Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Im Vermächtnis, das uns Papst Benedikt XVI. hinterlässt, findet sich eine besonders wertvolle Perle. Er hat der Kirche einen Schlüssel an die Hand gegeben, mit dem sie sich den Weg echter Erneuerung erschließen kann. Für Benedikt XVI. gehört es zu den anspruchsvollsten Aufgaben der Kirche, die Zeichen der Zeit zu erkennen und auf die jeweils neuen Herausforderungen angemessen zu antworten. Weder ein unbewegliches Beharren auf Überlieferungen, noch ein ungestümer Aufbruch ohne Rückbindung an die Tradition könnten für das Reich Gottes fruchtbar werden. Die goldene Mitte zu finden, die der unveränderlichen Wahrheit, aber auch dem sich verändernden Leben gerecht wird, ist nach Benedikt XVI. der Schlüssel zur Erneuerung.

Der „Synodale Weg“, für den sich die Kirche in Deutschland entschieden hat, steht ganz im Zeichen von Reformen, die man in Anbetracht der Missbrauchsfälle für unumgänglich hält. Wie aktuell ist angesichts dieser ehrgeizigen Zielsetzung der Schlüssel, den Benedikt XVI. nicht nur angedacht, sondern mit der Schärfe seines Geistes ausgearbeitet hat! Auch die nächste Bischofssynode, die im Oktober 2022 in Rom stattfinden und unter dem Thema „Synodalität“ stehen wird, kommt an diesen Prinzipien wahrer Reform nicht vorbei.

Um die Thematik zu erhellen, dokumentieren wir zwei Ansprachen Papst Benedikts XVI., von denen er die eine nach seiner Amtsübernahme im Jahr 2005 gehalten hat, die andere 2013 in den letzten Tagen seiner Amtsführung, nachdem er seinen Rücktritt bereits bekanntgegeben hatte. Beide Male geht er vom II. Vatikanischen Konzil aus und behandelt die authentische Auslegung und Umsetzung der Konzilsbeschlüsse.

Das II. Vatikanische Konzil, so Benedikt XVI., stimme mit der Lehre Jesu völlig überein und stelle eine unabdingbare Voraussetzung für die Erfüllung des missionarischen Auftrags der Kirche in der Welt von heute dar. Dies gelte sowohl für die Erklärung über die Religionsfreiheit als auch für die liturgische Erneuerung. Das Werk des Konzils müsse mit tiefer Dankbarkeit und Glaubenstreue angenommen werden, damit es seine Kraft entfalten und reiche Früchte hervorbringen könne. Mit Vehemenz verteidigt Benedikt das Recht des Konzils, die bisherige Lehrverkündigung der Kirche weiterzuentwickeln, sie in ihren historisch bedingten Entscheidungen gegebenenfalls zu korrigieren und im Rahmen veränderter geschichtlicher Situationen auch zu völlig neuen Ergebnissen zu kommen. Man müsse den gesamten Weg, den die Kirche durch die Jahrhunderte hindurch zurückgelegt habe, zusammenschauen. Nur in diesem weiten Blick könne man das unaufgebbare Fundament der christlichen Überlieferung richtig deuten und auf fruchtbare Weise mit den notwendigen Erneuerungen verbinden. Wie sehr kann dieser Schlüssel Benedikts XVI. zum Aufbruch ermutigen, aber auch die einander widerstrebenden Richtungen in der Kirche zu neuer Einheit zusammenführen! Es lohnt sich, mit der von Benedikt geforderten Offenheit aufeinander zu hören und dem Geist Gottes Raum zu geben.

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Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2019
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Plädoyer für eine uneingeschränkte Zustimmung zum Konzil

Kraftquelle für die notwendige Erneuerung

Papst Benedikt XVI. hat gleich zu Beginn seines Pontifikats ein unmissverständliches Plädoyer für das II. Vatikanische Konzil abgegeben. Was er am 22. Dezember 2005 in seiner Weihnachtsansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie ausgeführt hat, ist ein kraftvolles Zeugnis und eine umfassende Deutung des Konzils, welche als wichtiger Teil seines Vermächtnisses in die Geschichte eingehen wird. Mit der ganzen Kraft seines Geistes verteidigt er insbesondere die Erklärung über die Religionsfreiheit, welche nach ihren Anfangsworten Dignitatis humanae („Würde des Menschen“) heißt. Er lässt den Vorwurf der Diskontinuität nicht gelten, den die traditionalistische Bewegung erhoben hat und bis zum heutigen Tag als Grund für das Schisma aufrechterhält. Vielmehr tritt Benedikt XVI. für die „anspruchsvolle Verbindung von Treue und Dynamik“ ein, welche in der Lage ist, „unter Kontinuität in den Grundsätzen“ die notwendigen Erneuerungen herbeizuführen.

Von Papst Benedikt XVI.

Welches Ergebnis hatte das Konzil?

Der Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 40 Jahren lässt Fragen aufkommen: Welches Ergebnis hatte das Konzil? Ist es richtig rezipiert worden? Was war an der Rezeption des Konzils gut, was unzulänglich oder falsch? Was muss noch getan werden? Niemand kann leugnen, dass in weiten Teilen der Kirche die Konzilsrezeption eher schwierig gewesen ist, auch wenn man auf das, was in diesen Jahren geschehen ist, nicht die Schilderung der Situation der Kirche nach dem Konzil von Nizäa, die der große Kirchenlehrer Basilius uns gegeben hat, übertragen will: Er vergleicht die Situation mit einer Schiffsschlacht in stürmischer Nacht und sagt unter anderem: „Das heisere Geschrei derer, die sich im Streit gegeneinander erheben, das unverständliche Geschwätz, die verworrenen Geräusche des pausenlosen Lärms, all das hat fast schon die ganze Kirche erfüllt und so durch Hinzufügungen oder Auslassungen die rechte Lehre der Kirche verfälscht …“ (vgl. De Spiritu Sancto, XXX, 77; PG 32, 213 A; SCh 17bis, S. 524). Wir wollen dieses dramatische Bild nicht direkt auf die nachkonziliare Situation übertragen, aber etwas von dem, was geschehen ist, kommt darin zum Ausdruck. Die Frage taucht auf, warum die Rezeption des Konzils in einem großen Teil der Kirche so schwierig gewesen ist.

Die Frage nach der korrekten Auslegung des Konzils

Nun ja, alles hängt ab von einer korrekten Auslegung des Konzils oder – wie wir heute sagen würden – von einer korrekten Hermeneutik, von seiner korrekten Deutung und Umsetzung. Die Probleme der Rezeption entsprangen der Tatsache, dass zwei gegensätzliche Hermeneutiken miteinander konfrontiert wurden und im Streit lagen. Die eine hat Verwirrung gestiftet, die andere hat Früchte getragen, was in der Stille geschah, aber immer deutlicher sichtbar wurde, und sie trägt auch weiterhin Früchte. Auf der einen Seite gibt es eine Auslegung, die ich „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“ nennen möchte; sie hat sich nicht selten das Wohlwollen der Massenmedien und auch eines Teiles der modernen Theologie zunutze machen können. Auf der anderen Seite gibt es die „Hermeneutik der Reform“, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität; die Kirche ist ein Subjekt, das mit der Zeit wächst und sich weiterentwickelt, dabei aber immer sie selbst bleibt, das Gottesvolk als das eine Subjekt auf seinem Weg. Die Hermeneutik der Diskontinuität birgt das Risiko eines Bruches zwischen vorkonziliarer und nachkonziliarer Kirche in sich.

Die Hermeneutik der Diskontinuität

Ihre Vertreter behaupten, dass die Konzilstexte als solche noch nicht wirklich den Konzilsgeist ausdrückten. Sie seien das Ergebnis von Kompromissen, die geschlossen wurden, um Einmütigkeit herzustellen, wobei viele alte und inzwischen nutzlos gewordene Dinge mitgeschleppt und wieder bestätigt werden mussten. Nicht in diesen Kompromissen komme jedoch der wahre Geist des Konzils zum Vorschein, sondern im Elan auf das Neue hin, das den Texten zugrunde liege: nur in diesem Elan liege der wahre Konzilsgeist, und hier müsse man ansetzen und dementsprechend fortfahren. Eben weil die Texte den wahren Konzilsgeist und seine Neuartigkeit nur unvollkommen zum Ausdruck brächten, sei es notwendig, mutig über die Texte hinauszugehen und dem Neuen Raum zu verschaffen, das die tiefere, wenn auch noch nicht scharf umrissene Absicht des Konzils zum Ausdruck bringe. Mit einem Wort, man solle nicht den Konzilstexten, sondern ihrem Geist folgen. Unter diesen Umständen entsteht natürlich ein großer Spielraum für die Frage, wie dieser Geist denn zu umschreiben sei, und folglich schafft man Raum für Spekulationen.

Die Kirchenverfassung kommt vom Herrn

Damit missversteht man jedoch bereits im Ansatz die Natur eines Konzils als solchem. Es wird so als eine Art verfassunggebende Versammlung betrachtet, die eine alte Verfassung außer Kraft setzt und eine neue schafft. Eine verfassunggebende Versammlung braucht jedoch einen Auftraggeber und muss dann von diesem Auftraggeber, also vom Volk, dem die Verfassung dienen soll, ratifiziert werden. Die Konzilsväter besaßen keinen derartigen Auftrag, und niemand hatte ihnen jemals einen solchen Auftrag gegeben; es konnte ihn auch niemand geben, weil die eigentliche Kirchenverfassung vom Herrn kommt, und sie uns gegeben wurde, damit wir das ewige Leben erlangen und aus dieser Perspektive heraus auch das Leben in der Zeit und die Zeit selbst erleuchten können. Die Bischöfe sind durch das Sakrament, das sie erhalten haben, Treuhänder der Gabe des Herrn. Sie sind „Verwalter von Geheimnissen Gottes“ (1 Kor 4,1); als solche müssen sie als „treu und klug“ (vgl. Lk 12,41-48) befunden werden. Das heißt, dass sie die Gabe des Herrn in rechter Weise verwalten müssen, damit sie nicht in irgendeinem Versteck verborgen bleibt, sondern Früchte trägt, und der Herr am Ende zum Verwalter sagen kann: „Weil du im Kleinsten treu gewesen bist, will ich dir eine große Aufgabe übertragen“ (vgl. Mt 25,14-30; Lk 19,11-27). In diesen biblischen Gleichnissen wird die Dynamik der Treue beschrieben, die im Dienst des Herrn wichtig ist, und in ihnen wird auch deutlich, wie in einem Konzil Dynamik und Treue eins werden müssen.

Die Hermeneutik der Reform

Der Hermeneutik der Diskontinuität steht die Hermeneutik der Reform gegenüber, von der zuerst Papst Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsansprache zum Konzil am 11. Oktober 1962 gesprochen hat und dann Papst Paul VI. in der Abschlussansprache am 7. Dezember 1965. Ich möchte hier nur die wohlbekannten Worte Johannes’ XXIII. zitieren, die diese Hermeneutik unmissverständlich zum Ausdruck bringen, wenn er sagt, dass das Konzil „die Lehre rein und vollständig übermitteln will, ohne Abschwächungen oder Entstellungen“ und dann fortfährt: „Unsere Pflicht ist es nicht nur, dieses kostbare Gut zu hüten, so als interessierte uns nur das Altehrwürdige an ihm, sondern auch, uns mit eifrigem Willen und ohne Furcht dem Werk zu widmen, das unsere Zeit von uns verlangt. … Es ist notwendig, die unumstößliche und unveränderliche Lehre, die treu geachtet werden muss, zu vertiefen und sie so zu formulieren, dass sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht. Eine Sache sind nämlich die Glaubensinhalte, also die in unserer ehrwürdigen Lehre enthaltenen Wahrheiten, eine andere Sache ist die Art, wie sie formuliert werden, wobei ihr Sinn und ihre Tragweite erhalten bleiben müssen“ (S. Oec. Conc. Vat. II Constitutiones Decreta Declarationes, 1974, S. 863-865). Es ist klar, dass der Versuch, eine bestimmte Wahrheit neu zu formulieren, es erfordert, neu über sie nachzudenken und in eine neue, lebendige Beziehung zu ihr zu treten; es ist ebenso klar, dass das neue Wort nur dann zur Reife gelangen kann, wenn es aus einem bewussten Verständnis der darin zum Ausdruck gebrachten Wahrheit entsteht, und dass die Reflexion über den Glauben andererseits auch erfordert, dass man diesen Glauben lebt. In diesem Sinne war das Programm, das Papst Johannes XXIII. vorgegeben hat, äußerst anspruchsvoll, wie auch die Verbindung von Treue und Dynamik anspruchsvoll ist. Aber überall dort, wo die Rezeption des Konzils sich an dieser Auslegung orientiert hat, ist neues Leben gewachsen und sind neue Früchte herangereift. 40 Jahre nach dem Konzil können wir die Tatsache betonen, dass seine positiven Folgen größer und lebenskräftiger sind, als es in der Unruhe der Jahre um 1968 den Anschein haben konnte. Heute sehen wir, dass der gute Same, auch wenn er sich langsam entwickelt, dennoch wächst, und so wächst auch unsere tiefe Dankbarkeit für das Werk, das das Konzil vollbracht hat.

