Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens!“ (Lk 2,14). Die weihnachtliche Verheißung des Friedens lenkt unseren Blick auf eine zentrale Aufgabe unserer christlichen Sendung in der Welt, nämlich Werkzeuge des Friedens zu sein.

Jesus hat uns nicht versprochen, uns unser tägliches Kreuz abzunehmen und uns von jedem Leid zu befreien. Aber er sagt: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Und er fügt hinzu: „Nicht, wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch“ (Joh 14,27). Er bringt den Frieden auf andere Weise, nämlich durch die Vergebung, durch selbstlose Liebe und die Hingabe seiner selbst. Und er sagt zu seinen Jüngern: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele“ (Mt 11,29). Er selbst also stiftet Frieden in Demut und Gewaltlosigkeit. Und so muss sich auch der Christ in seinem Dienst am Frieden von den Wegen unterscheiden, auf denen die Welt versucht, Frieden zu schaffen.

Zunächst spricht Jesus vom Frieden in unserem Herzen. Sein Vermächtnis, nämlich die Zusage, uns seinen Frieden zu hinterlassen, verbindet er in einem Atemzug mit der Aufforderung: „Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht“ (Lk 2,14). Und er nennt die Voraussetzungen für diese Ruhe in unserer Seele: die Liebe zu ihm, das Vertrauen auf den Vater und die Freude im Heiligen Geist (vgl. Joh 14). Aus der Verbindung zum dreifaltigen Gott kann der Mensch die Kraft dazu finden, seine Mitmenschen so anzunehmen, wie Gott selbst es tut.

Im Licht dieser christlichen Botschaft können wir auch den richtigen Weg im Umgang mit dem Islam und den islamistischen Angriffen auf unsere westliche Kultur finden. Wir können erkennen, dass Karikaturen, welche Muslime ohne Unterschied in ihren religiösen Gefühlen verletzen, nicht geeignet sind, unsere Freiheit zu verteidigen und das Thema Islam zu behandeln. Wir Christen sind an erster Stelle dazu berufen, jedem Menschen Achtung entgegenzubringen. Dadurch leisten wir den entscheidenden Beitrag dafür, dass freiheitliches Zusammenleben wachsen kann. Und wir schaffen den Raum und die Atmosphäre, in welcher wir die Probleme des Islamismus sachlich und konsequent angehen können. Diesem brennenden Thema gehen wir in unserer neuen Ausgabe nach.

Liebe Leser, unser Titelbild zeigt Deutschlands ältesten Weihnachtsmarkt, den Dresdner Striezelmarkt vor der Frauenkirche. Es ist für uns keine täuschende Idylle, sondern Ausdruck unserer Hoffnung und Freude, die uns weder Corona-Auflagen noch islamistische Terrorakte rauben können. Wir sind nicht Propheten der Angst, die mit Beschuldigungen operieren und apokalyptische Bilder an die Wand zeichnen, sondern Zeugen für Jesus Christus, der mit uns lebt und gekommen ist, um zu retten und zu heilen. Auf was es jetzt ankommt, ist unser unerschütterliches Vertrauen, das in inständigem Gebet zu Gott emporsteigen muss. In der Anbetung, in der Betrachtung, in der Liturgie, im Rosenkranzgebet sind wir mit Ihnen allen aufs Engste verbunden.

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Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Den Migranten die Schönheit der christlichen Offenbarung vermitteln

Muslime und katholischer Glaube

Im Gespräch mit Gerhard Kardinal Müller ist der katholische Publizist Martin Lohmann den aktuellen Herausforderungen der Kirche nachgegangen. Entstanden ist eine Publikation mit dem Titel „Wahrheit. Die DNA der Kirche“.[1] Lohmann spricht darin auch die brennende Frage nach dem Islam und dem Umgang mit muslimischen Migranten in Europa an. Der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation ruft dabei zu einem eifrigen Zeugnis für unseren christlichen Glauben auf. Diese Menschen hätten ein Recht, vom Evangelium und der erlösenden Liebe Gottes zu hören. Man müsse sich diesem missionarischen Anliegen auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens mit neuem Engagement stellen.

Von Gerhard Kardinal Müller und Martin Lohmann

Martin Lohmann: In Nordafrika war es auch das Vordringen des Islam, das die Kirche massiv bedroht hat. Auch in Europa und in Deutschland wird der Islam immer stärker. Es ist nicht zu leugnen, dass es dort andere Vorstellungen von Toleranz und Miteinander gibt als im Christentum. Erkennen eigentlich alle, vor allem die Verantwortlichen in der Kirche, dass diese Entwicklung letztlich eine Herausforderung ist, jetzt noch klarer und mutiger die Wahrheit der Gottesbotschaft zu bekennen, Christus und seine Lehre von Erlösung und Liebe einladend und zugleich unerschrocken anzubieten? Unter den 99 Namen, die der Islam für Gott nennt, fehlt die Bezeichnung Vater. Gerne wird aber unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil betont, dass Christen und Muslime doch ohnehin an denselben Gott glauben.

Kardinal Müller: Das Konzil hat vor allem betont, dass die Muslime an einen einzigen Gott glauben, also keine Polytheisten sind, und das verbindet sie mit uns, allerdings nicht in der Tiefe des Gottesglaubens, den wir vom Alten Testament her mit den Juden teilen. Der Gott der Väter in der Vermittlung des Mose ist der Gott, den Jesus als seinen Vater angesprochen hat und den wir Christen nach seiner Anordnung auch als „Vater unser“ ansprechen. Wir Christen glauben an den einen Gott in drei Personen. Es ist der Gott und Vater Jesu Christi und nicht Allah, der Gott, als dessen Propheten sich Mohammed verstand. Man kann also nicht, wie es die sogenannte liberale Theologie versuchte, uns zu erklären, sagen, dass es sich nur um verschiedene Varianten eines gleichen Grundschemas handelt. Wir Christen sind nicht Vertreter eines theoretischen Monotheismus, sondern: Wir glauben an Gott, an den einzigen wahren Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, an den Vater Jesu Christi. Und wir glauben, dass dieser Gott in drei Personen zu uns spricht und wir getauft sind auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Es ist ein und derselbe Gott, der einzige Gott, der sich in Christus vollkommen uns mitgeteilt hat. Und dennoch gibt es über die philosophische Vernunft und die religiöse Verehrung des Absoluten eine Verbindung zu der Gottsuche in der Menschheitsgeschichte.

Es gibt verschiedene Formen des Monotheismus, die wir Christen als Annäherung an den biblischen Monotheismus positiv würdigen. Etwa: Der Monotheismus des altägyptischen Königs Echnaton im 14. Jahrhundert v. Chr., des großen Philosophen Platon (428/7-348/7), des Aristoteles (384-322) und Plotins (205-270 n. Chr.). Die Philosophen sprechen auch von dem einen Gott. Das alles ist ein Weg zu Gott, ein Schritt in die richtige Richtung, ohne Gott zu erreichen, der sich nur frei uns offenbart in seiner Selbstbezeugung am Berg Horeb: „Ich bin der Ich bin“ (Ex 3,14). Christus ist als wahrer Gott und Mensch der Treffpunkt der vielen Wege der Menschen zu Gott und des einen Weges Gottes zu allen Menschen.

So offenbart Christus das Geheimnis seiner Person und Sendung als einziger Mittler zwischen Gott und den Menschen (1 Tim 2,5): „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6). Man kann eben nicht alles miteinander vermischen. Christus hat nicht gesagt, er sei ein möglicher Weg, eine von vielen Formen der Wahrheit. Nein, er sagte ganz klar und deutlich: Ich bin der (!) Weg und die (!) Wahrheit. Christen glauben an den dreieinigen Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist. Im Islam ist das anders. Mohammed glaubte an Gott, als dessen Prophet er sich verstand. Jesus Christus aber war und ist Gottes Sohn, viel mehr als ein Prophet.

Dennoch sagen auch Bischöfe etwa in Deutschland, Christen und Muslime glaubten an denselben Gott. Ist das falsch?

Vielleicht trifft es für die zu, die das behaupten. Es gibt ontologisch nur einen Gott, was auch von der philosophischen Vernunft ausgewiesen werden kann. Wenn wir aber im Glaubensbekenntnis, erleuchtet vom Heiligen Geist, sagen: Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, dann ist das nicht derselbe Gott, an den die Muslime glauben.

Auch unterscheiden die Muslime nicht zwischen einem natürlichen Glauben und dem Glauben als einem von der übernatürlichen Gnade ermöglichten Akt und einer vom Heiligen Geist eingegossenen göttlichen Tugend. Eine solche Meinung, wie die von Ihnen zitierte, kann eigentlich nur aus einer krassen Unkenntnis der christlichen Gotteslehre, der Trinitätslehre, des Glaubensaktes kommen. Oder es handelt sich um eine fahrlässige Übernahme der Volksmeinung, es gebe im popular-aufklärerischen Sinn einen Gott, der von jedem verschieden gesehen werde, weil es in der Religion sowieso nur um Moral gehe. Doch das hat nichts mehr mit einem Glaubensbekenntnis zu tun, das uns bei der Taufe übergeben wurde. Eine liberale Vergleichgültigung der Glaubensinhalte steht keinem Menschen, der den Namen Christi trägt, gut an.

Was bedeutet denn das Anwachsen des Islam für die Kirche in Europa und Deutschland? Was beobachten Sie? Was besorgt Sie? Was beruhigt Sie? Gibt es Fehlentwicklungen? Wo sehen Sie Gutes auf dem Weg?

Durch die Migration kommen Millionen Menschen nach Deutschland und Europa, die ihre Religion, ihre Mentalität, ihre in Jahrhunderten geprägte Kultur mitbringen. Das lässt sich nicht so einfach eingliedern in unsere Kultur und unser Denken. Da gibt es aber auch den Anspruch, dass alle hier Lebenden freiwillig oder durch Zwang dieser neu ins Land kommenden Gemeinschaft angehören müssten, weil man glaubt, das sei der Wille Gottes. Da geht es nicht um Mission, was für uns Christen heißen muss, Zeugnis für Christus zu geben und jedem die Freiheit zu lassen, sich diesem Glauben der Kirche anzuschließen oder eben auch nicht. Selbstverständlich heißt das auch, dass niemandem die Freiheit genommen werden kann, sich auch von dieser Gemeinschaft zu distanzieren.

Ist die Kirche in Deutschland so gesehen dann gerade heute zu wenig missionarisch?

Ja, weil die Migranten fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, dass man ihnen karitativ helfen muss. Das ist zweifelsfrei notwendig. Und wir müssen uns selbstverständlich auch dafür einsetzen, dass sie hier in den Genuss der Religionsfreiheit kommen, die steht jedem von Natur aus zu.

Aber mir scheint doch, dass es viel zu wenig Eifer gibt, ihnen auch die Schönheit des befreienden Glaubens an den dreieinen Gott zu vermitteln und sie entsprechend einzuladen. Die Migranten sind mehr als nur soziale und karitative Objekte, an denen wir unser Gutmenschentum demonstrieren können. Sie haben als Menschen das Recht, auch von Christus, vom Evangelium und der erlösenden Liebe zu hören und ihr durch unser Lebenszeugnis zu begegnen. Ihnen ist die Möglichkeit anzubieten, sich dann frei zu entscheiden. Wir dürfen ihnen die Frohe Botschaft nicht schuldig bleiben.

Unser Glaube ist doch mehr als eine Theorie, mehr als ein Outfit des Westens. Manche exkulpieren sich dann vom missionarischen Auftrag dadurch, dass sie sagen, wir könnten doch unsere Gedanken und Überzeugungen anderen nicht aufdrängen. Innerkirchlich hielte ich das für einen guten Ansatz, dass die sogenannten Progressiven nicht ständig versuchen, den von ihnen abschätzig so apostrophierten Konservativen ihre Gedanken und ihre Agenda aufzudrängen und im Falle der Weigerung sozial zu ächten.

Aber die Alternative zum Aufdrängen unseres Glaubens und zur Manipulation anderer Gewissen ist nicht, denen, die uns nach dem Vernunftgrund der Hoffnung in uns fragen (1 Petr 3,15), die Lehre Christi und der Apostel vorzuenthalten. Für alle Privatmeinungen gibt es dieses Recht. Aber doch nicht für das, was uns Christus anvertraut hat und mit einem klaren Auftrag versehen hat. Hier darf nichts relativiert werden.

Wäre das nicht ein wunderbares Projekt etwa für die Deutsche Bischofskonferenz, denjenigen, die zu uns kommen, im besten Sinne missionarisch zu begegnen und sie mit Christus in Berührung zu bringen?

Das würde ich mir sehr wünschen. Es wäre schön, wenn man diesbezüglich etwas mehr Engagement sehen und hören könnte.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
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[1] Martin Lohmann / Gerhard Kardinal Müller: Wahrheit. Die DNA der Kirche, HC, 344 S., ISBN 978-3-86357-277-8, Euro 19,80 – Tel.: +49 (0) 7563 608 998-0; www.fe-medien.de – Nur wenn die Kirche ihrer Wahrheitsbotschaft treu bleibt, kann ihr eine wirksame Reform gelingen. Die einzige DNA der Kirche ist und bleibt die Wahrheit: der Gottessohn Jesus Christus. Im Buch wird deutlich, dass Glaube und Vernunft einander ergänzen. Und: Glaube ist etwas Schönes. Er gibt dem Leben Weite und Freiheit.

Verlust von Freiheit und Demokratie

Gesellschaft ohne christliche Orientierung

Burkhardt Gorissen (geb. 1958) hat Betriebswirtschaftslehre studiert, arbeitet aber seit 1990 als freier Autor und Journalist. Von 1997 bis 2008 war er aktiver Freimaurer, erkannte aber, dass dieser Weg mit dem christlichen Glauben unvereinbar ist und trat aus der Loge aus. Seine Erfahrungen gab er in dem 2009 veröffentlichten Buch „Ich war Freimaurer“ wieder, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Er verfasste auch die historischen Romane „Teufels Brüder“ und „Der Viehhändler von Dülken“. Wenn er in seiner neuen Publikation „Gesellschaft ohne christliche Identität"[1] den derzeitigen Zustand der Welt beschreibt, weiß er, wovon er redet. Er analysiert politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme. Doch das eigentliche Drama ist für ihn die Glaubenskrise der westlichen Welt. Sie führe uns in die geistige und moralische Anarchie.

Von Burkhardt Gorissen

Demokratieverlust

Derzeit erlebt die Welt eine der größten Krisen der Menschheitsgeschichte. In die hektische Stimmung mischen sich diffuse Ängste, unter anderem vor weiteren Einschränkungen der Bürgerrechte. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes beschlossen nach dem Völkermord an den Juden und den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, der Bundesrepublik Deutschland ein Grundgesetz mit dem Bezug auf Gott zu geben. Europa ging diesen Weg nicht, als 2009 der „Vertrag von Lissabon“ unterzeichnet wurde. Darin fehlt der Gottesbezug wie schon zuvor in der Europäischen Verfassung von 2004. Nicht nur ein Beleg für die Entchristlichung des Abendlandes, sondern auch Zeichen unseres kulturellen Niedergangs. Die Demokratie erodiert an allen Seiten. Damit einher geht der sukzessive Verlust an Freiheitsrechten. Unsere Gesellschaft taumelt momentan zwischen zwei paralysierenden Bedrohungen: Fanatismus und Krieg. Als der Parlamentarische Rat 1949 das Grundgesetz verabschiedete, lag die unheilvolle Zeit des Nationalsozialismus erst wenige Jahre zurück. So wird auch verständlich, wie es zu der sogenannten Ewigkeitsklausel des Artikels 79 kam: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Dieser Grundsatz ist von der Möglichkeit einer Verfassungsänderung ausgenommen. Tatsächlich? Welchen Halbwertzeit haben Ewigkeitswerte in der Politik?

Das Gesinnungsdiktat mancher selbst ernannten Demokratieverteidiger lässt gelegentlich die elementarsten demokratischen Grundsätze vermissen. Solche Signale sind eindeutig und bedenklich. Zum allgemeinen Demokratieverfall gesellt sich die bürokratische Reglementierungswut. Tacitus’ Erkenntnis „Je verdorbener der Staat, desto mehr Gesetze hat er"[2] beweist einmal mehr traurige Aktualität. Wenn dann noch die Selbstbedienungsmentalität korrupter Wirtschaftsführer und Politiker hinzukommt, fehlt nur noch eine Beigabe, um den Verfall der Demokratie zu beschleunigen: die Verteilungswettkämpfe frustrierter Jugendlicher in den Satellitenstädten.

