Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Die „Ökumene“ feiert in diesen Tagen ein dreifaches Jubiläum: vor 60 Jahren wurde das Einheitssekretariat des Vatikans ins Leben gerufen, vor 25 Jahren veröffentlichte der hl. Papst Johannes Paul II. seine richtungweisende Ökumene-Enzyklika „Ut unum sint“ und vor 10 Jahren trat Kurt Kardinal Koch seinen Dienst als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen an.

Es ist der hl. Papst Paul VI., der die Weichen für den ökumenischen Weg der katholischen Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil gestellt hat. Wichtigster Mitarbeiter an seiner Seite war der deutsche Kurienkardinal Augustin Bea, der maßgeblich an der Erarbeitung des Konzilsdekrets über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“ beteiligt war. Das Dekret wurde von Paul VI. am 21. November 1964 promulgiert. Vorbereitet wurde es vom „Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen“, das am 5. Juni 1960, also vor 60 Jahren, vom hl. Papst Johannes XXIII. zu diesem Zweck eingerichtet worden war und unter dem Vorsitz Kardinal Beas gearbeitet hatte. Mit seiner Unterstützung bestätigte Papst Paul VI. nach Abschluss des Konzils auch das Sekretariat als ständiges Dikasterium der Römischen Kurie und setzte Bea als dessen Präsidenten ein.

Von Paul VI. gibt es eine bedeutsame Ansprache zur Ökumene, die er am 22. Januar 1969 im Rahmen einer Generalaudienz gehalten hat. Er nahm die Gebetswoche für die Einheit der Christen zum Anlass, um einerseits den Weg der Ökumene als unwiderrufliche Entscheidung der Kirche zu bekräftigen, um andererseits aber auch auf Gefahren in der ökumenischen Praxis hinzuweisen. Besonders deutlich hob er hervor, dass ohne theologische Vertiefung der Glaubenslehre und ohne inhaltliche Auseinandersetzung keine wirkliche Annäherung zu erwarten sei. Seine Worte sind so treffend und ausgewogen, dass sie bis heute volle Gültigkeit besitzen. Wir haben die Ansprache eigens für diese Ausgabe ins Deutsche übersetzt.

Auf dieselbe Herausforderung weist auch Papst Franziskus hin, nämlich auf den für eine fruchtbare Ökumene erforderlichen theologischen Dialog. Wir haben dazu sowohl seine Ansprache an eine evangelische Delegation aus Deutschland im Juni 2018 wiedergegeben, als auch den Brief, den er zum 25jährigen Jubiläum von „Ut unum sint“ am 24. Juni 2020 an Kardinal Koch gerichtet hat. Mit diesem Dokument, so Papst Franziskus, lege er die Ökumene-Enzyklika Johannes Pauls II. dem Volk Gottes erneut vor. Im Brief macht er auch auf die neue Initiative des Einheitsrats aufmerksam, nämlich eine Sammlung von ökumenisch relevanten Texten, die 1919 zum ersten Mal unter dem Titel „Acta Œcumenica“ veröffentlicht worden ist und eine unermessliche Fundgrube für die ökumenische Arbeit darstellt. Außerdem kündigte der Papst für Herbst ein „Vademecum zur Ökumene“ an, einen Leitfaden für Bischöfe zur Ausübung des Dienstes an der Einheit.

Eine besondere Freude und Ehre ist für uns das ausführliche Interview, das uns Kurt Kardinal Koch aus Anlass der drei Jubiläen gewährt hat. An ihm schätzen wir außerordentlich, dass er im Geist des Aufbruchs immer wieder mutige Schritte in die Zukunft wagt, aber gleichzeitig mit Augenmaß vorgeht, um keinen Schaden anzurichten, sondern der Sendung der Kirche wirklich fruchtbar zu dienen. In diesem Sinn hat er auch deutlich zum Ausdruck gebracht, worauf es beim „Synodalen Weg“ der Kirche in Deutschland nun ankommt.

Liebe Leser, wir empfehlen Ihnen auch die Impulse für einen „Neubeginn aus Corona“ und wünschen Ihnen von Herzen Gottes reichsten Segen. Vergelt’s Gott für Ihre großherzige Unterstützung, auf die wir zur Weiterführung unseres Apostolats angewiesen sind!  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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Interview mit Kurt Kardinal Koch

Im Dienst der Einheit

Seit 10 Jahren ist Kurt Kardinal Koch Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Er kann auf eine bewegte und fruchtbare Zeit zurückblicken. Unter seiner Verantwortung wurden historische Begegnungen wie das Treffen von Papst Franziskus mit dem Russisch-Orthodoxen Patriarchen Kyrill am 12. Februar 2016 auf Kuba oder das Reformationsgedenken am 31. Oktober 2016 im schwedischen Lund vorbereitet und durchgeführt. Zahlreiche gemeinsame Erklärungen hat er federführend ausgearbeitet. Weltweit wird er als einfühlsamer Gesprächspartner und prophetische Stimme geschätzt. Im Interview mit KIRCHE heute legt er dar, worauf es heute ankommt, und nimmt dabei auch den „Synodalen Weg“ in den Blick.

Interview mit Kurt Kardinal Koch

Kirche heute: Eminenz, in der Öffentlichkeit sind Sie als „Ökumene-Minister“ des Vatikans bekannt. Und Sie konnten in diesen Tagen eine ganze Reihe von Jubiläen feiern. Beginnen wir mit Ihrer Person. Am 1. Juli 2010 hat Sie Papst Benedikt XVI. zum Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen ernannt. Es sind also nun 10 Jahre, dass Sie dieses Amt bekleiden. Was waren die herausragenden Momente, die Sie in dieser Zeit erleben durften?

Kardinal Koch: Ich bin Papst Benedikt XVI. dankbar, dass er mir diese Verantwortung anvertraut, und auch Papst Franziskus, dass er mich in dieser Aufgabe bestätigt hat. Es ist schön, im Namen und Auftrag dieser Päpste zu arbeiten; denn beide haben ein offenes Herz für das ökumenische Anliegen. An vielen ökumenischen Initiativen und Ereignissen der beiden Päpste konnte ich in den vergangenen zehn Jahren teilnehmen und auch etwas mitwirken. Ich denke etwa an die wichtigen Besuche von Papst Benedikt XVI. in England mit der Begegnung mit der Anglikanischen Gemeinschaft und in Erfurt, wo Martin Luther gewirkt hat, oder an die Teilnahme von Papst Franziskus am Gemeinsamen Reformationsgedenken im schwedischen Lund oder an seine historische Begegnung mit dem Russisch-Orthodoxen Patriarchen Kyrill in Havanna in Cuba. Ich empfinde diese Arbeit nicht immer als leicht, aber als sehr bereichernd und darf dabei immer wieder die Erfahrung machen, dass man bei der ökumenischen Arbeit mehr geschenkt erhält als man selbst zu geben vermag.

Was dürfen wir vom Dialog mit der Russisch-Orthodoxen Kirche in Zukunft erwarten? Wird es aus Ihrer Sicht eine weitere Annäherung geben?

Die fünfzehn autokephalen oder autonomen Orthodoxen Kirchen haben entschieden, dass unser theologischer Dialog über Glaubensfragen nicht bilateral, sondern mit allen Orthodoxen Kirchen gemeinsam geführt werden soll. Daneben pflegen wir auch ökumenische Beziehungen mit einzelnen Orthodoxen Kirchen. Mit der Russisch-Orthodoxen Kirche haben wir eine intensive Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet in der Durchführung von Konzerten, Ausstellungen und anderen gemeinsamen Projekten, und wir haben dazu eine eigene gemischte Arbeitsgruppe eingerichtet. Eine sehr wichtige Initiative besteht in der Durchführung von Studienwochen für orthodoxe Priester in Rom und für katholische Priester in Moskau. Denn für die Zukunft der Ökumene ist eine bessere Kenntnis der je anderen Kirche bedeutsam. Sie hilft, Vorurteile, die von der Vergangenheit her bestehen, zu überwinden und einander besser zu verstehen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um fruchtbare Dialoge führen zu können.

