinerie Schwangerschaftsabbruch‘ in die Gänge. […]

Dann war es am Freitag soweit, ich habe alle Gedanken beiseitegeschoben und dachte, danach geht es mir besser und ich kann für meine Kinder wieder voll da sein. Doch seit dem Tag ist nichts mehr, wie es war. Ich bin nur noch am Weinen. Ich bin in einem Gedankenkarussell gefangen und frage mich die ganze Zeit, wieso ich das gemacht habe, wieso ich mit meinem Mann nicht gesprochen habe, ob wir nicht doch ein 3. Kind haben wollen. Ich sage mir, ich hätte das schon irgendwie geschafft. Ich fühle mich wie eine leere Hülle und funktioniere nur noch. Ich vermisse dieses Kind so sehr und gehe die Zeit vom positiven Test bis zum Abbruch immer und immer wieder durch und frage mich, wie ich so gefühllos entscheiden konnte?

Ich habe keinen Hunger mehr, keine Freude und frage mich, ob das jetzt mein Leben ist? Nur noch existieren? […] Was mich auch noch sehr bedauern lässt, ist die Beratung bei der Beratungsstelle und meiner Frauenärztin. Die Beratungsstelle war sehr neutral, also weder pro noch contra. Was sie wahrscheinlich auch sein müssen. Aber die Dame dort ist mit keinem Wort auf den seelischen Schaden eingegangen, den so ein Abbruch mit sich bringt. Das hätte ich mir sehr gewünscht. […] Ich für meinen Teil möchte jeder Frau erzählen, dass sie es nicht machen soll, damit ihnen der Schmerz, den ich jetzt empfinde, erspart bleibt. […]

Ich wünsche mir immer noch die Tage vor dem Termin zurück und dass mir jemand gesagt hätte, es wird schon werden, mach es nicht. Ich war sehr alleine mit dieser Entscheidung und so fühle ich mich jetzt auch. […]

Mein Mann versteht nicht, was mit mir los ist und möchte zu dem Punkt von davor zurückkehren, aber das ist für mich nicht möglich. Ich muss die ganze Zeit an das denken, was wir gedankenlos weggegeben haben und was ich verloren habe. Ich bin in der Vergangenheit gefangen und habe Schuldgefühle, diesem Baby nicht die Chance auf ein Leben gegeben zu haben.“

Der Verstand sagt Ja, aber das Herz schreit Nein

Es ist die herzzerreißende Beschreibung einer verzweifelten Situation, wie sie in unserer Beratung täglich vorkommt: Der Verstand sagt das Eine und das Herz etwas ganz anderes. Wieder eine Frau, die inmitten der furchtbaren Stress-Situation eines Schwangerschaftskonflikts das Gegenteil von dem tut, was sie sich im Innersten wünscht und für richtig hält.

Wie könnte man jemals den Stab über diese Frau brechen? Wie oft schon ist es jedem von uns ganz ähnlich ergangen? Wie oft ahnten und wussten wir im Herzen ganz genau, was das Richtige ist, und sind doch den anderen, den falschen Weg gegangen und haben unsere Entscheidung bereut? So wie „Lonely“, die alles in der Welt dafür geben würde, das Rad der Zeit zurückzudrehen.

Wieder eine dieser Frauen, die es angeblich gar nicht gibt. Wieder ein untröstliches, gebrochenes Herz, das kaum noch die Kraft aufbringt, um weiterzumachen wie bisher –  so, als ob nichts gewesen wäre. Wieder dieser tiefe Schmerz, diese quälenden Gefühle von Verlust, von Schuld und von Trauer, von denen wir in unserer Beratung so oft hören und lesen müssen. Wieder diese grausame Wirklichkeit einer Frau und einer Familie nach einer Abtreibung. Diese Realität, die so ganz und gar nicht zu der verhängnisvollen Lüge passt, dass „Schwangerschaftsabbrüche“ das Normalste auf der Welt seien.

Jedes einzelne Leid ist ein Leid zu viel!

Beim Lesen ihrer Zeilen habe ich mich gefragt, wie es sich für „Lonely“ anfühlen muss, wenn sie liest, dass es angeblich gar kein „Post Abortion Syndrom“, also seelisches Leiden aufgrund einer Abtreibung, gibt? Dass sie sich das alles nur einredet und einbildet? Dass ihr tiefer Schmerz angeblich nur eine Erfindung übel meinender „Lebensschützer“ sei? Manch eine ideologisch motivierte „Studie“ geht gar soweit, zu behaupten, dass nur Frauen nach einer Abtreibung leiden, die schon zuvor psychisch krank waren.

Nicht jede Frau leidet unmittelbar nach einer Abtreibung so, wie „Lonely“. Es gibt Frauen, die erst nach Jahren und Jahrzehnten davon berichten, dass die Vergangenheit sie einholt. Und es mag auch Frauen geben, die ihr ganzes Leben nicht unter den Folgen einer Abtreibung leiden. Verallgemeinerungen helfen, wie so oft im Leben, auch beim Thema „Post Abortion Syndrom“ nicht weiter. Aber: Ebenso deutlich will ich auch sagen, dass wir nach weit über 50.000 beratenen Frauen faktisch belegen können, dass rund 20 Prozent aller Frauen ihre Abtreibung innerhalb kürzester Zeit bitter bereuen und unter den Folgen leiden.

Und jeder einzelne dieser erschütternden Berichte, dieser unfassbar traurigen Anrufe, jedes einzelne dieser Schicksale reicht mir als Begründung aus, um weiterhin alles in unserer Macht Stehende zu tun, damit Frauen diesen Alptraum nicht durchleben müssen.

Die Wahrheit jenseits von „Studien“-Ergebnissen

In den letzten Monaten ist viel die Rede gewesen von einer Studie zu den seelischen Folgen von Abtreibungen, die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in Auftrag gegeben worden ist. Ich weiß nicht, was bei dieser Studie herauskommen wird. Doch diejenigen Kräfte, die offenkundig Angst vor objektiven Ergebnissen haben und beinahe alles versuchen, um zu verhindern, dass diese Studie das eigentlich Offensichtliche belegt, sind politisch und medial bestens vernetzt und üben Tag für Tag mehr Druck aus.

Bei den meisten Studien und Studienergebnissen hinsichtlich Schwangerschaftskonflikt, Schwangerenberatung oder Demografie in den letzten Jahren ging es nicht um wissenschaftliche Objektivität, sondern „nur“ um die Durchsetzung ideologischer, politischer oder ganz banaler wirtschaftlicher Interessen.

Bleiben wir gemeinsam an der Seite dieser Frauen!

„Lonely“ war bei einer staatlichen Stelle und wurde dort, wie sie wörtlich sagt, „sehr neutral“ beraten. Ganz so, als ob es keinen Unterschied mache, ob sie sich für oder gegen das Leben ihres ungeborenen Babys entscheiden würde. Durch unsere Beratung konnten wir schon zehntausende ganz konkrete Frauen und Familien vor dem Fehler bewahren, den „Lonely“ so eindrücklich und erschütternd beschreibt. All jenen, die die Existenz und die seelischen Schmerzen von Frauen wie „Lonely“ leugnen, um letztlich Angeboten wie dem unseren das Recht abzusprechen, Frauen zu beraten und zu helfen, sei gesagt: Mit jeder Tabuisierung, mit jeder Verleumdung und mit jedem Angriff auf unsere Arbeit wächst unsere Entschlossenheit, mehr für diese Frauen zu tun und verstärkt dafür zu sorgen, dass die ganze Wahrheit über das Massenphänomen Abtreibung ans Licht kommt.

Die Gedanken an „Lonelys“ Tränen, daran, was das Geschehene für ihre Ehe bedeutet, was ihre Familie in Zukunft aushalten muss, die Gedanken an die beiden Kinder, die sich vermutlich seit Tagen fragen und nicht verstehen können, warum ihre Mami auf einmal so traurig ist, sind kaum zu ertragen. Wir sollten für alle Frauen wie „Lonely“ und ihre Familien beten und für sie den Beistand und die Gnade unseres Herrn erflehen, der ihnen mit der Zeit Heilung und Frieden schenken möge.

Und es ist Ihre Hilfe und Unterstützung, mit der es uns gelingen kann, noch vielen weiteren Frauen die Beratung und Hilfe zur Verfügung zu stellen, die Entscheidungen für das Leben möglich machen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Der Apostolische Nuntius in Deutschland mahnt die wesentliche Sendung der Kirche an:

„Verkündet das Evangelium!“

Am 2. Februar 2020 hat Papst Franziskus das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Querida Amazonia“ (Das geliebte Amazonien) veröffentlicht. Hirten und Gläubige, die um Glaubensfundamente wie das katholische Priestertum besorgt waren, nahmen das Schreiben mit großer Erleichterung und Dankbarkeit auf. Diejenigen, welche eine Aufhebung des Zölibats erwarteten, wurden enttäuscht. In seinem Grußwort zur Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz erklärte Erzbischof Dr. Nikola Eterović, der Apostolische Nuntius in Deutschland, am 2. März 2020, was das Schreiben für die Kirche in Deutschland bedeutet. All unser Tun müsse auf das letzte Ziel ausgerichtet sein, nämlich die Vollendung im Himmelreich. Die Ansprache leicht gekürzt.

Von Erzbischof Dr. Nikola Eterović

„Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung“ (Mk 16,15). …

Die Worte aus dem Markusevangelium, mit denen der Herr Jesus seine Jünger vor seiner Himmelfahrt zur Mission ausgesandt hat, finden sich auch im vierten Kapitel des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens Querida Amazonia vom 2. Februar 2020 (QA 64). In diesem Kapitel beschreibt der Heilige Vater Franziskus eine kirchliche Vision für die Gegenwart und Zukunft der Evangelisierung des Amazonasgebietes. … Aber es ist auch universal ausgerichtet, wie der Bischof von Rom schreibt, und wendet sich daher aus zwei Gründen an die ganze Welt: Erstens, „um zu helfen, die Liebe zu diesem Land und die Sorge darum zu wecken, weil es auch ‚unser‘ Land ist, und um einzuladen, es gleichsam als ein heiliges Geheimnis zu bestaunen und zu erkennen“ und zweitens, „weil die Aufmerksamkeit der Kirche gegenüber den Fragestellungen dieses Ortes uns verpflichtet, einige Themen kurz aufzugreifen, die nicht vergessen werden dürfen und die auch anderen Regionen der Erde im Hinblick auf ihre eigenen Herausforderungen als Anregung dienen können“ (QA 5). Eines der zentralen Themen ist die Aktualität und Dringlichkeit der Evangelisierung.

Amazonien und Deutschland

Das ist der Grund, weshalb das Thema der Evangelisierung erneut Aufmerksamkeit verlangt. Es steht im Zusammenhang mit dem Synodalen Weg innerhalb der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Zweimal zitiert der Heilige Vater Franziskus in Querida Amazonia sein Schreiben an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland vom 29. Juni 2019, beide Male im vierten Kapitel in Nummer 66, wo es um die Inkulturation geht. Inkulturation geschieht nach dem Papst, indem die Kirche „nichts von dem Guten, das in den Kulturen Amazoniens bereits existiert, außer Acht lässt, sondern es aufnimmt und im Lichte des Evangeliums zur Vollendung führt. Sie verachtet auch nicht den Reichtum der über die Jahrhunderte überlieferten christlichen Weisheit, so als ob sie sich einbildete, die Geschichte, in der Gott auf vielfältige Weise gewirkt hat, ignorieren zu können, denn die Kirche hat ein vielgestaltiges Gesicht „nicht nur aus einer räumlichen Perspektive […], sondern auch aus ihrer zeitlichen Wirklichkeit heraus“. Dies ist die authentische Tradition der Kirche, die keine statische Ablagerung oder ein Museumsstück ist, sondern die Wurzel eines wachsenden Baumes. Die Jahrtausende alte Tradition bezeugt das Wirken Gottes in seinem Volk und hat die Aufgabe, „das Feuer am Leben zu erhalten, statt lediglich die Asche zu bewahren“ (QA 66).

Der Heilige Vater sieht hier offensichtlich eine Parallele zwischen Amazonien und Deutschland, sodass es angebracht scheint, die Bedeutung seiner kirchlichen Vision zu bekräftigen, die mit den Worten überschrieben wird: Unverzichtbare Verkündigung in Amazonien. Hierbei unterstreicht der Römische Pontifex die fundamentale Bedeutung der Evangelisierung im gegenwärtigen Wirken der Kirche. Berücksichtigt man, dass die allgemeinen Regeln für die ganze Kirche gelten, könnte man statt Amazonien auch Deutschland nennen und auf diese Weise die Aktualität der Lehre des Bischofs von Rom auch für die Situation der pilgernden Kirche in Deutschland erschließen.