Der radikale Bruch zwischen Kirche und Moderne in der Vergangenheit

Paul VI. hat dann in seiner Abschlussrede zum Konzil noch einen speziellen Grund aufgezeigt, warum eine Hermeneutik der Diskontinuität überzeugend erscheinen könnte. In der großen Kontroverse um den Menschen, die bezeichnend ist für die Moderne, musste das Konzil sich besonders dem Thema der Anthropologie widmen. Es musste über das Verhältnis zwischen der Kirche und ihrem Glauben auf der einen und dem Menschen und der heutigen Welt auf der anderen Seite nachdenken (ebd., S. 1066f.). Das Problem wird noch deutlicher, wenn wir anstatt des allgemeinen Terminus „heutige Welt“ ein anderes, treffenderes Wort wählen: Das Konzil musste das Verhältnis von Kirche und Moderne neu bestimmen. Dieses Verhältnis hatte mit dem Prozess gegen Galilei einen sehr problematischen Anfang genommen. Es war im Folgenden vollkommen zerbrochen, als Kant die „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ beschrieb und als in der radikalen Phase der Französischen Revolution ein Staats- und Menschenbild Verbreitung fand, das der Kirche und dem Glauben praktisch keinen Raum mehr zugestehen wollte. Der Zusammenstoß des Glaubens der Kirche mit einem radikalen Liberalismus und auch mit den Naturwissenschaften, die sich anmaßten, mit ihren Kenntnissen die ganze Wirklichkeit bis zu ihrem Ende zu erfassen, und sich fest vorgenommen hatten, die „Hypothese Gott“ überflüssig zu machen, hatte im 19. Jahrhundert seitens der Kirche unter Pius IX. zu harten und radikalen Verurteilungen eines solchen Geistes der Moderne geführt. Es gab somit scheinbar keinen Bereich mehr, der offen gewesen wäre für eine positive und fruchtbare Verständigung, und diese wurde von denjenigen, die sich als Vertreter der Moderne fühlten, auch drastisch abgelehnt.

Neue Offenheit für eine positive und fruchtbare Verständigung

In der Zwischenzeit hatte jedoch auch die Moderne Entwicklungen durchgemacht. Man merkte, dass die amerikanische Revolution ein modernes Staatsmodell bot, das anders war als das, welches die radikalen Tendenzen, die aus der zweiten Phase der Französischen Revolution hervorgegangen waren, entworfen hatten. Die Naturwissenschaften begannen, immer klarer über die eigenen Grenzen nachzudenken, die ihnen von ihrer eigenen Methode auferlegt wurden, die, auch wenn sie große Dinge vollbrachte, dennoch nicht in der Lage war, die gesamte Wirklichkeit zu erfassen. So begannen beide Seiten, immer mehr Offenheit füreinander zu zeigen. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg hatten katholische Staatsmänner bewiesen, dass es einen säkularen modernen Staat geben kann, der dennoch nicht wertneutral ist, sondern sein Leben aus den großen Quellen christlicher Ethik schöpft. Die katholische Soziallehre, die sich nach und nach entwickelt hatte, war zu einem wichtigen Modell neben dem radikalen Liberalismus und der marxistischen Staatstheorie geworden. Die Naturwissenschaften, die sich rückhaltlos zu einer eigenen Methode bekannten, in der Gott keinen Zugang hatte, merkten immer deutlicher, dass diese Methode nicht die volle Wirklichkeit umfasste, und öffneten daher Gott wieder die Türen, da sie wussten, dass die Wirklichkeit größer ist als die naturwissenschaftliche Methode und das, was mit dieser erfasst werden kann.

Drei Fragenkreise: Wissenschaft – moderner Staat – religiöse Toleranz

Man könnte sagen, dass sich drei Fragenkreise gebildet hatten, die jetzt, zur Zeit des Zweiten Vaticanums, auf eine Antwort warteten. Vor allem war es notwendig, das Verhältnis von Glauben und modernen Wissenschaften neu zu bestimmen; das galt übrigens nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Geschichtswissenschaft, weil in einer gewissen Schule die Vertreter der historisch-kritischen Methode das letzte Wort in der Bibelauslegung für sich in Anspruch nahmen und sich – da sie behaupteten, das einzig mögliche Schriftverständnis zu besitzen – in wichtigen Punkten der Auslegung, die dem Glauben der Kirche erwachsen war, widersetzten. Zweitens musste das Verhältnis von Kirche und modernem Staat neu bestimmt werden, einem Staat, der Bürgern verschiedener Religionen und Ideologien Platz bot, sich gegenüber diesen Religionen unparteiisch verhielt und einfach nur die Verantwortung übernahm für ein geordnetes und tolerantes Zusammenleben der Bürger und für ihre Freiheit, die eigene Religion auszuüben. Damit war drittens ganz allgemein das Problem der religiösen Toleranz verbunden – und das verlangte eine Neubestimmung des Verhältnisses von christlichem Glauben und Weltreligionen. Angesichts der jüngsten Verbrechen, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft geschehen waren, und überhaupt im Rückblick auf eine lange und schwierige Geschichte musste besonders das Verhältnis der Kirche zum Glauben Israels neu bewertet und bestimmt werden.

Entwicklung des Neuen unter Kontinuität in den Grundsätzen

All diese Themen sind von großer Tragweite – es waren die großen Themen der zweiten Konzilshälfte –, und es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, sich eingehender mit ihnen zu befassen. Es ist klar, dass in all diesen Bereichen, die in ihrer Gesamtheit ein und dasselbe Problem darstellen, eine Art Diskontinuität entstehen konnte und dass in gewissem Sinne tatsächlich eine Diskontinuität aufgetreten war. Trotzdem stellte sich jedoch heraus, dass, nachdem man zwischen verschiedenen konkreten historischen Situationen und ihren Ansprüchen unterschieden hatte, in den Grundsätzen die Kontinuität nicht aufgegeben worden war – eine Tatsache, die auf den ersten Blick leicht übersehen wird. Genau in diesem Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen liegt die Natur der wahren Reform. Innerhalb dieses Entwicklungsprozesses des Neuen unter Bewahrung der Kontinuität mussten wir lernen – besser, als es bis dahin der Fall gewesen war – zu verstehen, dass die Entscheidungen der Kirche in Bezug auf vorübergehende, nicht zum Wesen gehörende Fragen – zum Beispiel in Bezug auf bestimmte konkrete Formen des Liberalismus oder der liberalen Schriftauslegung – notwendigerweise auch selbst vorübergehende Antworten sein mussten, eben weil sie Bezug nahmen auf eine bestimmte in sich selbst veränderliche Wirklichkeit. Man musste lernen, zu akzeptieren, dass bei solchen Entscheidungen nur die Grundsätze den dauerhaften Aspekt darstellen, wobei sie selbst im Hintergrund bleiben und die Entscheidung von innen heraus begründen.

Religionsfreiheit als Notwendigkeit für das menschliche Zusammenleben

Die konkreten Umstände, die von der historischen Situation abhängen und daher Veränderungen unterworfen sein können, sind dagegen nicht ebenso beständig. So können die grundsätzlichen Entscheidungen ihre Gültigkeit behalten, während die Art ihrer Anwendung auf neue Zusammenhänge sich ändern kann. So wird beispielsweise die Religionsfreiheit dann, wenn sie eine Unfähigkeit des Menschen, die Wahrheit zu finden, zum Ausdruck bringen soll und infolgedessen dem Relativismus den Rang eines Gesetzes verleiht, von der Ebene einer gesellschaftlichen und historischen Notwendigkeit auf die ihr nicht angemessene Ebene der Metaphysik erhoben und so ihres wahren Sinnes beraubt, was zur Folge hat, dass sie von demjenigen, der glaubt, dass der Mensch fähig sei, die Wahrheit Gottes zu erkennen und der aufgrund der der Wahrheit innewohnenden Würde an diese Erkenntnis gebunden ist, nicht akzeptiert werden kann. Etwas ganz anderes ist es dagegen, die Religionsfreiheit als Notwendigkeit für das menschliche Zusammenleben zu betrachten oder auch als eine Folge der Tatsache, dass die Wahrheit nicht von außen aufgezwungen werden kann, sondern dass der Mensch sie sich nur durch einen Prozess innerer Überzeugung zu eigen machen kann.

In völligem Einvernehmen mit der Lehre Jesu

Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem Dekret über die Religionsfreiheit einen wesentlichen Grundsatz des modernen Staates anerkannt und übernommen und gleichzeitig ein tief verankertes Erbe der Kirche wieder aufgegriffen. Diese darf wissen, dass sie sich damit in völligem Einvernehmen mit der Lehre Jesu befindet (vgl. Mt 22,21), ebenso wie mit der Kirche der Märtyrer, mit den Märtyrern aller Zeiten. Die frühe Kirche hat mit größter Selbstverständlichkeit für die Kaiser und die politisch Verantwortlichen gebetet, da sie dies als ihre Pflicht betrachtete (vgl. 1 Tim 2,2); während sie aber für den Kaiser betete, hat sie sich dennoch geweigert, ihn anzubeten und hat damit die Staatsreligion eindeutig abgelehnt. Die Märtyrer der frühen Kirche sind für ihren Glauben an den Gott gestorben, der sich in Jesus Christus offenbart hatte, und damit sind sie auch für die Gewissensfreiheit und für die Freiheit, den eigenen Glauben zu bekennen, gestorben – für ein Bekenntnis, das von keinem Staat aufgezwungen werden kann, sondern das man sich nur durch die Gnade Gottes in der Freiheit des eigenen Gewissens zu eigen machen kann. Eine missionarische Kirche, die sich verpflichtet weiß, ihre Botschaft allen Völkern zu verkündigen, muss sich unbedingt für die Glaubensfreiheit einsetzen. Sie will die Gabe der Wahrheit, die für alle Menschen da ist, weitergeben und sichert gleichzeitig den Völkern und ihren Regierungen zu, damit nicht ihre Identität und ihre Kulturen zerstören zu wollen; sie gibt ihnen im Gegenteil die Antwort, auf die sie im Innersten warten – eine Antwort, die die Vielfalt der Kulturen nicht zerstört, sondern die Einheit unter den Menschen und damit auch den Frieden unter den Völkern vermehrt.

Korrektur einiger in der Vergangenheit gefällter Entscheidungen

Das Zweite Vatikanische Konzil hat durch die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Glauben der Kirche und bestimmten Grundelementen des modernen Denkens einige in der Vergangenheit gefällte Entscheidungen neu überdacht oder auch korrigiert, aber trotz dieser scheinbaren Diskontinuität hat sie ihre wahre Natur und ihre Identität bewahrt und vertieft. Die Kirche war und ist vor und nach dem Konzil dieselbe eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, die sich auf dem Weg durch die Zeiten befindet; sie „schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin“ und verkündet den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl. Lumen gentium, 8). Wenn jemand erwartet hatte, dass das grundsätzliche „Ja“ zur Moderne alle Spannungen lösen und die so erlangte „Öffnung gegenüber der Welt“ alles in reine Harmonie verwandeln würde, dann hatte er die inneren Spannungen und auch die Widersprüche innerhalb der Moderne unterschätzt; er hatte die gefährliche Schwäche der menschlichen Natur unterschätzt, die in allen Geschichtsperioden und in jedem historischen Kontext eine Bedrohung für den Weg des Menschen darstellt. Diese Gefahren sind durch das Vorhandensein neuer Möglichkeiten und durch die neue Macht des Menschen über die Materie und über sich selbst nicht verschwunden, sondern sie nehmen im Gegenteil neue Ausmaße an: Dies zeigt ein Blick auf die gegenwärtige Geschichte sehr deutlich.