Zum Kulturverfall gehört auch, den Dialog der Kulturen als Mea-culpa-Masochismus zu betrachten. Das führt nun einmal nicht zu einer Aufhebung der Gerechtigkeitslücken, die längst zu tiefen Grabenbrüchen in unserer Gesellschaft geworden sind. Die fürsorgliche Zwangsbelagerung der Demokratie durch die linke Zersetzungspolitik zeigt fatale Wirkung. Dabei sollten die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben. Eine demokratiefeindliche Gesellschaft neigt dazu, Menschen hervorzubringen, die im Innersten antisozial sind. Wir leiden unter der „[…] Therapie einer politisch-kulturellen Elite, welche die christlichen Wurzeln des Abendlandes abschneidet und uns im Zuge der Globalisierung befreien möchte vom Hemmschuh veralteter religiöser, nationaler oder geschlechtlicher Identitäten“.[3]

Leben als Ironie des Schicksals. Längst sind Parallelgesellschaften entstanden, in denen sich Wut und Verzweiflung herausbilden. Insofern stellt sich die Frage: Ist der sich gegenwärtig ereignende Zusammenprall der Kulturen politisch gewollt? Dafür spricht die hasserfüllte, klassenkämpferische Spannung. Unsere Gegenwart ist mit etlichen Kapitulationsszenarien verbunden, die Houellebecq mit hellsichtiger Schärfe in seinem Roman „Unterwerfung“ beschreibt.[4] Es passt zwar weder in das Raster gutmenschlicher Herrschsucht noch zur linken Passion, aber Xenophilie lässt sich nicht so einfach zur Metapher der Condition humaine erheben, indem man ein Land einer fortgesetzt unkontrollierten Migration aussetzt.

Es geht nicht darum, moralische Zerfallstendenzen in der westlichen Welt durch fundamentalistische Gegenpositionen zu kontern, sondern um den Erhalt eines Systems, das dem Einzelnen mehr Freiheit zugestand als jedes andere zuvor. Augenscheinlich gibt es kaum eine politische Vermeidungsstrategie zur Verhinderung des historischen Super-GAUs. Dem gottverlorenen Citoyen der Postmoderne bleibt nur jener kurze Bogen der Hoffnung in den Trümmern der Hoffnungslosigkeit, von dem Schiller sagt, dass „[aus den Ruinen] neues Leben blüht“.[5] Wie bei einer pathologischen Zwangshandlung entfaltet sich die Katastrophe. Die kämpfenden Truppen versammeln sich, die Faschisten und die Antifaschisten, unter Hinzunahme der Legionäre, die auf mannigfachen Migrationswegen auf den Kontinent kamen, Araber, Türken, Farbige – jeder gegen jeden und jeder für sich. Und Gott gegen alle?[6]

Die politischen Extreme sind radikalisiert, die Kontrahenten gemästet mit Hass, Wut und Rechthaberei. Ihr Furor wird sich mit derselben Chuzpe entladen, die André Breton im Ersten Manifest des Surrealismus beschrieb: Das Beste sei, „mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen“.[7] Damit nahm er vorweg, was von der „Rote-Armee-Fraktion“ über den neonazistischen „NSU“ bis zum islamistischen Terror durch „al-Qaida“ oder „IS“ die zivile Welt so lange von innen her aushöhlt, wie die Demokratie in ihrer Pose der Lähmung verharrt. Offenbar hat der postmoderne Citoyen es aufgegeben, seine Freiheit zu verteidigen. Die Angst geht inzwischen so weit, dass sie vom Nihilismus kaum noch unterscheidbar ist.

Das Konfliktträchtige an der Gegenwart ist weniger der sich immer deutlicher abzeichnende Umbruch, sondern die Sprachlosigkeit zwischen den unterschiedlichen Lagern. Gegnerschaft verhärtet Fronten, Sektiererei das Herz. Vielleicht wäre es besser, miteinander zu beten, statt sich zu beschimpfen. Yunus Emre, der große Seelensänger, dessen Stimme aus dem 14. Jahrhundert zu uns dringt, sagte ausdrücklich: „Du, der du sagst ,Diese Welt ist mein‘: Die-se Welt ist nicht dein, hey! Sag nicht ,mein‘, dann bist du zur Lüge geworden. Diese Welt ist nicht dein, hey!"[8]

Sollte sich die Politik weiterhin über die Bürger hinwegsetzen, wird sich in einem letzten Akt des Trauerspiels „Deutsche versuchen sich an der Demokratie“ nach der Weimarer Republik auf diese Art auch die Berliner Republik verabschieden. Damals wie heute die totale Unfähigkeit der Politik. Die Straßenschlachten in den Banlieues der französischen Großstädte werden dann wie ein Ringelreihen auf einem Kindergeburtstag anmuten. Wir haben den Point of no Return erreicht. Jetzt ist die Zeit des „Ordo ab Chao“, wie es im Schottischen Ritus der Freimaurerei heißt. Will sagen, das sich anbahnende Chaos wird total sein, bevor der neue „Ordo“ anbricht, den Großmeister Pike mit luzider Klarheit schildert, nämlich dass die Menschheit gezwungen sein wird, „jene Zerstörer der Zivilisation auszurotten und […] nach der Enttäuschung durch das Christentum […] besorgt nach einem neuen Ideal Ausschau [hält], ohne jedoch zu wissen, wen oder was sie anbeten soll. Dann ist sie reif, das reine Licht durch die weltweite Verkündigung der reinen Lehre Luzifers zu empfangen, die endlich an die Öffentlichkeit gebracht werden kann."[9] Sollte es danach noch eine Geschichtsschreibung geben, wird man sagen können, der Untergang des Abendlandes, den Oswald Spengler in seinem gleichnamigen Buch beschrieb, bestand nur in einem kurzen Aufstöhnen.

Höchste Zeit zur Umkehr

Bis zum März 2020 gehörte die drohende Apokalypse zu den Möglichkeiten, die wir gerne weit in die Zukunft verlagerten. Jetzt wissen wir’s besser: Nichts wird so bleiben, wie es einmal war. Der hypnotische Tanz auf dem Vulkan ist unterbrochen. Die Angst vor der Ausbreitung des Corona-Virus versetzt uns in Schockstarre. Globale Maßnahmen wurden eingeleitet, wie es sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gab. Ausgangssperren, Versammlungsverbote, Schulschließungen, Maskenpflicht. Mit dem Versammlungsverbot kam das Verbot öffentlicher Gottesdienste – etwas selbst zu Zeiten der Kriege nie Dagewesenes. Die Folgen sind noch nicht abzusehen. Wird die Lahmlegung der Wirtschaft zu einem Crash führen? Droht eine Krise, schlimmer als die von 1923, als in Deutschland ein Brot morgens 1 Million Reichsmark kostete und am Abend schon 10 Millionen? Oder schlimmer als die Weltwirtschaftskrise von 1929, die viele Menschen in den totalen Ruin trieb?

Dieselben Fehler werden aktuell wiederholt, es wird immer neues Geld in den Markt gepumpt, das durch nichts gedeckt ist, es werden immer neue faule Kredite vergeben. Das sind nur zwei von vielen Beispielen, die unsere Wirtschaftsfunktionäre als Hütchenspieler entlarven. Wie immer geht es zulasten des Mittelstandes und des sogenannten „kleinen Mannes“. Die Folgen werden verheerend sein. Mit dem Verlust von Arbeit und Eigentum ist zu rechnen. Aufstände, bürgerkriegsähnliche Unruhen sind nicht mehr unwahrscheinlich, auch nicht der ganz große Knall: „Ordo ab Chao“. In den Medien überschlagen sich Horrormeldungen, verheerende Brände in Australien, vernichtende Heuschreckenschwärme in Afrika. Katastrophen biblischen Ausmaßes. Unsicherheit nagt in den Köpfen: Islamisierung, Genderisierung, Zensurgesetze, Einschüchterungen durch Extremisten. Endet hier die Weltgeschichte? Müssen sich Christen weltweit auf eine Verfolgung vorbereiten?

Corona wurde für viele Zwecke benutzt. Religiöse Panikmache ist nicht notwendig. Wir wissen, dass die Endzeit der Ewigkeit vorausgeht. Was Corona auf jeden Fall erfordert, ist eine Antwort auf drängende Fragen: Wie hältst du es mit deiner Liebe zu Gott? Wie hältst du es mit der Liebe zu deinen Mitmenschen? Wie hältst du es mit der Moral? Bedeutet uns Glaubenstreue noch etwas? Vergegenwärtigen wir uns, dass Abtreibung und Euthanasie Mord sind, und schließen wir sie für uns aus? Wie hältst du es mit der seelischen und geistigen Gesundheit? Wie hältst du es mit der Wahrheit? Wie hältst du es mit der Freiheit? Mit der Freiheit des Andersdenkenden, mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung? Glauben wir daran, dass Jesus Christus wiederkommt? Das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen ist buchstäblich von brennender Aktualität: „Seid also wachsam“ (Mt 25,13). Wachsam sein, kein Malzeichen annehmen, keine antichristlichen Entwicklungen mitmachen, Gott nicht verleugnen. Hören wir, abgelenkt von Alltagssorgen und Mediengeplärr, den Ruf: „Metanoia“? – „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Höchste Zeit zur Umkehr, bevor die Seele im angstgejagten Alltag erstickt. Wie weit sind wir vom Weg nach Emmaus abgekommen? „Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete?“ (Lk 24,32).

Mensch, werde wesentlich!

Uns fällt es schwer, unsere Erwartungen auf Glück und Erfolg mit der Vorstellung eines liebenden Schöpfers zu versöhnen. Auf unser irdisches Leben fixiert, erfassen wir nicht das zentrale Paradoxon des Lebens, das darauf beruht, über den eigenen Willen hinaus zu denken. Welche Wahrheit der Glaube enthüllt, ist in der Kreuzigungsszene beschrieben: Das Geheimnis allen irdischen Glücks liegt darin, auf das Recht auf Glück zu verzichten, um die Welt zugunsten des ewigen Lichtes zu überwinden. Pathos, Paradoxie?

Am Ende, so ehrfurchtsvoll ich mich auch verneige vor vielen Meisterwerken der christlichen Literatur, so ist es das „Mensch, werde wesentlich“ von Angelus Silesius, das ich mit mir trage, seit ich diese Worte mit dreizehn Jahren in meinem Schulbuch las: „Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg: das Wesen, das besteht."[10] Hinzu kam vor einigen Jahren der Satz des Herzensgebetes: „Jesus Christus, erbarme dich meiner.“

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in der Not keine großen Worte braucht. Wenn „Bruder Tod“ zu Besuch kommt, und er besucht uns ja schon einmal öfter, bevor er uns mitnimmt, ist es nur wichtig, den Weg zu wissen: „Jesus Christus, erbarme dich meiner.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Burkhardt Gorissen: Gesellschaft ohne christliche Identität. Die Orientierung fehlt, geb., 176 S., ISBN 978-3-9479312-3-1, Euro 16,95 (D), Euro 17,50 (A); Tel.: 07303-952331-0; Fax: 07303- 952331-5; E-Mail: buch@media-maria.de; www.media-maria.de
[2] Publius Cornelius Tacitus: Corruptissima re publica plurimae leges, in: Annalen III, 27, de. wikiquote.org/wiki/Tacitu
[3] Giuseppe Gracia: Das therapeutische Kalifat, Fontis Verlag, Basel 2018.
[4] Michel Houellebecq: Unterwerfung, DuMont Verlag, Köln 2015. Houellebecqs Roman schildert die Spannungsverhältnisse unserer Epoche. Im Wesentlichen geht es um das Verhältnis zwischen Orient und Okzident bzw. zwischen Judentum, Islam und Christentum.
[5] Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, 4,3, Cotta, Tübingen 1804, S. 175: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“
[6] „Jeder für sich und Gott gegen alle“ ist ein Film aus dem Jahr 1974 von Werner Herzog über das Leben Kaspar Hausers.
[7] André Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), zitiert nach: Uwe Wittstock: Kunst und Terror, in: Die Welt, 20. September 2001.
[8] Yunus Emre, um 1320 n. Chr., hinterließ eine große Anzahl geistlicher Gedichte. Mit ihnen begründete er eine neue literarische Gattung, das religiöse Volkslied. Bis zum heutigen Tag wird Yunus Emres Werk in der Türkei verehrt. Im Original lautet der Text: Ey dünya benimdir diyen dünya senin deg i˘ldir hey benim deme oldun yalan dünya senin deg i˘ldir hey.
[9] Albert Pike: Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry, 1872, in: E. R. Carmin: Das schwarze Reich, Heyne Verlag, München 2000, S. 616.
[10] Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, www.zeno.org/Literatur/M/Angelus+Silesius/Gedichte/Cherubinischer+Wandersmann

Rassismus-Debatte um Krippenfiguren in Deutschland

Die Botschaft des Königs Melchior

Das Portal Vatican News übernahm am 11. Oktober 2020 eine Meldung der KNA zur Diskussion um „rassistische“ Krippenfiguren. Tatsächlich gebe es „klischeehafte oder diskriminierende Darstellungen“, auf die man besser verzichten sollte, doch gelte es, König Melchior weiterhin einen Platz einzuräumen, damit alle Menschen unterschiedlicher Hautfarben dargestellt würden.

Von KNA und Vatican News

Klischeehafte oder diskriminierende Darstellungen der Heiligen Drei Könige in Weihnachtskrippen sollten nach Einschätzung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) ersetzt werden. Sinnvoll seien Darstellungen, „in denen dunkelhäutige Menschen sich wiedererkennen können“, erklärte der Sprecher der DBK, Matthias Kopp. Die drei Weisen oder Könige stünden dafür, „dass Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und aus unterschiedlichen Völkern Christus verehren“. Deshalb gebe es in vielen Krippen mit Melchior eine schwarze Figur, so Kopp weiter. „Eine Krippe ohne Melchior würde dagegen suggerieren, dass Christus nur für weiße Menschen zur Welt gekommen ist. Das wäre grundfalsch und würde zu Recht als rassistisch bezeichnet.“ Anfang Oktober war bekannt geworden, dass die evangelische Münstergemeinde in Ulm die Heiligen Drei Könige aus ihrer Weihnachtskrippe entfernen will. Die dort bisher genutzte Holzfigur des Melchior sei „aus heutiger Sicht eindeutig als rassistisch anzusehen“, sagte Dekan Ernst-Wilhelm Gohl.

Im Zusammenhang mit aktuellen Rassismus-Debatten äußerte sich auch der Sprecher des Kindermissionswerks „Die Sternsinger“, Thomas Römer. Das Hilfswerk empfehle, Kinder zum Sternsingen nicht schwarz zu schminken, sagte er der „Bild am Sonntag“. Dieser Brauch, der eine Gleichsetzung von Herkunft und Hautfarbe nahelege, gehe heute nicht mehr: „Wir glauben, dass der ursprüngliche Sinn der Tradition besser deutlich wird, wenn Kinder als Sternsinger so gehen, wie sie eben sind: vielfältig in ihrem Aussehen.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
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Zur Diskussion um Mohammed-Karikaturen

Fundament der Freiheit

Pfarrer Erich Maria Fink verteidigt das Recht auf freie Meinungsäußerung, doch lehnt er es ab, die vieldiskutierten Mohammed-Karikaturen als Ausdruck dieser Freiheit zu rechtfertigen. Dass der freiheitliche Westen die Fähigkeit verloren habe, auf die religiösen Überzeugungen und Gefühle von Millionen von Muslimen Rücksicht zu nehmen, zeige deutlich, wie weit er sich von den Werten des christlichen Menschenbildes entfernt und damit die Grundlage für die beschworene Freiheit eingebüßt habe. Erst die Achtung vor dem Anderen schaffe Raum für freiheitliches Zusammenleben.

Von Erich Maria Fink

Mohammed-Karikaturen und freiheitliche Demokratie

Es ist meine feste Überzeugung, dass die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen ein Fehler ist. Jeder, der sich mit dem Islam beschäftigt, weiß, dass es für Muslime verboten ist, Mohammed bildlich darzustellen. Das hängt mit der erhabenen Position zusammen, welche sie ihrem Religionsgründer, dem Propheten des Allmächtigen, wie sie glauben, einräumen.

Wir verlieren weder unsere Freiheit, noch machen wir uns an Verbrechen mitschuldig, die im Namen des Islam verübt werden, wenn wir diese Haltung der muslimischen Gläubigen respektieren. Das Recht auf Meinungsfreiheit gibt uns meines Erachtens in keiner Weise das Recht, sich über das, was Muslimen heilig ist, hinwegzusetzen und es durch Karikaturen, die völlig unterschiedliche Aspekte miteinander vermischen, herabzuwürdigen. Ich sehe in diesem Vorgehen eine Arroganz, der es schlichtweg an Achtung gegenüber den Mitmenschen mangelt.