Der Vorrang der Evangelisierung

Im Anschluss an die Analyse der vielfältigen Nöte und Ängste der Menschen im Amazonasgebiet schreibt der Heilige Vater Franziskus: „Als Christen verzichten wir nicht auf die Option des Glaubens, die wir aus dem Evangelium empfangen haben. Obwohl wir uns gemeinsam mit allen engagieren wollen, schämen wir uns nicht für Jesus Christus. Für diejenigen, die ihm begegnet sind, die in seiner Freundschaft leben und sich mit seiner Botschaft identifizieren, ist es unumgänglich, von ihm zu sprechen und andere auf seine Einladung zu einem neuen Leben aufmerksam zu machen: „Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!‘ (1 Kor 9,16)“ (QA 62).

Der Prozess der Evangelisierung schließt soziale Förderung, die Option für die Ärmsten und das Eintreten für deren Rechte mit ein. Das allein aber ist nicht ausreichend. Es ist außerdem geboten, „sie zur Freundschaft mit dem Herrn einzuladen, der ihnen weiterhilft und Würde verleiht. Es wäre traurig, wenn sie von uns nur eine Sammlung von Lehrsätzen oder Moralvorschriften erhielten, aber nicht die große Heilsbotschaft, jenen missionarischen Ruf, der zu Herzen geht und allem einen Sinn verleiht. Wir können uns auch nicht mit einer sozialen Botschaft zufriedengeben. Wenn wir uns mit unserem Leben für sie einsetzen, für die Gerechtigkeit und die Würde, die sie verdienen, können wir nicht vor ihnen verbergen, dass wir dies tun, weil wir in ihnen Christus erkennen und weil uns bewusst geworden ist, welch große Würde Gott, der Vater, der sie unendlich liebt, ihnen verleiht“ (QA 63).

Die Evangelisierung ist nicht nur eine Pflicht der Kirche und seiner Vertreter gemäß dem Auftrag des auferstandenen Herrn, sondern auch ein Recht der Menschen, die Jesus Christus und sein Evangelium noch nicht oder nicht ausreichend kennen. Die Armen „haben ein Recht auf die Verkündigung des Evangeliums, besonders auf jene grundlegende Verkündigung, die als Kerygma bezeichnet wird und die „die hauptsächliche Verkündigung [ist], die man immer wieder auf verschiedene Weisen neu hören muss und die man in der einen oder anderen Form […] immer wieder verkünden muss“.

Es ist die Verkündigung eines Gottes, der jeden Menschen unendlich liebt und der uns diese Liebe vollkommen in Christus geoffenbart hat, der für uns gekreuzigt wurde und als der Auferstandene in unserem Leben gegenwärtig ist. Diese Botschaft muss in Amazonien beständig und auf vielfältige Weise zu hören sein. Ohne diese leidenschaftliche Verkündigung würde jede kirchliche Struktur nur zu einer weiteren NGO werden, und wir würden damit auch nicht der Weisung Jesu Christi entsprechen, die da lautet: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! (Mk 16,15)“ (QA 64).

Der Verkündigung des Evangeliums folgen Werke der Nächstenliebe und Caritas u. die ganzheitliche Förderung der menschlichen Person. „Jede Initiative zur Vertiefung christlichen Lebens muss diese Verkündigung als ständigen Bezugspunkt haben, „denn ,die ganze christliche Bildung ist in erster Linie Vertiefung des Kerygmas, das immer mehr und besser assimiliert wird‘. Die grundlegende Antwort auf diese Verkündigung – sofern es zu einer persönlichen Begegnung mit dem Herrn kam – ist die brüderliche Liebe, jenes ,neue Gebot […], das das erste und größte ist und das uns am meisten als Jünger erkennbar macht‘. So bilden das Kerygma und die brüderliche Liebe die große Synthese aller Inhalte des Evangeliums, die man Amazonien nicht vorenthalten kann. Die großen Glaubenszeugen Lateinamerikas wie der hl. Turibio von Mongrovejo oder der hl. Josef von Anchieta haben dies vorgelebt“ (QA 65).

Auf diesem Fundament der Evangelisierung gründet sodann die erwünschte soziale, geistliche und liturgische Inkulturation in Amazonien. Hier führt Papst Franziskus aus: „Die Kirche ist gerufen, mit den Völkern Amazoniens unterwegs zu sein. In Lateinamerika fand dieser gemeinsame Weg seinen besonderen Ausdruck in der Bischofsversammlung in Medellín (1968) und in ihrer Übertragung auf das Amazonasgebiet in Santarém (1972), dann in Puebla (1979), Santo Domingo (1992) und Aparecida (2007). Der Weg geht weiter, und die missionarischen Bemühungen müssen in einer Kultur der Begegnung zu einer ,vielgestaltigen Harmonie‘ wachsen, wenn sie zu einer Kirche mit einem amazonischen Gesicht führen sollen. Damit aber diese Inkarnation der Kirche und des Evangeliums möglich wird, muss die große missionarische Verkündigung immer wieder neu erklingen“ (QA 61).

Schlussbemerkungen

Mir kommen dabei besonders Worte aus dem bereits erwähnten Papstbrief in den Sinn: „Pastorale Bekehrung ruft uns in Erinnerung, dass die Evangelisierung unser Leitkriterium schlechthin sein muss, unter dem wir alle Schritte erkennen können, die wir als kirchliche Gemeinschaft in Gang zu setzen gerufen sind; Evangelisieren bildet die eigentliche und wesentliche Sendung der Kirche“ (Nr. 6). „Die Kirche, Trägerin der Evangelisierung, beginnt damit sich selbst nach dem Evangelium auszurichten. Als Gemeinschaft von Gläubigen, als Gemeinschaft gelebter und gepredigter Hoffnung, als Gemeinschaft brüderlicher Liebe muss die Kirche unablässig selbst vernehmen, was sie glauben muss, welches die Gründe ihrer Hoffnung sind und was das neue Gebot der Liebe ist“ (Nr. 7).

Ich schließe meine Einlassung mit der Einladung zur christlichen Hoffnung. Dies tue ich mit den Worten des Heiligen Vaters Franziskus: „Uns eint die Überzeugung, dass nicht alles mit diesem Leben einmal endet, sondern dass wir zum himmlischen Festmahl berufen sind, wo Gott alle Tränen trocknen und entgegennehmen wird, was wir für die Leidenden getan haben“ (QA 109).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Evangelisierung lebt von der persönlichen Beziehung zu Jesus Christus

Neue Formen betender Gottsuche

„Herr, lehre uns beten!“ (Lk 11,1). Mit dieser Bitte wandten sich die Jünger an Jesus. Auf ihren Wunsch ging der Herr sofort ein und schenkte ihnen das „Vaterunser“. Jedes missionarische Bemühen muss darauf ausgerichtet sein, die Menschen zu einer persönlichen Gottesbeziehung hinzuführen. Das Gebet ist Herz und Angelpunkt des christlichen Glaubens. Evangelisierung lebt davon, dass einerseits die Missionare selbst den Aufbau des Reiches Gottes allein von Jesus Christus erwarten und ein sichtbares Zeugnis von ihrem Geist des Gebets ablegen, dass sie dadurch aber auch die suchenden Menschen befähigen, ihr Herz zu Gott zu erheben und in eine persönliche Beziehung mit Jesus Christus einzutreten. Paul Josef Kardinal Cordes beschreibt in nachfolgendem Beitrag[1] seine Erfahrungen mit neuen geistlichen Bewegungen, die in der heutigen Zeit einen fruchtbaren missionarischen Einsatz leisten.

Von Paul Josef Kardinal Cordes

Im Jahr 1946 hielt der junge Pater Karl Rahner († 1984) Fastenpredigten in der Kirche St. Michael in München. Stadt und Land standen noch stark unter dem Eindruck des schrecklichen Zweiten Weltkriegs. Dessen Leid und Wunden schmerzten noch alle. Auch bedrückte manch Gewissenhaften die Schuldenlast des eigenen Volkes. Die unvergleichbare Heimsuchung nötigte die am Boden liegenden Christen dazu, um einen Neuanfang zu ringen. Die damaligen Worte des Paters mögen vielleicht trotz der völligen Andersartigkeit der Gründe – mutatis mutandis – in der heutigen Schmach der Skandale hohe Aktualität bekommen.

In einer seiner Katechesen fragt er sich, ob denn das kostbare Alabastergefäß der Sünderin (Lk 7,37), das um Jesu willen im Haus des Pharisäers in Stücke ging, zerbrochen sei wie ein Scherben, der zu nichts mehr nütze, endgültig weggeworfen vom Töpfer als Gefäß der Schande, ausgegossen und leer. Oder ob Gott nochmals seinem Volk eine Zeit schenke „zur Selbstbesinnung auf seine wahre Berufung, die einfach darin besteht, christlich zu sein in dem Glauben, dass dann alles andere dreingegeben wird – oder ob Europa langsam verkommt als Land der degenerierten Völker, die Bettler geworden sind an Leib und Seele und Geist“.

Aber wer wisse denn schon die Möglichkeiten Gottes auch nur zu ahnen, fährt Rahner dann fort, um zu versichern:

„Auch jetzt noch kann Gott trotz aller geschichtlichen Notwendigkeiten, die für Gott, den Herrn der Geschichte, immer noch tausendfach offen sind, auch zu uns sagen, was er einst dem alten Bundesvolk gesagt hat: Siehe, heute lege ich dir Leben und Glück, Tod und Unglück vor. […] Ich rufe heute Himmel und Erde gegen euch als Zeugen an: Leben und Tod, Segen und Fluch habe ich dir heute vorgelegt. So wähle das Leben, damit du am Leben bleibst. Liebe den Herrn, deinen Gott, gehorche ihm und sei ihm treu ergeben! Denn davon hängt dein Leben ab und die lange Dauer deiner Tage.“

Trotz der Trümmer der Geschichte stünde es uns immer noch zu, Glückliches, Großes und Erhabenes von Gott zu erbitten.

„Werden wir also beten? Werden wir als Christenheit und als Volk endlich beten, viel beten, innig beten, beten um das Reich Gottes und um eine neue Begnadung, so wenig wir auch ahnen können, wie sie geschehen soll […]. Oder werden wir im Unglück hart und verstockt bleiben oder gleichgültig und träge, Menschen, die nur bedacht sind, aus dem allgemeinen Brand das erbärmliche Bündel ihres eigenen Vorteils davonzutragen“ (Karl Rahner: Von der Not und dem Segen des Gebetes, Freiburg 1958, 150 f.).

Wer Pater Rahner gekannt hat, verdächtigt diesen Appell zum Gebet nicht des Spiritualismus; seine Inkarnationstheologie war epochal. Und sein Wehruf ist zeitlos. Immer wieder drängte es ja Glaubende, Gottes Antlitz nachdrücklicher zu suchen. Neue Formen, sich ihm zuzuwenden, gingen in die Frömmigkeitsgeschichte ein: Wallfahrten zu Gnadenorten des Heils, der Rosenkranz, der Kreuzweg.

Dass es auch heute keinen Aufschub duldet, Gottes erlösende Nähe herabzurufen, bedarf keiner Begründung. Darum verwundert es nicht, dass Rahners Ruf in einer beschädigten und niedergedrückten katholischen Kirche erneut Hörer finden konnte. Da und dort trieb die leidvolle Katastrophe – ähnlich der, die den Pater bewegte – zu einer innigeren, direkten Gottesbegegnung. Menschen suchen das Angesicht Gottes mit Nachdruck und neuer Hingabe. Neben den alten Frömmigkeitsformen wurden ihnen sehr unterschiedliche neue Weisen des Gebets geschenkt. Inmitten eines Klimas, in dem das Wort „Gott“ schal geworden ist und leer erscheint, schauen sie auf ihn wie auf ein Du, dem sie in Christus personal begegnen möchten. Jesus von Nazareth erweist sich wieder einmal als „der Weg“. Wohl ist die Zahl solcher Beter eher klein. Doch vitalisiert vom Himmel der „Geber aller Gnaden“ durch sie die innere Glaubensdynamik der Kirche. Und sie bereichern deren Sendung mit frischer Missionskraft, damit wir, das Volk Gottes, nicht so fanatisch auf unmittelbare Diesseitseffizienz setzen.