Die Kirche als bleibendes „Zeichen des Widerspruchs“

Auch in unserer Zeit bleibt die Kirche ein „Zeichen, dem widersprochen wird“ (Lk 2, 34) – diesen Titel hatte Papst Johannes Paul II. nicht ohne Grund noch als Kardinal den Exerzitien gegeben, die er 1976 für Papst Paul VI. und die Römische Kurie hielt. Es konnte nicht die Absicht des Konzils sein, diesen Widerspruch des Evangeliums gegen die Gefahren und Irrtümer des Menschen aufzuheben. Zweifellos wollte es dagegen Gegensätze beseitigen, die auf Irrtümern beruhten oder überflüssig waren, um unserer Welt den Anspruch des Evangeliums in seiner ganzen Größe und Klarheit zu zeigen. Der Schritt, den das Konzil getan hat, um auf die Moderne zuzugehen, und der sehr unzulänglich als „Öffnung gegenüber der Welt“ bezeichnet wurde, gehört letztendlich zum nie endenden Problem des Verhältnisses von Glauben und Vernunft, das immer wieder neue Formen annimmt. Die Situation, der das Konzil gegenüberstand, kann man ohne Weiteres mit Vorkommnissen früherer Epochen vergleichen. Der hl. Petrus hatte in seinem ersten Brief die Christen ermahnt, bereit zu sein, jedem eine Antwort („apo-logia“) zu geben, der sie nach ihrem „logos“, nach dem Grund für ihren Glauben, frage (vgl. 3,15). Das hieß, dass der biblische Glaube mit der griechischen Kultur ins Gespräch treten, eine Beziehung zu ihr aufbauen und durch deren Deutung lernen musste, sowohl das Trennende als auch die Berührungspunkte und Affinitäten unter ihnen in der einen gottgegebenen Vernunft zu erkennen. Als im 13. Jahrhundert durch jüdische und arabische Philosophen das aristotelische Gedankengut mit dem mittelalterlichen Christentum, das in der platonischen Tradition stand, in Berührung kam, und Glaube und Vernunft Gefahr liefen, in unüberwindlichen Widerspruch zueinander zu treten, war es vor allem der hl. Thomas von Aquin, der im Aufeinandertreffen von Glauben und aristotelischer Philosophie eine Vermittlerrolle einnahm und so den Glauben in positive Beziehung stellte zu der Form der vernunftgemäßen Argumentation, die zu seiner Zeit herrschte.

Notwendigkeit des Dialogs zwischen Vernunft und Glauben heute

Das mühsame Streitgespräch zwischen moderner Vernunft und christlichem Glauben, das mit dem Prozess gegen Galilei zuerst unter negativem Vorzeichen begonnen hatte, kannte natürlich viele Phasen, aber mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam die Stunde, in der ein Überdenken auf breiter Basis erforderlich geworden war. Sein Inhalt ist in den Konzilstexten natürlich nur in groben Zügen dargelegt, aber die Richtung ist damit im Wesentlichen festgelegt, so dass der Dialog zwischen Vernunft und Glauben, der heute besonders wichtig ist, aufgrund des Zweiten Vaticanums seine Orientierung gefunden hat. Jetzt muss dieser Dialog weitergeführt werden, und zwar mit großer Offenheit des Geistes, aber auch mit der klaren Unterscheidung der Geister, was die Welt aus gutem Grund gerade in diesem Augenblick von uns erwartet. So können wir heute mit Dankbarkeit auf das Zweite Vatikanische Konzil zurückblicken: Wenn wir es mit Hilfe der richtigen Hermeneutik lesen und rezipieren, dann kann es eine große Kraft für die stets notwendige Erneuerung der Kirche sein und immer mehr zu einer solchen Kraft werden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Das Konzil und die ersehnte Erneuerung der Kirche

Was ist echte Reform?

Der hl. Johannes Paul II. betrachtete das II. Vatikanische Konzil als größtes Geschenk des Heiligen Geistes an die Kirche im 20. Jahrhundert. Auch seinem Nachfolger, Benedikt XVI., war es während seiner Amtszeit als Papst ein zentrales Anliegen, das Konzil zur Geltung zu bringen. Er forderte dazu auf, den Beschlüssen ohne Vorbehalt zuzustimmen und sie ausnahmslos als authentischen Weg der Kirche anzunehmen. Die nachkonziliaren Wirren hätten die wahre Intention dieser Kirchenversammlung zwar verdunkelt. Doch sei sie als Ereignis wie in ihren Dokumenten keineswegs überholt, sondern werde ihre erneuernde Kraft erst in Zukunft voll zur Entfaltung bringen. Was versteht Benedikt XVI. unter Reform? Was heißt Erneuerung der Kirche, wie sie vom Konzil ersehnt und von der Kirche in unserer Zeit erwartet wird?

Von Erich Maria Fink

Es ist wahr, dass Benedikt XVI. die nachkonziliare Zeit sehr kritisch sieht. Mit vielen Entwicklungen hatte er seine Probleme, auch mit der sog. „Würzburger Synode“. Aus dieser „Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland“, die im Januar 1971 begann und am 23. November 1975 ihren Abschluss fand, stieg er bereits im November 1971 aus. Er konnte den Debatten, die versuchten, das Konzil „einzudeutschen“, nichts abgewinnen. Angesichts der Krise, von der die Kirche schon damals heimgesucht wurde, auch infolge der Studentenrevolten, hielt er Ausschau nach einer geistlichen Erneuerung.

Ereignis des Heiligen Geistes

Ganz anders beurteilt er das Konzil selbst. Während er dem Gremien-Katholizismus zurückhaltend gegenübersteht, ist er fest davon überzeugt, dass das II. Vatikanische Konzil ein Werk Gottes ist. Er hält es für einen Einbruch des Heiligen Geistes in die Geschichte der Kirche. An der Seite Papst Johannes Pauls II. und später als dessen Nachfolger war es ihm ein vorrangiges Anliegen, diesen Schatz zu heben und für das Leben der Kirche fruchtbar zu machen. Er ist durch und durch ein Mann des Konzils, der vom ersten Augenblick an gesehen hat, dass die Kirche einer tiefgreifenden Reform bedarf, wenn sie das Evangelium auch an die zukünftigen Generationen weitergeben möchte.

Die nachkonziliare Krise hat seiner Meinung nach zahlreiche Gründe. Sie hängt nicht zuletzt mit übersteigerten und vollkommen falsch verstandenen Erwartungen an das Konzil zusammen, wie sie damals insbesondere vonseiten der Medien verbreitet worden sind. Doch Benedikt XVI. ist definitiv nicht der Ansicht, der Zusammenbruch des christlichen Glaubens und des kirchlichen Lebens hinge mit einer Aufweichung der Lehre durch das Konzil selbst zusammen. Traditionalisten wie die von Erzbischof Marcel Lefebvre initiierte Bewegung und insbesondere die von ihm 1970 gegründete Priesterbruderschaft St. Pius X. fordern eine Korrektur der Konzilsdokumente, weil ihrer Meinung nach verschiedene Aussagen nicht mit der Tradition der Kirche und früheren Lehrentscheidungen in Einklang zu bringen seien. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass Benedikt XVI. diese Forderung ganz klar ablehnt. Vielmehr hat er mit Engelsgeduld und Nachdruck immer wieder versucht darzulegen, inwiefern eine Kontinuität gegeben und eine Weiterentwicklung in der Lehre berechtigt ist, inwieweit aber auch eine Korrektur früherer Aussagen des Lehramts angezeigt sein kann, da sich der historische Kontext geändert und das Verständnis der Zusammenhänge vertieft hat. 

Eigentlich sollte es nicht notwendig sein, diesen Sachverhalt so nachdrücklich zu unterstreichen. Doch seit dem Rücktritt Benedikts XVI. lässt sich in konservativ geprägten Teilen der Kirche eine Entwicklung beobachten, die zur Sorge Anlass gibt. Ausgehend von einer schleichenden Unzufriedenheit und dem offenen Widerstand gegen die Amtsführung von Papst Franziskus werden die Probleme der Kirche immer häufiger und unmittelbarer mit dem angeblichen Bruch in Verbindung gebracht, den bereits das Konzil selbst herbeigeführt habe. Befürworter dieser Linie berufen sich dabei oft auch auf Benedikt XVI., der ja schließlich nicht ohne Grund die alte Liturgie gefördert habe. Doch es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass man Benedikt XVI. für einen solchen Weg vereinnahmen könnte. Er hat es auch nicht verdient, gegen Papst Franziskus in Stellung gebracht zu werden.

Tatsache ist, dass Benedikt XVI. gerade um der neuen Liturgie willen, das Verbot des tridentinischen Ritus aufgehoben hat. Dadurch konnte er unterstreichen, dass die Kontinuität gewahrt ist und dass es sich um zwei Formen des einen römischen Ritus handelt. Dass er den alten als außerordentliche, den neuen aber als ordentliche Form dieses Ritus bezeichnet hat, zeigt außerdem, dass er der erneuerten Liturgie die ihr nun zukommende Vorrangstellung zugewiesen hat. Gleichzeitig aber war es ihm ein Anliegen, mit dem Verweis auf die Tradition ein Gegengewicht zur Entsakralisierung und Banalisierung der Liturgie zu schaffen, wie sie sich im Zug der Reform breitgemacht hatten. Die Missstände aber sind für Benedikt XVI. kein Grund dafür, die Liturgiereform als solche in Frage zu stellen. Außerdem wehrte er sich vehement gegen die Behauptung, mit dem Motu Proprio „Summorum Pontificum“ sei er hinter das Konzil zurückgegangen und habe in gewisser Weise Verständnis für die Haltung der Traditionalisten gezeigt. Dass Benedikt XVI. die verlorengegangene Einheit wiederherstellen wollte, ist ein Faktum. Doch mit Entschiedenheit verlangte er von der Piusbruderschaft die volle Anerkennung der Dokumente des II. Vatikanischen Konzils. An dieser lehramtlichen Frage scheiterte schließlich der Einigungsversuch.

Die Konzilserfahrung als junger Professor

Drei Tage nach dem Konsistorium, bei dem Benedikt XVI. seinen Rücktritt als Papst angekündigt hatte, traf er sich mit dem Klerus von Rom. Die Ansprache an diesem 14. Februar 2013, die er in freier Rede vortrug, wurde zu einem feurigen Plädoyer für das Konzil. Man spürt regelrecht, wie es aus ihm heraussprudelt. Umso authentischer ist dieses Zeugnis über das, was ihn in diesem Augenblick seines Lebens zutiefst bewegt hat.

Zum Einstieg erzählte er, wie er 1961 als junger Professor für Fundamentaltheologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn vom Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings gebeten worden war, für ihn einen Vortrag auszuarbeiten. Denn der Kardinal sollte in Genua zum Thema „Das Konzil und die Welt des modernen Denkens“ sprechen. Frings habe seinen Entwurf wörtlich vorgetragen und sei daraufhin von Papst Johannes XXIII. zu einer Audienz nach Rom zitiert worden. Entgegen allen Befürchtungen habe ihn der Papst umarmt und ihm zugesprochen: „Danke, Eminenz, Sie haben das gesagt, was ich sagen wollte, aber ich habe nicht die Worte gefunden.“ So sei es gekommen, dass ihn Frings zuerst als seinen persönlichen Berater auf das Konzil mit nach Rom genommen und im Verlauf der ersten Sitzungsperiode zum offiziellen Peritus des Konzils ernannt habe.

George Weigel schreibt in seinem neuen Buch „Der nächste Papst. Das Amt des Petrus und eine missionarische Kirche“ zur Einführung: „Karol Wojtyła (der spätere Papst Johannes Paul II.) nahm als noch sehr junger polnischer Bischof und späterer Erzbischof von Krakau in allen vier Sitzungsperioden des Konzils eine aktive Rolle ein und war am Entwurf der Pastoralkonstitution über die Kirche in der modernen Welt Gaudium et spes beteiligt. Joseph Ratzinger (der spätere Papst Benedikt XVI.) trug als junger Peritus oder theologischer Experte des II. Vatikanums maßgeblich zur Ausarbeitung von fünf Konzilstexten einschließlich der Dogmatischen Konstitutionen über die Kirche und über die göttliche Offenbarung bei. Die päpstlichen Programme Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. waren zutiefst von ihren Erfahrungen mit dem II. Vatikanum und seiner Rezeption in der Weltkirche beeinflusst. Ja, man kann ihre Pontifikate sogar als ein einziges, 35 Jahre andauerndes Bemühen deuten, eine offizielle Lesart des Konzils verbindlich festzuschreiben.“ Papst Franziskus habe das Zweite Vatikanische Konzil zwar nicht direkt miterlebt, sei von ihm aber maßgeblich geprägt und habe immerhin die beiden Konzilspäpste Johannes XXIII. und Paul VI. heiliggesprochen. Mit dem nächsten Papst jedoch, so meint Weigel, werde die Kirche „noch unerforschtes Gelände betreten“ und das Konzil werde nicht mehr die entscheidende Rolle spielen (S. 8ff.).

Das Konzil wird seine geistliche Kraft entfalten

Benedikt XVI. ist da offensichtlich ganz anderer Ansicht. Nach seiner Überzeugung fängt die Geschichte des Konzils erst richtig an. In seiner Ansprache an den Klerus von Rom erklärte er, das virtuelle Konzil, wie es die Medien gesehen und vermittelt hätten, sei eben dabei zu zerbrechen und sich zu verlieren, nun komme „das wahre Konzil mit all seiner geistlichen Kraft zum Vorschein“.