Auch das Dikasterium, dem Sie vorstehen, feiert ein Jubiläum. Am 5. Juni 1960, dem Pfingsttag, wurde es von Papst Johannes XXIII. unter dem Namen „Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen“ errichtet. Zunächst war es ja nur als Vorbereitungskommission für das Zweite Vatikanische Konzil gedacht, doch nach Abschluss des Konzils bestätigte es Papst Paul VI. als ständige Einrichtung der Römischen Kurie. In diesem Sinn dürfen wir auf eine 60-jährige Geschichte des Einheitsrates zurückblicken. Worin sehen Sie die wichtigsten Ergebnisse seiner Arbeit seit seiner Gründung?

Papst Paul VI. ist überzeugt gewesen, dass die ökumenische Annäherung zwischen den getrennten Christen und Kirchen eines der zentralen Ziele, gleichsam das geistige Drama gewesen ist, um dessentwillen das Konzil einberufen worden ist, und dass dieses Anliegen auch nach dem Konzil weiter verfolgt werden muss. Von daher versteht es sich von selbst, dass der Papst das Sekretariat nach dem Konzil als ein permanentes Dikasterium der Römischen Kurie eingerichtet hat. Im Jahre 1988 ist es dann von Papst Johannes Paul II. in einen Päpstlichen Rat umgewandelt worden. Ihm obliegt die Aufgabe, mit allen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften theologische Dialoge mit dem Ziel zu führen, die in den verschiedenen Spaltungen in der Geschichte verlorene Einheit der Kirche wiederzufinden. Aus solchen Dialogen konnten viele positive Früchte geerntet werden, wobei Papst Johannes Paul II. die reifste Frucht in der unter den Christen „wiederentdeckten Brüderlichkeit“ gesehen hat. Denn die zahlreichen Begegnungen, die verschiedenen Gespräche und die wechselseitigen Besuche zwischen verschiedenen christlichen Gemeinschaften haben ein Netz von freundschaftlichen Beziehungen entstehen lassen, das das tragfähige Fundament auch für die theologischen Dialoge bildet.

Sie haben in diesen Tagen zum Ausdruck gebracht, dass eine Ökumene keine wirklichen Fortschritte machen könne, solange sich die Partner nicht auf eine gewisse Zielvorgabe einigten. Welche Ziele haben Sie vor Augen? Was müsste man in der Ökumene gemeinsam anstreben, um der sichtbaren Einheit näher zu kommen?

„Wir brauchen eine gemeinsame Schau, weil wir uns weiter auseinanderleben, wenn wir nicht auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind. Verstehen wir unter diesem Ziel Entgegengesetztes, dann bewegen wir uns, wenn wir konsequent sind, notwendigerweise in entgegengesetzte Richtungen.“ Diese klare Wegweisung hat die Römisch-katholische/Evangelisch-lutherische Kommission bereits im Jahre 1980 ausgesprochen, und sie bleibt nach wie vor aktuell. Wenn nämlich die verschiedenen Partner in der Ökumene kein gemeinsames Ziel vor Augen haben, besteht die große Gefahr, dass sie in verschiedenen Richtungen voranschreiten, um nachträglich entdecken zu müssen, dass man sich möglicherweise noch weiter als bisher voneinander entfernt hat. Es ist deshalb wichtig, sich darüber zu verständigen, was zur Einheit der Kirche wesentlich gehört. Die katholische Kirche erblickt das Ziel der Ökumene in der sichtbaren Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den kirchlichen Ämtern.

Wie beurteilen Sie den ökumenischen Weg überhaupt, wie er sich derzeit abzeichnet? Was schwebt Ihnen auf dem Hintergrund Ihrer langjährigen Erfahrung vor?

Die Ökumenische Bewegung ist von allem Anfang an eine Gebetsbewegung gewesen. Wie Jesus in seinem hohepriesterlichen Gebet den Vater für seine Jünger gebeten hat, „dass alle eins seien“, so ist auch das Gebet um die Einheit der Christen das entscheidende Vorzeichen aller ökumenischen Bemühungen. Denn wir Menschen können die Einheit nicht machen, wir können sie nur von Gott als Geschenk empfangen; und die beste Vorbereitung dafür ist das Gebet um die Einheit. Die Ökumenische Bewegung ist zweitens eine Missionsbewegung gewesen. Denn die Ökumene ist kein Zweck in sich selbst, sondern dient der Glaubwürdigkeit der christlichen Verkündigung in der heutigen Welt. Und die Ökumenische Bewegung ist drittens eine Umkehrbewegung gewesen. Nur wenn sich alle Christen im Glauben an Christus erneuern lassen und zu ihm umkehren, finden sie auch wieder zueinander. Diese drei Bewegungen des Gebetes, der Mission und der Umkehr haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Ökumenische Bewegung in den vergangenen sechzig Jahren voranschreiten konnte. Sie müssen auch in Zukunft lebendig bleiben, wenn die Ökumenische Bewegung jene Herausforderungen bestehen will, vor denen sie heute steht.

Am 25. Mai 1995, dem Hochfest der Himmelfahrt Christi, veröffentlichte Papst Johannes Paul II. die Enzyklika „Ut unum sint“ über den Einsatz für die Ökumene. Ein weiteres Jubiläum. Nach 25 Jahren hat der Vatikan dieses Lehrschreiben nun als „Meilenstein“ bezeichnet. Inwiefern hat Johannes Paul II. mit diesem Dokument den ökumenischen Weg der Kirche geprägt und zur Einheit der Christen beigetragen?

Ihre Bedeutung besteht zunächst darin, dass zum ersten Mal in der Geschichte ein Papst eine Enzyklika über die Ökumene geschrieben hat. Dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils wollte der Papst in Erinnerung rufen, dass sich die Katholische Kirche „unumkehrbar“ dazu verpflichtet hat, „den Weg der Suche nach der Ökumene einzuschlagen und damit auf den Geist des Herrn zu hören, der uns lehrt, aufmerksam die ,Zeichen der Zeit‘ zu lesen“ (Nr. 3). Da die Bewegung für die Einheit der Christen organisch zum Leben und zum Wirken der Kirche gehört, sind alle Glieder der Kirche im Glauben verpflichtet, an der ökumenischen Suche nach der Wiederherstellung der Einheit der Christen teilzunehmen. Dieses Anliegen ist Papst Johannes Paul II. so wichtig gewesen, dass er es in den von ihm promulgierten neuen Rechtsbüchern für die Lateinische Kirche im Jahre 1983 und für die Orientalischen katholischen Kirchen im Jahre 1990 eigens festgeschrieben hat. Denn das letzte Ziel der Ökumene liegt für den Papst in der „Wiederherstellung der sichtbaren vollen Einheit aller Getauften“ (Nr. 77). Auf dem Weg zu diesem Ziel wollte der Papst mit seiner Ökumene-Enzyklika die Kirche ermutigen.

Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika die Primats-Frage sehr ausführlich behandelt. Er legte dar, dass Jesus selbst dieses Dienstamt an der Einheit eingesetzt und mit Vollmacht ausgestattet habe. Mit den Worten des Apostels Paulus forderte er alle Christen dazu auf, zur „Ordnung zurückzukehren“ (2 Kor 13,11), wie sie dem Willen des Herrn entspricht. Gleichzeitig machte er den anderen Konfessionen das Angebot, miteinander nachzudenken, in welcher Form das Papstamt künftig ausgeübt werden sollte, damit es auch von den getrennten christlichen Gemeinschaften angenommen werden könnte. Welche Perspektive sehen Sie heute, um auf diesem Weg voranzukommen?