Die Liturgie als Maß

In der Skala der katholischen Gottesverehrung steht unbestritten die Liturgie an der Spitze. Die kirchliche Lehre und die menschliche Erfahrung geben ihr diesen Platz. Die Geschichte bestätigt dies. So hörte etwa der heilige Antonius (wohl † 356), Mönchsvater und Einsiedler, im Gottesdienst die Worte Jesu aus dem Evangelium: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen“ (Mt 19,21). Sie trafen ihn ins Herz und er setzte sie ohne Abstriche um. Und Paul Claudel, ein großer französischer Dichter († 1955), fand als Suchender in Notre-Dame in Paris bei der Teilnahme an der Weihnachtsvesper (1886) seinen Glauben: „Ich glaubte mit einer so mächtigen inneren Zustimmung, mit solch unerschütterlicher Gewissheit, dass keinerlei Platz auch nur für den leisesten Zweifel offenblieb.“

Beide Vorfälle belegen die Kostbarkeit der liturgischen Feiern für die Gottesbegegnung. Ihr Rang ist unbestritten; nicht nur weil es dem Schöpfer zuerst und zutiefst zukommt, vom Geschöpf geehrt zu werden; sie geleiten auch die suchende Seele über verlässliche Wege – gerade in der Muttersprache. Sie dämpfen emotionale Sackgassen und halten glaubensfremde Irrtümer fern. Und wer ihre Würde vor Augen hat, nimmt sich nicht heraus, sie als katechetische Laboratorien zu missbrauchen. Durch ihren Wert erschließen sie dem Ehrfürchtigen heilige Wahrheiten. Da ihre Worte sich auf die authentische Offenbarung stützen, können sie mit derselben Kraft berühren, die unser Schöpfer und Erlöser in sie hineingelegt hat. Es war fraglos ein hoher Gewinn für geisterfüllte und existenzielle Annäherung an Gott, dass das Vaticanum II der Kirche die Feier des Gottesdienstes in der Muttersprache zurückgab.

Das Psalmengebet

Auch den ehrwürdigen Schatz des Psalmengebetes hat die Kirche nach dem Konzil manchem Christen neu erschlossen. Ich durfte es immer wieder selbst erleben. Etwa vor Jahren: Während der Sommerferien war ich mit einer Gruppe der italienischen geistlichen Bewegung Comunione e liberazione in den Dolomiten. Morgens bei unserem Aufstieg im „Rosengarten“ holten die jungen Leute wie selbstverständlich ihr Psalterium aus dem Rucksack und wir beteten das kirchliche Morgengebet, die Laudes. Das war ihre tägliche Gewohnheit. Gute Katechisten deuteten ihnen gelegentlich die manchmal schwierigen Passagen. So war das offizielle Gebet der Kirche für sie keine formale Routine, sondern wurde von jedem persönlich verrichtet.

Die Schriftbetrachtung

Zu einer besonderen Form der Begegnung mit Gottes Wort lädt die Gemeinschaft des Neokatechumenats ein; man nennt sie Scrutatio. Diese Hinwendung zur Heiligen Schrift wird privat oder in kleinen Gruppen geübt. Ein gewichtiger Vers der Offenbarung dient als Einstieg. Dieser vermag den Betrachtenden vielleicht nicht sogleich zu berühren. Anhand der „Jerusalemer Bibel“ versucht der Beter dann durch die dort angegebenen Parallelstellen und Anmerkungen weiter in Gottes Wort einzudringen. Irgendwann weiß er sich angesprochen und auf seine persönliche Situation hin herausgefordert. Er lässt sich einladen, das eigene Leben unter ein bestimmtes Wort der Heiligen Schrift zu stellen. Im Verlauf der Lesung und der Betrachtung erfährt er, dass diese Botschaft an ihn gerichtet ist. Um sich der Bedeutung des gelesenen Wortes gewiss zu werden, wird der die eigene Lebenswirklichkeit bewegende Vers herausgeschrieben und festgehalten. Das Leben tritt unter die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes.

Ausgehend von einem ersten Wort kann dann ein weitverzweigtes Gefüge biblischer Worte entstehen, in denen sich Zuspruch und Bestärkung, Ermutigung und Erkenntnis, Korrektur und Ermahnung ereignen. So wird er erfahren, dass sein Leben in einer dichten Form der Wirklichkeit Gottes begegnet – ohne Relativierung durch die üblichen Abstriche.

Jemand mag auch erkennen, dass der Weg zur Umkehr einzuschlagen ist. So wie ich einmal Zeuge einer tiefen Bestürzung eines priesterlichen Mitbruders wurde. Er lebte zufrieden sein gutbürgerliches Leben. Dann hatte ihn Jesu Wort getroffen: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Mt 8,20). Die Verse erschütterten ihn so stark, dass er seine Tränen nicht zurückhalten konnte.

Nightfever

Wohl kommt der Glaube vom Hören (oder Lesen). Doch in den kostbarsten Zeichen der Kirche wird das geglaubte Wort gleichsam sichtbar. Theologen nennen das Sakrament ein verbum visibile – ein „sichtbar gewordenes Wort“. Besonders greifbar tritt diese Überzeugung zutage im Sakrament der Eucharistie. Gewiss ist dieses Sakrament vor allem das Gedächtnis des Kreuzesopfers und die Feier des heiligen Mahles. Aber der gestorbene und auferstandene Herr hat sich auch erniedrigt, unter der Brotgestalt in ihr dauerhaft anwesend zu sein. Große Männer und Frauen der Kirche haben daher mit Hingabe die Nähe zum eucharistischen Herrn gesucht, etwa der selige Charles de Foucauld († 1916) oder die hl. Teresa von Kalkutta († 1997). Der hl. Johannes Paul II. stellte als Erzbischof von Krakau in seiner Hauskapelle Tisch und Stuhl vor die Stufen seines Altars; dort konzipierte er Predigten und Vorträge – im Angesicht des eucharistischen Herrn. Und als Papst begann er den Tag in Rom mit einer halben Stunde stiller Anbetung der Eucharistie in der Kirche des Palazzo Apostolico vor Beginn der hl. Messe.

Viele der jüngsten Aufbrüche jugendlicher Gottsucher haben einen Schwerpunkt in der Verehrung des Altarssakraments, so z.B. eine Form, die sich „Nightfever“ nennt und eine geistliche, intime Begegnung mit dem Herrn ermöglichen will.

Die Idee zu den Nightfever-Abenden entstand nach dem Kölner Weltjugendtag 2005. Ursprünglich als einmaliger Abend geplant, fand am 29. Oktober 2005 das erste Nightfever in St. Remigius in Bonn statt. Freiburg, Mainz und viele andere Städte folgten. 2008 bildete sich ein internationales Netz. Gegenwärtig haben 27 Länder ihr „Nightfever“ – darunter Österreich, die Schweiz, die Niederlande, Dänemark, England, Italien, Irland, Spanien, Kanada, Kroatien, Australien, Brasilien, USA, Belgien, Polen, Argentinien, Thailand, Mexico, Indien, Ungarn und die Tschechische Republik.

Begangen wird das Nightfever überall auf die gleiche Weise. Nach einer hl. Messe ist der ganze Abend durch Gebet, Gesang und Gespräch geprägt: Während das Allerheiligste Sakrament auf dem Altar ausgesetzt bleibt, besteht die Möglichkeit zur Anbetung, aber auch zu diskreten Gesprächen mit Priestern, eventuell zum Empfang des Bußsakramentes in der Beichte. Während der Zeit kann jeder Besucher kommen und gehen, wie er möchte.

Um kirchenferne Passanten zu erreichen, findet Nightfever in zentralen Kirchen statt, die in der Nähe von Bars, Restaurants oder Kinos liegen. Dort kommen auch spätabends noch viele Menschen vorbei. Helfer laden sie mit einer Kerze auf der Straße ein, für einen Moment ihre Abendplanung zu unterbrechen und in die Kirche mitzugehen. Sie können mit ihren Anliegen, Freuden und Sorgen zu Gott kommen, um vor ihm vielleicht selbst eine Kerze anzuzünden.

Trotz seiner individuellen Intimität behält dieses Gebet seinen apostolischen Sinn. Es möchte kirchenferne junge Menschen erreichen und zum Glauben führen. Der Mitarbeiterkreis von Nightfever ist offen. Seine Initiatoren sind davon überzeugt, dass diese Begegnung mit Gott alles verändern kann.

Von dem gleichen Strom der Frömmigkeit sind manche Impulse jugendlichen Betens getragen. Um nur noch einen anderen zu nennen: Auch das zu Pfingsten 2019 wieder gefeierte „Fest der Jugend“ in Salzburg, das in der Loretto-Gemeinschaft begann, hat in der eucharistischen Anbetung eine bestimmende Säule. Am „Abend der Barmherzigkeit“ wird im Dom das Allerheiligste Altarssakrament zur Anbetung feierlich ausgesetzt, und während der Nacht bieten Priester fortdauernd den Empfang des Bußsakraments an.

Das Preisgebet der Charismatischen Erneuerung

Ganz anders als beim „Nightfever“ sind Fluidum und Klima beim „Lobpreis“ der Charismatischen Erneuerung. Er versammelt eine eher kleine Zahl von Menschen unterschiedlicher Lebensverhältnisse. Sie möchten Gott und seine Liebe besser kennenlernen sowie einander annehmen. Die Beter treffen sich gewöhnlich einmal in der Woche in einer Atmosphäre des gegenseitigen Wohlwollens und Für-einander-Daseins. Alle Menschen sind eingeladen. In Deutschland finden sich überwiegend Katholiken ein.

Dieses Gebet, der Lobpreis, stützt sich auf einen Vers des Apostels Paulus: „Was soll also geschehen, Brüder und Schwestern? Wenn ihr zusammenkommt, trägt jeder etwas bei: einer einen Psalm, ein anderer eine Lehre, der dritte eine Offenbarung, einer redet in Zungen und ein anderer übersetzt es“ (1 Kor 14,26).

Zur Gebetszeit steht Gottes Lobpreis im Mittelpunkt. Viele neue Gesänge sind entstanden; sie werden von Instrumenten begleitet. Immer wieder ertönt das „Alleluja“, das zum Kennzeichen des Preisgebets geworden ist. Man feiert Gott mit Enthusiasmus. Distanzierte Beobachter kritisieren solches Singen wohl als gezwungen und „aufgesetzt“. Doch der Völkerapostel fordert die Philipper auf: „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!“ (Phil 4,4). Erfahrung lehrt, dass manche Probleme sich lösen, wenn wir anfangen, Gott aus der Mitte unseres Herzens zuzujubeln. Er rückt die als bedrückend empfundene Last in ein anderes Licht. Und die Teilnehmer werden auch immer ermutigt, das Lob Gottes im Herzen in den Alltag hineinzutragen.

Zu Anfang wird Gottes Wort verlesen und aufmerksam angehört. Dazu tragen Verantwortliche Weisungen für das Leben vor, die der Offenbarung und der Lehre der Kirche entnommen sind. Sie sollen zum Wachstum im geistlichen Leben beitragen. Wenn jemandem eine Glaubens- oder Lebenserfahrung wichtig erscheint, hat er dann auch Gelegenheit, sie den Mitfeiernden zu bezeugen und die Versammelten so im Glauben zu stärken. Lange Zeiten der Stille dienen zur individuellen Vertiefung von Vollzug und Botschaft. Einem Leader obliegt es, dass alles angemessen und geordnet verläuft.

Das „Herzensgebet“ im Sinne des russischen Pilgers

Während beim Preisgebet der Charismatischen Erneuerung Musik und Lieder den Beter stützen und in ihm Dynamik und Feuer wecken, verweist ihn das „Herzensgebet“ fortwährend auf seinen individuellen Sinn für Gott. Obwohl in Gemeinschaft geübt, vollzieht es sich in absoluter Stille. Es setzt demnach – ähnlich wie die stille Anbetung der Eucharistie – einen für unsere Frömmigkeit heute sehr wünschenswerten Akzent. Denn die alltägliche Betriebsamkeit droht ja sich auch der Liturgie zu bemächtigen, und uns allen fällt es zunehmend schwerer, uns ohne optische oder akustische Impulse allein aus innerer Besinnung Gott zuzuwenden.

Fraglos setzt das Herzensgebet eine gewisse geistliche Reife voraus. Auf dem Glaubensweg des „Neokatechumenats“ wird es darum erst nach dem Abschluss des „Vorkatechumenats“ vorgestellt und eingeübt. Es sind sieben Katechesen, die zu ihm hinführen sollen. Sie verteilen sich auf jeweils zwei Abende der Woche und werden im Rahmen des Vesper-Gottesdienstes vorgetragen. Unterschiedliche Perikopen des Evangeliums bilden den Schlüssel. Die Unterweisungen erläutern dann den Sinn und die Praxis dieser Gebetsform und nutzen dazu auch die bekannten „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“.

Für den Vollzug selbst dient das Evangelium über die Heilung des Blinden (Mk 10,46-52) als Modell: Die Neokatechumenen werden eingewiesen, ähnlich wie dieser in der Stille des Herzens Jesus immer wieder anzurufen: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Jede der Vespern solcher Katechese-Abende kulminiert im 30-minütigen „stillen Gebet“ der ganzen liturgischen Versammlung. Die Gemeinschaft erweist sich als große Hilfe, langsam zu innerer Ruhe zu kommen.