Es gehe jetzt mehr denn je darum, die Konzilsdokumente ernst zu nehmen und in das heutige Leben der Kirche umzusetzen. Dazu sei es auch notwendig, die Absicht der Konzilsväter zu verstehen. Um den wahren „Geist des Konzils“ lebendig werden zu lassen, schilderte Benedikt XVI. in seiner Ansprache: „Wir sind damals nicht nur mit Freude, sondern mit Begeisterung zum Konzil gegangen. Es gab eine unglaubliche Erwartungshaltung. Wir hofften, dass alles erneuert werden würde, dass wirklich ein neues Pfingsten käme, eine neue Ära der Kirche, denn die Kirche war in jener Zeit noch recht kräftig, der sonntägliche Gottesdienstbesuch noch gut, die Berufungen zum Priestertum und zum Ordensleben waren schon etwas weniger geworden, aber immer noch ausreichend. Man spürte jedoch, dass die Kirche nicht vorankam, zurückging, mehr eine Wirklichkeit der Vergangenheit als Trägerin der Zukunft zu sein schien.“

Die Reform müsse darin bestehen, der Kirche eine solche Gestalt zu geben, dass sie „wieder Kraft der Zukunft und Kraft des Heute“ sein könne. Das habe sich das Konzil zum Ziel gesetzt. In diesem Sinn spricht Benedikt XVI. von einer „Hermeneutik der Reform“.

Ausführlich ging er auf diesen Ansatz zu Beginn seines Pontifikats ein. In seiner Weihnachtsansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie am 22. Dezember 2005 bekannte er sich mit flammenden Worten zum II. Vatikanischen Konzil. Er sagte: „Der Hermeneutik der Diskontinuität steht die Hermeneutik der Reform gegenüber“. Aber wovon spricht er? Tatsächlich macht er keinen Hehl daraus, dass es einen „Bruch“, eine „Diskontinuität“ gibt. Doch will er damit nicht sagen, das Konzil habe mit der Tradition der Kirche gebrochen, es sei keine Kontinuität mit der Überlieferung gegeben, wie es etwa die Traditionalisten behaupten, nein, er spricht davon, dass das Konzil in einer Weise interpretiert werde, wie es weder der Absicht der Väter noch dem Wortlaut der Dokumente entspreche. Sich im Namen des Konzils einfach von allen Vorgaben der Kirche zu lösen, das sei „Hermeneutik der Diskontinuität“. „Hermeneutik der Reform“ aber habe das Konzil selbst verwirklicht, indem es auf dem Fundament der Tradition, also die Grundsätze bewahrend, etwas Neues entwickelt habe, Antworten gefunden habe, die auf die neuen Zeitverhältnisse eingingen. Und eine solche „Hermeneutik der Reform“ brauche es auch in Zukunft. Die Konzilsdokumente seien Orientierungspunkte, nicht das letzte Wort, aber deren Grundsätze bewahrend müsse die Kirche ihren Reformweg fortsetzen. Den Begriff „Hermeneutik der Kontinuität“, der ihm von manchen konservativen Apologeten in den Mund gelegt wird, hat er als Gegensatz zur „Hermeneutik der Diskontinuität“ gar nicht verwendet. Er ermutigt ausdrücklich zur „Hermeneutik der Reform“.

Erneuerung im Geist des Konzils

In seiner Ansprache 2013 zeichnete er die ganze Geschichte des Konzils nach, das Ringen, die Kämpfe, die Diskussionen bis hin zur endgültigen Fassung der Dokumente. Nach einem Rückblick auf die liturgische Bewegung meint er zum ersten Konzilsbeschluss über die Liturgie zusammenfassend: „Jetzt in der Rückschau finde ich, dass es sehr gut war, mit der Liturgie zu beginnen. So tritt der Primat Gottes, der Primat der Anbetung hervor. ‚Operi Dei nihil praeponatur‘: Dieses Wort aus der Regel des hl. Benedikt (vgl. 43,3) erscheint auf diese Weise als die oberste Regel des Konzils. Es ist kritisiert worden, das Konzil habe über vieles gesprochen, aber nicht über Gott. Es hat über Gott gesprochen! Und es war der erste und wesentliche Akt, über Gott zu sprechen und alle Menschen, das ganze heilige Volk, für die Anbetung Gottes zu öffnen, in der gemeinsamen Feier der Liturgie des Leibes und Blutes Christi.“ Benedikt XVI. wird ganz konkret und macht deutlich, dass er die Liturgiereform für gelungen hält. Eine Reform der Reform heißt nicht, zur alten Messe zurückzukehren, sondern die oft verratenen Grundsätze der Reform authentisch zu vertiefen.

Ähnlich führt er zur Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ hin: „Ich würde sagen, dass die theologische Debatte der 30er bis 40er und auch der 20er Jahre ganz im Zeichen des Wortes ‚Mystici Corporis‘ stand. Es war eine Entdeckung, die in jener Zeit viel Freude hervorgerufen hat. Und in diesem Zusammenhang ist auch die Formel gewachsen: Wir sind die Kirche. Die Kirche ist keine Struktur; wir Christen selbst, alle zusammen, sind der lebendige Leib der Kirche. Und natürlich gilt das in dem Sinne, dass wir, das wahre ‚Wir‘ der Gläubigen, zusammen mit dem ‚Ich‘ Christi die Kirche sind; jeder von uns, nicht ‚ein Wir‘, eine Gruppe, die sich zur Kirche erklärt. Nein: Dieses ‚Wir sind Kirche‘ verlangt gerade meine Einfügung in das große ‚Wir‘ der Gläubigen aller Zeiten und Orte.“ Und er fährt fort: „Es erschien vielen wie ein Machtkampf – und vielleicht hat dieser oder jener auch an seine Macht gedacht –, aber eigentlich ging es nicht um Macht, sondern um die Komplementarität der Faktoren und die Vollständigkeit des Leibes der Kirche mit den Bischöfen, den Nachfolgern der Apostel, als tragende Elemente; und jeder von ihnen ist ein tragendes Element der Kirche, gemeinsam mit diesem großen Leib.“

Ausblick

Ich möchte an die tragische Gestalt des französischen Zisterzienserpaters Besret Bernard (geb. 1935) erinnern. Er ist eine charismatische Persönlichkeit, hat als Prior Tausende von Menschen angezogen, als Konzilsberater wesentlich das Dekret „Perfectae caritatis“ über das gottgeweihte Leben verfasst und ständig Reformen im Geist des Evangeliums angemahnt. Als Antwort auf die Moral-Enzyklika „Veritatis splendor“ von Papst Johannes Paul II. 1993 veröffentlichte er 1994 sein Schreiben: „Lieber Bruder Papst. Offener Brief an Johannes Paul II, der uns die absolute Wahrheit in ihrer ganzen Herrlichkeit um die Ohren hauen will“. In seinem Reformeifer aber verlor er schließlich die Kirche und Christus, „bekehrte“ sich zum Taoismus und leitet nun ein Kulturzentrum auf dem Berg Qiyun Shan in China.

Die Kirche ist „zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung“, so stellt das Konzil in „Lumen gentium“ (Nr. 8) fest und bekennt sich damit in gewisser Weise zu dem Wort, das eigentlich aus der Reformation stammt: „Ecclesia semper reformanda est“ – die Kirche bedarf immer der Reform, der Erneuerung. Reform aber ist nicht, wie Paulus betont, Angleichung an die Welt. Deshalb muss man sich aufrichtig fragen, ob es nicht ein wenig armselig ist, wenn Reform vorrangig mit dem Priestertum der Frau, der Freistellung des Zölibats und der Anerkennung homosexueller Lebensform verknüpft wird.

Benedikt XVI. hat uns ein prophetisches Zeugnis geschenkt, das uns ermutigt, im Sinn und Geist des Konzils Neues zu wagen, aber immer demütig rückgebunden zu bleiben an die Fundamente des Glaubens und den geheimnisvollen Leib Christi, der in der Einheit von Jüngern, Aposteln und Petrus verwirklicht ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
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Das Konzil der Medien war nicht das Konzil der Väter

Die wahre Erneuerung kommt

Papst Benedikt XVI. hatte seinen Rücktritt bereits bekanntgegeben, als er sich noch einmal mit dem Klerus der Diözese Rom treffen konnte. Er nützte die Begegnung am 14. Februar 2013, um ausführlich auf das Konzil einzugehen. Am Ende bekräftige er seine Überzeugung, dass das virtuelle Konzil der Medien zerbrechen, das wahre Konzil der Väter aber seine erneuernde Kraft entfalten werde.

Von Papst Benedikt XVI.

Es gab das Konzil der Väter – das wahre Konzil –, aber es gab auch das Konzil der Medien. Es war fast ein Konzil für sich, und die Welt hat das Konzil durch diese, durch die Medien wahrgenommen. Das Konzil, das mit unmittelbarer Wirkung beim Volk angekommen ist, war also das der Medien, nicht das der Väter. Und während das Konzil der Väter sich innerhalb des Glaubens vollzog, ein Konzil des Glaubens war, der den „intellectus“ sucht, der versucht, einander zu verstehen und die Zeichen Gottes in jenem Augenblick zu verstehen, der versucht, auf die Herausforderung Gottes in jenem Augenblick zu antworten und im Wort Gottes das Wort für heute und morgen zu finden, während das ganze Konzil sich also, wie gesagt, innerhalb des Glaubens bewegte, als „fides quaerens intellectum“, entfaltete sich das Konzil der Journalisten natürlich nicht im Glauben, sondern in den Kategorien der heutigen Medien, also außerhalb des Glaubens, mit einer anderen Hermeneutik. Es war eine politische Hermeneutik: Für die Medien war das Konzil ein politischer Kampf, ein Machtkampf zwischen verschiedenen Strömungen in der Kirche. Selbstverständlich haben die Medien für jene Seite Partei ergriffen, die ihnen zu ihrer Welt am besten zu passen schien. Es gab jene, die die Dezentralisation der Kirche suchten, die Macht für die Bischöfe und dann – durch das Wort „Volk Gottes“ – die Macht des Volkes, der Laien. Es gab diese dreifache Frage: die Macht des Papstes, dann übertragen auf die Macht der Bischöfe und die Macht aller, die Volkssouveränität. Natürlich war das für sie die Seite, die es gutzuheißen, zu befürworten, zu fördern galt. Und so war es auch für die Liturgie: Man war nicht interessiert an der Liturgie als Glaubensakt, sondern als etwas, wo verständliche Dinge getan werden, ein Handeln der Gemeinschaft, etwas Profanes. Und bekanntlich gab es eine auch geschichtlich begründete Tendenz, zu sagen: Sakralität ist etwas Heidnisches oder gegebenenfalls etwas Alttestamentarisches. Für das Neue gilt nur, dass Christus „außerhalb“ gestorben ist: also vor den Toren, in der profanen Welt. Mit der Sakralität muss also Schluss sein, auch der Kult muss profan werden: Der Kult ist kein Kult, sondern ein gemeinschaftlicher Akt, an dem alle zusammen teilnehmen, und so auch Teilnahme als aktives Handeln. Diese Übertragungen, Banalisierungen der Idee des Konzils schlugen sich in der praktischen Anwendung der Liturgiereform heftig nieder; sie waren aus einer Sichtweise des Konzils hervorgegangen, die außerhalb seines Interpretationsschlüssels, des Glaubens, lag. Und so auch in der Frage der Schrift: Die Schrift ist ein historisches Buch, das historisch behandelt werden muss, und nichts Anderes, und so weiter.

Wir wissen, dass dieses Konzil der Medien allen zugänglich war. Es war also das vorherrschende, das sich stärker ausgewirkt und viel Unheil, viele Probleme, wirklich viel Elend herbeigeführt hat: geschlossene Seminare, geschlossene Klöster, banalisierte Liturgie… und das wahre Konzil hatte Schwierigkeiten, umgesetzt, verwirklicht zu werden; das virtuelle Konzil war stärker als das wirkliche Konzil. Aber die wirkliche Kraft des Konzils war gegenwärtig und setzt sich allmählich immer mehr durch und wird zur wahren Kraft, die dann auch wahre Reform, wahre Erneuerung der Kirche ist. Mir scheint, dass wir 50 Jahre nach dem Konzil sehen, wie das virtuelle Konzil zerbricht, sich verliert und das wahre Konzil mit all seiner geistlichen Kraft zum Vorschein kommt. Und unsere Aufgabe ist es, gerade jetzt im Jahr des Glaubens, vom Jahr des Glaubens ausgehend daran zu arbeiten, dass sich das wahre Konzil mit seiner Kraft des Heiligen Geistes verwirklicht und die Kirche wirklich erneuert wird. Wir hoffen, dass der Herr uns helfen möge. Ich werde in der Zurückgezogenheit mit meinem Gebet stets bei euch sein, und gemeinsam gehen wir voran mit dem Herrn, in der Gewissheit: Der Herr siegt! Danke!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
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Wir müssen die Dinge beim Namen nennen!