Papst Johannes Paul II. ist sich auf der einen Seite bewusst gewesen, dass sein eigenes Amt eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Wiederherstellung der Einheit der Christen darstellt. Er ist auf der anderen Seite ebenso überzeugt gewesen, dass das Amt des Bischofs von Rom eine konstitutive Bedeutung für die Einheit nicht nur der eigenen Kirche, sondern aller Christen hat. In seiner Einladung an alle christlichen Gemeinschaften, sich mit ihm auf einen „brüderlichen geduldigen Dialog“ über das Papstamt einzulassen, hat er deshalb klar unterschieden zwischen dem Wesen dieses Amtes und seiner Sendung, das nicht zur Disposition steht, und der konkreten Art und Weise seiner Ausübung, über die das Gespräch gehen soll, und zwar mit dem Ziel, eine Form der Primatsausübung zu finden, die nicht mehr ein Hindernis, sondern einen Dienst an der Einheit der Christen in der Liebe darstellt. Diese wichtige Einladung an die Ökumene haben auch Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus verschiedentlich aufgegriffen. Sie ist vor allem deshalb eine verheißungsvolle Perspektive, weil die Katholische Kirche überzeugt ist, dass ihr von Christus mit dem Papstamt ein großes Geschenk gemacht worden ist, das sie aber nicht für sich allein behalten darf, sondern der ganzen Christenheit anbieten möchte.

Zum 25. Jahrestag der Ökumene-Enzyklika „Ut unum sint“ hat Papst Franziskus einen offiziellen Brief an Sie gerichtet. Hat Sie das Schreiben überrascht? Was bedeutet es für Sie und Ihre Arbeit?

Ich halte die Enzyklika von Papst Johannes Paul II. für ein wegweisendes Dokument im Blick auf den ökumenischen Auftrag der Kirche. Denn der Papst hat unter der Teilung der Christenheit persönlich gelitten und es als seine Sendung gesehen, zu einer Wende auf die Einheit hin zu kommen und die Suche nach der Einheit aller Getauften gemäß dem Auftrag des Herrn erneut ins Bewusstsein der Kirche zu rufen. Dass Papst Franziskus den 25. Jahrestag der Ökumene-Enzyklika zum Anlass genommen hat, einen Brief an mich zu schreiben, hat mich deshalb sehr gefreut. In diesem Brief nimmt der Heilige Vater auch die Gelegenheit wahr, allen erneut zu danken, die in dem mir anvertrauten Dikasterium gearbeitet haben und arbeiten, um in der Kirche das Bewusstsein für das unverzichtbare Ziel der Einheit wach zu halten und der Versöhnung unter den Christen zu dienen. Diesen Dank des Papstes nehmen wir unsererseits dankbar entgegen, und zwar im Bewusstsein, dass er zugleich Verpflichtung ist, im Auftrag des Papstes und im Dienst an der ganzen Kirche das Anliegen der Einheit der Christen mit allen Kräften weiterhin zu fördern.

Welche Akzente setzt Papst Franziskus in der Ökumene? Welchen Impuls haben die Beziehungen zu den anderen christlichen Konfessionen bislang durch sein Pontifikat erhalten?

Ich möchte vor allem drei Akzente hervorheben. Papst Franziskus ist erstens vor allem die unmittelbare Begegnung zwischen den Christen und den verschiedenen Kirchen und Gemeinschaften wichtig, und zwar in der Überzeugung, dass man in der persönlichen Begegnung bereits Einheit finden kann. Für Papst Franziskus ist es zweitens entscheidend, dass die Christen in verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften gemeinsam auf dem Weg zur Einheit hin unterwegs sind, weil gemeinsam auf dem Weg zu sein bereits bedeutet, Einheit zu leben, wie der Papst es mit den Worten ausdrückt: „Die Einheit wird nicht kommen wie ein Wunder am Ende. Die Einheit kommt auf dem Weg. Der Heilige Geist bewirkt sie im Unterwegssein.“ Drittens betont er immer wieder die „Ökumene des Blutes“. Damit bringt er zum Ausdruck, dass in der heutigen Zeit, in der die Christenheit wegen der vielen Christenverfolgungen erneut Märtyrerkirche geworden ist, alle christlichen Kirchen ihre Märtyrer haben und dass das von ihnen für Christus vergossene Blut uns Christen nicht trennt, sondern eint. Denn mit der Hingabe ihres Lebens haben die Märtyrer die Einheit in Christus bezeugt und gelebt; und wir dürfen hoffen, dass sie uns vom Himmel her helfen, die Einheit des durch viele Spaltungen verwundeten einen Leibes Christi wieder zu finden.

Papst Franziskus fordert immer wieder dazu auf, nicht auf den Konsens der Theologen zu warten, sondern zu handeln. Vielen Katholiken bereitet ein solcher Aufruf Sorgen. Wie muss der Appell des Papstes richtig verstanden werden?

In den Ansprachen von Papst Franziskus finden sich in der Tat Sätze, mit denen er die Bedeutung des theologischen Dialogs für die Suche nach der Einheit relativiert, wenn er beispielsweise die Aussage des Ökumenischen Patriarchen Athenagoras immer wieder gerne zitiert, man solle alle Theologen auf eine Insel schicken, um unter ihnen zu diskutieren, während man auf dem Weg zur Einheit weitergehen solle. Damit will der Papst aber gerade nicht sagen, man solle ungeachtet der noch ungelösten theologischen Fragen so tun, als hätten wir die Einheit heute bereits erreicht. Er will vielmehr betonen, dass man schon jetzt „auf dem Weg zur Einheit“ weitergehen und all das tun soll, was man bereits heute verantwortet tun kann, was bei Papst Franziskus vor allem dreierlei bedeutet: miteinander gehen, miteinander beten und miteinander arbeiten. Der Papst hebt aber immer wieder auch die Notwendigkeit des theologischen Dialogs in den ökumenischen Beziehungen hervor, den er als wichtigen Beitrag zur Förderung der Einheit der Christen unterstützt. So hat er in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios bekräftigt, „dass der theologische Dialog nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Theologie anstrebt, auf dem ein Kompromiss erreicht werden kann“, dass es vielmehr darum geht, „das eigene Verständnis der ganzen Wahrheit, die Christus seiner Kirche geschenkt hat, zu vertiefen – eine Wahrheit, in die wir unaufhörlich weiter eindringen, wenn wir den Eingebungen des Heiligen Geistes folgen.“

Zum 70. Gründungstag hat Papst Franziskus dem Weltkirchenrat in Genf am 21. Juni 2018 einen Besuch abgestattet. Warum ist die katholische Kirche in diesem Rat kein offizielles Mitglied? Was bedeutet das Engagement des Weltkirchenrats für die Ökumene, wie wir sie uns vorstellen?