Ich halte es für fatal, dass sich die Vertreter der westlichen Demokratien dazu berufen fühlen, die Publikation der Mohammed-Karikaturen zum Präzedenzfall des unverzichtbaren Gutes der Meinungsfreiheit hochzustilisieren. Wer beschwört, dass am Bekenntnis zu den Karikaturen kein Weg verbeiführe, wolle man dieses Gut der freien Meinungsäußerung verteidigen, liefert umgekehrt unsere westliche Kultur bei einem großen Teil der Weltbevölkerung der Verachtung aus.

Wenn man weiß, wie verletzend diese Karikaturen auf gläubige Muslime wirken, auch auf die tolerantesten Anhänger dieser Religion, so gebietet es meiner Ansicht nach allein schon der Anstand, auf solche unnötigen Beleidigungen zu verzichten. Die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft haben nach meinem Dafürhalten sogar die Pflicht, sich von solchen Darstellungen zu distanzieren. Dazu brauchen wir kein strengeres Blasphemie-Gesetz, das die Beleidigung von Religion unter Strafe stellen und religiöse Gefühle vor Verletzung schützen müsste. Ein solcher Weg könnte die Meinungsfreiheit tatsächlich einschränken. Doch bräuchten wir Volksvertreter, die mit Klugheit und Einfühlungsvermögen zur Sache Stellung nehmen. Anstatt ohne Not weltweite Spannungen zu provozieren, könnten sie mit wenigen Worten die Wogen glätten und der Autorität freiheitlicher Demokratie zu neuer Anerkennung verhelfen.

Sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Islam

Was aber dringend notwendig wäre, das ist eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Islam, insbesondere mit seinen politischen Implikationen. Wir müssen uns den Themen der islamischen Religionsausübung in unseren demokratischen Staaten, des gewaltbereiten Islamismus und der schleichenden Islamisierung unserer westlichen Gesellschaften stellen. Hier sind die Verantwortlichen des öffentlichen Lebens gefragt. Sie müssen eine breite, absolut ehrliche Diskussion führen. Und der Klärungsprozess muss öffentlich in Gang gesetzt werden. Dabei gilt es, die Dinge unerschrocken beim Namen zu nennen und auf die Probleme inhaltlich differenziert und praktisch einzugehen.

Darin aber scheinen Politik und Gesellschaft vollkommen zu versagen. Der Westen gibt sich den Anschein, als könnte er sich zu diesen brennenden Fragen nur in Form von Karikaturen und Satire äußern. Für mich ist diese Sprachlosigkeit ein verhängnisvolles Armutszeugnis. Sich auf Karikaturen zurückzuziehen gleicht einem Absinken auf das Niveau von Felsenzeichnungen aus der Steinzeit. Im Übrigen mag Satire und Karikatur für eine Kommentierung aktueller Vorgänge geeignet sein. Doch für die Beurteilung einer historischen Gestalt ist sie völlig verfehlt, weder witzig noch aussagekräftig. Sie offenbart lediglich den Mangel an jeglichem Geschichtsverständnis aufseiten des Karikaturisten. Dabei ist eine klare und konsequente Antwort auf die Herausforderungen des Islamismus für das Überleben unserer freiheitlichen Rechtsordnung essentiell. Karikaturen bergen dagegen die Gefahr, eine sachliche Diskussion unmöglich zu machen.

Nicht der besonnene Verzicht auf die öffentliche Verwendung der Karikaturen oder auf die Verteidigung dieser Publikationen durch Politiker wäre eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, wie sie nicht hingenommen werden dürfte. Die eigentliche Einschränkung der freien Meinungsäußerung wird uns auf eine ganz andere Weise auferlegt, nämlich durch die ideologisch verbrämte „Political Correctness“. Sobald sich jemand in sachlicher, aber kritischer Weise zum Thema Islam äußert, fallen die Medien über ihn her und versuchen ihn mit der Keule der „Islamophobie“ zum Schweigen zu bringen. Diese Meinungsdiktatur ist mitverantwortlich dafür, dass das Thema Islam weder religiös, noch gesellschaftspolitisch und juristisch aufgearbeitet wird. Sie ist nicht hinnehmbar und muss beendet werden.

Gelingt es uns nicht, das Schweigen zu durchbrochen, laufen wir Gefahr, an allen Fronten zu verlieren. Damit meine ich beispielsweise das Bemühen um eine menschenwürdige Aufnahme von Asylanten, um eine gelungene Integration von Migranten, um die Überwindung von Rassismus und Antisemitismus, um die Verteidigung des freiheitlichen Rechtsstaates, um die europäische Einigung und natürlich um die Erhaltung des Wertefundaments, das im christlichen Menschenbild gründet. Es steht zu viel auf dem Spiel. Das Risiko des sozialen Zusammenbruchs erlaubt es uns nicht, dass wir uns dem Thema Islam auf leichtfertige und unangemessene Weise widmen.

Meinungsfreiheit und christliches Menschenbild

Gerade für uns Christen ist das Recht auf freie Meinungsäußerung ein sehr hohes Gut. Wir sehen darin das Fundament freiheitlicher Demokratie. Eine Rechtsordnung, die darauf ausgerichtet ist, eine möglichst breite Teilhabe an Entscheidungsprozessen zu garantieren, dient dem Wohl aller. Nach dem Maß, als Überzeugungen, Interessen und Werte der Einzelnen in ein Gemeinwesen eingebracht werden können, entwickelt sich eine aufbauende Dynamik, bahnt sich eine ausgleichende Gerechtigkeit ihren Weg und stellt sich sozialer Friede ein. Selbst unumstößliche Prinzipien sind irgendwann einmal auf dem Weg des persönlichen Zeugnisses errungen worden und können nicht ohne freies Engagement erhalten werden. Auch das ethische Fundament der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte, nämlich die Überzeugung von der unantastbaren Würde jedes Menschen, ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, der einen freien Austausch voraussetzt. 

Wo eine Staatsmacht die Meinungsfreiheit einschränkt, bahnt sich Totalitarismus an. Wenn der Mensch nicht mehr sagen darf, was er denkt, und Repressalien fürchten muss, beginnt eine Diktatur, die letztlich immer gegen den Menschen gerichtet ist. Sie kann von allen gesellschaftspolitischen Kräften ausgehen, von politischen Parteien und Machthabern, von Interessensvereinigungen und eben auch von den Medien.

Hinter der Forderung nach dem Recht auf freie Meinungsäußerung steht das christliche Menschenbild. Man mag der Kirche vorhalten, sie habe lange gebraucht, bis sie dieses Recht, nämlich das Recht auf Gewissensfreiheit und damit verbunden auf freie Meinungsäußerung, anerkannt und den Menschen zugestanden habe. Doch muss diese Frage viel grundsätzlicher betrachtet werden. Gott hat gleichsam auf dem Weg der freien Meinungsäußerung eines einzelnen Menschen, nämlich Jesus Christus, sein Reich in dieser Welt errichtet. Und es entspricht der Verfassung der von ihm gestifteten Kirche, dass sie sich nur auf dem Weg des freien Zeugnisses und der freien Annahme dieser Botschaft in der Welt ausbreiten kann. Menschen müssen durch die Verkündigung anderer zur Überzeugung gelangen, dass Jesus Christus der Sohn Gottes und der Retter der Welt ist.

Gleichzeitig ist es der christliche Glaube, der in Gesellschaft und Politik das Verständnis für die göttliche Würde einer jeden menschlichen Person hervorgebracht hat. Trotz des tragischen Konflikts zwischen Kirche und laizistischem Staat muss anerkannt werden, dass sich auch das Programm „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ im Licht der christlichen Offenbarung herauskristallisiert hat. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist also einerseits Inhalt der christlichen Glaubensüberzeugung, weil es dem christlichen Menschenbild entspricht, es ist andererseits aber auch die Voraussetzung dafür, dass Christen die Werte, die in der christlichen Botschaft gründen, in Gesellschaft und Politik zur Geltung bringen können.

Hintergrund des islamistischen Terrors

Islamistische Terrorakte haben einen vielfältigen Hintergrund. Es kann nicht bestritten werden, dass Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Bedrohung den wichtigsten Nährboden für die Entstehung von terroristischen Aktivitäten bilden. Gewaltbereitschaft und Hass sind oft die Frucht des Gefühls von Hilflosigkeit und Verzweiflung.

Wir dürfen auch die geopolitischen Strukturen und Machenschaften nicht übersehen, welche ganze Nationen vom Fortschritt ausschließen und geradezu versklaven. Oft werden Terrornetzwerke bewusst gezüchtet und mit Waffen vollgepumpt, um bestimmte Regionen zu destabilisieren. Dazu zählen leider auch die Gruppe al-Qaida und der Islamische Staat. Dieses Potential lässt sich am Ende nicht mehr kontrollieren oder territorial einschränken, sondern schwappt früher oder später auf andere Teile der Welt wie Europa und Afrika über.

Damit verbindet sich oft der islamische Hintergrund. Gewöhnlich benützt der Islamismus die Religion des Islam und Aussagen des Korans, um sein gewaltsames Vorgehen zu rechtfertigen. Dies kann sich bis zum Dschihadismus steigern, der in extremer und militanter Weise zum Heiligen Krieg im Namen Allahs aufruft. Die meisten Opfer der Dschihadisten aber sind bislang nicht Christen, sondern gewöhnliche Muslime, die sich am fanatischen Weg der Islamisten nicht beteiligen.

Ein weiterer Hintergrund besteht darin, dass der Westen mit seiner Abkehr von christlichen Werten in der islamischen Welt Abneigung hervorruft, es sei an Abtreibung, „Ehe für alle“ oder unsere mediale Spaßkultur erinnert. Die Karikaturen gießen zusätzlich Öl ins Feuer und bestätigen in den Augen vieler Muslime die verachtenswerte Dekadenz des Westens. Dazu kommt neuerdings das weltweite Bewusstsein bei Muslimen, in ihren religiösen Gefühlen verletzt worden zu sein. Wenn schließlich der französische Präsident Macron im Namen der hochgepriesenen „Laïcité“ ein „Recht auf Blasphemie“ postuliert und die islamische Religion weltweit unter Generalverdacht stellt, führt dies zu einer weiteren Solidarisierung mit den Islamisten, auch unter bislang gemäßigten Muslimen.

Reaktionen in Russland

 In Russland leben seit Jahrhunderten Muslime und Christen friedlich zusammen. Vor einigen Tagen traf ich den für unsere Stadt hier im Ural zuständigen Mufti Rustam Rachmatulla. Er kann die Karikaturen und deren Rechtfertigung nicht nachvollziehen, brachte aber den sehnlichsten Wunsch nach Einheit auf der Grundlage gemeinsamer Werte zum Ausdruck. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow warf Macron öffentlich vor, selbst wie ein Terrorist zu handeln. Denn er provoziere Muslime, Verbrechen zu begehen. Daraufhin erklärte der Pressesprecher der russischen Regierung, für die internationalen Beziehungen sei Moskau zuständig. Kadyrow erwiderte, für die Freiheit, sich zu den „Angriffen auf den Islam“ zu äußern, würde er sogar sein Präsidentenamt zur Verfügung stellen. Ja, er wäre bereit sein Leben hinzugeben, wenn er sehe, wie sich die Atheisten über die Religion lustig machten. Zwar gab es nach den Vorfällen kleinere Kundgebungen vor der französischen Botschaft in Moskau, doch hält sich öffentlicher Protest in Grenzen. Dennoch sind die Aktionen ein Signal, denn Aufmärsche von Muslimen sind in Russland bislang unbekannt.

Präsident Wladimir Putin selbst tat alles, um die Wogen zu glätten. Er ließ verlauten, solche Karikaturen seien in Russland nicht vorstellbar. Am 4. November bekundete er im Fernsehen den Respekt des Staates gegenüber den großen Weltreligionen. Alle lehrten die Liebe zum Nächsten unabhängig von Rasse, Nationalität und Traditionen. Vor ihm lagen Bibel, Koran, Thora und Gandzhur des Buddhismus. Nacheinander zitierte er aus diesen Büchern, z.B. Johannes 15,13: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ Und aus den Reden Buddhas: „Nur die Liebe kann den Hass besiegen.“ Ich fragte mich betroffen, warum es die Staatsoberhäupter unserer freiheitlichen Demokratien einem Präsidenten Putin überlassen, der Welt zu zeigen, wie man auch reagieren könnte.

Achtung des Anderen schafft Freiheit untereinander

Als Christen sind wir überzeugt, dass jede Person zu achten ist, und dies schließt auch den Respekt vor ihrer Gewissensfreiheit und Religionsausübung ein. Je aufrichtiger jeder den Anderen achtet, umso mehr kommt die Freiheit zum Tragen. Verlieren wir die Ehrfurcht voreinander, gehen wir auch der Freiheit untereinander verlustig. Es ist eine Tragik, dass terroristische Akte im Anschluss an die Auseinandersetzungen um die Karikaturen gegen Christen gerichtet waren. Fast sah es so aus, als müssten die Christen ausbaden, was respektlose Laizisten anrichten. Umso deutlicher gilt es herausstellen, dass die Mohammed-Karikaturen unseren Grundsätzen vollkommen widersprechen. Und wir können Gott für das Engagement von Papst Franziskus nur danken. Seine ausgestreckte Hand, die er der muslimischen Welt anbietet, schützt die Kirche mehr als alles andere vor den Angriffen des Islamismus.

Die europäischen Regierungen müssen nicht dem Islam ihren Kampf ansagen, sondern den Rechtsstaat mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Zum Schutz der Freiheit brauchen wir beispielsweise ein Einwanderungsgesetz, das illegale Migration unterbindet und Rahmenbedingungen festschreibt. Jeder Widerstand gegen die Polizei, beispielsweise gegen die Kontrolle der Identität, muss streng geahndet werden, ebenso jede Drohung und jeder Aufruf zur Gewalt, ob in der Familie, in der Moschee oder auf der Straße, und eben auch jede Belästigung von Christen und jeglicher Angriff auf christliche Kulturgüter. Der Staat darf vor Ehrenmorden, Zwangsheirat, Polygamie oder Verfolgung von Muslimen, die sich taufen lassen, nicht kapitulieren. Wir müssen es mit unserer freiheitlichen Demokratie ernst meinen, ansonsten verlieren wir unsere Souveränität und unsere Identität. Das erwarten im Übrigen nicht zuletzt auch die bei uns lebenden Muslime.

Als Christen sollten wir unser Gewissen immer nach der Frage überprüfen: Können wir mit unserem Verhalten die zu uns gekommenen Muslime von der Wahrheit der christlichen Botschaft überzeugen? Wenn sie z.B. sehen, wie wir auf die islamistischen Terrorakte reagieren: Können sie den Unterschied erkennen zwischen einer Gewalttätigkeit, die nicht von Gott kommen kann, und einer gelebten Liebe, die nur möglich ist, wenn der Mensch durch eine Kraft von oben gestärkt wird?

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
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Der Steyler Missionar Pater Paul Buhl (1902-1944)

In China zum Märtyrer geworden

Papst Johannes Paul II. (1920-2005) hatte den Anstoß gegeben, eine alle Kontinente umfassende Aufarbeitung der christlichen Gewaltopfer des 20. Jahrhunderts auf den Weg zu bringen. Die Deutsche Bischofskonferenz griff diesen Gedanken auf und beauftragte Prälat Prof. Dr. Helmut Moll, ein deutsches Martyrologium zu erarbeiten, zusammen mit 170 Fachleuten. Das zweibändige Hauptwerk „Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“ liegt seit 2019 in siebter, aktualisierter Auflage vor.[1] Nachfolgend das bislang unveröffentlichte Lebensbild von P. Paul Buhl SVD.

Von Helmut Moll

In seinem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Ecclesia in Asia vom 6. November 1999 lenkte Papst Johannes Paul II. den Blick auf die Blutzeugen, denen gerade im 20. Jh. eine besondere Bedeutung zukam, aber in allen Jahrhunderten die Kirche tiefgreifend geprägt haben: „Im Laufe der Jahrhunderte hat der asiatische Kontinent der Kirche und der Welt eine Vielzahl dieser Helden des Glaubens geschenkt, und im Herzen Asiens erklingt der große Lobgesang: ‚Te martyrum candidatus laudat exercitus‘ [Dich preist der Martyrer leuchtendes Heer].‘ Das ist die Hymne jener, die in den ersten Jahrhunderten der Kirche für Christus auf asiatischem Boden gestorben sind, und auch der freudige Ruf von Männern und Frauen einer weniger entfernten Vergangenheit, Heilige wie Paulus Miki, Lorenzo Ruiz, Andreas Dung Lac, Andreas Kim Taegon und ihre jeweiligen Gefährten. Mögen die zahlreichen alten und neuen Märtyrer Asiens der Kirche ihres Kontinents stets vor Augen halten, was es bedeutet, Zeugnis zu geben für das Lamm, in dessen Blut sie ihre Gewänder gewaschen und weiß gemacht haben (vgl. Offb 7,14)! Mögen sie stets unbeugsame Zeugen jener Tatsache sein, dass die Christen immer und überall berufen sind, nichts anderes als das Kreuz des Herrn zu verkünden! Möge durch das Blut der Märtyrer Asiens heute und immerfort in jedem Winkel des Kontinents neues Leben für die Kirche entstehen“ (Nr. 49).