Der Kampf um den Menschen

„Abtreibung und Ideologie statt Saatgut und Wahrheit“, mit diesen Worten charakterisiert die Publizistin Alexandra Maria Linder die derzeitige Politik, die leider auch von den christlichen Parteien und kirchlichen Verbänden in Deutschland gefördert wird. Linder, die von 2016 bis 2019 Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) war und seit 2017 den Bundesvorsitz des Bundesverbands Lebensrecht (BVL) führt, ruft dazu auf, die Wahrheit über diese menschenverachtende Lobby-Arbeit bekanntzumachen. Es handelt sich um ein weltweit agierendes Netzwerk, das sich der internationalen Politik bemächtigt hat und zunehmend diktatorisch auftritt. Dabei ignoriert es das christliche Menschenbild und tritt die Würde des Menschen von der Empfängnis bis zur Geburt mit Füßen. Abschließend lädt Linder zur Teilnahme am Marsch für das Leben am 19. September 2020 ab 13 Uhr in Berlin ein.

Von Alexandra Maria Linder

„Ausgetragene Schwangerschaft“ – eine lebenslange Strafe?

Nie habe sie sich Gedanken gemacht, wie sie aussähen, welche Talente sie hätten, was aus ihnen geworden wäre. „One night stands“ waren es, Männer, von denen sie keine Kinder wollte, Kinder, die zum falschen Zeitpunkt kamen. Und sie habe sie nie als Kinder gesehen. Stattdessen beklagt sie die Torturen für ihren Körper während der Abtreibungsprozeduren und, dass ihr niemand beigestanden habe. Wenn Kersten Artus, eine Protagonistin der Abtreibungsorganisation Pro Familia, nicht so bemitleidenswert wäre, könnte man böse reagieren – wie kann man so kalt, so unbarmherzig, so unwissenschaftlich von Menschen reden? Sie vergleicht eine „ausgetragene Schwangerschaft“ sogar mit einer lebenslangen Strafe. Wie können sie und andere, wie die Linke-Politikerin Möhring, die von zwei Abtreibungen aus Karrieregründen berichtet, um im Bundestag für Abtreibung eintreten zu können, so tun, als ginge es nur um ihren Körper und ein paar zu entfernende Zellen?

Dreiste Faktenleugnung und anti-wissenschaftliche Ideologie

Die Embryologie hat nachgewiesen, dass ein Mensch ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein vollständiger, individueller Mensch ist. Aus der Größe und Gestalt dieses Frühstmenschen zu schließen, es sei keiner, ist dumm, dreist, Verdrängung, Faktenleugnung („Fake news“), Ideologie. Es ist erstaunlich, dass diejenigen, die die wissenschaftlichen Fakten kennen und entsprechend berücksichtigen, als rückständig und mittelalterlich beschimpft werden, während diejenigen, die diese Fakten leugnen, um eine Ideologie voranzubringen, als modern und fortschrittlich gelten. Dabei belügen sie die Frauen im Schwangerschaftskonflikt, sie verweigern ihnen echte Hilfe und halten den Tod von Kleinstkindern ernsthaft für ein Recht. Stellen Sie sich einen Marsbewohner vor, der die Erde besucht und fragt, was wir für Frauen und ihre Rechte getan haben. Unsere Antwort: „Wir haben ihnen die Tötung ihrer Kinder erlaubt.“ Wirklich eine geniale Lösung für Diskriminierung, verweigerten Zugang zu Bildung, fehlende medizinische und hygienische Versorgung, Partnerschaftsprobleme, finanzielle und weitere Sorgen.

Wo wir gerade dabei sind: Stellen Sie sich vor, indische Entwicklungshelfer kommen in Ihren Ort, versammeln die gebärfähigen Frauen und sagen ihnen folgendes: Deutschland hat zu wenige Kinder. Deshalb sollen die Frauen alle Verhütungsmittel absetzen und mindestens drei Kinder bekommen. Wenn sie nur ein Kind haben, müssen sie alles selbst bezahlen. Bei zwei Kindern wird eines finanziert, ab drei Kindern alle. Genauso, nur mit umgekehrter Forderung machen wir dekadente Industrieländer es in den sogenannten Entwicklungsländern: Deren Kinderzahl sei zu hoch und müsse durch künstliche Verhütungsmittel und Abtreibung reduziert werden.

Die Tötungsindustrie der International Planned Parenthood Federation (IPPF)

Die Unterstützung von IPPF, UNFPA oder She Decides durch Christen, wie es die Parlamentarische Staatssekretärin Maria Flachsbarth (auch Vorsitzende des Katholischen Deutschen Frauenbundes) in einem Nebensatz eines vom Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU verabschiedeten Beschlusses empfiehlt, kann eigentlich nur fassungslos machen, ebenso wie die Bekräftigung durch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Denn wer sich nur ein wenig mit den Tätigkeitsfeldern solcher Organisationen beschäftigt, stößt schnell auf die Fakten. Zur Verdeutlichung hier ein etwas genauerer Blick in den Geschäftsbericht von Planned Parenthood (PP) USA 2018-2019. PP ist wie Pro Familia Gründungsmitglied der International Planned Parenthood Federation und verfolgt dieselben Ziele.

Ja, PP tut auch Gutes, man macht Krebsabstriche (ca. 7%) oder berät zu HIV und anderen sexuellen Krankheiten (etwa 50%). 4% aller Aktivitäten sind laut Bericht selbst durchgeführte Abtreibungen. Diese 4% resultierten 2018/2019 in 345.672 toten Kindern (zwischen 40 und 50% aller in den USA durchgeführten Abtreibungen). Der Umsatz (laut Guttmacher Institute kostet eine Abtreibung in den USA durchschnittlich 508 Euro) macht mindestens 12,25% des Jahresumsatzes von ca. 1,6 Milliarden Dollar aus. Rechnet man alle Frühabtreibungen ein, die durch Verhütungspille (1,8 Millionen Frauen, um die 3% mögliche Abtreibungen), „Pille danach“ (fast 600.000 Frauen, um die 10%) oder Intrauterinspiralen verursacht werden (aus wissenschaftlicher Sicht ist das selbstverständlich, als Christ muss man es außerdem aus ethischen Gründen tun), liegt die Zahl der toten Kleinstkinder 2018/2019 in der Verantwortung von Planned Parenthood USA deutlich höher.

Aberkennung der Gewissensfreiheit von medizinischem Personal

Der Geschäftsbericht kümmert sich inhaltlich weniger um Krebsabstriche als überwiegend um „einschränkende“ Abtreibungsgesetze und ihre Bekämpfung, um die Förderung der „Telemedicine“ in 16 US-Bundesstaaten, um restriktive Abtreibungsgesetze zu umgehen (was man als illegale Tätigkeit betrachten könnte), es wird außerdem offen über „birth control“, Geburtenkontrolle, gesprochen, deutlich offener als bei uns.

PP bekämpft außerdem die Weigerung von medizinischem Personal aus Gewissensgründen (das wird gerade auch bei uns ein Thema) und nennt den Versuch, durch Appelle und Programme zum verantwortungsvollen Umgang mit Sexualität dafür zu sorgen, dass sexuelle Aktivitäten weniger früh, weniger überbordend und mit weniger Sexualpartnern ausgeübt werden, ineffektiv und stigmatisierend.

Vertuschung der Gefahren und Folgen für Gesundheit und Leben

Wenn man die Entwicklung der sexuellen Aktivitäten in unseren Gesellschaften betrachtet, lässt sich folgendes feststellen: Es gibt deutlich mehr sexuell übertragbare Krankheiten und Ansteckungen, darunter fast ausgestorbene Krankheiten wie Syphilis. Die Unfruchtbarkeit steigt, unter anderem durch nicht erkannte Chlamydien-Infektionen. Künstliche Verhütung ist nicht so sicher, wie propagiert wird. Die entscheidenden Stellen wissen das und wollen daher die Abtreibung als „Spätverhütung“ etablieren. Es gibt in allen Ländern, die auf künstliche Verhütung und sexuelle Freizügigkeit setzen, steigende Abtreibungszahlen und immer mehr junge Mädchen, die abtreiben und sich mit Hormonen gefährden. Es entwickelt sich eine Mentalität „Ich will auf keinen Fall ein Kind“, verbunden mit der Botschaft, jederzeit mit jedem gefahrlosen Sex zu haben. Dies hat sich als der Gesundheit nicht förderlich herausgestellt und Millionen von Kleinstkinder das gerade entstandene Leben gekostet. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Sexualität ist sachlich betrachtet gesundheitsfördernd und todesratensenkend. Auch diese Fakten gehören in den Schulunterricht, damit die jungen Leute umfassend informiert sind und sich wirklich frei entscheiden können.

Um die Müttersterblichkeit zu senken – angeblich sterben 13% aller Mütter durch illegale Abtreibungen, eine Zahl, die nicht belegt, sondern hochgerechnet wird –, soll Abtreibung gemäß Bestreben besagter Organisationen weltweit legal und sicher werden. Gefördert werden sie durch Regierungen (auch unsere), Stiftungen (u.a. Gates-Stiftung) und Unternehmen (darunter gut daran verdienende Pharmakonzerne). Abtreibung ist jedoch normalerweise keine lebensrettende, notwendige Gesundheitsbehandlung. Und 87% der Mütter würden überleben, wenn sie eine ausreichende medizinische Versorgung erhielten. Das wäre rein logisch die vorrangige Aufgabe, die man angehen sollte, wenn man wirklich Interesse an den Frauen hat. An der Abtreibungsförderung weltweit sterben jedes Jahr übrigens weit über 50 Millionen Kinder. Es ist die häufigste Todesursache der Welt, die jedoch statistisch nicht als solche erfasst wird.

Fazit: Wie können wir Frauen wirklich helfen?

Fazit: Wer Frauen helfen will, bildet sie zu Hebammen aus, unterstützt Familien mit Saatgut und Vieh, baut Brunnen, Schulen, Hospitäler etc. Wer mit Eugenikern zusammenarbeitet (Margret Sanger, Gründerin von IPPF, oder Hans Harmsen, Gründer von Pro Familia), in afrikanischen oder asiatischen Staaten eine Bevölkerungsreduzierung fordert und seine Abtreibungseinrichtungen gerne in Stadtvierteln betreibt, die von Minderheiten bewohnt werden (wie in den USA), hat möglicherweise andere Ziele.

Wir alle können und müssen tätig werden: Unterstützen Sie Vereine und Organisationen, die Frauen im Schwangerschaftskonflikt wirklich helfen, Aufklärungsarbeit betreiben und politische Lobbyarbeit leisten, um die Wahrheit zu verbreiten. Und kommen Sie zum „Marsch für das Leben“ am 19. September ab 13 Uhr in Berlin! Treten Sie für die Menschen und für die Wahrheit ein. www.bundesverband-lebensrecht.de

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
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Der Vorstoß von Grünen und Linken macht fassungslos!

Wo bleiben die Grundlagen unseres Rechtsstaates?

Der Bundesverband Lebensrecht (BVL), ein Zusammenschluss deutscher Lebensrechtsorganisationen, ist eine der wenigen Einrichtungen, die kompromisslos für die unantastbare Würde des Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod eintritt. Man kann nur dankbar dafür sein, dass wenigstens dieser Verband seine Stimme zu den aktuellen Vorgängen in Deutschland erhebt und die Dinge beim Namen nennt. Welche Wirkung könnte die katholische Kirche in Deutschland erzielen, wenn die Bischöfe, die Bischofskonferenz, die kirchlichen Verbände mit derselben Deutlichkeit auf die gesellschaftspolitischen Abwege reagieren würden! Das Zeugnis der Kirche erhielte wieder Gewicht, die Kirche würde als Faktor des öffentlichen Lebens und moralische Autorität wahrgenommen. So geht Alexandra Maria Linder auf den neuesten Vorstoß der Grünen und Linken ein, Ärzte mit ihren Forderungen unter Druck zu setzen. Wörtlich sagt sie: „Es ist pervers, bevorzugt medizinisches Personal einzustellen, das zu Tötungshandlungen bereit ist.“

Von Alexandra Maria Linder

Begriffe wie Ethik oder Gewissensfreiheit, Grundlagen der Medizin und unseres Rechtsstaates, sollen keine Rolle spielen, wenn es um eine angeblich lückenhafte Versorgung im Bereich der Abtreibung geht. Der Zugang zu „reproduktiver Gesundheitsversorgung“, wie es Ricarda Lang von den Grünen ausdrückt, muss natürlich gewährleistet sein. Abtreibung ist jedoch keine Gesundheitsversorgung, sie dient weder der Heilung noch der medizinischen Behandlung. Und es gibt auf der ganzen Welt keine einzige wissenschaftliche Studie, die belegt, dass Abtreibung einen gesundheitlichen oder psychischen Vorteil für die Frauen hat, sehr wohl aber zahlreiche Studien, die nachteilige Folgen und Schäden für die Frauen nachweisen. Aus logischer medizinischer Sicht und im Sinne der Frauengesundheit dürfte man also eigentlich gar keine Abtreibungen durchführen.