Im Ökumenischen Rat der Kirchen ist die Katholische Kirche nicht Mitglied, und zwar bereits deshalb nicht, weil sie als größte Kirchengemeinschaft mit etwa 1,3 Milliarden Mitgliedern weltweit die 500 Millionen anderen Christen, die in 350 Gemeinschaften in mehr als 110 Ländern leben und dem Ökumenischen Rat angehören, rein zahlenmäßig überwiegen würde. Schon während der Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils hat die Katholische Kirche aber eine intensive Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen begonnen und im Jahre 1965 die „Joint Working Group“ eingerichtet. Die wichtigste Mitarbeit der Katholischen Kirche findet in der Kommission „Faith and Order“ statt, in der sie Mitglied ist und der die Aufgabe anvertraut ist, Fragen des Apostolischen Glaubens und der Kirchenverfassung zu besprechen und doktrinelle, moralische und strukturelle Divergenzen tragfähigen Lösungen entgegenzuführen. Die Katholische Kirche weiß sich dabei verpflichtet, die sichtbare Einheit als Ziel der Ökumenischen Bewegung immer wieder in Erinnerung zu rufen. Wie bereits die Besuche des Ökumenischen Rates in Genf durch Papst Paul VI. im Jahre 1969 und durch Papst Johannes Paul II. im Jahre 1984 hat auch der Besuch von Papst Franziskus die wichtige Zusammenarbeit der Katholischen Kirche mit diesem Rat bestätigt und den weiteren Weg in die Zukunft ermutigt.

Während sich die Weltkirche darum bemüht, auf dem Weg der Ökumene Fortschritte zu machen, möchte die katholische Kirche in Deutschland ihren Beitrag zur Einheit durch den sog. „Synodalen Weg“ leisten. Doch wurden die Weichen so gestellt, dass das Ergebnis nicht der Einheit dienen dürfte, sondern am Ende zu einer ernsthaften Spaltung führen könnte. Worauf kommt es Ihrer Meinung nach jetzt an, um eine neue Katastrophe ähnlich der Reformation in Deutschland zu verhindern?

Das Wort „synodal“ ist zusammengesetzt aus den griechischen Begriffen „hodos“ = „Weg“ und „syn“ = „mit“ und bringt zum Ausdruck, dass Menschen einen Weg gemeinsam mit anderen zurücklegen. Im christlichen Verständnis bezeichnet dieses Wort den gemeinsamen Weg der Menschen, die an Jesus Christus glauben, der sich selbst als den „Weg“ offenbart hat. Die christliche Religion wurde deshalb ursprünglich als „Weg“ und die Christen, die Christus als dem „Weg“ nachfolgen, als „Anhänger des Weges“ (Apg 9,2) bezeichnet. Damit ist bereits klar, dass „synodal“ nicht mit „demokratisch“ identisch sein kann, worauf Papst Franziskus immer wieder hinweist: Die Synode ist „kein Parlament, wo man sich auf Verhandlungen, auf die Aushandlung von Absprachen oder Kompromissen stützt, um einen Konsens oder eine gemeinsame Vereinbarung zu erreichen. Die einzige Methode der Synode ist dagegen, sich mit apostolischem Mut, evangeliumsgemäßer Demut und vertrauensvollem Gebet dem Heiligen Geist zu öffnen, damit er es sei, der uns führt“. Während Demokratie das Verfahren zur Ermittlung von Mehrheiten darstellt, bedeutet Synodalität, dass solange miteinander gerungen wird, bis Einmütigkeit im Glauben erreicht wird. Im katholischen Glauben bezieht sich Einmütigkeit dabei nicht nur auf die Kirche in einem Land, sondern auch auf die universale Kirche. Wenn man „synodal“ in diesem Sinn beim Wort nimmt, würde ein Weg, der nicht zur Erneuerung im Glauben und zur Stärkung der Einheit, sondern zu einer Spaltung, sei es in der Ortskirche oder sei es in der Beziehung von Ortskirchen zur Universalkirche, führen würde, seinen Namen völlig verfehlen und ihn ad absurdum führen. Denn Synodalität ist das strikte Gegenteil zu Spaltung und Trennung.

Was halten Sie davon, wenn Bischöfe selbst das Frauenpriestertum in Aussicht stellen und dieser Forderung Nachdruck verleihen?

Papst Johannes Paul II. hat klar betont, dass er keine Vollmacht habe, die Tradition der allein Männern vorbehaltenen Priesterweihe zu ändern. Papst Franziskus hat diese Entscheidung mehrmals bestätigt und die Frage der Frauenweihe als eine in der Katholischen Kirche geschlossene Frage bezeichnet. Wer diese von den Päpsten geschlossene Frage dennoch für offen erklärt und Hoffnung auf Veränderung der päpstlichen Entscheidung auf so genannt „synodalem“ Weg macht, steht in der Gefahr, große Enttäuschungen vorzubereiten und die Schuld dafür möglicherweise nach Rom zu delegieren. Zur Synodalität gehört aber unabdingbar die Rechenschaft darüber, worüber entschieden werden kann und worüber nicht.

Kann Ihrer Meinung nach die Frage nach der Interkommunion, insbesondere nach dem Kommunionempfang von evangelischen Christen in der katholischen Kirche, so gelöst werden, dass man sie dem Gewissen der Einzelnen überlässt?

Wenn von Gewissen die Rede ist, muss man sofort hinzufügen, dass es sich um ein im katholischen Glauben gebildetes Gewissen handeln muss, das das Geheimnis der Eucharistie als Sakrament der Einheit kennt. Ein so geformtes Gewissen weiß deshalb auch darum, dass die Teilnahme an der Heiligen Eucharistie nicht nur eine Frage der persönlichen Beziehung zu Jesus Christus ist, sondern auch die Beziehung zur Kirche berührt. In der Sicht des katholischen Glaubens ist die innere Beziehung von Eucharistie und Kirche grundlegend, so dass es keine eucharistische Gemeinschaft ohne kirchliche Gemeinschaft und deshalb in der heutigen ökumenischen Situation keine allgemeine Einladung zur Eucharistie und schon gar keine so genannte Interkommunion geben kann. Bereits dieses Wort bringt ja das ganze Problem zum Ausdruck, dass man Kommunion intendiert, wiewohl sie noch nicht wirklich besteht, sondern eben Inter-Kommunion ist. Die Katholische Kirche hält deshalb am Grundsatz fest, dass man zur Eucharistie in der Kirchengemeinschaft geht, zu der man gehört. Was hingegen den Empfang der Heiligen Eucharistie durch einzelne nichtkatholische Christen betrifft, sieht das Kirchenrecht bei „Todesgefahr“ oder „einer anderen schweren Notlage“, sofern sie „den katholischen Glauben bekunden und in rechter Weise disponiert sind“, Einzelfallregelungen (Can 844 § 4) vor.

Welches Zeugnis für das Priestertum und das Sakrament der Eucharistie ist nun gefordert, um den „Synodalen Weg“ vor dem Abgleiten in ein Schisma zu bewahren?

Auch hier kann die Erinnerung an den ursprünglichen Sinn des Wortes „synodal“ hilfreich sein. Demgemäß besteht das tiefste Wesen der Kirche als synodaler Gemeinschaft in der eucharistischen Versammlung. Eine synodale Kirche lebt vor allem dort, wo sich Christen zur Feier der Eucharistie versammeln, wie die Internationale Theologenkommission in ihrem Dokument „Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche“ hervorhebt: „Der synodale Weg der Kirche wird von der Eucharistie gestaltet und genährt“ (Nr. 47). Dass Synodalität ihren Ursprung ebenso wie ihren Höhepunkt in der aktiven Teilnahme an der eucharistischen Versammlung findet, kommt darin zu sichtbarem Ausdruck, dass synodale Versammlungen wie Konzilien oder Bischofssynoden mit der Feier der Eucharistie und mit der Inthronisation des Evangeliums eröffnet zu werden pflegen. So haben es bereits die Konzilien von Toledo im siebten Jahrhundert vorgeschrieben, um damit zu betonen, dass Synoden vor allem geistliche Prozesse sind und von der Eucharistie als dem Sakrament der Einheit her der Vertiefung kirchlicher Einheit verpflichtet sein müssen. Diesem Ziel der Einheit dient auch die eindeutige Vorgabe der Katholischen Kirche, dass es zur Feier der Eucharistie des Sakraments des priesterlichen Dienstes bedarf. Diese klare Vorgabe beruht darauf, dass die einzelne Gemeinde sich die Eucharistie nicht selbst geben, sondern sie nur von Christus durch die Vermittlung der Kirche empfangen kann. Eucharistie und Priestertum gehören von daher unabdingbar zur Identität der Katholischen Kirche und sind für die Bewahrung und Förderung ihrer Einheit notwendig.