Weg zur Ordensberufung

Zu diesen „Helden des Glaubens“ gehört unter den Tausenden von Blut- und Glaubenszeugen/innen des 20. Jahrhunderts der Steyler Missionar P. Paul Buhl. Seine Wiege stand in dem kleinen oberschlesischen Ort Winau etwa drei Kilometer südwestlich des Stadtkerns der Metropole Oppeln. Seine erste Erwähnung erfolgte im Jahr 1412. Auf dieser Anhöhe befand sich in vorchristlicher Zeit ein heiliger Berg. Im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) wurde das Dorf niedergebrannt. Im 19. Jahrhundet hatte der Ort weniger als 300 Einwohner. Paul kam als ehelicher Sohn des Landwirts Johann Buhl (* 1862 in Winau) und dessen Frau Franziska, geb. Skrzypczyk (* 1869 in Bogutschütz) am 11. März 1902 in Winau zur Welt. Seine älteren Geschwister waren Josef und Johann, seine jüngeren Anastasia, Maria, Alfons, Franz und Robert; sie alle wurden in Winau geboren. Auch die Väter seiner Eltern übten den Beruf des Landwirts aus. Paul besuchte die Volksschule im nahegelegenen Ort Go-rek; am 22. April 1911 empfing er die erste hl. Kommunion in Oppeln.

Seine Eltern schickten Paul mit zwölf Jahren in das Missionshaus der Steyler Missionare in Heiligkreuz unweit der oberschlesischen Stadt Neisse. Es handelte sich um das erste Missionshaus der Steyler Missionare auf deutschem Boden, das der hl. Arnold Janssen (1837-1909), der Stifter der Gesellschaft des Göttlichen Wortes (SVD), im Jahr 1892 gegründet hat, nachdem der zuständige Breslauer Oberhirte, Fürstbischof Georg Kardinal von Kopp (1837-1914), der Reichsregierung diese empfohlen hatte. Am 31. Januar 1892 erwarb Generalsuperior Janssen das Gut „Schäferei“ mit einem Grundstück von 125 Morgen. In der hier eingerichteten Schule begann der Unterricht am 16. Oktober 1892 mit acht Schülern. Ihr Ziel bestand in der Ausbildung junger Schüler an einem ordenseigenen, mit einem Knabenkonvikt verbundenen Privatgymnasium, die auf einen späteren Missionsberuf vorbereitet werden sollten. Dieses Missionshaus, das 1927 Provinzialatshaus der deutschen Ostprovinz wurde, wuchs von Jahr zu Jahr, zählte es doch im Jahr 1900 bereits 250 Schüler. Im Jahr 1904 lebten im Missionshaus 31 Patres, 46 Brüder und 236 Alumnen. Während des Ersten Weltkriegs riss der Strom der Verwundeten und Kranken nicht ab, die in Heiligkreuz, das in ein Lazarett umgewandelt war, behandelt und gepflegt wurden.

Offensichtlich reifte Pauls Berufung zum Ordensleben in dieser Zeit, denn nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums im niederösterreichischen Missionshaus St. Gabriel in Mödling bei Wien entschied er sich für den Eintritt in die Missionsgesellschaft des Göttlichen Wortes. Der Auftrag des auferstandenen Christus wird ihn dabei beflügelt haben: „Geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,19-20; vgl. Lk 24,47-49; Mk 16,15-16; Joh 20,21). Mit 19 Jahren begann Paul das Noviziat im Missionspriesterseminar St. Gabriel. Im Anschluss an die Probezeit, in der der Orden ihn und er die Spiritualität des Ordens prüfte, folgte die Zeit der zeitlichen Gelübde. Er versprach, für die Dauer einer festgelegten Zeit die vom Evangelium stammenden Tugenden der Armut, Keuschheit und des Gehorsams in der Gemeinschaft zu leben. Da er das Priestertum anstrebte, unterzog er sich den philosophischen und theologischen Studien in St. Gabriel. Die endgültige Bindung an den Orden erfolgte im Jahr 1927 durch die Ewigen Gelübde. Ein Kalenderjahr später wurde Frater Buhl nach den Niederen Weihen, der Subdiakonats- und Diakonatsweihe schließlich zum Priester geweiht, und zwar in der Klosterkirche St. Gabriel. Gleichzeitig erhielt der Neupriester seine Missionsbestimmung für China.

In die chinesische Mission

Bereits Papst Leo XIII. (1810-1903) hatte dem Ausbau der chinesischen Mission eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Im Hinblick auf zukünftige Lokalsynoden teilte er sie im Jahr 1879 in fünf Regionen ein. Darüber hinaus ließ der Papst im Jahr 1883 methodische Anweisungen an die China-Missionare ergehen. Schließlich baute er die Hierarchie in China aus. Eine Abkehr vom Eurozentrismus förderte auch sein Nachfolger Papst Pius X. (1835-1914). Einen neuen Schwerpunkt setzte Papst Benedikt XV. (1854-1922) in seinem Rundschreiben Maximum illud vom 30. November 1919, das auf dem Rundschreiben Sancta Dei Civitas von Leo XIII. vom 3. Dezember 1880 aufbaute. Darin erteilte der Papst jeder kolonialen Mission eine Absage und forderte die Ausbildung eines einheimischen Klerus. Zugleich rief er zur Bereitschaft auf, mögliche „Schicksalsschläge, Mühsal, Schmach, Not und Hunger, ja selbst den grausamen Tod großmütig hinzunehmen, wenn er nur eine einzige Seele den Tiefen der Hölle entreißen kann“ (AAS 19, 1919, 450). Im Jahr 1922 errichtete Papst Pius XI. (1857-1939) die Apostolische Delegatur in Peking. Als Gründe für diese Maßnahme nannte der Papst seine Liebe zum chinesischen Volk, die Vereinheitlichung der Missionsarbeit und den neuen Aufschwung des Missionswerkes. Zum ersten Apostolischen Delegaten ernannte er Erzbischof Celso Costantini (1876-1958), der sein Amt von 1922 bis 1933 wahrnahm. In der Zeit vom 14. Mai bis 12. Juni 1924 fand in Shanghai das erste chinesische Nationalkonzil statt, auf dem in besonderer Weise die Beseitigung der Spannungen zwischen dem ausländischen und chinesischen Klerus, die Neuaufteilung der auf 64 angewachsenen Missionsgebiete und die schrittweise Übertragung der Leitung kirchlicher Jurisdiktionsbezirke an den chinesischen Klerus zu regeln waren. Zwei Jahre später, am 28. Oktober 1926, konnten sechs chinesische Bischöfe im Petersdom vom Papst geweiht werden.

Die Oberen der Missionskongregation hatten für Pater Buhl die Provinz Kansu bestimmt. Deshalb brach der Neupriester von Europa auf und fuhr in das ostasiatische Land. Am Anfang stand das erforderliche Sprachstudium, das er in der Steyler Zentrale in Yanzhou (Provinz Shandong) absolvierte. Alle Missionare, die ausländischen wie die einheimischen, sollten für ihre Sendung eine besondere Qualifizierung erfahren. Die Folge dieser Bemühungen war nicht nur ein sprachlich besser ausgebildeter Missionsstab, sondern auch eine Bereicherung der sinologischen Studien. Sichtbarer Ausdruck dafür wurden die von den Steyler Missionaren herausgegebenen Monumenta Serica, die ab dem Jahr 1935 bis heute erscheinen.

Pater Buhls Vorgesetzter in der Mission war der österreichische Steyler Missionar P. Dr. Johann Frick (1903-2003), sein Oberhirte der deutsche Erzbischof Theodor Buddenbrock (1878-1959), Steyler Missionar wie er. Nach den Aussagen von Pater Frick war Pater Buhl ein ruhiger, gelassener Mitbruder, fromm und gediegen, kein Spaßverderber, angesehen bei den Oberen. Man konnte gut mit ihm reden, vor allem über die Seelsorge. Er übte nie böswillige Kritik an der Arbeit anderer und half, wo er konnte. Auch bezüglich Kost und Verpflegung war er ein zufriedener Mensch. Zwar bescheinigte er ihm ein selbständiges Denken, war aber doch umgänglich und trotz seiner gesundheitlichen Beschwerden bei allen beliebt. Auch Erzbischof Buddenbrock zeigte sich Pater Buhl gegenüber immer entgegenkommend.

Im Jahr 1931 begann Pater Buhl seinen missionarischen Einsatz in Zhangye, das im Bistum Lanzhou liegt. Sieben Jahre später wechselte er nach West-Kansu in das Gebiet um Wuwei/Xixiang. Das Missionswerk wurde durch die ständig voranschreitende Machtausübung der Kommunisten stark behindert. Der Chinesisch-Japanische Krieg (1937-1945) sowie der Ausbruch des Japanisch-Amerikanischen Krieges im Jahr 1941 taten ein Übriges. Angesichts dieser Umstände war die Mission beeinträchtigt, ja in den von den Kommunisten besetzten Nordprovinzen durch blutige und unblutige Verfolgungswellen nicht unerheblich vernichtet. Mit Datum vom 19. März 1937 hatte Papst Pius XI. in seiner Enzyklika Divini Redemptoris die Lehren des Kommunismus mit scharfen Worten verurteilt. „Viele Priester u. Ordensleute – drei Fünftel v. ihnen, die 1940 in China wirkten, kamen aus dem Ausland – hatte man umgebracht, die ausländ. waren großenteils interniert worden“ (Rivinius, Art. China III.2, in Lexikon für Theologie und Kirche 2, 1994, 1061).

Auch Pater Buhl musste zusammen mit seinem Mitbrüdern wegen des Vormarsches der Kommunisten fliehen. Bei der Flucht hatte er keinen einzigen Anfall, aller Strapazen und Gefahren zum Trotz. Die Gruppe floh über die Berge nach Xining, der Hauptstadt der Provinz Qinghai. Der Weg war schwierig, der Tross groß. P. Johann Frick hielt diesbezüglich fest: „P. Paul Buhl war bei mir, er war schon älter, hatte epileptische Anfälle. Später kam er dann nach Xixiang, wo der gute Mitbruder Ruhe hatte, bis der liebe Gott ihn nach seiner Typhuserkrankung abberufen hat. Es war für ihn ein wahres Martyrium, diese Epilepsie. Manche der Konfratres nahmen diese Krankheit jedoch nicht ernst.“ Weiter heißt es: „P. Buhl bekam wohl bereits [auf der Flucht] die Vorboten eines Anfalls, Zucken mit den Lippen etc. Da sagte P. Trippner (sie waren Klassengenossen und Landsleute) zu ihm: Paul, mach mir keine Geschichten; wenn du einen Anfall bekommst, können wir uns nicht um dich kümmern, wir müssen weiter; und Buhl bekam dann tatsächlich keinen einzigen Anfall. Daraus schlossen einige, dass es sich wohl nicht um Epilepsie handelte. Aber wer kann das beurteilen – ich jedenfalls nicht! Als er bei mir in Xincheng war, hatte er einmal einen Anfall zu Beginn der hl. Messe; der Ministrant lief davon, zwei Männer sprangen über die Kommunionbank, fingen ihn in ihren Armen auf. Die einheimischen Schwestern baten mich, ihn fortzuschicken; sie könnten keine Andacht haben, wenn er am Altar sei; sie müssen immer schauen, ob er umkippt“ (SVD-Archiv, Sankt Augustin).

Pater Buhl ist an den Folgen der Flucht vor den Kommunisten im Jahr 1944 in Wu-wei/Xixiang (Provinz Kansu) gestorben. Er wurde keine 43 Jahre alt. Der polnische Priester und Gelehrte Andrzej Hanich würdige Pater Buhl in seinem Oppelner Martyrologium aus dem Jahr 2009 als Blutzeugen der Kirche.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Helmut Moll – hrsg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz: Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, 7., überarbeitete u. aktualisierte Aufl. 2019, 2 Bände, insg. CIX + 1.827 S., zahlr. Abb., Leinen mit SU, ISBN 978-3-50678-012-6, Euro 99,00, sFr 119,00, www.schoeningh-buch.de

„Kirchen für den Osten“ baute über 60 Kapellen und Kirchen

Frucht von Medjugorje

Die Firma Liebherr hat sich nach dem Krieg zu einem der größten Baumaschinenhersteller der Welt entwickelt. Ein Sohn des Familienunternehmens, Hubert Liebherr, hatte vor über 30 Jahren in Medjugorje ein Bekehrungserlebnis, das seinem Leben eine völlig neue Richtung gab. Seitdem widmet er sich ausschließlich apostolischen Initiativen und legt in Vorträgen Zeugnis von seiner Gotteserfahrung ab. Unter anderem ist er Mitbegründer des Vereins „Medjugorje Deutschland“, der das Anliegen Medjugorjes im deutschsprachigen Raum vertritt, sowie des Vereins „Kirchen für den Osten“, den man als Frucht der Medjugorje-Bewegung bezeichnen kann. Nachfolgend berichtet Hubert Liebherr davon, wie es zum Jubiläumskongress „40 Jahre Medjugorje“ kam, der am 30./31. Januar 2021 via Live-Übertragung aus Medjugorje und Marienfried bei Pfaffenhofen/Ulm Corona-bedingt als Online-Kongress durchgeführt wird.

Von Hubert Liebherr

Medjugorje und der Balkankrieg

Die außerordentlichen Ereignisse in Medjugorje begannen am 24. Juni 1981. Zwei Tage später hörten die jungen Seher, die bereits von über tausend Menschen auf den Berg Crnica begleitet wurden, wie die von Licht umstrahlte Gestalt ihren Namen nannte. Die Erscheinung sagte: „Ich bin die selige Jungfrau Maria“. Am selben Tag erschien sie auf dem Heimweg der Seherin Marija ein zweites Mal. Sie stand vor einem dunklen Kreuz und sagte weinend: „Friede, Friede, Friede und nur Friede. Zwischen Gott und Mensch soll wieder Friede herrschen. Der Friede soll auch unter den Menschen sein.“

Genau 10 Jahre später brach der Balkankrieg aus. Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit, was die Jugoslawische Volksarmee (JNA) mit einem militärischen Angriff beantwortete. Der Krieg verlagerte sich immer mehr nach Süden und erreichte schließlich auch Medjugorje. Der Ort wurde viermal bombardiert, doch wurden kaum Schäden verursacht. Die Kirche selbst blieb vollkommen verschont. In den übrigen Teilen des Landes hingegen geriet die Bevölkerung in große Not. Engagierte Medjugorje-Pilger organisierten Hilfsprojekte, renovierten Häuser und errichteten Notunterkünfte.

Gründung des Vereins „Kirchen für den Osten“ 1994

Aus dieser Hausbau-Initiative entwickelte sich schließlich 1994 der Verein „Kirchen für den Osten“. Denn nach dem Zusammenbruch des atheistischen Kommunismus, in dessen Folge ja auch der Jugoslawienkrieg ausgebrochen war, eröffnete sich plötzlich die Möglichkeit, auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion das Leben der weitverstreuten Katholiken neu zu organisieren.

Der Verein „Kirchen für den Osten“ kann als unmittelbare Frucht der Medjugorje-Bewegung betrachtet werden. Die im Glauben entflammten Medjugorje-Pilger, die sich in dem Verein zusammenschlossen, erkannten in der Wende eine einzigartige Chance, die es zu nützen galt. Insgesamt bauten seither mehr als 500 ehrenamtliche Helfer 32 Kirchen bzw. Kapellen und unterstützten bei 36 weiteren Kirchen, Kapellen und Klöstern den Neubau oder die Renovierung. Dabei wurden die ersten 24 Kirchen, die wir alle bis zur Jahrtausendwende in Russland und Kasachstan errichteten, vom Bischöflichen Hilfswerk Renovabis finanziert.