Versorgungslücken gibt es tatsächlich in vielen medizinischen Bereichen: zum Beispiel in der Kardiologie, der Pneumologie, der Onkologie oder der Kiefernchirurgie. Für Behandlungen und Operationen muss man zum Teil weite Wege in Kauf nehmen, häufig mehrfach. Immer mehr Geburtseinrichtungen werden geschlossen, Hebammen haben Schwierigkeiten, ihren Beruf selbständig auszuüben. Hier gibt es in der Tat Handlungsbedarf, der im Sinne der Gesundheitsversorgung gegenüber einer Ausweitung von Abtreibungsangeboten eindeutig Vorrang hat. Des Weiteren werden etwa ein Viertel der Abtreibungen in Deutschland mit chemischen Mitteln vollzogen, die angeblich so harmlos sind, dass Frauen sie ganz ohne medizinische Betreuung zu Hause nehmen können. So jedenfalls lautete ein Antrag der Linken-Bundestagsfraktion in der Corona-Zeit. Auch hier opferte man die Frauengesundheit der Ideologie, denn die chemische Abtreibung ist alles andere als harmlos. Da es außerdem konstant hohe Abtreibungszahlen und keine Frauen gibt, die aufgrund zu weiter Anreise ihre Kinder nicht abtreiben lassen konnten oder wegen eines fehlenden Abtreibungszugangs gestorben sind, ist eine „Versorgungslücke“ auch faktisch nicht nachweisbar.

Seit vielen Jahren schon haben Menschen, die im gynäkologischen Bereich arbeiten, Probleme, wenn sie nicht an Abtreibungen mitwirken möchten. Sie werden entlassen oder nicht zur Hebammen- oder Facharztausbildung zugelassen. Gewissensfreiheit und in der Folge die Weigerung aus Gewissensgründen, an bestimmten Handlungen mitzuwirken, ist ein hohes Gut, weshalb internationale Abtreibungsorganisationen versuchen, diese Haltung durch Begriffe wie „unehrenhafter Ungehorsam“ (dishonorable disobedience) zu diskreditieren. Wer Skrupel hat, Patienten zu töten, nimmt seine Berufung und seine medizinische Ethik ernst. Das gilt nicht nur für Abtreibung, sondern ganz aktuell auch für die begleitete Selbsttötung. Es ist schlicht pervers, in Kliniken bevorzugt medizinisches Personal einzustellen, das zu Tötungshandlungen bereit ist.

Wenn die Gewissensfreiheit abgeschafft wird, werden Menschen zu Handlangern und Spielbällen politischer Entscheidungen gemacht, die offensichtlich nicht immer vorrangig Humanität und Menschenwürde im Blick haben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
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Die Gottesfrage ist von fundamentaler Bedeutung

Wir brauchen eine theozentrische Wende

Pfr. Dr. Richard Kocher, Programmdirektor von Radio Horeb, will mit seiner Medienarbeit in das Leben der Menschen, in die Ereignisse von Kirche und Welt, auch in die Corona-Krise und die durch sie aufgebrochenen Fragen das Licht der göttlichen Offenbarung hineinstrahlen lassen. Auf die existentiellen Herausforderungen von heute müssten Antworten gegeben, Wege aufgezeigt werden, welche sich aus der lebendigen Beziehung zu Jesus Christus heraus ergeben.

Von Richard Kocher

Roman Herzog hat schon vor über 20 Jahren treffend formuliert: „Was ich vom kirchlichen Engagement erwarte – und zwar nicht nur als Person, sondern auch dezidiert von meinem Amt als Bundespräsident her – ist, um es vorsichtig zu sagen, die Konfrontation der Menschen mit einer Vertikalen, mit einer ‚ganz anderen‘ Perspektive.“ Es geht um das prophetische Amt in der Kirche, das die Situation von Kirche und Gesellschaft im Licht der Offenbarung reflektiert. Die Zeichen der Zeit müssen immer wieder neu gedeutet werden; dies war eine klare Weisung des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Israel hat in seiner mehrtausendjährigen Geschichte nahezu alle Varianten der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk „durchgespielt“. Die historischen Bedingungen ändern sich, nicht aber die menschlichen Grundbefindlichkeiten. Diese herauszuarbeiten und zu aktualisieren, ist Aufgabe jeder Exegese. In Jesaja 22,5-14 lesen wir, dass die Feinde Israels zum Kampf rüsten. Wenn die Stadt fällt, kann im schlimmsten Fall deren Zerstörung, die Deportation der Bevölkerung, die Vernichtung des Tempels sowie die Abschaffung des Kultes und des Königtums die Folge sein. Es ist also verständlich, wenn in einer solchen Lage das Herz des Königs und des Volkes „wie Bäume des Waldes im Wind zittern“ (Jes 7,2). Die Israeliten tun, was in dieser Situation jeder machen würde: Sie schauen nach ihren Waffen, bessern die Risse der Stadtmauer aus und fluten die Gräben zwischen den Mauern mit Wasser. Das Entscheidende haben sie jedoch unterlassen: „Aber ihr habt nicht auf den geblickt, der es bewirkt, und auf den, der es von Ferne gestaltet, habt ihr nicht geschaut“ (Jes 22,11). Es wäre ihre Aufgabe in dieser existentiellen Bedrohung gewesen, auf Gott zu schauen, von ihm Rat zu erbitten, zu bedenken, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, und was Gott ihnen damit sagen wollte; denn schließlich hat er ihnen das Land nicht deshalb gegeben, damit es ihnen wieder genommen wird. Nach der wie durch ein Wunder aufgehobenen Belagerung findet keine Besinnung statt, die Jahwe in Form von Weinen und Klage angeordnet hatte. Stattdessen wird ausgiebig gefeiert, gegessen und getrunken und weitergemacht wie bisher. Ihr unbelehrbarer Trotz, mit dem sie sich schon in der Not behauptet haben, wird ihnen zum Gericht: „Diese Schuld wird euch nicht vergeben, bis ihr sterbt, spricht der Herr, der GOTT der Heerscharen“ (Jes 22,14).

Während der Corona-Krise wurden wir wochenlang fast nur mit Verordnungen, Restriktionen, Schließungen und Hygienevorschriften konfrontiert, während gleichzeitig bei vielen Menschen existentielle Fragen und Nöte aufgebrochen sind, auf die sie Antworten gesucht haben. Die angeordneten Maßnahmen waren sicher notwendig, aber noch wichtiger ist der Versuch einer geistlichen Deutung, die so gut wie nicht stattgefunden hat. Wir dürfen aber nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Unzählige Menschen haben mir gesagt: „So hat es nicht mehr weitergehen können: immer noch mehr und immer noch schneller.“ Der Papst hat in seiner Ansprache auf dem Petersplatz am 27. März 2020 daran erinnert, dass wir den Notschrei vieler Völker überhört haben; er hat unseren zerstörerischen Umgang mit der Schöpfung sowie unser Konsumverhalten angeprangert. Eine Besinnung auf die Grundwerte unseres Zusammenlebens ist angesagt. Ich nenne das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Aschermittwoch zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe als Beispiel. Diese ist nicht Ausdruck der Autonomie des Menschen, sondern der „Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung“ (Papst Franziskus). Hierbei steht vieles auf dem Spiel, denn eine neuheidnische Gesellschaft trägt die Grundlagen ihrer Zivilisation ab. … 

Nachdenklichkeit ist auch in unserer Kirche angesagt. Wie selten zuvor habe ich in den letzten Monaten Stellungnahmen von Bischöfen und Verantwortlichen unserer Kirche gelesen, in denen es so gut wie nie um die Themen des Synodalen Weges ging. Haben diese vielleicht doch nicht die Bedeutung, die man ihnen zugemessen hat? Ich weise erneut auf die Katechese von Kardinal Kasper beim Eucharistischen Kongress in Köln am 7.6.2013 hin. Über Themen wie den Zölibat, die Stellung der Frau in der Kirche und die Sexualethik könne man diskutieren und auch leidenschaftlich streiten. Entscheidend sei aber, welchen Stellenwert man ihnen einräumt: „Viele unserer kirchlichen Reformfragen sind Insiderfragen, welche die neuen Heiden … gar nicht interessieren. Wir müssen die Fragen nach dem Heiligen, die Gottesfrage, in die Mitte rücken. Wir brauchen eine theozentrische Wende in der Theologie und in der Pastoral.“ Die zur Diskussion stehenden Punkte können letztlich nur dann sinnvoll beantwortet werden, wenn die Gottesfrage thematisiert wird. …

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
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Die katholische Kirche steht vor großen Herausforderungen

Im Zentrum Christus und das Evangelium

Nach George Weigel, einem der führenden katholischen Gelehrten der Vereinigten Staaten, befindet sich die katholische Kirche in einer Übergangsphase. Er blickt zurück auf seine persönlichen Begegnungen mit den Päpsten Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus sowie auf seine jahrzehntelange Erfahrung im Bereich der weltweiten katholischen Kirche, von den einfachsten Pfarreien bis zur höchsten Ebene der Kurie. Dabei geht er auf die großen Herausforderungen ein, denen sich die katholische Kirche im 21. Jahrhundert stellen müsse. Dies gelte ganz besonders für den nächsten Papst, der als Nachfolger des hl. Petrus die Kirche kraftvoll auf dem Weg der Glaubensvertiefung und Neuevangelisierung in die Zukunft führen müsse.[1]

Von George Weigel

Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand. Er ist das Haupt, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang. Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut (Kol 1,15-20).

Die Welt sieht die katholische Kirche typischerweise als eine riesige und komplexe globale Organisation. Mehr als nur ein paar Katholiken denken über die Kirche genauso. Doch die ganze neuere Geschichte des Katholizismus hat der Kirche einen anderen Weg gewiesen und sie zu einem anderen Selbstverständnis ermuntert.

In einer geistgeführten und geistgeleiteten Bewegung der evangelikalen Erneuerung war und ist die katholische Kirche aufgerufen, durch und durch christozentrisch und evangelikal zu sein. Die Kirche ist aufgefordert, jede Facette ihres organisierten Lebens in den Dienst des Evangeliums zu stellen, das heißt, das Gottesreich zu verkünden, das mitten unter uns bereits besteht, und allen die Freundschaft mit Jesus Christus, dem Herrn, anzubieten, denn darin besteht der Daseinsgrund der Kirche.

Jede echte katholische Reform ist eine Rückkehr zur ursprünglichen „Gestalt“ der Kirche, die Christus selbst ihr gegeben hat. Im Zentrum dieser „Gestalt“ der Kirche steht der große Missionsauftrag, hinaus zu gehen und alle Völker zu Jüngern zu machen. Die Wiederentdeckung dieser grundlegenden Wahrheit über die Kirche ist der rote Faden, der sich durch die vergangenen 150 Jahre der Geschichte des Katholizismus von Papst Leo XIII. über das Zweite Vatikanische Konzil bis hinein ins 21. Jahrhundert zieht. Die Ausrichtung der Kirche auf Christus als ihren Mittelpunkt, die die evangelikale Verpflichtung miteinschließt, ist auch der rote Faden, der sich durch die hier vorgelegten Überlegungen zum Petrusamt und seiner Ausübung in einer missionarischen Kirche hindurchzieht.

Das Petrusamt ist anders als jede andere verantwortungsvolle Position in der Welt. Dieses Amt ist die Quelle jedweder exekutiven, legislativen und judikativen Autorität in der katholischen Kirche. Dennoch ist der Mann, der auf dem Stuhl Petri sitzt, nicht der Herr, sondern der Diener der katholischen Tradition. Er muss aus dem Inneren dieser Tradition herausführen und ihre Entwicklung fördern. Aber er darf nicht glauben, über der Tradition oder dem Evangelium zu stehen, denn dann geraten er und die Kirche in große Gefahr.

Hinzu kommt die Spannweite seiner Verantwortung. Wie der Titel Oberster Pontifex andeutet, muss der Papst auf irgendeine Weise eine Brücke zwischen Gott und der Menschheit sein, zwischen der katholischen Kirche und anderen Religionsgemeinschaften, zwischen der katholischen Kirche und den Zivilregierungen, zwischen seinem eigenen Amt und dem der Bischöfe, mit denen gemeinsam er ein Leitungskollegium in der Kirche bildet, und zwischen der kirchlichen Zentralverwaltung und 1,1 Milliarden Katholiken, die in praktisch jeder nur vorstellbaren Situation auf diesem Planeten leben.

Und er muss über seine Führung und Verwaltung schließlich Rechenschaft ablegen, nicht vor seinen Wählern, sondern vor dem lebendigen Gott.

Es erscheint unmöglich, diese Aufgabe zu erfüllen. Menschlich gesprochen ist sie das auch. Deshalb muss der nächste Papst wie diejenigen seiner Amtsvorgänger, die dem Auftrag des Herrn an Petrus, „seine Brüder zu stärken“, am besten entsprochen haben, ein Mann sein, der die Gnade Gottes in seinem Leben durchscheinen lässt, denn nur diese Gnade wird ihn befähigen, so zu lehren, zu heiligen und zu leiten, wie der Nachfolger Petri es tun sollte.