Nach der Phase des Erlernens behält diese Gebetsform in der Glaubensschule des „Neokatechumenats“ ein zentrales Moment. Sie gilt gar als „Lackmustest“ der Authentizität und Intensität des Glaubenslebens. Ihr letzter Sinn ist das kontinuierliche Hineinwachsen in die Liebe Gottes.

Ausblick

Die genannten neuen Gebetsformen bieten ein buntes Bild. Darum sind sie nicht auf einen Nenner zu bringen. Was ihnen dennoch gemeinsam ist, würde ich als „Lebensnähe“ bezeichnen. Sie sind inkarniert, nicht verkopft. Ihr Stil beachtet, dass die Glaubenswahrheit uns auf zwei Ebenen erreichen muss: auf der der Intuition und der der Reflexion. Ihre Praxis wechselt ab zwischen Erleben und Bedenken. Durch diese Koppelung von außen und innen vermeidet ihr Vollzug die Falle, die existenzielle Seite der Wahrheit durch die intellektuelle zu ersetzen. Am Glaubensakt müssen ja Physisches und Mentales beteiligt sein.

Der Völkerapostel Paulus schreibt an die Römer: „Denn wenn du mit deinem Mund bekennst: Herr ist Jesus – und in deinem Herzen glaubst: Gott hat ihn von den Toten auferweckt, so wirst du gerettet werden“ (Röm 10,9). Er weist auf den doppelten Aspekt der Glaubensverankerung hin. Gottes rettendes Heilswort gilt beidem: der in der Offenbarung vorgegebenen objektiven Wahrheit und der individuellen Intimität. Im Wort bekundetes Glaubenswissen ist mit einer persönlichen Entscheidung im Herzen zusammenzubringen. Auf diese Weise macht Glaube sich über abstrakte Kenntnis hinaus an der Person fest: am Du des lebendigen Gottes, der als „Gott für uns und mit uns“ von Jesus Christus verkündet und jedem von uns in Christus nahegekommen ist. Genau in diesem Punkt sind die neuen Formen ein Heilmittel gegen den verderblichen Säkularismus.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Der Beitrag wurde in einem neuen Buch von Paul Josef Kardinal Cordes (S. 161-171 veröffentlicht: Pädophilie – Ein Alarmruf Papst Benedikts XVI., Illertissen 2019, geb., 176 S., ISBN 978-3-9479311-3-2, 16,95 (D), 17,50 (A) Euro – Bestell-Mail: buch@media-maria.de – Website:  www.media-maria.de – Gleich zweimal intervenierte Benedikt XVI. zum Pädophilie-Skandal und benannte seine tiefsten Wurzeln: Transzendenzverlust und Gottvergessenheit. Tragisch ist, dass seine Analyse kaum Gehör fand. Dieser päpstliche Appell erinnert Kardinal Cordes an den Tadel Jesu: „Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?“ (Lk 18,8). In Deutschland den Glauben zu stärken, ist für ihn das Gebot der Stunde. Faszinierende Gestalten wie zum Beispiel die Märtyrer von Lyon oder Frédéric Ozanam zeigen den Weg.

Zur Symbolik zweier Städte

Washington und sein Marienheiligtum

„Alles in Christus erneuern“ war der Wahlspruch des hl. Papstes Pius X. (1835-1914, Papst ab 1903). Er war davon überzeugt, dass die Kirche nur dann eine wahre Erneuerung erleben kann, wenn sie sich nicht von den ideologischen Strömungen des Modernismus mitreißen lässt. Mit ungestümem Selbstbewusstsein widersetzte er sich allen Kräften, welche die Fundamente des katholischen Glaubens auszuhöhlen versuchten. Professor Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea zeigen auf, wie sich diese Auseinandersetzung in der Ausgestaltung des Nationalheiligtums der Unbefleckten Empfängnis in Washington widerspiegelt. Es war als Gegenpol zur architektonischen Manifestation der Freimaurerei mit ihrer „neuen Weltordnung“ konzipiert. Ein Glaubenszeugnis auch für heute.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Als Zusammenschau der Heilsgeschichte spricht die Apokalypse von Jesus Christus, „dem Erstgeborenen der Toten, dem Herrscher über die Könige der Erde“ und der ungeheuren Berufung aller Menschen: Denn er ist es, „der uns liebt und uns durch sein Blut von unseren Sünden erlöst, uns zu Königen gemacht hat und zu Priestern für Gott seinen Vater“.[1]

Was aber kennzeichnet unsere Gegenwart? „Das Übel, welches die westliche Gesellschaft niederdrückt, ist eine Traurigkeit, die sich ihrer selbst bewusst ist“, antwortet Robert Kardinal Sarah. Der afrikanische Präfekt der Gottesdienstkongregation, spricht von der Akedia, der geistigen Trägheit. Sie töte den Antrieb jeder Spiritualität: die Sehnsucht nach Gott. „Der westliche Mensch kapselt sich vor dem gigantischen Ruf Gottes zur Heiligkeit ab“. Dies habe unmittelbare Folgen: „Wer sich dem göttlichen Leben verweigert, den kann nichts mehr glücklich machen. Die Depression hat die Herrschaft über die Herzen der abendländischen Menschen gewonnen. Sie hat sich breitgemacht und verströmt ihr tödliches Gift“. Auf gewisse Weise mache der Westen die Erfahrung jener radikalen und frei gewählten Einsamkeit, wie sie die Verdammten erlebten.[2]

Todesmelodie der Moderne

Dieses Lebensgefühl veranschaulicht der vielfach prämierte Film „Melancholia"[3] des skandalumwitterten Regisseurs Lars von Trier. Musikalisch durchdrungen ist sein Endzeitfilm von Wagners Vorspiel zu „Tristan und Isolde“, an dessen Ende der vagabundierende Planet Melancholia mit der Erde kollidiert. Tristan, seelisch zerrüttet vom Gift eines Liebestrankes, wird zum Symbol der todgeweihten Moderne, die Schopenhauers Weltsicht folgt: Alles Streben ist blind und Einsicht in die Sinnlosigkeit der einzig verbleibende Sinn. „Somit wird Schopenhauer neben Marx zu einem der beiden Philosophen, welche die Anfänge der ,Kritischen Theorie‘ entscheidend beeinflusst haben“, resümiert der Philosoph Klaus-Jürgen Grün.[4] Trank Tristan, trank der Westen aus dem „goldenen Becher der großen Hure, angefüllt mit Abscheulichkeiten und dem Unrat ihrer Unzucht“?[5]

Die Apokalypse lässt sich als überzeitliche Liturgie der Heilsgeschichte deuten, in der, was schon ist und noch nicht ist, sich durchdringen, nicht als linearer Ablauf, sondern in liturgischer Zeit. Geheimnisvoll schildert sie auch die Zeichen unserer Zeit. Immer wieder spricht diese Schau aber auch von der Hochzeit des geschlachteten Lammes mit seiner Braut, „der Frau des Lammes“. Am Schluss weitet sich dieses Bild: „Der Geist und die Braut aber sagen: Komm! Wer es hört, soll sprechen: Komm! Wer Durst hat, der komme. Wer will, empfange das Lebendige Wasser des Lebens umsonst“.[6] Das Wasser des Lammes – einziges Gegengift zum Todestrank des modernen Tristan? Und ruft nicht große Kunst, wenn auch verworren und verdreht, nach Erlösung, vermittelt von einer Frau?

Hauptstadt einer Weltordnung

Wie merkwürdig, dass der „Frau des Lammes“ und ihrer Stadt eine Gegenfrau und ein Gegen-Jerusalem entspricht! Die US-amerikanische Hauptstadt will jedenfalls ein Gegenentwurf sein. Machtvoll bezeichnet das überdimensionierte Washington Monument die Mitte eines Novus ordo seclorum, einer Neuen Weltordnung, wie es auf dem Siegel der USA heißt. Sein Grundstein wird am Independence Day des europäischen Revolutionsjahrs 1848 durch jene Freimaurerloge gelegt, deren Mitglied George Washington war, der erste US-Präsident. In einem grandiosen städtebaulichen Wurf verknüpft das Sonnensymbol die Sichtachsen zum United States Capitol im Osten, von großartigen Museen gesäumt, zum White House im Norden und den tempelartigen Jefferson und Lincoln Memorials im Süden und Westen mit ihren überlebensgroßen Statuen.

Auf einem Hügel unweit des Pentagon jenseits des Potomac River erhebt sich ein gewaltiger Freimaurertempel nach dem Vorbild des Leuchtturms von Alexandria: ein lighthouse als Gegenkirche – schließlich heißt ‚Aufklärung‘ auf Englisch enlightenment. Jefferson und Madison hatten diesen Hügel als Kapitol erwogen. Den Grundstein des George Washington Masonic National Memorial legt 1923 Calvin Coolidge, 30. US-Präsident, tausende Freimaurer paradieren, wie auch bei seiner Eröffnung im Jahre 1932, an der Herbert Hoover mit seinem Kabinett teilnimmt. Das Masonic Memorial lässt an die Verurteilungen durch Papst Leo XIII. denken: Die „Sekte der Freimaurer“ habe das Ziel, „die gesamte religiöse und staatliche Ordnung, die das Christentum eingeführt hat, von Grund aus zu zerstören und eine neue zu schaffen nach ihrem eigenen Plan, eine Ordnung, deren Fundamente und Gesetze auf dem Naturalismus beruhen“.[7]

Nationalheiligtum der Immaculata

Auf dem Gebiet gerade dieser Stadt erhebt sich wenige Meilen nordöstlich des Washington Monument das bedeutendste Marienheiligtum Nordamerikas: „Komm, ich zeige dir die Braut, die Frau des Lammes“.[8] Schon die Proklamation der Mary Immaculate, Patroness of the United States am 8. Dezember 1846 weckt den Gedanken an ein Marienheiligtum am Regierungssitz. Doch erst 1913 gibt Pius X. den Impuls zur Realisierung und fördert das Vorhaben mit persönlichen Finanzmitteln. Immer wieder verzögert sich der Bau. Nach einem vollständigen Neuentwurf der ursprünglich neugotisch konzipierten Architektur legt James Kardinal Gibbons, Erzbischof von Baltimore, 1920 den Grundstein, drei Jahre vor dem Masonic Memorial. In romanischen und byzantinischen Stilelementen gelingt ein eigenständiger, in sich stimmiger Entwurf, der Washingtons imperialen Klassizismus überwindet und alle katholischen Mentalitäten der USA verkörpert – die katholische Version des E Pluribus Unum, aus Vielen Eines.

1926 wird die Krypta geweiht. Im Marianischen Jahr 1954, zum 100. Jahrestag des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis, beginnt der Bau der Oberkirche. Am 20. November 1959 weiht Francis Kardinal Spellman, Erzbischof von New York und lebenslanger Freund Pius‘ XII., die Marienbasilika. Die Kirchweihmesse schließt Spellman mit dem feierlichen Act of Consecration to Our Blessed Mother, dem sich alle katholischen Kirchen der USA anschließen. Dieser marianische Aufbruch entspricht dem Geschehen im Deutschland der Adenauer-Zeit.[9] Bereits als Eugenio Kardinal Pacelli besucht der spätere Pius XII. die Baustelle. Als Papst schenkt er dem National Shrine ein kostbares Mosaik nach Tizians „Assunta“. Zuvor hatte Benedikt XV. ein Mosaik nach Murillos „La Purissima Bionda“ gestiftet.

Patrone für die moderne Welt

In der Hauptstadt der Western Civilization ist der National Shrine mit seinen mehr als 70 Kapellen und Oratorien eine Verkündigung der Heilsgeschichte und Glaubensgeheimnisse, des Lebens der Heiligen und Ausdruck der Liebe zur Gottesmutter unter all ihren Titeln und gemäß der besonderen Eigenart aller Völker, deren Kinder in dieses Land eingewandert sind. Von ihrer Ostfassade – aufgrund baulicher Vorgaben ist der National Shrine genordet – lehren vier große Lehrer der heiligen Kirche. Den Erbauern war offenbar gerade ihre Botschaft für die moderne Welt wichtig.