Die Gläubigen sind berufen, gerade in einer solchen Krisenzeit Baumeister der Hoffnung mit einem missionarischen Glaubensgeist zu sein. Welchen Impuls möchten Sie unseren Lesern mit auf den Weg geben?

Eines der Hauptanliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils hat darin bestanden, dass die Kirche wieder missionarischer wird und die Hoffnung des Evangeliums in der heutigen Welt an die Menschen weitergibt. Und alle Päpste nach dem Konzil haben diesen missionarischen Auftrag der Kirche unermüdlich in Erinnerung gerufen. Das Geheimnis christlicher Mission ist im Grunde ganz einfach, und der Volksmund bringt es mit den Worten zum Ausdruck: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“ Wenn uns Christen heute aber so oft der Mund nicht übergeht, dürfte es darin seinen Grund haben, dass unser Herz nicht mehr voll ist. Denn wir können nur weitergeben, wovon wir selbst erfüllt sind. Es ist deshalb angesagt, den eigenen Glauben zu vertiefen und seine Wahrheit und Schönheit wieder zu entdecken. Nur so können wir die Botschaft, die uns Christen geschenkt ist, an unsere Mitmenschen weitergeben. Vertiefung des eigenen Glaubens und Evangelisierung in der heutigen Welt sind in meinen Augen die Gebote der heutigen Kirchenstunde. Sie sind auch die entscheidenden Wege hin auf die Wiedergewinnung der Einheit der Christen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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Brief des Papstes an Kardinal Koch zu 25 Jahre „Ut unum sint“

Ökumenischer Meilenstein

Zum 25. Jahrestag der Ökumene-Enzyklika „Ut unum sint“ hat Papst Franziskus am 24. Mai 2020 einen Brief an Kardinal Kurt Koch, den Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen, geschrieben. Er lege die Enzyklika, in welcher der hl. Papst Johannes Paul II. den ökumenischen Einsatz der katholischen Kirche als „unumkehrbar“ bekräftigt habe, dem Volk Gottes erneut vor, so der Papst. Gleichzeitig kündigte er an, dass im Herbst ein an die Bischöfe gerichtetes Vademecum zur Ökumene veröffentlicht werde, das „Ermutigung wie Leitfaden“ für die Ausübung ihrer ökumenischen Verantwortung sein wolle. Nachfolgend der Brief leicht gekürzt.

Von Papst Franziskus

Legitime Verschiedenartigkeit in harmonischer Einheit

Das Zweite Vatikanische Konzil hat anerkannt, dass die Bewegung für die Wiederherstellung der Einheit aller Christen „unter der Einwirkung der Gnade des Heiligen Geistes entstanden ist“ (Unitatis redintegratio, 1). Es erklärte auch, dass der Heilige Geist „die Verschiedenheit der Gaben und Dienste“ wirkt und „das Prinzip der Einheit der Kirche ist“ (ebd., 2). Die Enzyklika Ut unum sint unterstreicht hierbei, dass „die legitime Verschiedenartigkeit in keiner Weise der Einheit der Kirche entgegensteht, sondern vielmehr ihre Zierde und Schönheit vermehrt und zur Erfüllung ihrer Sendung in nicht geringem Maße beiträgt“ (Nr. 50). Denn „nur der Heilige Geist kann die Verschiedenheit, die Vielfalt hervorrufen und zugleich die Einheit bewirken. […] Er ist es, der die Kirche harmonisiert“, denn, wie der heilige Basilius der Große sagt, „er selbst ist die Harmonie."[1]

Ziel ist die gemeinsame Feier der Eucharistie

An diesem Jahrestag danke ich dem Herrn für den Weg, den wir mit seiner Gnade als Christen auf der Suche nach der vollen Einheit zurücklegen konnten. Auch ich teile die gesunde Ungeduld derer, die zuweilen denken, wir könnten und sollten uns mehr dafür einsetzen. Dennoch darf es uns nicht an Glauben und Dankbarkeit fehlen: In diesen Jahrzehnten wurden viele Schritte getan, um jahrhundertealte bzw. tausendjährige Wunden zu heilen; die gegenseitige Kenntnis und Achtung haben zugenommen und helfen zudem, tief eingewurzelte Vorurteile zu überwinden; der theologische Dialog und der Dialog der Nächstenliebe haben sich weiterentwickelt, ebenso die verschiedenen Formen der Zusammenarbeit im Hinblick des Dialogs des Lebens auf pastoraler und kultureller Ebene. In diesem Augenblick gehen meine Gedanken zu den geliebten Brüdern an der Spitze der verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften; und ich schließe alle Brüder und Schwestern jeder christlichen Tradition mit ein, die unsere Weggefährten sind. Wie die Jünger von Emmaus können wir die Gegenwart des auferstandenen Christus verspüren, der an unserer Seite geht und uns die Schrift erschließt, und ihn beim Brotbrechen erkennen in der Erwartung, miteinander das eucharistische Mahl zu teilen.

Zwei neue ökumenische Initiativen

Erneut danke ich allen, die in Ihrem Dikasterium gearbeitet haben oder arbeiten, um in der Kirche das Bewusstsein für dieses unverzichtbare Ziel wachzuhalten. Insbesondere ist es mir eine Freude, zwei neue Initiativen zu begrüßen. Die erste ist das an die Bischöfe gerichtete Vademecum zur Ökumene, das kommenden Herbst veröffentlicht wird und Ermutigung wie Leitfaden für die Ausübung ihrer ökumenischen Verantwortung sein will. Der Dienst an der Einheit stellt nämlich einen wesentlichen Aspekt der Sendung des Bischofs dar, der „sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit“ in seiner Teilkirche ist (Lumen gentium, 23; vgl. CIC 383 § 3; CCEO 902-908). Die zweite Initiative besteht in der Lancierung der Zeitschrift Acta Œcumenica, mit der der Informationsdienst des Dikasteriums ausgebaut und ein Hilfsmittel für alle, die im Dienst an der Einheit tätig sind, angeboten wird.

Den Heiligen Geist um prophetische Gesten bitten

Auf dem Weg zur vollen Einheit ist es wichtig, sich des zurückgelegten Wegs zu erinnern, doch ebenso den Horizont abzusuchen und sich dabei mit der Enzyklika Ut unum sint die Frage zu stellen: „Quanta est nobis via?“ – „Wie lang ist der Weg, der noch vor uns liegt?“ (Nr. 77). Eines ist gewiss: Die Einheit ist nicht hauptsächlich das Ergebnis unseres Handelns, sondern Gabe des Heiligen Geistes. Sie wird jedoch „nicht kommen wie ein Wunder am Ende. Die Einheit kommt auf dem Weg. Der Heilige Geist bewirkt sie im Unterwegssein“.[2] Rufen wir daher vertrauensvoll den Heiligen Geist an, dass er unsere Schritte leiten möge und dass jeder mit neuer Intensität den Aufruf höre, für die ökumenische Sache zu arbeiten. Er möge uns neue prophetische Gesten eingeben und die geschwisterliche Liebe unter allen Jüngern Christi stärken, „damit die Welt glaubt“ (Joh 17,21) und der Lobpreis des Vaters, der im Himmel ist, vermehrt wird.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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[1] Homilie in der Katholischen Heilig-Geist-Kathedrale, Istanbul, 29. November 2014.
[2] Homilie in der Vesper am Fest Pauli Bekehrung, St. Paul vor den Mauern, 25. Januar 2014.