Rückblick auf 25 Jahre Kirchenprojekt

Am 7. November 2019 nun feierte der Verein „Kirchen für den Osten“ sein 25-jähriges Jubiläum. Ungefähr 150 ehemalige Helfer waren der Einladung gefolgt und lauschten gespannt den Ausführungen von Bernhard Thoma, dem 2. Vorsitzenden und Technischen Leiter des Vereins. Er berichtete von der ersten Fahrt 1993 nach Rostow am Don: Geschlafen hätten die Mitglieder der Crew zu fünft in einem Kleinbus und zu zweit in der engen Fahrerkabine eines angemieteten Klein-Lkws, mit den Beinen auf dem Armaturenbrett. Morgens habe es in den weiten Wäldern der Ost-ukraine jeweils an irgendeiner Bushaltestelle Katzenwäsche aus dem Kanister gegeben und der Kaffee sei über einem Gasbrenner gekocht worden, ebenso die Ravioli abends – umgerührt mit einem Meterstab. Schließlich wurde die Holzkapelle in Rostow aufgestellt. Das Experiment war gelungen.

Nach diesem ersten Abenteuer wandte sich Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz von Moskau mit der Bitte an uns, weitere Kirchen zu liefern. Das war für uns der Impuls, den Verein „Kirchen für den Osten“ zu gründen.

Als 1. Vorsitzender des Vereins rief ich auf unserer Jubiläumsfeier anschließend die gesamte Entstehungsgeschichte in Erinnerung. Nie zuvor hatten wir die Führung und Vorsehung Gottes so konkret erlebt wie bei diesem Projekt. Dies zeigte sich beispielsweise darin, dass ich von einem Spender in einem normalen Kuvert über eine viertel Million DM in Form von festverzinslichen Wertpapieren für unsere Initiative erhalten habe. Zur Jahrtausendwende verlagerte Renovabis den Schwerpunkt seiner Unterstützungen mehr auf die Pastoral, sodass unser Kapellenbau für Russland in dieser Form zum Erliegen kam. Daher mussten wir damals auch unsere große Produktionswerkstätte aufgeben.

Ökumenische Bedeutung der Kapellen in Russland

Richtig spannend für die Anwesenden wurde es bei der Jubiläumsfeier, als Pfarrer Erich Maria Fink, Gründungsmitglied des Vereins, über die ökumenische Bedeutung der 24 Kapellen in Russland berichtete. Er war Anfang des Jahres 2000 in die Industriestadt Beresniki im Norden des Urals gekommen, wo er die Pfarrei „Maria – Königin des Friedens“ aufbaute und zahlreiche soziale Projekte initiierte. Pfarrer Fink führte aus, die 24 Kirchen seien genau zum richtigen Zeitpunkt nach Russland gekommen. Es habe sich um einen sogenannten „Kairos“ gehandelt, den der Verein für seine Initiative genützt habe, also um eine einmalige Gelegenheit in der Geschichte Russlands. Während der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, unter Präsident Jelzin, habe die katholische Kirche ohne Probleme Grundstücke für den Kirchenbau erwerben können. Durch die Aufstellung der Kapellen seien Dutzende von pastoralen Stützpunkten entstanden, die für immer das Bild der katholischen Kirche in Russland prägen würden. Sobald die Pfarreien wachsen, könnten sie anstelle der Kapellen jederzeit größere Kirchen errichten, wie dies zum Beispiel in Rostow am Don geschehen sei. Dort konnte am 19. September 2004 eine neue, aus Stein gebaute Kirche mit dem Patronat des „Letzten Abendmahls“ eingeweiht werden. Die Holzkapelle fand an einem anderen Ort Verwendung.

Der Moskauer Erzbischof Paul Pezzi habe vor kurzem in einer Ansprache erklärt, man müsse konstatieren, dass es heute in Russland praktisch unmöglich geworden sei, eine Baugenehmigung für eine neue katholische Kirche zu bekommen. Die Politik, die Putin im Einvernehmen mit der Russisch-Orthodoxen Kirche betreibe, so Fink, habe eine neue Situation geschaffen. Doch die 24 Kirchengebäude, welche von Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, bis hin zum Baikalsee mit offiziellen Genehmigungen aufgestellt worden seien, stünden nun als Zeichen dafür, dass die katholische Kirche einen Teil des öffentlichen Lebens in der russischen Gesellschaft bilde. Bis dahin seien die heiligen Messen in Privaträumen gefeiert worden, was immer den Anschein erwecke, die Katholiken stellten eine Sekte dar. So aber sei die katholische Kirche überall ins Bewusstsein der Bevölkerung gelangt und werde als ernst zu nehmender Partner wahrgenommen. Die Anwesenheit der Pfarreien und ihrer Pfarrer hätten auch quasi automatisch zu einem Dialog mit der orthodoxen Kirche vor Ort geführt. Die ökumenische Bedeutung der Initiative „Kirchen für den Osten“ könne in dieser Hinsicht gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der ökumenische Austausch habe sich weiterentwickelt und sei heute auch auf der Ebene der Bischöfe eine Selbstverständlichkeit.

Die Mission der katholischen Kirche in Russland bestehe nicht darin, so betonte Pfarrer Fink, möglichst viele Gläubige für die katholische Kirche zu gewinnen, sondern vielmehr darin, eine Brücke zur Orthodoxie zu schlagen und die Wiederherstellung der sichtbaren Einheit vorzubereiten. Die Präsenz der katholischen Kirche in Russland sei umso wichtiger, als die Russisch-Orthodoxe Kirche heute wieder verstärkt als Nationalkirche in die Politik eingebunden werde. Durch die Begegnung mit Katholiken würden die orthodoxen Gläubigen daran erinnert, dass die Kirche Jesu Christi nur eine einzige sein könne und deshalb eine weltweite Kirche darstellen müsse. Obwohl die katholische Kirche in Russland eine winzige Minderheit von weniger als einem Prozent der Bevölkerung ausmache, sei inzwischen das Wissen um die weltweite Kirche mit ihrem Oberhaupt, dem Papst, allgegenwärtig.

Außerdem wolle die Russisch-Orthodoxe Kirche angesichts des vielfältigen Dialogs des Vatikans mit anderen Kirchen nicht ins Abseits geraten. Die Ausführungen von Pfarrer Fink gipfelten in der Feststellung, dass die Errichtung der 24 Kapellen in diesem Sinn mit dazu beigetragen hätten, der historischen Begegnung zwischen dem Russisch-Orthodoxen Patriarchen Kyrill I. und Papst Franziskus auf Kuba im Jahr 2017 den Weg zu ebnen.

Diese kirchenpolitische Bedeutung, wie sie Pfarrer Fink darlegte, war uns bis dahin nicht bewusst. Meine Freude erreichte ihren Höhepunkt, als er mit der Bemerkung schloss, es sei schon erstaunlich, wie die Mutter Gottes von Medjugorje aus, an sämtlichen Hierarchien vorbei, den Dialog zwischen Katholiken und Orthodoxen habe anstoßen können, nur weil sich damals ein paar „wilde“ Männer auf die abenteuerliche Reise nach Rostow am Don zum Bau der ersten Kapelle begeben hätten.

Die Idee eines Medjugorje-Kongresses

Wir waren sprachlos! Als wir nach der Fertigstellung der Holzkirchen jeweils die erste hl. Messe darin feierten, erlebten wir sehr wohl die Bedeutung dieser Gotteshäuser für die lokale Gemeinde. Oftmals brachten die russischen Babuschkas ihre Freude über die neuen Kapellen unter Tränen zum Ausdruck. Nie hätten sie geglaubt, jemals wieder ihre eigene Kirche im Ort zu haben. Aber die Bedeutung der Kapellen geht offensichtlich weit darüber hinaus.

Spontan spürten wir, dass die Zeugnisse über das grandiose Wirken der Mutter Gottes durch Medjugorje noch viel mehr bekannt gemacht werden müssten. Damit war die Idee eines Medjugorje-Kongresses geboren. Nach langem Abwägen legten wir das Datum des Kongresses auf Ende Januar 2021 fest. Erst später wurde uns bewusst, dass wir damit bereits in das vierzigste Jahr des Wirkens der Gottesmutter in Medjugorje eintreten. Und so wurde aus unserer Idee ein Jubiläumskongress.

Noch mehr Freude!

Noch immer staune ich über die Botschaft der Gospa vom 25. Juni 2019, in der sie sagte: „Ich bereite euch für neue Zeiten vor, damit ihr fest im Glauben und beständig im Gebet seid, so dass der Heilige Geist durch euch wirken und das Angesicht der Erde erneuern kann.“ Dieser Leitbotschaft für unseren Kongress dürfen wir die Verheißung vom 25. August 2020 hinzufügen: „Das Böse wird enden und es wird Frieden in euren Herzen und in der Welt herrschen.“ Die Gottesmutter kündigt damit etwas an, wofür alle, ausnahmslos alle Generationen vor uns gebetet haben, nämlich um den Frieden in den Herzen und den Frieden in der Welt.

So soll der Medjugorje-Jubiläumskongress durch die Zeugnisse und Vorträge vor allem auch die Freude auf diese neue Zeit vermitteln. In der aktuell schwierigen Situation der Menschheitsfamilie scheint dies besonders wichtig. Ähnlich hatte der hl. Papst Johannes Paul II. um die Jahrtausendwende von der „Morgenröte der neuen Zeit“ gesprochen, welche er bereits am Horizont heraufziehen sehe.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
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Der Glaube an Gott den Vater im Zeitalter des Feminismus und der Gender-Ideologie

„Herr, zeige uns den Vater!“

Im Dokument „Als Mann und Frau schuf er sie. Für einen Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen“ vom 2. Februar 2019 bekräftigt die Kongregation für das Katholische Bildungswesen mit großem Nachdruck die „Dualität männlich und weiblich, aus der die Familie entsteht“. Und sie wiederholt eine Aussage vom 1. November 1983: „Mann und Frau verwirklichen je auf ihre Weise eine bestimmte Teilhabe des menschlichen Geschöpfes am göttlichen Sein: Sie sind geschaffen nach ‚Gottes Gleichnis und Ebenbild‘ und leben diese Berufung nicht nur als einzelne, sondern als Paar, als Gemeinschaft der Liebe.“ Aber was bedeutet dies für unser Gottesbild? Erzbischof Karl Braun erklärt, wie die biblische Offenbarung von Gott als „Vater“ zu verstehen ist. Er hält am Vaterbegriff fest, doch wäre es seiner Ansicht nach abwegig, wollte man die Geschlechtsunterschiede in Gott hineintragen.

Von Erzbischof em. Karl Braun, Bamberg

Das Johannes-Evangelium übermittelt uns einen Satz, der uns lange festhalten könnte. In dem Gespräch vor dem Leiden, in den Abschiedsreden, sagt Philippus zu Jesus: „Herr, zeige uns den Vater. Das ist genug für uns!“ (Joh 14,8). Eines hatte Philippus, und wohl alle Jünger, die jetzt bei Jesus waren, gelernt. Für ihn, den Herrn, war eigentlich nur eines wichtig: den Vater so zu verkünden, so von ihm zu sprechen, so ihn nahezubringen, dass die Menschen ihn erkennen, ja ihn schauen können.

Damit wäre das Elend der Welt, ihre blutige Not und Zwietracht beendet, und die Menschen hätten das, was sie alle suchen; das Leben, das bleibende, zuverlässige, randlos erfüllte Leben – Leben nicht, wie die Natur es gibt, im steten Wandel von Entstehen und Vergehen, in ständiger Bedrohung durch andere Kräfte, die es zu zerstören suchen. Philippus hatte erkannt, dass es Jesus darum ging. Alles andere, was Jesus sagte, hatte seinen Ausgang vom Vater, und es kehrte immer wieder zum Vater zurück.

„Herr, zeige uns den Vater. Das ist genug für uns!“ Ist das wirklich genug, Philippus? Auch dann, wenn Du die Feindseligkeit der Welt gegen die Christen erfährst, wenn es aussichtslos scheint, in Mühsal, Armut, Bedrängnis, in der ständigen Todesgefahr für unseren Herrn zu werben, für ihn Zeugnis abzulegen? Ja, Herr, es ist genug, so meinte er und meinten die anderen, und so meinte er sicher auch später, als er, wie es schien, auf sich allein gestellt war. Und Jesus korrigiert ihn nicht in seiner Überzeugung. Ja, es ist wirklich genug.

Wir nennen Gott „Vater“ und nicht „Mutter“. So wenigstens geschah es, in Übernahme der Redeweise der Heiligen Schrift, viele Jahrhunderte hindurch. Die Frau hat sich eine neue Stellung in unserer Gesellschaft geschaffen. Sehr viele Zurücksetzungen und Ungerechtigkeiten haben Frauen zum Aufbegehren gebracht. Ist es nicht ungerecht, eine Beeinträchtigung, Zurücksetzung der Frau, von Gott als dem Vater zu sprechen? Dies sind nicht nur flüchtige Gedanken, die hier und dort auftreten. In unserer Liturgie wird auch schon da und dort die Anrede „Gott Vater und Mutter“ gebraucht. In anderen christlichen Gemeinschaften werden liturgische und biblische Texte umgeschrieben, so dass das Vaterunser zum Mutterunser wird. Schließlich gibt es den geradezu wilden Aufstand, der weder einen göttlichen Vater noch eine göttliche Mutter über uns gelten lassen will, sondern nur die Frau, die sie selbst ist und die das Göttliche in sich trägt.

Wie steht es aber mit der Bezeichnung Gottes als einem Vater? Ist hier nicht eine patriarchalische Kultur am Werk, die überwunden ist und nun auch aus unseren religiösen Texten und Vorstellungen getilgt werden muss?

Der zu kurz greifende Versuch, Gott nach der soziologischen Rolle von Mann und Frau in unserer Gesellschaft verstehen zu wollen

Unsere Frage ist die: Finden wir – auch heute noch – den wirklichen und wahren Gott, den Gott, der sich in den Heiligen Schriften geoffenbart hat, in dem Bekenntnis, dass er der Vater ist, der Vater Jesu Christi und damit auch unser Vater?

Als erstes müssen wir sagen, dass Gott in unsere Welt hinein und mit unserer Sprache gesprochen hat. Wenn er als Person, und nicht als namenloser Urgrund, zu uns spricht, muss er einen menschlichen Namen haben. Als eine Person, von der wir herkommen, die also nicht nur als Weggefährte neben uns steht, sondern uns vorgeordnet und übergeordnet ist, muss er sich entweder Vater oder Mutter nennen. Dabei ist jedoch folgendes zu beachten: Der Begriff Gott Vater ist weder im Alten noch im Neuen Testament als Geschlechtswesen zu verstehen. Er ist also weder Vater noch Mutter, weder Mann noch Frau (vgl. Gregor von Nazianz, Oratio 31), wenn wir diese als Geschlechtswesen denken, die – als Vater und Mutter – die Kinder biologisch zeugen. Die Vorstellung von einem genealogischen und biologischen, ja sogar sexuellen Zusammenhang zwischen den Göttern, den Menschen und der Welt war aber vorherrschend in der Welt, in welche die Offenbarung eintrat.

Für eine nüchterne Exegese und Religionsgeschichte ist es nicht zu bezweifeln, dass dieser Widerspruch zur zeitgenössischen Kultur und Religionswelt das Besondere der Offenbarung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs und des Vaters Jesu Christi war. Die Offenbarung verkündete einen Gott, der über jeder biologischen und naturhaften Verstrickung in die Welt stand. So kann eben nicht gesagt werden, wie wir es heute lesen, dass Gott zweigeschlechtlich zu denken sei. Er ist – unter diesem Blickwinkel – weder Vater noch Mutter. Die soziologischen Begriffe des Patriarchats oder Matriarchats treffen auf Gott Vater nicht zu. Er steht über allen geschlechtlichen Unterschieden. Deshalb ist es auch abwegig, die Geschlechtsunterschiede in Gott hineinzutragen, den Begriff „Gott Vater“ sexistisch zu missdeuten oder zugunsten eines radikal-emanzipatorischen Freiheitsverständnisses aufzugeben. Wir neigen dazu, die menschlichen Vorstellungen und Begriffe zu überschätzen. Wir müssen menschliche Begriffe verwenden. Sie sind aber höchst unzureichend. Wir wissen mehr von Gott, was er nicht ist, als was er ist, sagte das 4. Laterankonzil im frühen 13. Jahrhundert. Wir wissen also mehr von ihm, inwieweit er nicht Vater ist, als dass er Vater ist. Dasselbe würde von Gott als Mutter oder als Mutter-Vater gelten. Ist es nicht eine völlig untheologische Überschätzung der menschlichen Begriffe, wenn wir sie randvoll mit unseren eigenen, zeitgenössischen und persönlichen Erfahrungen füllen?