Zunächst fällt Carlo Borromeo auf, Kardinal-Erzbischof von Mailand und Erneuerer seiner heruntergekommenen Diözese. Sein Vetter Federico Borromeo, selbst ein großer Erneuerer, ließ seinem von allen Gläubigen geliebten Onkel den Carlone am Lago Maggiore errichten, eine 23 Meter hohe kupferne Statue. Bis zur Freiheitsstatue war der Carlone die höchste von innen begehbare Statue. Eigentlich ist die Freiheitsstatue nicht originell! Robert Kardinal Bellarmin, wegweisender Kirchenlehrer im Umgang mit der jungen Naturwissenschaft und der Reformation, lehrt ebenfalls von dieser Marienkirche, ebenso wie Thomas von Aquin. Aber wer ist der vierte Lehrer für die Moderne? Es ist der Pius X. Zur Präsenz gerade dieses heiligen Papstes passt die Mahnung Benedikts XVI., der 2008 den National Shrine besucht: „Jedem Bestreben, Religion als Privatsache zu behandeln, muss Widerstand entgegengesetzt werden. Nur wenn ihr Glaube jeden Aspekt ihres Lebens durchdringt, öffnen sich Christen wirklich der verwandelnden Kraft des Evangeliums."[10]

Rückbesinnung auf die Quellen

Offenbar ist der National Shrine zeitgemäß. Denn unter den „neueren katholischen theologischen Strömungen“ in den USA nennt der Religionsphilosoph Thomas Schärtl „die theologische Aufgabe einer verstärken Rückbesinnung auf die Quellen (und das wären für den katholischen Bereich vor allem Augustinus und Thomas von Aquin)“. Er spricht von einer „Rückbesinnung auf das Eigene und Konturierung der eigenen Identität unter dem Vorzeichen verstärkter Abgrenzung vom ‚Zeitgeist‘“. Dabei avanciere die Liturgie „zum ästhetischen Kampfplatz der Identitätssicherung und des Sich-Absetzens von den Zeitläuften“, wie er glaubt, sich ausdrücken zu müssen. Bemerkenswert sei ferner, „dass die Unmittelbarkeit zu Christus wesentlich durch den Priester vermittelt, aber eben im Priester in der allerkonkretesten Weise als erlebbar vorgestellt“ werde.[11]

Die erste Kapelle der Krypta ist dem hl. Pius X. geweiht. Den Besucher berührt die vielleicht ansprechendste Darstellung dieses Papstes. Theodore C. Barbarossa hat diese Marmorstatue 1953 geschaffen, also im Jahr vor der Heiligsprechung. Diesem Künstler muss man nachgehen, wie überhaupt der Kunst in diesem Heiligtum. Wird auch von amerikanischen Künstlern und Künstlerinnen eine Erneuerung europäischer Sakralkunst ausgehen? Die Altarreliefs für Pius X. veranschaulichen sein Dekret, das die Frühkommunion der Kinder ermöglichte, zeigen stürmische See, auf der die Kirche vom Heiligen Geist geleitet wird, representing Pius X’s struggle against Modernism, wie eine Broschüre erläutert, und erinnern an die Bibelübersetzung ins Amerikanische.

Die Marienheiligtümer der Erde

Alle bedeutenden Marienheiligtümer der Erde sind in den Kapellen in der Krypta und Oberkirche gegenwärtig. In der Lourdes-Kapelle können Besucher auf einer Oberammergauer Kniebank knien, die auch schon Eugenio Pacelli benutzte. Besonders berührt es, in Washington das Gnadenbild von Altötting vorzufinden. In seinem Heiligtum ist ja das Herz des Kölner Erzbischofs Josef Clemens bestattet, der Bonn schon 1718 der unbefleckten Gottesmutter geweiht hat. This city of Bonn is the capital of the free world, wird John F. Kennedy im Juni 1963 die Bonner grüßen, nur wenige Meter von der Marienstatue entfernt, die an diese Weihe erinnert.

Auch das Gnadenbild von Mariazell ist in Washington präsent, vor dem Benedikt am Fest Mariä Geburt 2007 den Westen mahnte: „Die Resignation der Wahrheit gegenüber ist meiner Überzeugung nach der Kern der Krise des Westens, Europas. Wenn es Wahrheit für den Menschen nicht gibt, dann kann er auch nicht letztlich Gut und Böse unterscheiden. Und dann werden die großen und großartigen Erkenntnisse der Wissenschaft zweischneidig: sie können bedeutende Möglichkeiten zum Guten, zum Heil des Menschen sein, aber auch – und wir sehen es – zu furchtbaren Bedrohungen, zur Zerstörung des Menschen und der Welt werden."[12]

Eine andere Kapelle preist Our Mother of Africa and Her Divine Son. Eine wunderbare Bronzestatue gibt der afroamerikanischen Welt eine Stimme. Der Skulpteur, Edward Joseph Dwight, Jr., studierter Luft- und Raumfahrtingenieur, war Testpilot der United States Air Force und wurde unter Kennedy als erster Afroamerikaner zum Astronauten ausgebildet. Auch das Kruzifix aus Ebenholz erschüttert, aus dem alles Leid der Afroamerikaner spricht. An den Wänden umgeben es charaktervolle Evangelistenköpfe mit afrikanischen Zügen.

Tiara im Schutz der Immaculata

Aber was zeigt die Vitrine an einem Ehrenplatz in der Krypta? Eine Tiara, umgeben von einer Stola. Als das Zweite Vatikanum das Thema „Armut in der Welt“ behandelt, legt Paul VI. die Tiara ab. Kardinal Spellman erbat sich die Ehre, sie zum Nutzen der Armen zu verwenden und übergab sie nach großen Spenden für die Sozialarbeit dem National Shrine. Als Symbol einer folgenreichen Entwicklung befindet sich also die Tiara seit dem 6. Februar 1968 unter der Obhut der Immaculata. „Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil schien zunächst eine liberale Version des Katholizismus den Sieg davongetragen zu haben“, analysiert Schärtl nüchtern und stellt fest: „Dieser Sieg wird von manchen als Phyrrhussieg auf dem Weg zur vollkommenen Verweltlichung empfunden“,[13] eine Beobachtung, die im Hinblick auf den „Synodalen Weg“ Deutschlands offenbar brandaktuell ist.

Pius X., der den Anstoß zum Bau dieses Marienheiligtums gab, hatte sein Reformpontifikat mit dem Gebet begonnen: „Gott, der reich ist an Erbarmung, beschleunige die Wiederaufrichtung der Völker der Menschheit in Christus Jesus. Denn es kommt nicht auf das eigene Wollen oder Laufen an, sondern auf Gottes Erbarmen“ und erflehte die „allerwirksamste Fürbitte der Gottesgebärerin“, ihres reinsten Bräutigams, des Schutzherrn der heiligen Kirche, sowie der Apostelfürsten Petrus und Paulus.[14] Dieser Beginn einer echten Reform kommt Besuchern in den Sinn, wenn sie vor dem gewaltigen Mosaik Christ in Majesty in der Hauptapsis stehen. Von der Apsis im linken Querhaus mit der apokalyptischen Frau, den Drachenkopf zertretend, wendet sich ihr Blick zum rechten Apsismosaik, das Saint Joseph zeigt, the Defender of the Church. Zudem ist der National Shrine den Apostelfürsten geweiht. Das amerikanische Heiligtum der Immaculata symbolisiert also das zeitlose Programm Omnia instaurare in Christo und mag auch uns Europäern Hoffnung geben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Offb 1,5-6.
[2] R. Kardinal SARAH (2019): Herr bleibe bei uns. Denn es will Abend werden, Kißlegg, 147ff
[3] Premiere: 64. Filmfestspiele von Cannes, Mai 2011.
[4] K. J. GRÜN (2005): Schopenhauer und die Anfänge der Kritischen Theorie, www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de
[5] Offb 17,4.
[6] Offb 22,17.
[7] Humanus Genus, 20. April 1884, Nr. 53.
[8] Offb 21,9.
[9] D. u. W. KOCH (2017): Die Bedeutung Fatimas für die junge Bundesrepublik, in: Mariologische Studien XXV, Regensburg, 173ff.
[10] Vesper am 16. April 2008, www.vatican.va
[11] Th. SCHÄRTL (2012): Amerikanisierter Katholizismus? Ein Blick aus den USA zurück nach Deutschland, in: Stimmen der Zeit 7, 2012, 468.
[12] 8. September 2007, www.vatican.va
[13] SCHÄRTL, 467.
[14] E supremi apostolatus, 4. Oktober 1903, www. vatican.va 

Für wen halten wir Jesus Christus?

Dr. Richard Kocher, Programmdirektor von Radio Horeb, führt uns das Ringen um das Bild von Jesus Christus in den letzten 150 Jahren vor Augen. Bis zum heutigen Tag leiden wir unter den Versuchen, alles Übernatürliche aus dem Evangelium zu verbannen. Der „Entmythologisierung“ fielen nicht nur die Wunder zum Opfer, sondern die Göttlichkeit Jesu selbst. Doch nur der Herr kann uns retten, nicht ein liberaler Jesus als Moralprophet.

Von Richard Kocher

Wenn es mir meine Zeit erlaubt, lese ich die Bücher renommierter Bibelgelehrter über Jesus von Nazareth und bin über das Ergebnis erstaunt. Im Vergleich mit der Zeit meines Theologiestudiums in Augsburg und Rom Anfang der 80er Jahre hat sich vieles getan. Ein geschichtlicher Rückblick scheint mir sinnvoll. 1835 erschien das Buch „Das Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß, welches wie kein anderes im 19. Jahrhundert Reaktionen hervorgerufen hat. Alles, was naturwissenschaftlich nicht erklärbar ist, könne nicht geschehen sein. Das ist sozusagen der „Spamfilter“, den Strauß seiner Auslegung der Evangelien vorschaltete. Jesus könne deshalb niemals dem Gesetz der Schwerkraft zum Trotz auf dem Wasser gewandelt sein, nicht durch einen bloßen Segensspruch Nahrungsmittel vermehrt, Wasser in Wein verwandelt und Tote ins Leben zurückgerufen haben, „denn allen dergleichen Erfolgen pflegen wir sonst nur im Gebiete des Märleins oder des Aberglaubens, niemals auf dem Boden der Geschichte zu begegnen.“

Noch radikaler ging Rudolf Bultmann in seiner Schrift „Neues Testament und Mythologie“ vor, die 1941 erschienen ist, aber erst nach dem Krieg eine beispiellose Wirkungsgeschichte in der Theologie des 20. Jahrhunderts entfaltete. Seinem Spamfilter fiel – in Verschärfung des Ansatzes von Strauß – alles Übernatürliche der Offenbarung zum Opfer. Erledigt (weil dem mythischen Weltbild zugeordnet) sind für ihn die Jungfrauengeburt, die Wunder, der Geister- und Dämonenglaube, der Sühnetod Jesu, die leibliche Auferstehung und die Erscheinungen Christi, der Hinabstieg in das Reich des Todes, die Himmelfahrt und die Erwartung der Wiederkunft. Auch wenn die Ansichten von Rudolf Bultmann mittlerweile passé sind – die Nachwirkungen sind immer noch spürbar.

Der Spamfilter, den heute immer noch etliche Theologen benutzen, ist so eingestellt, dass alles Steile und Anstößige der Äußerungen und Handlungen Jesu erfasst und ausgeschieden wird. Wenn man diesen deaktiviert – und dies tun namhafte Exegeten –, dann wird ein Jesusbild mit einer geradezu umwerfenden Wirkung vermittelt. Es gibt kaum eine Stelle im Evangelium, an der sich Jesus nicht mehr oder weniger deutlich von seiner Umwelt abhebt, und das geht bis in die Kleinigkeiten. Sein Lehrstil ist einzigartig, denn er lehrte sie mit Vollmacht, „nicht wie die Schriftgelehrten“ (Mk 1,22).

Er zitiert nie andere Schriftkundige seiner Zeit, wägt nicht deren Meinungen ab, wie es damals üblich war, verwendet nie die Botenformel alttestamentlicher Propheten („So spricht der Herr“, „Das sind Worte des Herrn“) und beruft sich nicht auf Autoritäten des Alten Bundes, ja nicht einmal auf Gott selbst. Souverän wischt er bis dahin nicht hinterfragte Traditionen vom Tisch, wobei er sich nur auf sich selbst beruft („Ich aber sage euch“) – so etwa beim Gebot der Feindesliebe. Respektlos nennt er die „Überlieferung der Alten“ eine „Überlieferung der Menschen“ (Mk 7,3.8). Er setzt sich auch über Reinheitsvorschriften des Alten Testamentes hinweg, wenn er Aussätzige (vgl. Mk 1,40-45) oder Tote (vgl. Mk 5,41) berührt.

Die blutflüssige Frau, die dies von sich aus tut und damit gegen Lev 15,25 verstößt, tadelt er nicht für ihr Verhalten, sondern ermutigt sie und richtet sie auf (vgl. Mk 5,25-34, hier V. 34). Oft sind seine Worte eine erschreckende Provokation, so etwa, wenn er sagt, dass die Bewohner von Ninive und die Königin von Saba sich im Gerichtsverfahren als Zeugen sich von ihren Sitzen erheben und dieses Geschlecht schuldig sprechen werden (vgl. Mt 12,41 f.). Dass Vertreter der Heiden im Gericht gegen Israel auftreten würden, war eine für die damalige Zeit unerhörte Aussage. Ähnliches zeigt sich in der Geschichte mit dem Mann, der Jesus nachfolgen, zuvor aber noch seinen Vater beerdigen will. „Es gibt kein Jesus-Logion, das in schärferer Weise gegen Gesetz, Frömmigkeit und Sitte in einem verstößt als Mt 8,22 = Lk 9,60… Das Logion ist mit dem alten liberalen Jesusbild und allen modernen Versuchen, es neu zu beleben, völlig unvereinbar“, so der Judaist Martin Hengel.