„Nicht ungestüm vorpreschen, um begehrte Ziele zu erreichen!“

Ökumene erfordert theologischen Dialog

Am 4. Juni 2018 empfing Papst Franziskus eine Delegation der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands unter Landesbischof Gerhard Ulrich, der bis März 2019 die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland geleitet hat. Nach der Audienz resümierte Landesbischof Ulrich: „Für den ökumenischen Weg von Lutheranern und Katholiken weltweit haben wir in den Gesprächen viel Rückenwind erfahren. Wir waren uns einig, dass wir nach 2017 nun die grundlegenden Themen Amt, Eucharistie und Kirche behandeln müssen. Dies sind zentrale Themen für die weitere Annäherung. Sie werden gründlich und eingehend vom Lutherischen Weltbund und dem Vatikan bearbeitet werden, damit daraus Resultate folgen können, die in der gesamten Welt Wirkung entfalten. Dass solche Fragen nicht übereilt gelöst werden, ist selbstverständlich.“ Nachfolgend die leicht gekürzte Ansprache des Papstes.

Von Papst Franziskus

Wunden der Vergangenheit heilen

Gerne erinnere ich mich an die Begegnungen anlässlich des gemeinsamen Reformationsgedenkens im Jahr 2017. Bereits am 31. Oktober 2016 sind wir in Lund (Schweden) zusammengekommen, um im Geist brüderlicher Gemeinschaft das zu begehen, was wegen der Wunden der Vergangenheit Polemik und Missgunst hätte hervorrufen können. Dankbar gegenüber Gott haben wir feststellen dürfen, dass die fünfhundert Jahre einer – zum Teil sehr schmerzlichen – Geschichte, in der wir in gegensätzlichen Lagern und oft im Konflikt miteinander lebten, in den letzten fünfzig Jahren einer wachsenden Gemeinschaft gewichen sind.

Alte Vorurteile überwinden

Dank des Wirkens des Heiligen Geistes, der brüderlichen Begegnungen und der Gesten, die mehr von der Logik des Evangeliums als von menschlichen Strategien geprägt waren, sowie durch den offiziellen lutherisch-katholischen Dialog ist es möglich geworden, alte Vorurteile auf beiden Seiten zu überwinden. Mit Gottes Hilfe hoffen wir auf eine Zukunft, die auf eine völlige Überwindung der Divergenzen zielt. Wir müssen weitergehen.

Vom Gebet ausgehen

Das gemeinsame Reformationsgedenken hat uns bestätigt, dass die Ökumene weiterhin unseren Weg bestimmt. Sie wird immer mehr zu einem Bedürfnis und zu einem Verlangen, wie die verschiedenen gemeinschaftlichen Gebete und ökumenischen Treffen zeigen, die im letzten Jahr überall auf der Welt stattgefunden haben. Vergessen wir nicht, vom Gebet auszugehen, denn es sollen nicht die menschlichen Pläne sein, die den Weg weisen, sondern der Heilige Geist. Nur er kann die Straße eröffnen und die Schritte, die zu unternehmen sind, erhellen.

Gemeinsam die Not der Bedürftigen und Verfolgten lindern

Der Geist der Liebe kann nicht anders, als uns auf die Pfade der Liebe zu führen. Als Christen, Katholiken wie Lutheraner, sind wir vor allem gerufen, „einander von Herzen zu lieben“, weil wir „neu gezeugt worden“ sind „aus Gottes Wort, das lebt und das bleibt“ (1 Petr 1,22-23). Doch sind wir auch gerufen, gemeinsam die Not der Bedürftigen und der Verfolgten zu lindern. Die Leiden so vieler Brüder und Schwestern, die um ihres Glaubens an Jesus willen unterdrückt werden, sind auch eine nachdrückliche Aufforderung, eine immer konkretere und sichtbarere Einheit untereinander zu erreichen. Die Ökumene des Blutes.

Die Themen „Kirche“, „Eucharistie“ und „kirchliches Amt“ eingehend behandeln

Stützen wir einander auf dem Weg, indem wir auch den theologischen Dialog weiterführen. Kein ökumenischer Dialog kann voranschreiten, wenn wir stehen bleiben. Wir müssen gehen und voranschreiten, doch nicht ungestüm vorpreschen, um begehrte Ziele zu erreichen, sondern gemeinsam geduldig gehen unter dem Blick Gottes. Einige Themen – ich denke hier an die Kirche, an die Eucharistie und an das kirchliche Amt – verdienen eingehende und gut abgestimmte Überlegungen.

Im gemeinsamen Verständnis der Offenbarung voranschreiten

Die Ökumene verlangt auch, nicht elitär zu sein, sondern möglichst viele Brüder und Schwestern im Glauben miteinzubeziehen und so als Gemeinschaft der Jünger zu wachsen, die beten, lieben und verkünden. Auf dieser Grundlage wird uns der ökumenische Dialog helfen, unter der Leitung des Heiligen Geistes im gemeinsamen Verständnis der göttlichen Offenbarung voranzuschreiten. Dieses Verständnis vertieft sich in der gemeinsamen Kenntnis und Liebe des Herrn Jesus Christus, „denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9) und „Gott wollte […] durch ihn alles […] versöhnen“ (Kol 1,19-20).

Mut zur Mission haben

Der Herr möge uns begleiten, auf dass unser Christsein mehr auf Ihn ausgerichtet sei und Mut zur Mission habe; auf dass die Seelsorge reicher im Dienen werde und in ihren verschiedenen Bereichen stärker vom Geist der Ökumene durchdrungen sei. Ich erbitte Ihnen allen den Segen des Herrn: Der Heilige Geist komme herab und führe zusammen, was noch getrennt ist.

Es wäre schön, wenn wir am Ende dieser Ansprachen gemeinsam das Vater Unser beten würden: „Vater Unser …“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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Prophetische Worte des hl. Papstes Paul VI.

Der Weg authentischer Ökumene

Die Ansprache, die der hl. Papst Paul VI. bei der Generalaudienz am 22. Januar 1969 während der Gebetswoche für die Einheit der Christen gehalten hat, scheint aus der damaligen Situation heraus geboren zu sein und den stürmischen Aufbruch nach dem Konzil widerzuspiegeln. Doch besitzen seine Worte geradezu zeitlosen Charakter, sie könnten aktueller nicht sein. Prophetisch legt Paul VI. dar, worauf es in der Ökumene ankommt, wenn sie die getrennten Christen wirklich der sichtbaren Einheit näherbringen will. Er gab der Ansprache, die wir nachfolgend in eigener Übersetzung wiedergeben, die Überschrift: „Apostel authentischer Ökumene werden“.

Von Papst Paul VI.

Geliebte Söhne und Töchter! In diesen Tagen feiern wir die Woche für die Einheit aller Christen – in dem einen Glauben und in der einen Kirche. Dies entspricht dem höchsten Wunsch Christi (Joh 10,16;17,11.21.23) und stimmt mit dem Votum des jüngsten Ökumenischen Konzils überein, das offen erklärt hat, dass „die Wiederherstellung der Einheit unter allen Christen eines der Hauptziele“ dieses Konzils überhaupt ist (Dekret Unitatis redintegratio, 1). Wir müssen uns den Themen in ihrer geistlichen Fülle widmen, wie sie sich aus dem aktuellen Leben der Kirche heraus ergeben.