Der Vater, der Gott ist, ist anders. Der Vater, von dem die Schrift spricht, ist der Allmächtige. Auch dies wird gesagt, obwohl der Vater die unbegreifliche und unermessliche Zuwendung ist, also uns näher ist, als wir uns selbst sind. Er ist ganz und gar nicht wie ein irdischer Familienvater. Ob dies verschleiert werden soll durch den „gütigen Gott“, der heute gern statt des Allmächtigen angerufen wird? Der himmlische Vater ist etwas, was die Vater-Mutter-Polarität unendlich – im wörtlichen Sinn „unendlich“ – übersteigt. Und trotzdem ist er wie ein Vater und wie eine Mutter. Diese Polarität im Namen für Gott kann nur aufgeben, wer unserem Gott die höchsten Gegensätze in sich absprechen will.

Die hartnäckige Frage im Hintergrund bleibt: warum dann „Vater“ und nicht eher „Mutter“, oder „Vater-Mutter-Gott“, wie heute mitunter zu hören ist?

Ein Gedanke wäre dieser: die Macht nach außen, über andere, die segensreich sein soll (aber oft böse und zerstörerisch ist), ist mehr mit dem Mann und Vater verknüpft als mit der Frau und Mutter. Freilich ist diese Überlegung schwer anzunehmen mitten in der primitiven und der Natur der Dinge überhaupt nicht angemessenen Verteufelung von Macht überhaupt. Einen Gott, der nicht mächtig, allmächtig ist, braucht niemand. Ein Gott, der mehr ist als das Spiegelbild der eigenen Wünsche, muss mächtig sein können nach außen, oder er ist nicht Gott. Ich weiß, wie dies Gedanken sind, die heute kaum noch gedacht werden dürfen. Aber ich frage: Auf welche Stufe muss Gott herabgestuft werden, dass er diese seine Prärogative, zum Heil aller Menschen, verliert? Ich darf daran erinnern, dass die großen Gottdenkerinnen und -denker, die Mystikerinnen und Mystiker aller Jahrhunderte davor gewarnt haben, Gott zu schnell zum „lieben Gott“ zu domestizieren, dass sie mit der dunklen, rätselhaften, unbegreiflichen Seite im Gottesbild gerungen haben, die auch zu unserer jüdisch-christlichen Tradition gehört. „Eure Wege sind nicht meine Wege – ich bin doch Gott, und nicht ein Mensch!“ Das große Werk des Religionswissenschaftlers van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, beginnt wie mit einem Paukenschlag: Das Objekt der Religion – die Macht.

Ein weiterer Gedanke kann helfen zu verstehen, warum die Offenbarung Gott den „Vater“ nennt. Dass diese nicht nur ein Reflex der damaligen Kultur ist, haben wir gesehen. Diese Wahl ist eher ein Widerstand gegen die damalige religiöse Kultur und ist auch ihre Überwindung. Gott wurde als so groß und anders geoffenbart, dass er nicht in den biologischen Zusammenhang der Welt hineingehört. Hier kann vielleicht die Überlegung weiterführen, dass der Mann, auch als Vater, nicht so hinein verflochten ist in das Entstehen und Neuschaffen der Natur wie die Frau. Sie ist das Leben für die Kinder, und zwar so sehr in der Einheit der Natur mit ihnen, dass diese zunächst ein Organismus, ein naturhaftes Wesen mit ihr sind. In der ersten Zeit können wir – von der Natur her – überhaupt nicht zwischen ihr und dem Kind unterscheiden. Gerade dies ist Gott nicht. Im Alten Testament finden wir schon den Kampf dagegen. Der Mann steht in größerer Distanz zu der Natur und zu der biologischen Weitergabe des Lebens. Freilich kann man ihm auch dann diesen größeren Abstand zur naturhaften Fortentwicklung des Lebens und auch zu deren Verantwortung, die mit ihr gegeben ist, zum Vorwurf machen. Er gibt aber wegen dieses Abstands zum Weiterzeugen der Natur, so können wir vielleicht sagen, eher den Namen für Gott ab, der ihn dann aber mit seinem, dem göttlichen Inhalt füllt. Dann deutet gar nicht mehr so viel auf die irdische Figur, den Mann und Vater, hin, von dem der Name genommen wurde. Wir könnten sagen, dass ein Zug oder zwei vom irdischen Vater genommen wurden, damit sich die Offenbarung verständlich machen kann. Der eine ist negativ: Gott ist nicht in die biologische Natur hineinverflochten. Der andere ist positiv; Gott ist Vater wie ein (guter) menschlicher Vater, der in großer Liebe sorgt für die Kinder, aber gerade so, dass er mit seiner Autorität und Macht nach außen die Kinder schützt und zur Freiheit führt. Dies ist nicht eine schlüssige Erklärung, warum Gott sich den Menschen gegenüber Vater nennt. Die gibt es überhaupt nicht für uns, weil eben – wie gesagt – jeder irdische Begriff unzureichend ist. Das ist aber vielleicht ein Hinweis, warum der Vatername bevorzugt wurde.

Auf jeden Fall ist das Wort „Vater“ deshalb unverzichtbar, weil Jesus selbst so gesprochen hat. Vater – das ist die Gottesrede Jesu. Deshalb dürfen auch wir Christen nicht Abschied nehmen von einem Titel, der in der Offenbarung und in einer jahrtausendealten Gebetstradition gründet. Und deshalb sind wir auch nicht autorisiert, das „Vaterunser“ etwa durch ein „Mutterunser“ zu ersetzen.

Entscheidend wichtig bleibt, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, und nicht der Mensch Gott nach seinem irdischen Bild von sich und von seiner Gesellschaft, in der er in den Jahrzehnten seines Jahrhunderts gerade lebt. Wenn dies festgehalten wird, verliert der Streit darum, ob eines der beiden Geschlechter von Gott bevorzugt wurde (und ob er deswegen korrigiert werden müsste), völlig seinen Sinn.

Gott schuf den Menschen als Mann und Frau und gab jedem seine Besonderheit. Für die Bezeichnung seines Verhältnisses zu den Menschen nahm er von dem einen Geschlecht einen Namen, um etwas im Gegensatz zu den anderen Religionen – gerade zu den Naturreligionen – deutlich zu machen. All das andere, was sein Name mehr verhüllt als sagt, ist nicht von den Menschen genommen – schon gar nicht von einer kurzlebigen Epoche gesellschaftlicher Rollen. Deswegen bleibt auch all das bestehen, was die Frau gegenüber dem Mann auszeichnet, was sie im Vergleich mit ihm überlegen sein lässt. Es ist nicht in die Bezeichnung Gottes – wenigstens nicht in den Namen – aufgenommen worden, weil es nicht den Zug enthielt, der damals – und heute, wie wir gleich sagen müssen – nötig war, um die Offenbarung Gottes von den anderen Religionen abzugrenzen. Damit ist dann nichts über die innerweltlichen Aufgaben, Rollen und Leistungen der beiden Geschlechter gesagt.

Welches ist nun unsere Aufgabe, unsere Neubesinnung auf Gott, den Vater?

Dem heidnischen Gedanken widerstehen, Gott, der Vater, habe grausam an seinem Sohn gehandelt und handle so an uns

Zunächst ist es wichtig, dass wir als Christen einer gegenwärtigen Auffassung widerstehen, die sich lautlos und ohne große Gegenwehr verbreitet. Sie ist ein frontaler Angriff auf das Christentum. Für sie wird Anselm von Canterbury verantwortlich gemacht. Aber erstens ist die theologische Meinung des großen Theologen nie kirchenamtlich dogmatisiert worden. Und zweitens lade ich ein, doch genau hinzusehen, was Anselm mit seiner Satisfaktionstheorie wirklich gemeint hat. Denn natürlich kannte auch er die Grundbotschaft des Neuen Testaments, dass Gott die Güte und Liebe in Person sei. Die Auffassung, von der ich rede, ist die Behauptung, dass Gott als Vater bei unserer Erlösung grausam an seinem Sohne gehandelt habe. Es ist nicht nur eine Meinung. Es ist eine Anklage, die Gott ins Gesicht geschleudert werden soll. Jesus sei der Leidende, der wie wir leiden und der wie der Indio am Kreuz hängt. So gesehen ist dann wirklich Jesus der, der ganz und gar unser Schicksal teilt. ER ist uns so wichtig geworden, weil er so sehr aus dem Becher der Schmerzen und des Hasses anderer trinken musste, dass er schon von daher unser Bruder ist. Der Vater hat es aber gewollt. Nur seinen Willen will der Sohn tun. So sagt es das Johannes-Evangelium immer wieder. Also ist doch dieser göttliche Vater verantwortlich für Jesu Leiden, und damit für das Leiden der ganzen Welt. Jesus ist ja, nach dieser Auffassung, der wichtigste Vertreter des Menschengeschlechtes, der im Namen aller leidet. Jesus also auf unserer Seite, ganz und gar. Wir zusammen mit ihm – gegen den Vater.

Wenn wir dies uns vor Augen führen, wird sofort deutlich, wie tief unchristlich, tief heidnisch dieser Gedanke ist. Er stellt die Schrift auf den Kopf, für die Christus die leibhaftige Verwirklichung der grenzenlosen Liebe des Vaters zu uns ist. Es ist also ein blasphemischer Aufstand gegen Gott. Es ist aber auch das Schlimmste, was Menschen sich selbst antun können. Sie bleiben ohne Hilfe. Dieser Jesus am Kreuz ist Darstellung und Zusammenfassung des immensen Leides dieser Welt. Mehr ist es aber nicht. Er ist nicht dessen Überwindung. Da er – nach dieser Auffassung – nicht von Gott kommt (der ja böse ist), ist er auch machtlos. Er hat keine andere Macht als die der Menschen, die die Gesellschaft verändern wollen. Dies ist, wie wir aus Jahrhunderten wissen, eben kläglich wenig. Es führt die Menschen nicht wirklich aus dem Meer von Leid heraus.

Der Versuchung widerstehen, zur Muttergöttin Natur zurückzukehren

Eine zweite Versuchung steht auf, wenn wir vergessen, dass Gott der Vater ist. Dann muss die alte religiöse Welt wieder auftauchen, in der es eigentlich um Natur geht und nicht um Gott. Es geht um die Natur mit ihren gewaltigen und ihren fruchtbaren Höhepunkten, die das Menschliche überschreiten und immer wieder als Götter verehrt werden. So ist es auch heute. Es ist unübersehbar, dass – auch in christlichen Kreisen – die Natur in religiöser Weise in den Vordergrund tritt. Gott wird – so sagen es manchmal sogar katholische Christen – als die Kraft aus der Tiefe verehrt, die alles in Bewegung setzt. Naturhafte Kräfte, und gerade auch Sexualität, erhalten wieder ihre göttlichen Attribute zurück. Die christliche Botschaft hatte diese Götter und Dämonen überwunden und sie dorthin verwiesen, wo sie ihren schöpfungsmäßigen Platz haben. Mit der Rückkehr der Götter und Dämonen kehrt auch die Angst und die Zerrissenheit zurück, weil die Freiheit von der Welt und für die Welt aufgehoben ist.

Gott, den Vater, in Christus finden

Gott als den Vater finden, wieder finden, lässt uns auch uns selbst wiederfinden, uns selbst, die wir – zunehmend und immer schneller – unsere Mitte verlieren. Mir scheint aber, dass dieser wichtige Gedanke zurückstehen muss. Gott muss wiedergefunden werden, weil er Gott ist, und gerade weil er uns und die Welt so maßlos geliebt hat und liebt, wie es ein Vater und eine Mutter tun möchten, aber nicht können. Wenn wir Gott nur suchen, ihn nur wiederfinden wollen, weil wir ihn brauchen, damit wir voll und ganz Menschen werden, greift die ganze Sache zu kurz. Gott lässt sich nicht zum Mittel machen, mit dem wir unsere psychologischen oder gesellschaftlichen Vorstellungen verwirklichen können. All das, worauf wir für den Menschen, für uns hoffen, wird uns in überreichem Maß gegeben, wenn wir zunächst Gott, und sonst nichts, suchen.

„Herr, zeige uns den Vater; das genügt uns… Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt…“ (Joh 14,8f). Wir können den Vater nicht sehen, wenn wir ihn, den Sohn, nicht sehen. Gott ist Vater gegenüber der Welt, weil er in seinem Sohn sich uns hingegeben hat. Der Schlüssel zum Verständnis Gott Vaters, der gleichermaßen väterliche wie mütterliche Züge vereinigt, liegt in Christus, dem menschgewordenen Sohn Gottes. Er ist gekommen, „damit er vom Innern Gottes Kunde bringe“ (Dei Verbum, 4). Was immer wir von Gott Vater denken und zu verstehen suchen, setzt an bei ihm, bei seinem Beten zum Vater, bei seinem Reden über ihn. Jesus stellt Gott dar im Bild des Vaters, der männliche und weibliche Verhaltensweisen zeigt. Doch Jesus redet nicht nur von Gott, er verkörpert gleichsam Gott Vater. Im Leben und Wirken Jesu spiegelt sich das Antlitz und Wesen des himmlischen Vaters wider: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). „Was der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn“ (Joh 5,19). So ist Jesus also das Ebenbild des unsichtbaren Vaters. Er lehrt uns, dass wir Kinder dieses Vaters sind, wenn wir uns im Glauben zu ihm bekennen. Um Gott als Vater richtig zu verstehen, müssen wir also auf Jesus schauen.

Freilich, letztlich geht es hier – wie der Mailänder Erzbischof Kardinal Carlo Martini geschrieben hat – um „ein Geheimnis, das in der Beziehung Jesu Christi, des Sohnes, zum Vater gründet; es ist ein Geschenk des Hl. Geistes und ihm anvertraut. Dieses Geheimnis des Vaters übersteigt unser Denken und unsere Fassungskraft, es lässt sich nicht in Begriffen einfangen, es ist immer ,mehr‘. Was immer wir ansatzweise davon verstehen, setzt an beim Wort Jesu ,Abba!‘“ (Carlo Maria Martini, Den Weg zum Vater finden, München 1999, 45).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
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Laudatio zur Verleihung des Augustin-Bea-Preises am 6. Dezember 2019

Lebenszeugnis von Klaus Berger

Professor Dr. Klaus Berger (geb. am 25.11.1940 in Hildesheim, gest. am 08.06.2020 in Heidelberg) war einer der herausragendsten Bibelwissenschaftlicher der Gegenwart. Die Verbindung von außerordentlicher Gelehrsamkeit und tiefem Glauben ließ ihn zu einer prophetischen Stimme und einem Stern der Orientierung am Horizont neutestamentlicher Theologie werden. Die Internationale Stiftung Humanum mit Sitz in Lugano zeichnete ihn am 6. Dezember 2019 mit dem Augustin-Bea-Preis aus. Die Laudatio zur Preisverleihung in Heidelberg hielt der Abt von Heiligenkreuz, Dr. Maximilian Heim OCist. Er fasste das Lebenswerk Bergers ein halbes Jahr vor dessen Tod auf eindrucksvolle Weise zusammen. Es lohnt sich, die Preisrede (vgl. Ambo 2020,[1] S. 481-487) ohne Kürzung wiederzugeben und die unverwechselbare Gestalt dieses modernen Exegeten, von dem die heutige Zeit noch viel lernen kann, zum Leuchten zu bringen.

Von Abt Maximilian Heim OCist

Anerkennende Geste Papst Benedikts XVI.

Heute erinnere ich in dieser Laudatio an ein überraschendes Ereignis, das Sie, verehrter Herr Professor Berger und Familiar unseres Ordens, außerordentlich berührt hat: Es war am 9. September 2007, als der Heilige Vater Papst Benedikt XVI. bei seinem Österreich-Besuch in unserer Zisterzienserabtei Heiligenkreuz plötzlich das Protokoll verließ, als er Sie – herausragend unter den vielen Gläubigen – in unserer Stiftskirche erblickte, spontan auf Sie zusteuerte und Sie herzlich begrüßte. Dies war mehr als eine Laudatio: Es war ein Dank nicht nur für Ihre wissenschaftliche Leistung, sondern auch für Ihre die Kirche liebende, noble Haltung. Wie außergewöhnlich dieser Gruß war, mag die Tatsache belegen, dass Benedikt XVI. sich sonst streng an das zeitliche Protokoll hielt und nicht einmal seinem langjährigen Freund, Bischof em. Hubert Luthe, der extra aus Essen angereist war, die Hand geben konnte.