Gerhard Lohfink kommentiert so: „Die jetzt eintreffende Gottesherrschaft übertrifft alles an Wucht und schiebt es an die zweite Stelle… Deshalb müssen sich die Nachfolger Jesu über alle familiären Rücksichten und Bindungen hinwegsetzen.“ Das gilt auch für Jesus selbst; seine Ehelosigkeit ist deshalb keineswegs ein Randphänomen seiner Existenz, sondern in der Mitte seiner Person und Sendung verankert. Sie sagt Wesentliches über die Gottesherrschaft aus. „[W]as er sagt, hat Hand und Fuß und ist immer gut gesagt. G. K. Chesterton hat zu Recht bemerkt, dass unter den zahlreichen Worten Jesu keine einzige Plattitüde zu finden ist, wo doch selbst ein Platon nicht ganz davon frei sei“ (Marius Reiser).

Zusammenfassend kann man sagen, dass Jesus aus einer letzten Gottunmittelbarkeit heraus spricht und handelt. Er ist nicht nur ein vom Geist Ergriffener, sondern ein Geistgezeugter (vgl. Lk 1,35). Er ist der „Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18). Mögen die Kar- und Ostertage ein Anlass sein, neu darüber nachzudenken, für wen wir Jesus Christus halten (vgl. Mt 16,13), anstatt uns über Einzelheiten unseres Glaubens zu streiten!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Märtyrer von heute:

Kraftquelle für bedrängte Christen

„Es ist nicht erforderlich, in die Katakomben oder ins Kolosseum zu gehen, um die Märtyrer zu finden: Die Märtyrer leben jetzt, in zahlreichen Ländern. … Heute, im 21. Jahrhundert, ist unsere Kirche eine Kirche der Märtyrer“ (Papst Franziskus).

Von KIRCHE IN NOT

Die einführend zitierte Feststellung von Papst Franziskus ist erschreckend wahr. Zahlen aus dem Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ 2018 von „Kirche in Not“ verdeutlichen: Verfolgung und Diskriminierung sind für unzählige Christen Alltag.

• 327 Millionen Christen leben in Ländern, in denen Verfolgung herrscht.

• 178 Millionen Christen leben in Ländern, in denen sie diskriminiert werden.

• Einer von fünf Christen lebt in einem Land, in dem Verfolgung oder Diskriminierung herrschen.

Mehr noch als Zahlen berühren die Schicksale der Märtyrer unserer Zeit. Doch die Geschichte endet nicht mit ihrem Tod. Gerade in Bedrängnis und Verfolgung sind Gemeinden höchst lebendig. Sie brauchen unsere Hilfe.

Nigeria: Zeugnis des Glaubens gegen die Gewalt

20. Oktober 2012, ein Sonntag: Die 16-jährige Sarah Yohanna Makadi singt mit Begeisterung im Kirchenchor der Gemeinde St. Rita in Kaduna im Norden Nigerias. Während der heiligen Messe rasen Terroristen mit dem Auto in die vollbesetze Kirche. Im Auto: eine Bombe, die sofort detoniert. Sarah und drei andere Jugendliche verlieren ihr Leben, hunderte Menschen werden zum Teil schwer verletzt.

Das Sterben in Nigeria geht weiter. Im Norden treiben weiter islamistische Gruppen ihr Unwesen. In Zentralnigeria leiden christliche Bauern unter Attacken der Fulani, einem mehrheitlich muslimischen Nomadenstamm. Die Verfolgung hat ökonomische wie religiöse Auslöser. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht.

„Wir sind eine verfolgte Kirche, aber mitten in dieser großen Not segnet uns der Herr mit vielen Berufungen zum Priester- und Ordensleben“, sagt Oliver Dashe Doeme, Bischof von Maiduguri im Nordosten Nigerias. In seinem Priesterseminar leben derzeit über 50 Studenten. Die Bedingungen sind armselig. Die angehenden Priester sind auf Spenden angewiesen, sonst können sie selbst den bescheidenen Beitrag zum Studium nicht finanzieren. 50 Euro im Monat sichern die Ausbildung eines angehenden Priesters – helfen Sie mit.

Syrien: Glaube und Nächstenliebe lebendig halten

Der niederländische Jesuitenpater Frans van der Lugt arbeitet 2014 über ein halbes Jahrhundert in Homs. Er liebt die Menschen und hat ein offenes Herz für Arme und Notleidende. Auch als der Krieg ausbricht und die Truppen des „Islamischen Staates“ unerbittlich vorrücken, kommt es ihm nie in den Sinn zu fliehen. „Ila l-amam – Nicht aufgeben“, das sagt er immer wieder seiner Gemeinde. Am Morgen des 7. April 2014 ist sein Weg auf dieser Welt zu Ende: Zwei maskierte Männer dringen in das Jesuitenkloster von Homs ein und ermorden Pater Frans mit zwei Kopfschüssen. Er wurde 75 Jahre alt.

Die karitative Arbeit von Pater Frans hat viele Nachahmer unter Syriens Christen: Dazu zählen auch die „Barmherzigen Samariter“ im Tal der Christen, einer weitgehend friedlichen Oase im äußersten Westen Syriens. Überwiegend freiwillige Helfer betreiben dort das stark frequentierte „Hilfszentrum St. Peter“ der melkitisch-katholischen Gemeinde. Auch ein eigenes kleines Krankenhaus gibt es im Tal der Christen. 5000 Menschen werden dort jeden Monat medizinisch versorgt. „Wir sind die einzige Anlaufstelle, die sich um kranke und vertriebene Menschen gleichermaßen kümmert. Es gibt nach wie vor eine große Nachfrage nach Medikamenten und Untersuchungen; der OP-Saal platzt aus allen Nähten und die Geräte für Ultraschall, Beatmung und so weiter sind veraltet.“

Schon eine kleine Hilfe macht den Unterschied: 13 Euro monatlich decken die durchschnittlichen Rezeptkosten für eine Person. 70 Euro im Monat sichern einem hörgeschädigten Kind die lebenswichtige Therapie, denn viele Kinder haben durch Granaten- und Bombenanschläge schwere Schäden davongetragen!

Pakistan: Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden

Akash Bashir ist 20 Jahre alt. Die katholische Kirche St. Johannes in Lahore ist eine Art Heimat für ihn – die er auch vor islamistischen Übergriffen schützen will. Deshalb steht er als Sicherheitsmann vor dem Eingangsportal an jenem 15. März 2015, seinem Todestag. Ein Unbekannter versucht, sich Zugang zur Kirche zu verschaffen. Akash entdeckt den Bombengürtel um seine Hüften. Er stürzt sich auf den Attentäter, die Bombe detoniert. Der junge Mann hat sein Leben geopfert, um die Gemeinde zu schützen.

Strikte Blasphemiegesetze stellen in Pakistan jede abschätzige Bemerkung über den Islam unter drakonische Strafen. Oft gibt es falsche Anklagen. So wurden zum Beispiel nach zwei Anschlägen auf Kirchen im Jahr 2015 40 mehrheitlich christliche Männer festgenommen. Der Vorwurf lautete auf Lynchjustiz. Über 240 Gerichtsverhandlungen wurden in der Sache geführt. „Kirche in Not“ übernahm die Anwaltskosten. Mit Erfolg: Im Januar 2020 kamen die falsch beschuldigten Männer frei. Ein Sieg für die Religionsfreiheit! Helfen Sie mit, dass bedrängten Christen Gerechtigkeit wiederfährt: 150 Euro im Monat decken Anwaltskosten und einen bescheidenen Beitrag, damit die Angehörigen eines Beschuldigten überleben können.

Irak: Die christliche Gemeinschaft wiederaufbauen

Ragheed Ganni, 35, arbeitet als Priester in der chaldäisch-katholischen Gemeinde „Heilig Geist“ im Norden von Mossul. Ein Stipendium von „Kirche in Not“ hat ihm eine Ausbildung in Rom ermöglicht. Am 3. Juni 2007 stürmen unbekannte Angreifer seine Kirche. „Ich habe Dich gewarnt: Wenn Du die Kirche für die Menschen öffnest, bist Du tot“, ruft ihm einer der Angreifer zu. „Wie kann ich das Haus Gottes schließen?“, entgegnet Ganni. Es sind seine letzten Worte. Zusammen mit drei Klerikern stirbt er im Kugelhagel.

Die Terroreinheiten des „Islamischen Staates“ im Irak sind militärisch besiegt. Doch die politische Lage ist angespannt. Der Exodus der Christen hält weiter an. Lebten vor 2003 noch rund 1,5 Millionen Christen im Irak, waren es 2019 deutlich unter 150.000. Die verbliebenen Christen sind weiterhin Diskriminierung und Attacken ausgesetzt. „Kirche in Not“ setzt sich dafür ein, dass Christen in Würde leben können: Die Dörfer der Ninive-Ebene, seit Jahrhunderten Siedlungsgebiet der Christen, sind notdürftig instandgesetzt. 46 Prozent der vertriebenen Christen sind zurückgekehrt.

In der Stadt Karakosch, 25 Kilometer nordöstlich von Mossul, liegt das Kloster der „Töchter der Mutter der Barmherzigkeit“, auch „Ephremitinnen“ genannt. In Karakosch haben sie einen Kindergarten für 80 kleine Zöglinge eröffnet. Auch die Familien profitieren von der Fürsorge der Schwestern: Sie erhalten Lebensmittel, Dinge des täglichen Bedarfs und Bildungsangebote. Gleich nach dem Ende des „Islamischen Staates“ nahmen die Ordensfrauen die Arbeit wieder auf. Doch Kindergarten und Kloster gleichen mehr ausgebrannten Höhlen als einem freundlichen Heim. „Kirche in Not“ unterstützt den Wiederaufbau dieses „Ortes der Barmherzigkeit“. Helfen Sie mit! 280 Euro im Monat decken den Zuschuss für die Instandhaltungsarbeiten.

Mitleid und tätige Hilfe

Märtyrer von heute: Sie suchten keineswegs den Tod. Sie liebten das Leben, ihr Land, ihre Gemeinden. Doch mit der Gewissheit, dass Gottes Liebe stärker ist als der Tod, hatte menschliche Gewalt keine Macht über sie. Ihr heldenhaftes Leben und Sterben trägt Früchte – im Leben derer, die sie als Vorbilder verehren wie im Einsatz für notleidende und bedrängte Brüder und Schwestern. „Kirche in Not“ stärkt diese Menschen geistlich wie leiblich. Der Satz des Gründers von „Kirche in Not“, Pater Werenfrieds van Straaten (1913-2003), bleibt aktuell: „Unser Hilfswerk schreibt das Martyrologium dieser Zeit. Nicht in der Studierstube, sondern als Augenzeuge und deshalb mit größtem Mitleid und tiefster Ergriffenheit.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Übernatürliche Begegnung mit dem Herzen Jesu und dem Gericht Gottes

Zurück aus dem Jenseits

Die Regisseurin Natalie Saracco wurde in Marseille geboren und schrieb schon im Alter von sechs Jahren kleine Theaterstücke. Sie hatte gerade einen Produzenten für ihren ersten großen Spielfilm gefunden, als sie auf dem Weg in die Normandie einen schweren Autounfall erlitt. Über eine Stunde war sie im Wrack eingeklemmt und verlor viel Blut. Dabei erlebte sie eine übernatürliche Begegnung mit dem Herzen Jesu, die ihr ganzes Leben veränderte und sie dazu veranlasste, einen Spielfilm über eine moderne Maria Magdalena mit dem Titel La Mante Religieuse zu drehen. Im Buch „Zurück aus dem Jenseits – Eine Filmemacherin verliebt sich in Christus"[1] schildert sie ihre unglaubliche Geschichte. Die nachfolgenden Auszüge geben einen Einblick in ihr bewegendes Zeugnis.

Von Natalie Saracco

Ich erinnere mich, wie ich an diesem Tag aus dem Meeting kam, mich von diesem wunderbaren Produzenten verabschiedete und auf einer Straße dahinflog, die ganz und gar mit Glück gepflastert war. Endlich sollte ich meinen ersten Spielfilm drehen können. Nichts konnte sich mir mehr in den Weg stellen. Nichts außer diesem verflixten Lastwagen! Ich höre noch, wie meine liebe, gute Freundin zu mir sagt: „Wir kaufen eine Flasche Champagner und stoßen mit deiner Familie an!“ „Eine Flasche pro Person!“, habe ich übermütig gekontert. Pläne, Leben, Lebenslust, ein gut gefüllter Terminkalender und dann plötzlich – zack! Alles bleibt stehen. Der Tod fragt uns nicht, ob wir noch warten möchten.