Dank für die Sehnsucht nach Einheit in der ganzen Christenheit

Zunächst müssen wir dem Herrn danken, dass diese so wichtige Frage inzwischen im Gewissen der Christenheit präsent ist und dass ihr innerhalb unserer heiligen katholischen Kirche ein besonderes Interesse an theologischer Reflexion und aktiver Nächstenliebe zukommt. Die Kirche betrachtet es als eine der größten Gnaden, dass ihr der Herr, der seinen Verheißungen im Evangelium treu bleibt, die Gabe und das Gespür für die Einheit im Glauben und in der Liebe bewahrt hat. Nun betrachtet sie mit Freude, Ungeduld und Hoffnung, wie die Suche nach eben dieser Einheit, die wir geheimnisvolles (vgl. Joh 17) und konstitutionelles (vgl. Mt 16,18) Eigentum der wahren Kirche nennen können, in tiefen und edelsten Bestrebungen jener Kirchen und christlichen Gemeinschaften aufscheint, die eines Tages glaubten, diese Einheit außer Acht lassen zu können, und die immer noch nicht in der vollen Gemeinschaft mit der einen und universalen Kirche stehen. Es handelt sich um eine lebendige Frage, eine gewaltige Frage, eine schwierige Frage, eine Frage, die Einfluss hat auf die Bedingungen nicht nur des Christentums, sondern auch der Religion, ja des spirituellen Fortschritts und des Friedens in der Welt.

Wir müssen unsere Haltung zu den getrennten Christen ändern

Und wir müssen uns diese Frage zu eigen machen, denn auch wir Katholiken müssen unsere Mentalität und damit auch unsere praktische Einstellung zu den Beziehungen mit jenen ändern, die sich Christen nennen und es sind, auch wenn sie sich außerhalb der sichtbaren Grenzen des Katholizismus befinden. Die erschütternden Dramen der Trennungen, die in vergangenen Zeiten stattgefunden haben, die Polemiken und lehrmäßigen Irrtümer, welche diese Trennungen gekennzeichnet haben, die politischen Konflikte und die daraus resultierenden unterschiedlichen Interessen, die Pflicht und die Notwendigkeit, die Richtigkeit der Lehre zu verteidigen und die kirchliche Struktur zu bewahren, die Warnungen der Autorität und des kanonischen Recht haben auf unserem Gebiet eine defensive und misstrauische Atmosphäre gegenüber den getrennten Christen hervorgebracht. Jetzt müssen wir uns ihnen mit einem neuen Geist zuwenden.

Die Ökumene erfordert von uns einen neuen Geist

Was ist das für ein neuer Geist? Es ist vor allem ein Geist des Bedauerns und der Sehnsucht, der Demut, der Nächstenliebe und der Hoffnung. Wir können uns nicht länger mit den historischen Situationen der Trennung abfinden. Mit einer einfachen und verschlossenen Verteidigungshaltung dürfen wir uns nicht mehr zufrieden geben. Wir müssen zumindest unter den Wunden leiden, die am mystischen und sichtbaren Leib Christi, der die eine und einzige Kirche ist, aufgetreten sind. Wir müssen demütig jenen Teil der moralischen Schuld anerkennen, den die Katholiken an diesem Trümmerfeld gehabt haben könnten. Wir müssen zu schätzen wissen, was sich bei den getrennten Brüdern an Gutem erhalten hat und an christlichem Erbe gepflegt wird. Wir müssen beten, viel und mit ganzem Herzen beten, um die Wiederherstellung der Ruinen zu erlangen. Wir müssen – natürlich mit der Würde und Klugheit, welche so ernsthafte und schwierige Angelegenheiten erfordern – zu den Brüdern, die immer noch von uns getrennt sind, wieder höfliche und freundschaftliche Kontakte aufnehmen.

Die katholische Kirche hat einen ersten Teil des „Direktoriums für die Anwendung der Überlegungen des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Ökumene“ veröffentlicht (26.5.1967): Wir werden gut daran tun, es zu kennen und seinen Normen treu zu folgen. Mit einem Wort, wir müssen Apostel der Zusammenführung aller Christen in der einen Kirche Christi werden. Die Nummer Vier des Konzilsdekrets zur Ökumene verdient es, von allen gelesen und meditiert zu werden.

Wir dürfen nicht oberflächlich, voreilig und kontraproduktiv vorgehen

Und diese ökumenische Idee erscheint dann in unseren Tagen so logisch und glücklich, dass sie, man kann sagen, überall Bewunderer und Befürworter findet. Doch, meine Lieben, lasst uns darauf achten, den Weg und den Erfolg einer so äußerst wichtigen Sache, wie sie die authentische Ökumene darstellt, nicht durch oberflächliche, voreilige und kontraproduktive Vorgehensweisen zu kompromittieren. Man kann nämlich in dieser plötzlichen Begeisterung für die Versöhnung zwischen Katholiken und von uns getrennten Christen gefährliche und schädliche Phänomene beobachten. Einige Aspekte dieser unbesonnenen ökumenischen Überstürzung müssen berücksichtigt werden, damit sich die vielen guten Wünsche und glücklichen Möglichkeiten nicht in Zweideutigkeit, Gleichgültigkeit und falschem Irenismus verlieren.

Diejenigen zum Beispiel, die im Lager der getrennten Brüder alles schön und im katholischen Lager alles bedrückend und tadelnswert finden, sind nicht mehr in der Lage, das Anliegen der Einheit wirksam und nützlich zu fördern. „Wie einer der besten zeitgenössischen Ökumeniker, ein Protestant, mit ironischer Traurigkeit bemerkt hat: „Die größte Gefahr für die Ökumene besteht darin, dass sich die Katholiken für alles begeistern lassen, was wir als etwas Schädliches erkannt haben, während sie alles aufgeben, was wir als etwas Wichtiges wiederentdeckt haben“ (vgl. Bouyer).[1] Diese unterwürfige Haltung ist weder nützlich noch würdig.

Leichtfertigkeit und unkluger Eifer schaden dem Fortschritt der Einheit

So könnten wir über die andere, heute ebenfalls weit verbreitete Haltung sprechen, welche beabsichtigt, die Einheit auf Kosten der doktrinellen Wahrheit wiederherzustellen. Das Glaubensbekenntnis, das uns zu Christen und Katholiken macht und uns als solche definiert, scheint so zum unüberwindbaren Hindernis für die Wiederherstellung der Einheit selbst zu werden. Es stellt natürlich sehr strenge und sehr ernste Anforderungen. Aber die Lösung der Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, kann nicht darin bestehen, dass man Unverständnis der Realität der Dinge oder Verrat der Sache in Kauf nimmt, dass man den Glauben opfert, dass man illusorisch darauf vertraut, Nächstenliebe würde ausreichen, um die Einheit wiederherzustellen, das heißt, empirische Praxis, die sich dogmatischer Bedenken und disziplinarischer Normen entledigt, genüge (vgl. Unitatis redintegratio, 11).

Die Episoden der sogenannten „Interkommunion“, die in den letzten Monaten registriert worden sind, liegen auf dieser Linie, die nicht gut ist und die wir redlich missbilligen müssen. Wir erinnern uns an das Konzil, das „die Gläubigen mahnt, jede Leichtfertigkeit wie auch jeden unklugen Eifer zu meiden, die dem wahren Fortschritt der Einheit nur schaden können“ (Unitatis redintegratio, 24).

Die inhaltliche Auseinandersetzung ist eine gewaltige Aufgabe

Dies bedeutet nicht, dass es keine Diskussion über die Dogmen des Glaubens zwischen Katholiken und Christen, die von uns getrennt sind, geben dürfte. Im Gegenteil, aus einer gemeinsamen, theologisch objektiv und ruhig geführten Untersuchung der geoffenbarten Wahrheit, welche in der authentischen Tradition der kirchlichen Lehre treu gelebt wird, kann eben dieses Ergebnis erzielt werden: Erkennen, worin das wesentliche Erbe der christlichen Lehre besteht, inwieweit es authentisch und gemeinsam in unterschiedlichen, aber im Wesentlichen identischen oder komplementären Begriffen ausgedrückt ist und wie die Entdeckung dieser Identität von Glauben, Freiheit und Vielfalt möglich und letztendlich für alle siegreich ist, und zwar in der Vielfalt ihrer Ausdruckformen, und wie von da aus die Einheit glücklich gefeiert werden könnte, mit einem einzigen Herzen und einer einzigen Seele (vgl. Apg 4,32).