Humorvolle und gelehrte Nikolausvorlesungen

Heute, am Nikolaustag, darf ich mich einreihen in die Gratulanten, die Ihnen Gottes Segen wünschen zum Namenstag wie auch zur Verleihung des Augustin-Bea-Preises. Der Nikolaustag war für Sie immer ein besonderer Tag, den Sie mit einer humorvollen und gelehrten Nikolausvorlesung ehrten. Wie Sie einmal erzählten, nahmen Sie die historisch-kritische Methode bei einer dieser jährlichen Vorlesungen auf die Schippe, indem Sie nachwiesen, dass die historische Existenz von Karl Barth, dem Wiederentdecker der wissenschaftlich-kritischen Exegese, unbegründet sei.[2]

Ein andermal, so erzählte es der evangelische Pfarrer Wolfgang Krimmer, konnten Sie die „fort- und immerwährende Existenz des heiligen Nikolaus“ mithilfe von mittelalterlich-scholastischen Beweisschritten darlegen. Und einer der Beweise damals war eben der aus der „Schokoladenheit“.[3] Was wollten Sie damit ausdrücken? Wenn Menschen sich die Mühe machen, ein Abbild des Heiligen in Schokolade zu gießen, dann muss das Urbild nun wirklich existieren. Die Aula – mit bald 2.000 Studierenden hoffnungslos überfüllt – bog sich vor Lachen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich Sie im Auditorium Kloster Stiepel kennenlernen durfte, wohin Herr Rainer Kohlhaas, der Organisator, Sie immer wieder im Namen von Prior P. Beda einlud. Und wenn Sie kamen, war das Auditorium nicht nur bis zum letzten Platz gefüllt, sondern die Zuhörer hingen mit ihren Ohren sogar noch an den Fenstern, um Ihren Worten zu lauschen. Was war der Grund einer solchen Attraktivität? Vielleicht das, was Johannes der Täufer, diese adventliche Gestalt, ein Prophet, verkündete, als er gefragt wurde, wer er sei: „Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste. Bereitet dem Herrn den Weg!“ (Vgl. Jes 40,3).

Biografischer Meilenstein

Sie sind am 25. November 1940 in Hildesheim geboren, wurden katholisch getauft und gefirmt, wollten katholischer Priester werden und haben schon in Ihrer Dissertation das Prophetische an Ihrem Wirken erkennen lassen: „Christus habe weder den Alten Bund noch das mosaische Gesetz abschaffen wollen.“ Das war für damalige Ohren zu viel. Ja, es ging Jesus von Nazareth nicht um die Abschaffung des jüdischen Glaubens und Gesetzes, sondern um seine Vollendung. Eine Wahrheit, die Jahrzehnte später (1992) der Katechismus der Katholischen Kirche ausdrücklich zu glauben vorlegte. Denn das antike Judentum inklusive Qumran, Philo, Weisheit, früher Mystik und Apokalyptik ist geistig und geistlich so unglaublich reich. Wer es erforscht, kann erkennen, dass Jesus und die Offenbarung des dreifaltigen Gottes nicht die Zerstörung des jüdischen Glaubens darstellen, sondern von Jesus her als seine Vollendung zu verstehen sind. Einer, der das wunderbar verstanden hat, war der Apostel Paulus.

Es bewirkte, dass Sie sich schließlich in der evangelischen Fakultät 1967 promovierten und 1971 an der Universität Hamburg habilitierten. Über Ihre Dozentur für Neues Testament und altchristliche Literatur an der Rijksuniversität in Leiden (älteste Universität der Niederlande, eine der weltweit renommiertesten Institutionen, insb. für Geisteswissenschaften u.a.) bekamen Sie einen Ruf nach Heidelberg. Hier wirkten Sie jahrzehntelang (1974 bis zu Ihrer Emeritierung 2006) an der hiesigen evangelisch-theologischen Fakultät als Professor für Neues Testament segensreich. 60 Schülerinnen und Schüler haben Sie zur Promotion und/oder Habilitation begleitet.

Umfangreiches Lebenswerk

Ihr Lebenswerk ist so umfangreich, dass es kaum möglich ist, es in einer Laudatio streiflichtartig zu beleuchten. Die Basis Ihrer wissenschaftlichen Forschungen sind die biblischen und christlich-orientalischen Sprachen, also das Aramäische, Altsyrische, Äthiopische, Koptische, Arabische und natürlich auch das Griechische.

Weil Sie nicht einfach nur trockene Wissenschaft betreiben, sondern ein Theologe sind, der vor allem von dem spricht, dessen Stimme er sein darf, halten Sie regelmäßige Andachten, Vorträge und Fragestunden im Hörfunk, vor allem bei Radio Horeb und Radio Maria. 400 Sonntagsmeditationen, Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze in der FAZ oder in der Tagespost, im VATICAN-magazin, für die CNA… haben Sie verfasst.

70 selbständige Buchpublikationen haben Sie herausgegeben, davon 7 Bände kommentierte Übersetzungen. Eine Besonderheit stellt „Das Buch der Jubiläen“ dar mit ca. 350 Seiten, das Sie 1981 veröffentlichten und in dem Sie äthiopische, syrische, hebräische und lateinische Handschriften übersetzten und kommentierten. Zusammen mit Ihrer Gattin, Frau Prof. Dr. Christiane Nord, einer renommierten Übersetzungswissenschaftlerin, haben Sie 1999 „Das Neue Testament und frühchristliche Schriften“ (1.500 S.) herausgegeben. Außerdem zwei Bände „Werke des Zisterzienservaters Wilhelm v. St. Thierry“, darin erstmalig übersetzt ins Deutsche dessen Römerbrief-Kommentar.

Ein entscheidender thematischer Schwerpunkt ist für Sie die Eschatologie. Ihre private Sammlung antiker Apokalypsen ist vermutlich die größte Apokalypsensammlung weltweit. 2017 erschien im Herder-Verlag Ihr 2-bändiger gewaltiger Kommentar zur Apokalypse des Johannes und im Jahr darauf ein weiterer Band zur Theologie der Apokalypse. Das Bild der Hochzeit des Messias aus der apokalyptischen Tradition eröffnete Ihnen auch ein neues Verständnis der christlichen Ehe, das Sie in Ihrem neuen Buch „Ehe und Himmelreich: Frau und Mann im Urchristentum“ (2019) veröffentlichten. Ein prophetisches Thema gerade in unserer orientierungslosen Zeit. Sie eröffnen durch Ihr Forschen am Urtext den Horizont für die gesamte biblische und apokryphe Tradition der Geschichtsapokalypsen inklusive der Kommentare bis 1600. Unter diesen Geschichtsapokalyptikern ragt der selige Zisterzienserabt Joachim von Fiore hervor, der 1202 gestorben ist.

Außerdem sind Sie fasziniert von den alten lateinischen und orientalischen Liturgien. Sie hatten schon vor Ihrem Abitur zu diesem Thema geforscht, indem Sie 5.000 mittelalterliche Glockeninschriften unter die Lupe nahmen. Denn Glockeninschriften haben meist auch einen Bezug zur gefeierten Liturgie und zum Glauben. Das Wirken des Heiligen Geistes beleuchteten Sie in einer ersten Schrift 1957 unter dem Titel „Der Heilige Geist in der lateinischen Liturgie“. Für die Formgeschichte des Neuen Testaments bezogen Sie sich auf Erkenntnisse der Religionsgeschichte wie auch der antiken Rhetorik und Ästhetik. Sie stellten aber klar, dass diese formgeschichtliche Methode sich nicht eignet, Berichte und Erzählungen des Neuen Testaments in „echt“ oder „unecht“ aufzuteilen.

Theologische Grundlinien

Hier sind wir schließlich bei Ihren theologischen Grundlinien:

1. Die Theologie muss sich immer als die Stimme eines Rufenden verstehen. In diesem Gehorsam ist sie gesandt, das je größere Wort Gottes gleichsam in den begrenzten Verständnishorizont der Menschen zu heben, mit dem Wissen, dass der Rufende der eigentliche Autor bleibt und die Stimme nur sein Werkzeug ist. Er ist nur der Übersetzer.

2. Religionsgeschichte und Liturgiegeschichte gehen daher Hand in Hand bei dem Unternehmen, das Neue Testament von seiner Entstehungs- und Wirkungsgeschichte her zu deuten.

3. Das Übersetzen muss Schritt um Schritt versuchen, die Fremdheit immer mehr zu verstehen, ohne sie jedoch zu verdrängen oder zu überspielen. Diese Fremdheit des Wortes Gottes bewirkt vielmehr, dass das Wort Gottes niemals veraltet und deshalb nie als zeitbedingt abgewertet werden darf.

4. Der an den Naturwissenschaften orientierte Positivismus des 19. Jh. ist daher, wie Sie oft betonten, als Rahmen für das Verständnis des Neuen Testaments ungeeignet. Insbesondere empfanden Sie es als Ärgernis, dass auf dieser Basis das im Neuen Testament Berichtete seitenweise als unhistorisch und als Märchen oder Dichtung abgetan wurde. Ihre Frage ist stets: Seit wann ist kausale Erklärbarkeit der Maßstab für Wirklichkeit?

Und Sie erläutern dies, indem Sie darauf hinweisen, dass schon die schlichteste Liebesgeschichte mit Kausalität nicht erklärbar ist, geschweige denn biblische Kategorien wie Wunder, Erwählung, Verstockung oder Sendung. Auch der „Heilige Geist“ als Forschungsthema lässt sich hier einordnen, denn er weht, wo er will. Diese biblischen Gegebenheiten verstehen Sie nicht als Phantasieprodukte, sondern als mystische Fakten, also als etwas, das in der Geschichte wirkt, ohne kausal erklärt werden zu können. Aber wenn es Gottes Art ist, wie Nicolaus Cusanus erklärt, gewissermaßen in oder hinter unserem Rücken zu wirken, das Nicht-Andere zu sein, dann wirkt Gott eben oft anders als nach den Naturgesetzen.

Umgang mit der Heiligen Schrift

In Ihrem Buch „Die Bibelfälscher: Wie wir um die Wahrheit betrogen werden“ (2013) haben Sie so eine Generalabrechnung mit dem positivistischen, moralisierenden, liberalen Protestantismus vorgelegt.

Ihre Vorliebe für die jüdische Herleitung neutestamentlicher Aussagen trifft sich hier mit der strengen und durchgängigen Forderung nach der historischen Basis. Hatte doch die liberale Theologie all das als unhistorisch bezeichnet, was nicht rational erklärbar war und sich – wie Sie, lieber Herr Professor, es schrieben – selbst für die Jesusworte so entschieden, dass die wenigen echten auf einer Postkarte unterkommen könnten. Der leidige Rest sei eben Mythologie gewesen. Sie hingegen haben die „Theologie des Neuen Testaments“ auch als Theologiegeschichte verstanden. Denn Theologie als luftige Spekulation, das läge Ihnen zu nahe an Hegel. Die konkrete, an den Texten ausweisbare Traditionsgeschichte ist hier das dynamische Brückensystem zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Neuem Testament und Kirchengeschichte.

In Ihrem Verhältnis zur Systematischen Theologie und Dogmatik erkennen Sie in aller Demut, dass die Exegeten zwar Hypothesen zur Deutung vorlegen können, letztlich aber die Kirche in ihrem Lehramt in der Treue zur regula fidei, zum Credo der Kirche, die Einheit der Offenbarung bezeugt. Offenbarung wird so zum lebendigen Wort Gottes in der Verflechtung von Wort und Zeuge und Glaubensregel.

Wie Sie auch zeigten, unterscheidet sich hier die katholische Schriftauslegung von der Sicht der meisten Protestanten. Sie sagen dies ganz einfach: „Der Exeget ist kein Bischof.“ Daher gilt: „Der wahre Ort der Schriftauslegung ist die Liturgie.“ Hinter dieser Aussage steht das theologische Axiom Lex orandi – lex credendi; das heißt übersetzt: „Das Gesetz des Betens entspricht dem Gesetz des Glaubens.“ Dieser Grundsatz von Prosper von Aquitanien (5. Jh.) ist ein altes Prinzip der kirchlichen Liturgie: Die Kirche betet so, wie sie glaubt, und „glaubt so, wie sie betet“ (vgl. KKK 1124). Diese Harmonie zwischen Glaube und Gebet führt uns zum Grundsatz, dass der gefeierte Glaube in der Liturgie zugleich schön ist und daher der Kunst nahesteht und sie beflügelt.

Augustin-Bea-Preisträger

Lieber Herr Professor, als Abt von Heiligenkreuz – mit seinen Prioraten in Bochum-Stiepel, Neuzelle und Wiener Neustadt sowie mit einer Gründung in Sri Lanka – gratuliere ich Ihnen auch im Namen meiner Mitbrüder von ganzem Herzen zur Verleihung des Kardinal-Augustin-Bea-Preises. Sie stehen in einer Reihe von renommierten Preisträgern mit dem Generalsekretär des Weltkirchenrats Willem A. Vissert Hooft, Schwester Karoline Mayer SSpS (Chile), dem Sozialethiker Johannes Messner, den Kardinälen Joseph Frings, Joseph Ratzinger und Joachim Meisner, den Erzbischöfen Isidore de Souza (Benin) und Johannes Dyba sowie den Professoren Hans Urs von Balthasar, Paul Kirchhof, Anton Rauscher, dem Bischöflichen Hilfswerk Misereor – und nun auch Sie, lieber Herr Prof. Klaus Berger.

Wenn der Herrgott Ihnen die Chance schenkt, könnte Ihr letztes Buch einmal heißen – wie Sie mir verrieten –: „Stille. Das Neue Testament inmitten der Religionsgeschichte des Schweigens.“ Und auch das wäre dann wieder gut monastisch. Und so möchte ich enden mit einem Wort unseres Ordensvaters, des hl. Bernhard von Clairvaux, im 900. Jubiläumsjahr der Carta Caritatis, der Carta der Liebe, dem Grundgesetz unseres Ordens: Scientia sine caritate inflat – Wissenschaft ohne Liebe bläht auf. Scientia cum caritate aedificat – Wissen mit Liebe baut auf.[4]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Wolfgang Buchmüller/Christoph Böhr/Hanna-B. Gerl-Falkovitz (Hg.): Ambo/Jahrbuch der Hochschule Heiligenkreuz 2020 (5. Jg.): Das Gute, Wahre und Schöne. Zur Aktualität der Lehre von den Transzendentalien, 644 S., HC, ISBN 978-3-903602-11-3, 24,90 Euro; Tel.: +43(2258)8703-400, Mail: bestellung@bebeverlag.at – www.klosterladen-heiligenkreuz.at
[2] Klaus Berger: Unveröffentlichtes Manuskript, Nikolausvorlesung 1987: Mit 16 „historisch-kritischen Beweisen“ versucht Klaus Berger, seinen Vergleich zwischen dem hl. Nikolaus und Karl Barth zu untermauern.
[3] www.swp.de/suedwesten/staedte/geislingen/gedanken-zum-sonntag_-der-beweis-aus-der-schokoladenheit-22455295.html (14.02.2020).
[4] Vgl. 1 Kor 8,1. Vgl. Bernhard von Clairvaux: Sermones super Cantica Canticorum, Sermo VIII, in: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch/ deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler, Bd. V, Innsbruck 1994, 124f., sowie: Bernhard v. Clairvaux: Sent III, 109, in: B. von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler, Bd. IV, Innsbruck 1994, 618f.

Klassiker der spirituellen Literatur aus dem 14. Jhdt.

Gott in der „Wolke“ begegnen

Peter Dyckhoff hat sich durch viele Schriften zum Ruhegebet um das kontemplative Gebet im Alltag verdient gemacht. Mit der nun vorliegenden Übertragung der „Wolke des Nichtwissens“,[1] verfasst von einem englischen Kartäusermönch des 14. Jahrhunderts, der namentlich nicht bekannt ist, in ein zeitgemäßes Deutsch legt er seinen Lesern einen weiteren geistlichen Schatz ans Herz. Ende des 14. Jahrhunderts in England zuerst erschienen, wurde der Text im 20. Jahrhundert aufgrund seiner psychologischen Kenntnis zu einem wichtigen Leitfaden für viele Christen, die in ihrem Alltag Gott begegnen wollen.

Von Peter Dyckhoff

Kostbarkeit aus dem 14. Jahrhundert

Die geistliche Schrift „Wolke des Nichtwissens“ aus dem England des 14. Jahrhunderts galt lange als verschollen. Papst Clemens VII. weigerte sich seinerzeit, die Ehe von König Heinrich VIII. für nichtig zu erklären. Daraufhin beschlossen die englischen Bischöfe am 11. Februar 1531, die Autorität des Papstes im Königreich England nicht länger anzuerkennen. Sie erklärten, dass ihr König nunmehr Oberhaupt der katholischen Kirche in England sei, die sich von diesem Zeitpunkt an anglikanische Kirche nannte. Klöster wurden enteignet, kostbare Wertgegenstände dem König zugeführt und vor allem wertvolle alte Schriften konfisziert oder gar vernichtet. Zum Glück entging die „Wolke des Nichtwissens“ diesem Schicksal, sodass die Schrift im 19. Jahrhundert mit der Wiederbelebung der römisch-katholischen Kirche in England wieder auftauchte und uns heute in ihrer Originalsprache zur Verfügung steht.