Der hl. Kirchenvater Gregor von Nyssa hat dies im 4. Jahrhundert klar erkannt, wie die Kirche es sich im Stundengebet Jahr für Jahr in Erinnerung ruft:

„Wir werden mit Klarsicht gesegnet sein, wenn wir unsere Augen auf Christus gerichtet halten, denn er ist unser Haupt, wie Paulus lehrt, und kein Schatten des Bösen ist in ihm. Der hl. Paulus selbst und alle, die dieselben Höhen der Heiligkeit erreicht haben, hatten ihre Augen auf Christus gerichtet, und das haben alle, die in ihm leben und in ihm sind.

Da jemand, der vom Licht umgeben ist, keine Dunkelheit zu sehen vermag, so kann nichts Belangloses die Aufmerksamkeit bei jemandem erregen, der seine Augen auf Christus richtet. Wer seine Augen auf das Haupt und den Ursprung des ganzen Universums gerichtet hält, richtet sie auf die Tugend in ihrer ganzen Vollkommenheit, richtet sie auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, auf Unsterblichkeit und auf alles andere, was gut ist, denn Christus ist die Fülle des Guten selbst."[2]

Deshalb muss der nächste Papst vor allem anderen ein durch und durch bekehrter Jünger sein: ein Mann, der in der Tiefe seines Seins von der Überzeugung geprägt ist, dass Jesus Christus der menschgewordene Sohn Gottes ist, der der Welt das Antlitz Gottes, des barmherzigen Vaters, und die Wahrheit über die Menschheit, ihre Würde und ihre Bestimmung, offenbart. Die Intensität der Beziehung des nächsten Papstes zu Jesus, dem Herrn, und die Weisheit, mit der er erkennt, was der Herr Jesus zu gegebener Zeit von ihm erwartet, wird darüber entscheiden, ob sein Papsttum die Sache des Evangeliums voranbringt oder die evangelikale Mission der Kirche behindert. Deshalb braucht und verdient der nächste Papst die Gebetsunterstützung der gesamten katholischen Welt.

Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes […] (Mt 28,19).  Sie aber zogen aus und verkündeten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte das Wort durch die Zeichen, die es begleiteten (Mk 16,20). Amen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] George Weigel: Der nächste Papst. Das Amt des Petrus und eine missionarische Kirche, geb., 160 S., ISBN 978-3-9479312-4-8, Euro 16,95 (D), 17,50 (A) – Tel.: 07303-952331-0; Fax: 07303-952331-5; E-Mail: buch @media-maria.de – www.media-maria.de
[2} Gregor von Nyssa: Predigt über das Buch Kohelet (Hom. 5: PG 44, 683-686), Lesehore am Montag der siebten Woche im Jahreskreis, in: The Liturgy of the Hours, Internationale Kommission für Englisch in der Liturgie, 1973-1975.

Gewalt in der Sahelzone steigt – Was tut Europa?

Flucht beginnt nicht erst im Mittelmeer

Am 1. Juli hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Eine „wirtschaftliche und soziale Erholung“ wolle man in die Wege leiten, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ob sich die Erkenntnis durchsetzt, dass zur „sozialen Erholung“ für viele EU-Partner auch das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit gehört?

Von Tobias Lehner, KIRCHE IN NOT Deutschland

Das Fragezeichen ist berechtigt, wie das jüngste Hin und Her um den EU-Sonderbeauftragten für Religionsfreiheit zeigt: Zuerst von der EU-Kommission für obsolet erklärt, konnte dieses wichtige Amt nach Protesten doch noch erhalten werden. Eine Abschaffung wäre ein fatales Signal gewesen. In vielen Ländern der Welt ist Religionsfreiheit der Prüfstein für Menschenrechte. Wo sie mit Füßen getreten wird, werden es andere Menschenrechte auch. Und das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Europäische Union: Wo religiös aufheizte Konflikte wachsen, wächst auch der Druck zur Migration.

Mit Sorge blickt das weltweite katholische Hilfswerk „Kirche in Not“ auf die Entwicklung in den Ländern der Sahelzone. Nirgendwo sonst auf dem afrikanischen Kontinent haben islamistische Terrorgruppen ihren mörderischen Radius in jüngster Zeit mehr ausweiten können. Der französische Islamwissenschaftler Olivier Hanne sagte im Gespräch mit „Kirche in Not“: „Ich fürchte, dass sich in den kommenden fünf Jahren die Expansion der Terror-Einheiten fortsetzen wird. Die Staaten der Sahelzone brauchen die Hilfe des Westens, sonst kommt es zu einer Katastrophe.“

Christen und Muslime haben in den Ländern der Sahelzone bislang weitgehend konfliktfrei zusammengelebt. Ein „Krieg der Religionen“ solle entfesselt werden, vermuten Beobachter, um dabei von den weiteren Beweggründen abzulenken: Es geht um Bodenschätze, Waffen- und Drogenschmuggel – und die politische Kontrolle über die ganze Region. Und Europa schaut zu? Vier Momentaufnahmen:

Burkina Faso – eine Million Vertriebene

Seit fünf Jahren erlebt Burkina Faso einen Terroranschlag nach dem anderen. Nach von „Kirche in Not“ gesammelten Daten beläuft sich die Zahl der Binnenvertriebenen auf rund eine Million.

Mitte Mai berichteten lokale Ansprechpartner dem Hilfswerk, dass im Norden und Osten Burkina Fasos ganze Dörfer unbewohnt oder von der Außenwelt abgeschnitten seien – nicht aufgrund von Corona-Ausgangssperren, sondern wegen anhaltender terroristischer Anschläge.

Besonders prekär ist die Lage in der Stadt Djibo nahe der Grenze zu Mali. Die Stadt ist seit Januar von Terroristen umzingelt. Europäische Truppen sind zwar im Land stationiert, aber die Situation verbessere sich nicht, bemängeln die lokalen Quellen. Außerdem sei die nationale Armee nicht annähernd so gut mit Waffen und Fahrzeugen ausgestattet wie die internationalen Streitkräfte.

Die Menschen Burkina Fasos fühlten sich angesichts der desaströsen Lage ohnmächtig, beklagt ein Priester, „vor allem, weil sich die Aufmerksamkeit im Moment auf die Corona-Pandemie konzentriert und dabei vergessen wird, dass der Terrorismus sogar noch mehr Opfer fordert als Covid-19“.

Nigeria – tagtägliches Martyrium

„Unsere Priesteramtskandidaten müssen damit rechnen, als Märtyrer zu sterben“, sagte Habila Daboh, Leiter des Priesterseminars von Kaduna in Zentralnigeria, als er bei „Kirche in Not“ Deutschland zu Besuch war. Anfang des Jahres hat sich diese düstere Ahnung erfüllt: Im Januar überfielen bewaffnete Unbekannte das Priesterseminar. Sie verschleppten vier Seminaristen. Nach und nach kamen drei der Entführten frei – der 18-jährige Michael Nnadi jedoch wurde ermordet aufgefunden.

Entführungen, Morde und Anschläge sind in Nigeria an der Tagesordnung: Im Norden des Landes treibt weiterhin Boko Haram sein Unwesen. Lange Zeit schien es, als würde die Terrorgruppe militärisch in Schach gehalten. Das war ein Trugbild.

Im „Middle Belt“, der Zentralregion Nigerias, häufen sich die Übergriffe der Fulani-Nomaden. Diese Viehhirten treiben ihre Tiere zuweilen auch auf beackerte Flächen. Wenn die Ackerbauern dagegen protestieren und sich wehren, eskalieren diese Konflikte oft.

Die Gesprächspartner von „Kirche in Not“ berichten, dass der religiöse Hintergrund in diesem Konflikt immer mehr die Oberhand gewinnt. Die Fulani sind mehrheitlich Muslime, die Bauern im „Middle Belt“ gehören dagegen oft zu kleinen ethnischen Minderheiten, viele von ihnen sind Christen. Diese fühlen sich im Stich gelassen: von der Regierung, von der Polizei, niemand schützt sie vor der Gewalt, niemand setzt sich für sie ein, auch die internationale Staatengemeinschaft tut nichts für sie. So wenden sie sich an Organisationen wie „Kirche in Not“.

Niger – Angst und Dialogbereitschaft

In Niger haben die Auseinandersetzungen um die islamkritischen Karikaturen in der franz. Zeitschrift Charlie Hebdo im Jahr 2015 zu einer Gewaltwelle geführt. Damals wurden 45 Kirchen angegriffen und niedergebrannt. Hinter der Eskalation vermuteten lokale Beobachter den Versuch oppositioneller Kräfte, das Land zu destabilisieren und die Regierung zu stürzen. „Die Christen waren der Sündenbock“, erklärte Bischof Ambroise Ouédraogo aus Maradi.

Nach wie vor kommt es zu Anschlägen auf Gotteshäuser und kirchliche Einrichtungen. Als Ende April militante Islamisten gegen die staatlichen Corona-Beschränkungen demonstrierten und dabei Schulen und Geschäfte in Brand steckten, war auch die Sorge bei den Christen groß. Dass die Proteste nicht noch weiter eskalierten, schreiben die Gesprächspartner von „Kirche in Not“ den staatlichen Sicherheitskräften zu. Denn „viele Muslime finden die aktuelle Situation zutiefst beschämend und zeigen sich solidarisch mit den Christen“, so Bischof Ouédraogo. Die Kirche stellt viele karitative Projekte auf die Beine und organisiert Begegnungen zwischen Christen und Muslimen. Das hat in Niger wie auch in anderen Staaten der Region Tradition.

Eritrea – Fluchtursachen häufen sich

Mitte Juni 2019 warf eine Aktion der eritreischen Regierung ein grelles Licht auf die schlimme Situation der Christen in Eritrea: Soldaten beschlagnahmten von der eritreisch-katholischen Kirche geführte Kliniken und Arztstationen. Die Patienten seien „regelrecht aus den Betten geworfen worden“, berichtete ein Gesprächspartner an „Kirche in Not“. Anders als in anderen Ländern der Sahelzone ist in Eritrea nicht ein extremer Islamismus Triebfeder der Verfolgung: Das Land ist eine Diktatur atheistischer Prägung. Eine Verfassung mit Garantie der Religionsfreiheit wurde zwar ausgearbeitet, ist aber bis heute nicht in Kraft getreten. Verschleppungen und Schikanen sind an der Tagesordnung. Vermutet wird auch, dass die Kirche sich nach Auffassung der Regierung zu selbstbewusst in den Friedensprozess mit Äthiopien eingebracht hat. Die Kirche stellt Fragen, die das Regime nicht hören will.

Die Entwicklungen in Eritrea ihrerseits beantworten vielleicht manche Frage, warum so viele junge Menschen die gefährliche Flucht nach Europa auf sich nehmen. Die Kirche vor Ort versucht ihr Möglichstes zu tun, um Fluchtursachen zu bekämpfen, sagt der Gesprächspartner: „Der Kirche die Möglichkeit zur Nächstenliebe zu nehmen, ist, als ob man ihr einen Arm amputieren würde.“ Diese „Amputation“ christlicher Präsenz, humanitärer Versorgung und des friedlichen Miteinanders der Religionen zu verhindern, dazu ist die EU in den Ländern der Sahelzone aufgerufen. Flucht beginnt nicht erst im Mittelmeer – und Religionsfreiheit endet nicht an den EU-Außengrenzen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
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Vom Hirtenmädchen und dem Künstlermönch (4)

Wie Lucia die Erscheinungen erlebte

Prof. Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea zeichnen in einer Artikelserie die Entstehungsgeschichte der Statue vom Unbefleckten Herzen Mariens am Glockenturm der Rosenkranzbasilika in Fatima nach. Die Figur wurde von dem amerikanischen Künstlermönch P. Thomas McGlynn im Austausch mit Schwester Lucia geschaffen. Sie selbst hatte den Pater aufgefordert, über ihr Gemeinschaftswerk zu schreiben. Doch geht es in dem Bericht nicht nur um eine Statue. Gerade die vierte Folge zeigt, dass die Gespräche mit Sr. Lucia aufschlussreiche Aussagen über die Marienerscheinungen von Fatima enthalten und ein wertvolles Zeitdokument darstellen.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Das Kind aus den Bergen

Die kluge Provinzoberin der Doro-theenschwestern im Colégio do Coração Sagrado de Jesus do Sardão (Kolleg des Heiligsten Herzens Jesu von Sardão) bemerkt die Nervosität der selbstbewussten Dominikaner, die sie tapfer zu überspielen versuchen. Sie bräuchten nicht verunsichert zu sein: „Irmã Dores is very simple; she is a child of the mountains.“ (Schwester Dores ist sehr einfach, ein Kind der Berge.) Gern werde sie all ihre Fragen beantworten.