Solche Autounfälle sind eigenartig: Alles geht sehr schnell und ereignet sich gleichzeitig im Zeitlupentempo. Die Geräusche verschwinden, als wollten sie uns von den Lebenden abschirmen und uns in eine flauschige, mit Watte gepolsterte Blase eintauchen, eine Art Filter zwischen zwei Welten. Bei dieser Art von Erfahrung sieht man die Dinge schlagartig aus einem anderen Blickwinkel. Das Erste, was meine stürmische und stolze Atheistin sofort nach dem Unfall zu mir sagte, klingt noch in meinen Gedanken nach. Im Auto eingeklemmt und vom Schock benommen hatte diese tapfere Lucy den Mumm, mich zu bitten, zu Gott zu be-ten und ihn um Hilfe zu rufen! Es stimmt, manchmal setzt Gott alles dran, um uns aufzuwecken. Auf jeden Fall hat er das mit uns getan. Mit mir. Obwohl ich damals schon gläubig war. Ich war eine praktizierende Katholikin. Ich „praktizierte“ tatsächlich in weichen Pantoffeln und mit den Sicherheiten, die eine Religion gibt.

Wir waren ziemlich lange im Inneren des Autos eingeklemmt oder vielmehr in dem, was von diesem Auto noch übrig war. Die Feuerwehrleute, die normalerweise sehr schnell sind, trafen erst nach einer Stunde ein. Das war Zeit genug, um unsere mit Angst erfüllten Seelen einzutauchen in eine Seelenqual, deren wir uns bewusst wurden. Wir waren allein, abgeschnitten vom Rest der Welt, Auge in Auge mit dem Tod, der sich aufdringlich an uns heranmachte.

Lucy und ich erlebten den Unfall nicht auf die gleiche Weise. Als Fahrerin hatte sie den Aufprall kommen sehen und sich am Steuer festgeklammert. Ich dagegen hatte mich ihr zugewendet und war nur von dem Wunsch erfüllt gewesen, ihr Interesse für Gott zu wecken. Dreimal hintereinander wurde ich nach vorn geschleudert, mit dem Gesicht bis auf wenige Zentimeter vor die Windschutzscheibe. Die Tatsache, dass die alte Kiste, die ihr als Auto diente, überhaupt noch fuhr, grenzte schon an ein Wunder, wenn es außerdem noch Airbags gegeben hätte, wäre das zauberhaft gewesen! Aber Gott sei Dank funktionierten die Sicherheitsgurte noch. Wenn ein Sicherheitsgurt allerdings bei 130 Stundenkilometern blockiert, kann das Verletzungen verursachen, und sie tun sehr weh.

Ich hatte schreckliche Schmerzen, bekam kaum Luft und konnte nur schwer atmen. Plötzlich begann ich Blut zu spucken. Ein bisschen, viel, sehr heftig. Da ich die Medizin schon mit der Muttermilch eingesogen hatte – mein Vater war Allgemeinarzt und meine Mutter Krankenschwester – habe ich für mich eine Diagnose gestellt: innere Blutungen. Alles passte zusammen! Der Sicherheitsgurt hatte mich zwar zurückgehalten, mir aber dabei einige Rippen gebrochen, was erklärte, warum ich nur schwer atmen konnte. Und die Rippen hatten mir einfach die Lunge durchbohrt, daher das Blut, das ich spuckte.

Es war schon mehr als eine Stunde her, seit der Unfall passiert war, und wir waren immer noch in dem Autowrack eingeklemmt. Da warfen die Scheinwerfer des Rettungsdienstes ihr Licht auf unser Auto, das aufgeschnitten wurde, damit wir herausgezogen werden konnten. „Natalie, Natalie! Bleib wach. Du darfst nicht einschlafen“, rief mir der Feuerwehrmann zu. Aber trotz aller Bemühungen, mich am Leben zu erhalten, ging ich fort… Ruhig. Langsam… Aber sicher. Das Erste, das mir in den Sinn kam, ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen: „Du wirst deine Seele zurückgeben müssen und du hast nicht gebeichtet!“ Einer praktizierenden Katholikin wie mir konnte nichts Schlimmeres passieren! Wie sollte ich in den Himmel kommen, wenn die Schwere und der Schmutz meiner Sünden mich daran hinderten? Welch ein Schrecken! Im gleichen Moment antwortete mir der Herr: Ich kenne die Absicht deines Herzens, beunruhige dich nicht.

Genau in diesem Augenblick spürte ich, wie das Leben aus mir wich. Ein merkwürdiges Gefühl: Die Energie, die intensive Wärme in mir schwanden nach und nach, zuerst aus dem Kopf, wie bei einer mit Flüssigkeit gefüllten Plastikflasche, die ein Loch hat. Je mehr mich diese Wärme verließ, desto mehr erstarrte mein Körper wie kalter Marmor. Ich weiß nicht, wie lange das dauerte, aber es kam mir sehr lange vor. Lange genug, um die Situation zu analysieren und der Wahrheit ins Auge zu blicken: Ich war dabei zu sterben, und mein Sein erlosch nach und nach wie das Ende einer Wachskerze. „Mein Gott, das ist nicht möglich, dass mir das passiert! Nicht jetzt, nicht so. Ich bin nicht bereit.“ Das Schmerzlichste in dieser Art Prüfung besteht darin, dass man nichts tun kann. Man kann nichts ändern, man kann nur alles ertragen, und das bei vollem Bewusstsein. Es gibt keine andere Möglichkeit, als loszulassen. Ich spuckte weiterhin Blut und hatte immer mehr Mühe mit dem Atmen. Mein Herz schlug, als wollte es alles zerschlagen und mir aus der Brust springen, um ein neues Leben außerhalb von mir zu beginnen, weil ich es verraten hatte! Und diese intensive Wärme verließ mich und sank hinab zu den Füßen, ohne dass ich sie aufhalten konnte, ohne dass ich meine Haut retten konnte! Lebendig seinem eigenen Tod beizuwohnen und dabei um sich selbst zu trauern, ist nicht einfach.

Ich habe es akzeptiert, habe losgelassen und bin ins Jenseits gegangen. Ich weiß nicht, ob ich das Bewusstsein verloren habe oder ob mein Herz aufgehört hat zu schlagen, aber ich weiß sicher, dass ich mich plötzlich vor dem Heiligsten Herzen Jesu befand. Und da war er, der Schock! Nicht, dich zu sehen – darauf war ich eingestellt –, aber dich in einem so kläglichen Zustand zu sehen. Du, mein Erlöser, mein Vielgeliebter, der schreckliche Qualen leidet und vor mir heiße Tränen vergießt. Du, in einem weißen Gewand, der du mir dein Heiligstes Herz zeigst, das von einem Dornenkranz umschlungen ist, und dein vom Leiden entstelltes Gesicht. Oh, mein Herr, deine Qual war so groß, dass mir deine Tränen wie ein ganzes Meer von Schmerzen erschienen, aller Schmerz war hier gebündelt! Du hast mir dein Herz gezeigt, das blutige Tränen weinte, deren Farbe leuchtend rot war. Es weinte und erlitt die gleichen Todesqualen wie du. Eure Tränen verschmolzen und gelangten in mein armes sündiges Herz. Eure Qualen waren so stark, unerträglich stark. Dein Schmerz, Herr, deine Qual war so grauenhaft, als ob du allein alles Leiden und alle Bitterkeit dieser Welt auf dich genommen hättest. Dieser Welt, die du so sehr geliebt hast, dieser Welt, die du so sehr liebst, dieser Welt, die dich so sehr ablehnt. Warum hast du mir deine Todesqualen gezeigt? Warum hast du mich das fühlen lassen? Es war unerträglich! Wolltest du Trost bei einem liebenden Herzen finden oder geschah es, um mir die Spuren der Leiden zu zeigen, die von meinen Sünden verursacht worden sind? Unglücklicherweise glaube ich, dass es eine Mischung von beidem war. Angesichts deines tiefen Schmerzes vergaß ich mich ganz. Ich war wie niedergeschmettert durch deine Wunden. Schluss mit der Furcht vor dem Tod und dem Bedauern darüber, dass ich mich nicht von denen verabschieden konnte, die ich liebte. Es gab nur noch dich und mich. Und es gab nur noch dich.

„Warum weinst du, Herr?“, brachte mein fassungsloses Herz hervor. Ich weine, weil ihr meine geliebten Kinder seid, meine viel geliebten Kleinen. Ich habe mein Leben für euch gegeben. Ich weiß nicht, was ich mehr für euch hätte tun können, und ihr lehnt mich ab. Ich weine, weil mein Herz sich in einer großen Liebe für euch alle verzehrt, wer auch immer ihr seid, und im Austausch erhalte ich nur Kälte, Verachtung und Gleichgültigkeit. Ich weine, weil es nichts Schlimmeres gibt, als von denen, die man liebt, missachtet und zurückgewiesen zu werden.

Deine Passion, Herr, setzt sich heute in deinem von Liebe brennenden Herzen fort, das nicht nur von unseren Sünden, sondern auch von unserer Gleichgültigkeit dir gegenüber gebrochen wird. Mein Herz verzehrt sich in leidenschaftlicher Liebe für euch alle… Bei Gott gibt es kein Casting, er liebt uns alle, wie wir sind, und er will uns retten. Seine Barmherzigkeit ist viel größer als unsere Sünden und unsere Verfehlungen. Die grenzenlose Macht seiner Vergebung wird immer stärker sein als unsere Verletzungen. Das ist die Allmacht Gottes: Seine Liebe ist stärker, als wir es sind, und seine Vergebung ist größer als unsere Verfehlungen. Der Apostel Petrus hat Christus verraten, indem er ihn dreimal verleugnet hatte, aber er hat niemals an der göttlichen Barmherzigkeit gezweifelt. Keinen Augenblick. Im Gegensatz zu Judas, der dachte, seine Sünde sei unverzeihlich und der sich selbst richtete und Selbstmord beging.

Wenn man der Liebe Gottes Grenzen setzt, dann verkennt man Gott. Dann übersieht man ihn und das wahre Glück. Und das wahre Glück besteht darin, sich von ihm lieben zu lassen, so wie wir sind, bis auch wir unser ärmliches Menschsein akzeptieren, das manchmal unerträglich ist. Vielleicht ist das Demut, dass wir es wagen, uns so zu sehen, wie wir sind, und nicht, wie wir gerne sein möchten, unsere eigenen Schwächen und Grenzen zu erkennen, ohne einen einzigen Augenblick an der Liebe unseres Herrn zu zweifeln. Niemand ist Gottes würdig, außer Gott selbst. „Wenn du warten willst, bis du heilig bist, um Gott zu lieben, dann wirst du ihn niemals lieben …“, sagt uns der hl. Augustinus. Es ist besser zu erkennen, dass man armselig ist, als sich falsche Verdienste anzudichten. Sich infrage zu stellen, ist grundsätzlich notwendig. Wie soll man seine Fehler korrigieren, wenn man sich weigert, sie zu erkennen?

Die Liebe unseres Herrn übersteigt jedes Verstehen. Sie ist größer als alles, was man sich vorstellen kann. Das Heiligste Herz Jesu ließ mich dies bei unserem „Rendezvous von Herz zu Herz“ zwischen Leben und Tod erkennen. Wie einen Luftstrom habe ich diese Liebe mitten in meinem Herzen empfangen. Einen heißen Luftstrom. Als „gute Katholin“ hatte ich gedacht, ich würde die Liebe Gottes kennen. Ich war zur Messe gegangen, hatte im Evangelium gelesen und seine Barmherzigkeit besungen. Kurz: „Mir war sie bekannt!“ Fehlanzeige. Seine Liebe sprengt alles und beginnt bei uns und unseren menschlich begrenzten Projektionen. Mein Herz wäre beinahe explodiert, so sehr wurde es überflutet, überströmt und umgedreht von seiner Zärtlichkeit! Wir kleinen Wesen können unmöglich die unendliche Weite und Tiefe seiner Zärtlichkeit aufnehmen. Gott, der Unergründliche.

Zusätzlich zu seiner leidenschaftlichen Liebe zu uns hat mir das Heiligste Herz Jesu offenbart, wie sehr es sich nach uns sehnt, wie sehr es von uns, seinen kleinen Kindern, geliebt werden möchte. Er, der Einzige, der allein Heilige, der Ewige, Allmächtige, geht so weit, dass er zusätzlich zu dem freien Willen, den er uns schenkt, uns arme Geschöpfe um unsere Liebe anbettelt! Obwohl er uns nicht braucht. Wir dagegen, wir brauchen ihn. Und ob wir wollen oder nicht, werden wir am Tag unserer Begegnung mit dem Sensenmann zur Verantwortung gezogen. Gottes freizügiges Verlangen nach uns zeigt, wie sehr er uns liebt. Seine Größe und seine Majestät offenbaren sich voll und ganz in seiner Erniedrigung uns gegenüber.