Werk eines englischen Kartäusermönchs

Gemäß mittelalterlichem Brauch legte der Autor keinen Wert darauf, seinen Namen der Nachwelt zu überliefern. Es gelang bisher trotz vieler Versuche nicht, ihn zu identifizieren. Einige Einzelheiten zu seiner Person lassen sich jedoch aus seinem Werk ableiten. In seinem Stil und in seiner Aussage ist es ein literarisches Zeugnis von großer Schönheit. Es gehört zu den besten Klassikern der geistlichen Literatur in englischer Sprache. Sein Sprachstil lässt erkennen, dass der Autor im Nordosten Mittelenglands zu Hause war.

In der umfangreichen Erzählung und Auslegung der Perikope „Maria und Marta“ (vgl. Lukas 10,38-42) wird deutlich, welch ungewöhnlich feines Sprachbewusstsein der Autor besaß. Das Wesentliche aber, zu dem die Übung der „Wolke des Nichtwissens“ führt, liegt jenseits der Sprache im sprachlosen Schweigen.

Der Autor lebte als Mystiker, Theologe und Seelenführer im England des 14. Jahrhunderts und schrieb in mittelenglischer Volkssprache. Er zog es vor, sein Leben lang in der Anonymität zu bleiben, was ihm auch gelang. Seine Schrift muss er um 1390 geschrieben haben. Man weiß heute auch, dass er dem bekannten englischen Mystiker und Augustiner-Chorherrn, Walter Hilton (1340-1396), persönlich begegnet ist. In dessen Hauptwerk „Die Leiter der Vollkommenheit“ finden sich Aussagen, die der Autor der „Wolke“ ebenso geschrieben haben könnte.

Die Aufarbeitung der Quellen, aus denen der Autor schöpfte, und die handschriftliche Überlieferung führten in der Forschung inzwischen zu einem Konsens: Der anonyme Autor dürfte mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ein Kartäusermönch aus der Kartause Beauval in Yorkshire gewesen sein. Er war ein im geistlichen Leben erfahrener Priester, der von verschiedenen Menschen schriftlich um geistliche Begleitung gebeten wurde. Für junge Ordensmitglieder, aber auch für einen größeren Kreis von Lesern geistlicher Literatur verfasste er mit der „Wolke des Nichtwissens“ ein Werk, das selbst den höchsten Ansprüchen genügte.

Literarische Quellen

Das Werk ist ein Zeugnis christlicher Tradition, die sich in der mystischen Erfahrung des Apostels Paulus gründet. Für alle, die das Ruhegebet beten oder sich mit dem Hesychastischen Gebet – wie es auch genannt wird – und den Wüstenvätern beschäftigt haben, ist sofort zu erkennen, dass ihm die Weisungen zum Gebet von Johannes Cassian (360-435) zugrunde liegen. An erster Stelle stehen die völlige Loslösung des Menschen von allen beengenden und bedrängenden Bindungen und die unbedingte Hingabe an Gott. Diese Gebetsweise verlangt, alles begriffliche Denken aufzugeben.

Der Autor empfiehlt genau wie Johannes Cassian, ein zu wiederholendes heiliges Wort anzuwenden, damit das gedankenfreie Beten erreicht werden kann. Über diese Gebetstradition hinaus wird der Schüler in der „Wolke des Nichtwissens“ angewiesen, über das Alltagsbewusstsein – mit all seinen Wünschen, Gedanken, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gefühlen – eine „Wolke des Vergessens“ zu breiten. Dieses Aufgeben all dessen, was den Betenden eher äußerlich ausmacht, geschieht durch die Wiederholung eines heiligen Wortes in Verbindung mit einem Impuls der Liebe, der vom Betenden ausgeht und zu Gott aufsteigt.

Diese Liebe ist ein Gnadengeschenk, das dem Betenden unverdient zufließt und es möglich macht, die „Wolke des Vergessens“ auszubreiten. Das Ziel der menschlichen Seele ist es, hier Gott zu begegnen und einmal mit ihm vereint zu werden. In der „Wolke des Nichtwissens“ über mir – zwischen Gott und mir – und der „Wolke des Vergessens“ unter mir – zwischen mir und allem Geschaffenen – befinde ich mich im mystischen Schweigen.

Der Text steht ganz in der geistlichen Tradition des Christentums, dessen geistliche Mitte Jesus Christus ist. Die Mystik der „Wolke des Nichtwissens“ basiert damit ausschließlich auf dem Fundament christlichen Glaubens und hat die Liebeshingabe der Seele an Gott zum Inhalt. Die Argumentationsweise des Autors der „Wolke“ zeigt sehr deutlich, dass er über eine große theologische Bildung verfügt haben muss. Weitere Quellen, die er außer den Werken von Johannes Cassian benutzte, sind theologische Gedanken und Weisungen von Augustinus, Dionysius Areopagita, Richard von St. Victor, Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin.

Eine wichtige Rolle spielten für den Autor die Werke der Kirchenväter und unter ihnen ganz besonders die des Gregor des Großen. Der Mensch, der eine Gottesbegegnung ersehnt, wird ermutigt, im Verzicht auf seine eigene Erkenntnisfähigkeit in der undurchdringlichen Dunkelheit, das heißt in der „Wolke des Nichtwissens“, auf das Licht der göttlichen Gegenwart zu hoffen. Das Bild von der „Wolke des Nichtwissens“ hat seinen biblischen Ursprung in der Begegnung des Mose mit Gott in der Wolke auf dem Berg Sinai. Gregor der Große war der Erste, der das Bild der dunklen Wolke, die den Gipfel des Berges Sinai umhüllte, aufgriff und literarisch verarbeitete. Die dunkle Wolke ist für ihn Sinnbild für die Unvollkommenheit und Gebrechlichkeit des zur Sünde neigenden Menschen. Durch diese Wolke wird der Mensch daran gehindert, Gott zu schauen.

Das Bild der Wolke auf dem Berg Sinai

Der Titel der Schrift zeigt das zentrale Anliegen des Autors, indem er einerseits an die biblisch bezeugte Gegenwart Gottes in der Wolke über dem Sinai erinnert und sich andererseits auf die völlige gefühlsmäßige und gedankliche Loslösung des Menschen von seinem Alltagsbewusstsein bezieht.

Dann stieg Mose auf den Berg und die Wolke bedeckte den Berg. Die Herrlichkeit des Herrn nahm Wohnung auf dem Berg Sinai und die Wolke bedeckte den Berg sechs Tage lang. Am siebten Tag rief er mitten aus der Wolke Mose herbei. Mose ging mitten in die Wolke hinein (Exodus 24,15-16.18a).

Nach der Gottesbegegnung verlässt Mose verändert den Gipfel des Berges; er steigt hinunter in die Alltagsebene zu den Seinen – erfüllt vom Wissen um den tiefen Sinn und die Ordnung des Lebens. Dieses Bild der Wolke gibt dem Werk seinen Inhalt: die Begegnung und die Einigung des Menschen mit Gott, bei der der Mensch über den Erkenntnisbereich der begreifenden Vernunft hinauswächst. Hier kann er Gott jenseits aller Wahrnehmung wahrnehmen. Doch zunächst befindet sich eine „Wolke des Nichtwissens“ zwischen Gott und dem Menschen. Sie hindert uns daran, Gott im Licht des Verstehens zu sehen, anstatt ihn in liebender Zuneigung zu erfahren. Obwohl wir diese „Wolke des Nichtwissens“ nicht auflösen können, so hindert sie uns nicht an einer liebenden Vereinigung mit Gott bereits in diesem Leben.

Indem wir lesen, nachdenken und beten, können wir die Wolke nicht wirklich durchdringen. Doch ein hingebender Liebesimpuls in Form eines kurzen heiligen Wortes ist ein Schild, das die störenden Gedanken nicht mehr zulässt, und ein Speer, mit dem man in die „Wolke des Nichtwissens“ eindringt. Nur durch die Liebe ist es möglich, das Dunkel der Wolke zu durchdringen und durch liebende Hingabe Gottes Gegenwart zu erfahren.

Eintreten in die „Wolke des Nichtwissens“

Der Inhalt des Buches ist durch und durch praxisbezogen und gibt eine wunderbare und leichte Einübung in diese Gebetsweise. Sie wurde auf der Grundlage der Werke des Johannes Cassian (Ruhegebet) entwickelt und durch die Hinzufügung eines Liebesimpulses erweitert. Der Autor bittet den Leser, sich nach der ersten Lektüre des Buches in mehreren Schritten darüber klar zu werden, ob diese Weise des Betens für ihn in seiner augenblicklichen Lebenssituation infrage kommt. Wenn ja, sollte sich jetzt der Betende vom Autor an die Hand nehmen lassen und dieses Gebet in kleinen Schritten durch nochmalige intensive Lektüre erlernen.

Wahrscheinlich werden sich jetzt andere und tiefere Zusammenhänge offenbaren, die es einfach machen, den notwendigen Schritten zu folgen. Ein erster Teil wird der „Wolke des Vergessens“ gewidmet, in dem man lernt, die Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle hinter sich zu lassen, um den Raum des Schweigens zu betreten. Immer wieder betont der Autor, dass der Aufstieg auf den Berg und das Eintreten in die Dunkelheit der Wolke ein reines Gnadengeschenk Gottes an den Menschen ist und wir durch unser Wollen und unsere Leistung hier nichts erreichen können.

Die Übung, in die „Wolke des Nichtwissens“ einzutreten, wird für den Betenden zur Nachfolge Christi, der auf dem Kreuzweg seiner Kleider beraubt und in das Kreuzesdunkel eintreten musste. Hier erlebte der Herr bereits die Auferstehung von den Toten und für immer das ewige Leben. Der überall und ewig seiende kosmische Christus ist die Mitte und das Ziel dieser hier beschriebenen Gebetsweise. Der Betende vollzieht diese einzelnen Schritte, ohne sie sich im Einzelnen vorzustellen: Er entkleidet sich seiner Gedanken und tritt – geführt durch einen Impuls der Liebe – in das Gebetsdunkel ein, indem er die „Wolke des Nichtwissens“ durchstößt. Wenn der Herr den Betenden durch seine Gnade unterstützt, so erfahren die menschlichen Sinne dieses Dunkel als „Nichts“, die Seele dagegen erfährt es als „Alles“.

Wolfgang Riehle (1937-2015), ein Fachmann mittelalterlicher geistlicher und mystischer Literatur, schreibt: „Eine besondere geistige Verwandtschaft besteht schließlich auch zwischen der Wolke und der Mystik des Johannes vom Kreuz, bei dem das Thema der dunklen Seelennacht seine stärkste sprachliche Gestaltung erfahren hat.“

Wie Mose immer wieder vom Gipfel der Gotteserfahrung neu und tief beschenkt in das Tal zu den Seinen herabsteigen musste, so müssen auch wir neben unserem Beten in der vom Autor der „Wolke“ beschriebenen Weise den Alltag bestehen. Dies wird uns erfolgreich und gut gelingen, wenn wir immer wieder durch die „Wolke des Vergessens“ in die „Wolke des Nichtwissens“ eintauchen und reich beschenkt in unsere Alltagswirklichkeit zurückkehren.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
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[1] Peter Dyckhoff: Wolke des Nichtwissens. Eintauchen in geistliches Leben, geb., 208 S., ISBN 978-3-451-38584-1, Euro 20,00 (D), eBook Euro 14,99 – Bestell-Hotline: +49 761 2717300; E-Mail: kundenservice @herder.de – www.herder.de

Eine neue Biografie über Mutter Julia Verhaeghe

Die Kirche lieben

P. Dr. Hermann Geißler FSO, selbst Mitglied der geistlichen Familie „Das Werk“, hat eine neue Biografie der Gründerin Julia Verhaeghe (1910-1997) vorgelegt.[1] Er beschreibt sie als eine Frau, die keine besondere Ausbildung, keine gute Gesundheit und keine materiellen Mittel besaß. Doch hatte sie ein unerschütterliches Vertrauen auf die Vorsehung Gottes. „Der heilige Franziskus war mit der Armut verheiratet; ich bin mit der Vorsehung verheiratet“, so konnte sie sagen. Bischof Philip Boyce OCD, ihr langjähriger geistlicher Begleiter, schrieb: „Sie verschenkte ihr Leben für die heilige Kirche. Ihre Sendung war es, durch die Weitergabe des Charismas, das sie erhalten hatte, und die Mitwirkung an der Rettung von Seelen den mystischen Leib Christi schöner zu machen. Dies war die Leidenschaft ihres Lebens. Sie ist wirklich eine Tochter der Kirche, eine Mutter vieler Seelen.“

Von Hermann Geißler FSO

Gibt es nicht zu viel Schmutz, zu viele Sünden, zu viele Skandale in ihr? Ist die Kirche nicht manchmal eher ein Ärgernis für die Menschen als ein Zeichen der Nähe Gottes?

Julia Verhaeghe, 1910 in Belgien geboren, spürte schon in jungen Jahren, wie der Herr sie an sein von Liebe brennendes Herz zog. Er weckte in ihr den Durst nach Seelen und eine innige Liebe zur Kirche. Als um sie herum eine Gemeinschaft entstand, schrieb sie: „Gott hat mich vom Zeitgeist geheilt, aus ihm gerettet und in mir eine große Liebe zur Kirche, dem mystischen Leib Christi, entzündet. Ich habe nichts gegründet. Seit Jesus Christus die heilige Kirche gegründet hat, ist alles gegründet. Er braucht nur Menschen, die diese Gründung gründlich leben.“

In der neuen Biografie mit dem Titel „Sie diente der Kirche“ versuche ich, einen umfassenden Einblick in den Lebensweg von Mutter Julia und in die von ihr gegründete und von Johannes Paul II. päpstlich anerkannte Gemeinschaft zu geben. Alle Teile des Buches – das Aufblühen der Gemeinschaft in Belgien (erster Teil), die internationale Ausbreitung und die damit verbundenen Herausforderungen (zweiter Teil), die innere Entfaltung des Charismas des „Werkes“ (dritter Teil) sowie der Einsatz der Mitglieder in der Neuevangelisierung und die Hingabe von Mutter Julia bis zu ihrem Heimgang 1997 in Bregenz (vierter Teil) – sprechen von einer aufrichtigen und tätigen Liebe zur Kirche.

Dabei standen Mutter Julia klar und deutlich auch die Wunden der Kirche vor Augen: der Mangel an Glauben, das Fehlen an Ehrfurcht vor dem Heiligen, die Uneinigkeit und Gespaltenheit, die Untreue in ihren eigenen Reihen. Schon in den 1950er Jahren sagte sie: „Der Zustand ist ernst, denn es wird eine Zeit kommen, in der Priester und Gottgeweihte wie die Blätter von den Bäumen fallen werden.“ Es kam auch vor, dass sie von Vertretern der Kirche nicht verstanden wurde, und nicht nur einmal ging das „Werk“ durch schwierige Zeiten. Dann rief Mutter Julia immer wieder zum Gebet, zum Opfer und zur Sühne auf: „Das ‚Werk‘ ist ein Charisma, das die Menschen auf die Knie ruft und nicht auf das Podium.“

Ich habe die Biografie mit vielen Zitaten von Mutter Julia angereichert, die das Herz anrühren möchten. Das Buch gibt auch Auskunft über ihre mystische Verbundenheit mit dem leidenden und verherrlichten Herrn. Es beschreibt die Entfaltung einer geistlichen Familie, zu der eine Gemeinschaft von Schwestern und eine Gemeinschaft von gottgeweihten Männern gehören und mit der Gläubige aus verschiedenen Lebensständen verbunden sind. Vor allem aber lädt es dazu ein, die Kirche unerschütterlich zu lieben. „Wie sehr“ – so sagt Mutter Julia – „braucht die heilige Kirche Männer und Frauen, die mit ganzer Seele und mit ganzem Herzen ihre Schätze bewahren, ihre Rechte verteidigen, ihren Gesetzen dienen und sich mit einer selbstlosen Liebe vorbehaltlos hingeben.“ Menschen, denen die Kirche am Herzen liegt, möchte ich mit diesem Buch ermutigen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12/Dezember 2020
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[1] Hermann Geißler FSO: Sie diente der Kirche. Mutter Julia Verhaeghe und die Entfaltung der geistlichen Familie „Das Werk“, Pb., 288 S., bebildert, Euro 12,80, ISBN 978-3-86357-282-2 – Bestell-Tel.: +49 (0) 7563 608 998-0; E-Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de

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