Trotz aller Wünsche, Lúcia endlich zu sehen, wäre er jetzt lieber „in a comfortable chair in my mother’s apartment in New York“ (in einem bequemen Stuhl in der Wohnung meiner Mutter in New York), geht es P. McGlynn durch den Kopf. Gleich würde er der Frau begegnen, die einige der secrets of heaven (Geheimnisse des Himmels) wusste, die Heilige Jungfrau sah und mit ihr sprach, von Gott bevorzugt und beauftragt, weit mehr als andere der Menschheit eine göttliche Botschaft zu verkünden. Solche Menschen müssen jedem ins Herz blicken und alle Fehler sehen können. Aber was auch immer es ihn emotionally (emotional) kostete oder wie Lúcia auf ihn als Person reagieren mochte, er wusste sich im Recht, diese Gelegenheit zu suchen, um Unserer Lieben Frau durch seine Statue und auf jedem Weg zu dienen, der sich ihm öffnen würde.

Das „Kind der Berge“ tritt ein. Vor allem fallen ihm ihre Augen auf: sehr dunkel, sehr durchdringend. Sein Ego ist aufgehoben, als sich Irmã Dores (die Dorothea-Schwester) beim Händeschütteln etwas vorbeugt, ihm gerade in die Augen blickt und pleasently (freundlich) lächelt. Das erste Interview beginnt. Am nächsten Tag sei die Hundertjahrfeier der Weihe der Vereinigten Staaten von Amerika an die Immaculate Conception, die unbefleckt empfangene Jungfrau,[1] beginnt P. McGlynn. Ob sie für sein Land beten würde? Ein wenig verlegen nickt sie demütig und sagt leise ja.

Schwester Lúcia und ihr Urteil

Äußerst aufmerksam fixieren ihre Augen die Person, die gerade spricht. Ihre Haltung zeigt passive und aktive Züge. Jede Frage nimmt sie wach wahr und studiert dabei Person und Worte des Fragenden. Agilität und Intelligenz spiegeln ihr beweglicher, ausdrucksstarker Mund und ihr großes Kinn. Sie sitzt entspannt, beugt sich aber ein wenig vor. Ihre Hände ruhen auf ihrem Schoß. Manchmal spreizt sie ihre Finger und drückt ihre Handflächen auf ihre Knie, eine Geste der Entspannung von der anstrengenden Befragung. Gelegentlich lacht sie spontan und kurz mit feinem Sinn für Humor in lebenslang geübter Zurückhaltung.

P. McGlynns Wunsch ist rasch beschrieben. Schwester Lúcia hatte seine Statue schon über den Raum hinweg gesehen, ohne eine Reaktion zu zeigen. Er nahm es als Zeichen respektvoller Aufmerksamkeit den Sprechenden gegenüber. Seine Hoffnung auf Zustimmung ruhte auf den vielen Komplimenten, die er erhalten hatte. Schließlich hatte auch sein Lehrer Carl Milles ihren künstlerischen Wert mit gewichtigem Urteil bestätigt: „The best statue you have ever made.“ (Die beste Statue, die du je gemacht hast.) „Não dá posição“, sagt sie den ersten portugiesischen Satz, den P. McGlynn lernt und niemals vergessen wird – „nicht die richtige Position“. Die rechte Hand sollte erhoben sein, und die linke etwas tiefer. Sie spricht von der Erscheinung im Juni. Er beeilt sich zu erläutern, seine Gestik wolle nicht beschreiben, sondern symbolisch den Frömmigkeitsaspekt der Botschaft von Fatima ausdrücken, das Unbefleckte Herz und den Rosenkranz. Ein Lächeln beantwortet seine apologetische Mühe. Symbolismus konnte für sie die Realität nicht ersetzen. „Não dá posição“, wiederholt sie schlicht. Während des Gesprächs bemerkt sie die achtlos am Boden liegende Schnur, mit der die Kiste umschlossen war. Ohne die Konversation zu unterbrechen, nimmt sie die Schnur auf, wickelt sie ordentlich auf und legt sie auf die Kiste.

Wie es wirklich war…

„Die Stoffe sind zu glatt“, sagt Schwester Lúcia. Die Faszination, mit jemandem zu sprechen, der Unsere Liebe Frau sah, lässt P. McGlynn seine Enttäuschung verkraften. Er versucht sich zu rechtfertigen: „Ich weiß, dass die Vision sehr leuchtend war. Nun ist es aber unmöglich, Licht durch eine Skulptur auszudrücken, es sei denn durch reflektierendes Licht auf Oberflächen. Daher sind die Stoffe so glatt.“ „Aber das Licht war in Wellen und gab den Eindruck eines Stoffes mit Falten“, war die Antwort. „Sie war umgeben von Licht und Sie war inmitten des Lichts.“

„Ihre Füße ruhten auf der Azinheira.“ Keine Wolke? Jeder Bericht, jedes Bild deuteten sie an. Künstlerisch war das Wolkenproblem herausfordernd. Er dachte, diese Aufgabe elegant gemeistert zu haben. „Die Leute sprechen von einer Wolke, aber ich sah keine“, lautet der Kommentar. „Unsere Liebe Frau stand leicht auf den Blattspitzen.“

„Sie hatte immer einen Stern auf ihrem Gewand.“ Gut – das war zu beheben! „Wie an zwei Strahlen aus Sonnenlicht trug Sie einen kleinen Ball aus Licht“, ergänzt sie und deutet anmutig ein imaginäres Juwel an, das ihr um den Nacken bis zur Taille fällt. Die Statue zeige Haare, um das Gesicht jugendlicher wirken zu lassen und Schatten zu verhindern. „Ich sah niemals Haare“ – auch dieses Thema war beendet. Ihm fällt auf, wie oft sie statt „Nossa Senhora“ das Personalpronomen gebraucht – ela (Sie), aber so ehrerbietig, dass nur „Unsere Liebe Frau“ gemeint sein konnte.

Wellen aus Licht

Ihrem Habit entnimmt Schwester Lúcia den Rosenkranz, zieht ihn über die Handfläche und faltet die Hände wie im Gebet: „Im Juni erschien Sie zuerst wie bei den anderen Erscheinungen; öffnete dann aber in dieser Weise ihre Hände.“ P. McGlynn studiert die Haltung genau, vor allem wie das Unbefleckte Herz erschien, umgeben von Dornen. „Bei der ersten und dritten Erscheinung öffnete Sie die Hände dagegen so.“ Sie deutet eine Geste wie etwa beim Dominus vobiscum (Der Herr sei mit euch) der Messe an.

Als Künstler beschäftigt P. McGlynn der Faltenwurf. „Es waren zwei Wellen aus Licht, eine über der anderen.“ Jede Falte werfe doch Schatten, und die Wirkung vieler Schatten verdunkele jede Skulptur. „Würden Sie es anders gestalten, gäben Sie nicht wieder, wie es war.“ „Hatten Gesicht, Hände und Füße die Farbe des Lichtes oder des Fleisches?“ Licht könne doch die Farbe des Fleisches annehmen. „Wie war der Ausdruck Unserer Lieben Frau?“ „Agradável mas triste; doce mas triste“ – „ansprechend, aber traurig; süß aber traurig“. Das Gesicht der Statue sei zu alt.

Taktvoll versucht sie, Freundliches zu sagen: Von der Seite gefalle ihr das Gesicht etwas besser, auch gebe das Modell die Leichtigkeit der Erscheinung besser wieder als andere Statuen – „that was consoling, but hardly a quotable recommendation“ – „tröstlich, aber kaum zitierfähig“! Die Zeit war fortgeschritten. Die Provinzoberin empfiehlt einen weiteren Besuch. Im Hotel fasst P. Gardiner zusammen: „Eigentlich sagte sie immer nur, sie werde die Vision nicht ändern, nur um einen Bildhauer zufriedenzustellen.“ Ihr gefiel das Profil, alles andere war zu ändern.

P. McGlynn beschließt, ein neues Modell zu schaffen – der einzige Weg, den Zweck zu erfüllen, zu dem er nach Portugal gefahren war. Am nächsten Morgen teilt er seinen Entschluss mit. Die Provinzoberin lädt den Mönch ein, im Priesterhaus zu arbeiten. Es stehe leer. Um sich geistlich einstellen zu können, bittet er, Schwester Lúcia nach den Erscheinungen fragen zu dürfen, nicht aus Neugier, sondern zum Heil der Seelen. Im Folgenden können nur einige Aspekte geschildert werden.

Geistliche Dimensionen

Was generell die Motivation der Erscheinungen sei, fragt er. „Die Bekehrung der Sünder und die Rückkehr der Seelen zu Gott. Dieser Gedanke wurde in allen Erscheinungen wiederholt; darum betrachte ich ihn als die Hauptbotschaft.“ Ob sie Unsere Liebe Frau zitieren könne? „Im Oktober sagte Sie: ‚Beleidigt unseren Herrn nicht mehr; er ist schon sehr beleidigt.‘“ „Welche Frömmigkeit empfahl Unsere Liebe Frau?“ „Den Rosenkranz und die Sühnekommunionen.“ Im Juli habe Sie angekündigt, wiederzukommen und um die Sühnekommunion zu bitten, und gab 1926 konkrete Bedingungen: Beichte, eine Viertelstunde Betrachtung der Rosenkranzgeheimnisse und das Rosenkranzgebet. Sie habe Opfer und Akte der Sühne gewünscht, die über Pflichterfüllung hinausgingen.

In seiner Radioansprache am 31. Oktober 1942 habe Pius XII. die Welt dem Unbefleckten Herzen Mariens geweiht mit umschreibender Erwähnung Russlands. „Hat er also Russland dem Unbefleckten Herzen geweiht?“ Er habe Russland in die Weihe eingeschlossen, antwortet sie, ergänzt aber demütig, als wünschte sie, unrecht zu haben: „Auf die Weise, um die Unsere Liebe Frau gebeten hatte? Ich glaube nicht.“ P. Gardiner hakt nach: „Denken Sie, dass der Wunsch Unserer Lieben Frau erfüllt ist?“ „Wie ihn Unsere Liebe Frau wünschte? Nein.“ Aber sie fügt hinzu: „Ob Unsere Liebe Frau die Weihe von 1942 als Erfüllung Ihres Wunsches akzeptiert hat, weiß ich nicht.“

Habe Unsere Liebe Frau 1917 tatsächlich „unter dem Pontifikat Pius’ XI.“ gesagt, als Sie den schlimmeren Krieg vorhersagte? „Ja, Pius XI.“ Und das „große Licht“, von dem Sie sprach, sei das große Nordlicht in der Nacht vom 25. zum 26. Januar 1938 gewesen? „Ja.“ „Welches Ereignis war der Kriegsbeginn?“ Beim Angriff auf Polen im September 1939 sei doch Pius XII. Papst gewesen. „Für mich begann der Krieg mit der Invasion Österreichs.“ Der Papst habe es auch so gesehen. Das „Kind aus den Bergen“ vermag offenbar der Geschichtswissenschaft interessante Impulse zu geben. Ob der Krieg durch die Weihe Russlands an das Unbefleckte Herz verhindert worden wäre? „Gemäß dem Versprechen Unserer Lieben Frau, wenn sie vollzogen worden wäre? Ich denke schon.“

„1929 befahl Unsere Liebe Frau, der Heilige Vater und alle Bischöfe sollten vereint mit ihm Russland Ihrem Unbefleckten Herzen zur gleichen Zeit weihen.“ P. McGlynn war überrascht und erwähnt die Bemerkung des Patriarchen. Er müsse es vergessen haben, war die Antwort: „denn er sah den Entwurf meines Briefes an den Papst“. Schwester Lúcia holte ein Heft, in dem die Dominikaner den Brief lesen konnten, den der Bischof von Leiria 1929 dem Papst übermittelt habe. „Ist das Versprechen, Russland werde sich bekehren, bedingt oder absolut?“ „Am Ende – absolut.“

Wirkungen des Rosenkranzes

Worin bestehe die Bedeutung des Rosenkranzes? „Nach meinem Eindruck ist der Rosenkranz auch wegen seiner Wirkungen in der Weltgeschichte von größtem Wert. Ich glaube, Unsere Liebe Frau wollte gewöhnlichen Menschen, die vielleicht nicht zu beten wissen, eine einfache Methode geben, um näher zu Gott zu gelangen.“ Und was bedeute „besonders jene, die Deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen“ in jenem Gebet nach jedem Gesätz, das Unsere Liebe Frau im Juli 1917 lehrte? „Jene in unmittelbarer Gefahr, verdammt zu werden.“

Die Schwestern verpflegen ihre Gäste überaus gut. Als Pater McGlynn seufzt, er sei gar nicht mehr fähig, ins strenge Leben des Konvents zurückzukehren, schenkt ihm Schwester Lúcia Tee nach. „Es schadet ihm nicht“, sagt sie mit einem Lächeln, das ihren Ernst nicht verbirgt. „Wenn er zurückkehrt, kann er opfern.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2020
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[1] D. u. W. Koch (2020): Was zeigt sich in den USA? Ein transatlantischer Blick auf die Krise, in: Kirche heute, Februar 2020, S. 15ff.

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