Angesichts der leidenschaftlichen Liebe Christi, seines Leidens und seiner Sehnsucht, von uns „auf menschliche Weise“ geliebt zu werden, entfuhren meinem ganzen Wesen die Worte: „Wie schade, Herr, dass ich gerade jetzt meine Seele zurückgeben soll. Gerne würde ich auf die Erde zurückkehren und Zeugnis ablegen von deiner Liebe, die jedes Verstehen übersteigt, und von deinem Leiden, verursacht durch unsere Sünden und durch unsere Zurückweisung, um dich zu trösten.“

Kaum hatte ich diesen Wunsch formuliert, hast du mich an einen anderen Ort mitgenommen, auf eine ganz andere Bühne. Und was du mich dort hast sehen und erleben lassen, war etwas ganz anderes. Erst jetzt, nach all den Jahren, verstehe ich den Sinn. Eine surreale Umgebung, die zugleich voll und leer war. Eine riesige Dimension, die nicht beschrieben werden kann. Von vornherein bedrückte mich, wie klein ich war. Mein ganzes Sein fühlte sich an wie zusammengedrückt, als würde ich auf die Größe einer Liliputanerin schrumpfen. Über mir war etwas wie ein waagrechter Kreis in der Form eines Halbmondes, der in eine Wolke eingehüllt war. Ich sah nichts, aber ich fühlte alles. Ich sah nichts, aber ich wusste alles.

Genau in diesem Augenblick, Herr, hast du mir erlaubt, mit meinem Herzen die volle Wahrheit zu erkennen. Ich war da, ein winziges Etwas, ein winzig kleines menschliches Teilchen, eine Minizelle, ein lebendiges Staubkorn, vor diesem imposanten Halbmondkreis, der majestätisch vor mir thronte. Ich verstand sofort, dass dies das himmlische Gericht und die Stunde meines persönlichen Gerichts war. Der hl. Paulus spricht davon in einem seiner Briefe, den ich damals noch nicht gelesen hatte. Aber ich wusste es ganz sicher, es gab nicht den geringsten Zweifel daran. Dies war die Stunde meines Gerichts, wie es auch für uns alle diese Stunde des Gerichts geben wird. Ich kann euch nur sagen, dass dies kein Scherz ist. Das Geschöpf muss bis zum letzten Cent Rechenschaft ablegen. Keine Chance, sich zu rechtfertigen oder seine Schuld loszuwerden. Den Spielplatz für die großen Kinder, die wir alle sind, gab es nicht mehr. Ich habe ihr die Zunge herausgestreckt, weil sie mich an den Haaren gezogen hat. Ich habe meine Waffe herausgeholt, weil er als Erster geschossen hat.

Das entblößte Geschöpf steht in seiner ganzen Wahrheit vor seinem Schöpfer. Das ist dermaßen niederschmetternd, dass es unerträglich wird. Das Schlimmste ist die Vorstellung, dass „alles vollendet ist“. Du kannst nichts mehr wegnehmen und nichts mehr hinzufügen, was auch immer du getan hast. Die Würfel sind gefallen, nichts geht mehr. Das Irrwitzigste war, dass Jesus genau in diesem Moment, dem schlimmsten meines Lebens, in der schrecklichsten Stunde meines Gerichts, verschwunden war! Er, der in meinem Leben immer an meiner Seite gewesen ist, hatte sich verflüchtigt! Ein Gefühl von Schrecken, Angst und Seelenqual. Im selben Augenblick wurde mir klar, dass er mich nicht verlassen hatte. Er war Teil des himmlischen Gerichts, das aus Vater, Sohn und dem Heiligen Geist bestand. Alles, was Jesus in meinem Leben hatte tun können, um mich zu retten, hat er getan. „Alles ist vollbracht“, wie am Kreuz. Jetzt war ich allein vor dem unerbittlichen Gericht und befürchtete die schlimmste Strafe.

Eine laute Stimme war zu hören: Ihr werdet nach der Liebe gerichtet, der wahren Liebe zu Gott und zu euren Geschwistern.

Man soll Gott nicht aus Angst lieben, aus Tradition oder aus Gewohnheit, sondern mit seinem Herzen, mit seinem ganzen Inneren! Ihn soll man um seiner selbst willen lieben, unabhängig davon, was er uns gibt und was er uns zuteilt. Ihn soll man lieben wegen seiner liebevollen, schönen Augen und nicht wegen seiner Börse, so reich an Barmherzigkeit. Ihn soll man in aller Einfachheit lieben, in aller Wahrhaftigkeit.

Wie jeder Liebende will der Herr um seiner selbst willen geliebt werden. Er gibt uns alles, aber er erwartet auch alles von uns. Die Liebe ist herausfordernd, die Liebe ist kompromisslos, Gott ist die Liebe. Unser Herr empfindet eine große Liebe für uns! Er liebt uns leidenschaftlich und ging bis zum Äußersten, bis zum Kreuz…, so weit, dass er sich uns auch heute noch schenkt trotz des Leids, das man ihm antut, und dies besonders in der Eucharistie.

Wenn man es sich überlegt, dann ist es etwas ganz Unglaubliches, dieses Verlangen Gottes nach uns und dieses Vertrauen, das er in uns setzt! Er glaubt an uns. Die Welt glaubt nicht an ihn, aber er glaubt glücklicherweise an uns, denn sonst wären wir alle erledigt! Jede Seele, die verloren geht, ist ein Blutstropfen Christi, der verloren geht. Und die Liebe zum Nächsten versteht sich von selbst. Der Herr will, dass unser Herz von einer ehrlichen Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern erfüllt ist.

Wie der hl. Paulus sagt: Wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts (1 Kor 13,2).

Was die Liebe angeht, sind wir alle Autisten. Wir wollen unseren Herrn bitten, dass er uns im Alphabet seines Herzens die richtigen Worte finden lässt, mit denen wir ihm die schönsten Sätze schreiben können im Einklang mit seinem Willen. Der Roman über unser Leben soll eine Liebesgeschichte mit ihm und mit unseren Brüdern und Schwestern werden. Darin besteht der ganze Sinn unserer Existenz. Liebe, Liebe, Liebe, alles andere sind nur literarische Worte.

Und hopp! Zurück zum Absender. Ich bin zurückgeworfen in meinen armen Körper, der sich im Autowrack befindet. Ich erinnere mich, dass ich einen ziemlichen Satz machte. Ich spürte einen Elektroschock von seltener Stärke. Als ob ich aus einem warmen Bad gekommen wäre, hatte ich das Vergnügen, einen Stepptanz auf Hochspannungsdrähten zu vollführen. Und dann das umgekehrte Phänomen: Etwas Heißes stieg meinen ganzen Körper empor von den Füßen bis zu meinem Kopf. Ein Gefühl von intensiver Wärme erfüllte mein ganzes Wesen bis ins Innerste meiner Knochen, meines Blutes, meines Fleisches. Tatsächlich hörte ich auf, Blut zu spucken. Mein eisiger, gelähmter, marmorharter Körper begann, sich wieder zu bewegen. Die kalte Grabplatte, mit der das Böse mich hatte schmücken wollen, verwandelte sich in das Versprechen eines neuen Lebens.

All das geschah, als wir im Auto eingeklemmt waren, in dem Augenblick, als die Feuerwehrleute die Windschutzscheibe aufbrachen, um uns aus unserem Gefängnis zu befreien. Wie lange hatte diese „mystische Reise“, „diese Erfahrung einer anderen Welt“ gedauert? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht nur einige Sekunden, vielleicht länger. Bin ich wirklich im Jenseits gewesen? Habe ich das Bewusstsein verloren? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich eine leidenschaftliche Begegnung mit dem Heiligsten Herzen Jesu hatte, eine echte Begegnung von Herz zu Herz, in der Worte keinen Platz mehr hatten, so intensiv und intim war sie. Dasselbe gilt für das himmlische Gericht. Sicher ist, dass unser Gott ein Gott der Liebe und Barmherzigkeit ist, trotzdem auch ein Gott der Gerechtigkeit bleibt, dessen Gerichtsurteil unerbittlich ist.

Zu diesem Zeitpunkt erschienen mir diese beiden „Erscheinungen, Begegnungen, Erfahrungen“ – ich weiß noch immer nicht, welche Bezeichnung richtig ist – als nicht zusammenpassend, sogar als widersprüchlich. Wie kann unser Gott zugleich ein Gott der Barmherzigkeit sein, der sich in Liebe um seine Kinder verzehrt, und gleichzeitig ein unerbittlicher Richter, der keine Kompromisse macht?

Weil Gott gerecht ist. Er ist genauso unendlich in seiner Barmherzigkeit wie in seiner vollkommenen Gerechtigkeit.

Den Feuerwehrleuten gelang es endlich, uns aus der Klapperkiste zu befreien. Das Weitere im Krankenhaus war das Übliche: jede Menge Untersuchungen, Röntgenaufnahmen, Ultraschalluntersuchungen des Herzens usw. bis ins letzte Detail mit einem kleinen Unterschied: Man fand weder die geringste Spur einer inneren Blutung noch einer Verletzung noch eines Bruchs. Aber wie kann man dann meinen todesnahen Zustand und all das Blut, das ich gespuckt hatte, erklären? Nur Gott weiß es.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Natalie Saracco: Zurück aus dem Jenseits – Eine Filmemacherin verliebt sich in Christus, Illertissen 2020, geb., 208 S., ISBN 978-3-9479310-9-5, Euro 18,95 (D), Euro 19,50 (A) – Bestell-Mail: buch@media-maria.de Webseite: www.media-maria.de

Symposium „Familie am Abgrund – Ursachen und Auswege“

Am Samstag, den 15. Februar, veranstalteten das Aktionsbündnis für Ehe & Familie/DemoFürAlle und die Petitionsplattform CitizenGO in Böblingen bei Stuttgart das Symposium „Familie am Abgrund – Ursachen und Auswege“. Die Tagung wurde von DemoFürAlle-Sprecherin Hedwig v. Beverfoerde moderiert. In vier Vorträgen und drei kurzen Präsentationen erfuhren die über 500 Teilnehmer aus unterschiedlicher Perspektive über aktuelle Gefahren für die Familie und wirksame Gegenmaßnahmen und konstruktive Lösungsansätze.

Von Hedwig v. Beverfoerde

Im Eröffnungsvortrag „Wie der Staat die Familie zerstört“ erörterte der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Jörg Guido Hülsmann die historischen und philosophischen Hintergründe schädigender Eingriffe des modernen Staates in die Familie, zum Beispiel durch feministische Politik und den Wohlfahrtsstaat, die die Freiheit und finanzielle Unabhängigkeit der Familie einschränkten. Es bedürfe dringend eines Abbaus der „familienzerstörenden Staatseingriffe“, schloss Hülsmann.

Wie staatliche Unterstützung für Familien gelingen kann, zeigte Dr. Imre Téglásy im Vortrag „Konstruktive Familien- und Gesellschaftspolitik in Ungarn“. Der Direktor von Human Life International Hungary, der selbst Abtreibungsüberlebender ist, stellte die Maßnahmen Ungarns gegen den „demographischen Winter“ vor, in deren Folge Geburten- und Heiratsraten bereits angestiegen seien.

Für große Begeisterung sorgte der Wiener Psychotherapeut und Psychiater Prof. Dr. Raphael M. Bonelli, der in kurzweiligem Stil den Blick in das Innere der Familie lenkte, mit seinem Vortrag „Wie Familie funktioniert, was ihr hilft und was nicht“. Auf Basis aktueller psychologischer Forschung erläuterte Bonelli, dass Familien eine innere Ordnung benötigten und wie diese erreicht werden könne. Er plädierte für die Wertschätzung echter Männlichkeit und echter Weiblichkeit und für eine Erziehung der Kinder zum Wahren, Schönen und Guten.

Der Historiker und Politikwissenschaftler Dr. Hubertus Knabe erklärte in seinem Vortrag „Zersetzen – Systematische Familienentzweiung in der DDR“, ausgehend von deren Familien- und Arbeitsgesetzen, die Familienpolitik der DDR, deren Folge eine der höchsten Scheidungsraten der Welt sowie zuletzt eine Geburtenrate von nur 1,4 Kindern pro Frau gewesen seien.

Den Abschluss des Symposiums bildeten drei kurze Präsentationen von Initiativen, die sich konkret und konstruktiv für Ehen und Familien einsetzen: Initiative Elternaktion, Team.F – Neues Leben für Familien e. V. und der Blog Berufung Mami.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Neuen Kommentar schreiben

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder! Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare gegebenenfalls nicht für die Veröffentlichung freizugeben oder in Abstimmung mit den jeweiligen Autoren zu kürzen.