Die mutige und kluge Methode von Augustin Kardinal Bea

Doch eine solche Untersuchung schließt zuallererst die Verantwortung qualifizierter Theologen und Gelehrter ein, sodann die des kirchlichen Lehramts: und sie kann nicht einfach aus der Debatte von Meinungen auf allen Ebenen resultieren. Es ist erfreulich zu wissen, dass eine solche Untersuchung bereits an verschiedenen Fronten der Ökumene im Gange ist, und es verwundert nicht, dass sie Vorsicht, Zeit und schrittweises Vorangehen erfordert: Es ist die Ökumene auf dem Weg, auf den die große, fromme und erwählte Gestalt des verstorbenen Kardinals Agostino Bea die Schritte unseres Sekretariats für die Einheit aller Christen gelenkt hat. In ehrender Erinnerung bleiben wir seiner mutigen wie klugen Methode treu.[2]

Dies ist eine gewaltige Vision der Ökumene, die unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht und unser Gebet braucht (vgl. Nr. 8). Wir nutzen diese Gelegenheit, um noch einmal allen Christen der Welt im Namen Jesu, des Herrn, Unseren demütigen und herzlichen Gruß zu senden. Und ihr, Geliebte, seid mehr denn je mit Uns, seid vereint, seid zuversichtlich, seid stark im Glauben und in der Liebe; und möge euch Unser Apostolischer Segen reichen Trost schenken.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Louis Bouyer (1913-2004) stammte aus einer protestantischen Familie in Paris, studierte an der Sorbonne und danach an der Universität Straßburg Lutherische Theologie und wurde 1936 als lutherischer Pastor ordiniert. Die Ekklesiologie des hl. Athanasius führte ihn ab 1939 zur katholischen Kirche. 1944 wurde er zum Priester geweiht und nahm am II. Vatikanum in der Liturgiekongregation und im Sekretariat für die Einheit der Christen als Berater teil.
[2] Der in Deutschland gebürtige Augustin Kardinal Bea war von 1960 bis 1968 Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen.

Schlüssel zu einem Neuanfang angesichts der Corona-Krise

Denken und glauben wagen

Pfarrer Daniel Rietzler (geb. 1980), Jugendseelsorger der Diözese Augsburg und zuständig für die Jugendstelle Weißenhorn, macht sich darüber Gedanken, wie ein „Neuanfang aus Corona“ gelingen könnte. In seiner aufschlussreichen Analyse der Krise und ihrer Folgen lässt er unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, Theologen, Soziologen, Psychologen und Schriftsteller. Was jedoch seinen gesamten Ansatz prägt, ist das Tagebuch von Etty Hillesum, einer niederländisch-jüdischen Intellektuellen, die 1943 mit knapp 30 Jahren im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet worden ist. Erst 1981 war es gelungen, die Tagebücher und Briefe, die sie von 1941 bis 1943 zur Zeit der deutschen Besatzung geschrieben hatte, zu publizieren. Seitdem findet ihr Zeugnis eine gewaltige Resonanz in der ganzen Welt. Rietzler sieht in ihrem Lebensgeheimnis, nämlich „wirklich denken und glauben wagen“, einen Schlüssel zur Bewältigung des Lebens in unserer unsicheren Zeit.

Von Daniel Rietzler

Die Wirklichkeit ist stärker

Seit Beginn der Corona-Krise begleiten mich die ersten Sätze des lesenswerten Artikels „Plötzlich Elite. In der Krise offenbart sich: Systemrelevant sind die Unterbezahlten. Wie das Virus die soziale Frage neu aufwirft“ (DIE ZEIT Nr. 15/2020, 02.04. 2020). Die Autoren Robert Pausch, Elisabeth Raether und Bernd Ulrich thematisieren darin die neu aufbrechende soziale Frage. Mir gab vor allem der Einstieg und die dem Artikel zugrundeliegende Perspektive zu denken: „Kein Mensch kann mit der ganzen Wahrheit über sich selbst leben, wahrscheinlich nicht einmal mit der halben.“ Im Hinblick auf die Gesellschaft heißt es dann, dass stets „Teile der Wirklichkeit abgedunkelt, weichgezeichnet werden“ müssen. Dahinter verbirgt sich die Annahme: Der einzelne Mensch und die Gesellschaft verfügen über die Wirklichkeit, können sie steuern und selbst bestimmen, so dass sie einem nur noch wohldosiert zukommt. Die gegenwärtige Krise jedoch hat diese Annahme in den Staub geschleudert, die Wirklichkeit selbst erhebt Einspruch: Ist es tatsächlich die Aufgabe der aufgeklärten Vernunft in der Moderne, die Wirklichkeit abzudunkeln, Unangenehmes auszublenden, damit sich der Mensch vormachen kann, dass er zumindest diesen kleinen Restbereich selber im Griff hat? Angesichts der Corona-Krise müsste es eher heißen: Der Mensch denkt, die Wirklichkeit lenkt. Die Wirklichkeit bricht durch die Krise brutal über uns herein, ohne uns zu fragen, wie viel wir von ihr ertragen, was wir im Hellen sehen wollen und wo wir sie gern verdunkeln würden. Ist dieses Denken angesichts von Corona noch aufgeklärt oder schon illusorisch? Gilt es an diesem Punkt nicht ehrlich zu sein? Die scheinbar kontrollierbare Wirklichkeit ist „völlig anders, dunkel und unverständlich: eine unerbittliche Präsenz, der wir nicht auskommen. Trotz all unserer Verkürzungen hat sich die Wirklichkeit als stärker erwiesen. Ihre Unbeugsamkeit fordert uns heraus und hat unser Ich fest im Griff und lässt uns erst nach und nach sehen und erkennen, was da geschehen ist“ (Julián Carrón: Das Erwachen des Menschlichen. Reflexionen in einer schwindelerregenden Zeit, Fraternità di Comunione e Liberazione 2020, S. 27).

Ohne künstliche Sehhilfen

Angesichts der hereingebrochenen Wirklichkeit musste ich mich an meine erste Begegnung mit dem Meer erinnern. Voller Freude lief ich als Kind in das aufgewühlte Wasser und wurde dabei vom Anprall einer Welle so erwischt, dass ich meine Brille verlor und aufgrund meiner Sehschwäche zunächst fast blind zurückblieb. Doch im Nachhinein kann ich sagen, dass der Verlust der Brille mich sehend gemacht hat: die Wirklichkeit „Welle“ ist stärker als mein unwirkliches Gefühl der Sicherheit und Beherrschbarkeit. So lässt sich auch für die aktuelle Situation sagen, dass uns die Corona-Welle zunächst unsere künstlichen Sehhilfen aus dem Gesicht gerissen hat. Kann es sein, dass dieser Anprall und seine gewaltigen Auswirkungen zu einer neuen Kritik der „reinen Vernunft“ herausfordern? Müssen wir eingestehen, dass wir durch das Schlüsselloch eines rein rationalistischen Blicks die aktuellen Veränderungen, ja den Menschen als Ganzen, nicht ausreichend zu erkennen vermögen? Können die existenziellen Empfindungen dieser Tage wie Erstaunen, Unsicherheit und Angst die künstlich verengte Vernunft wieder weiten? Braucht die Vernunft durch die kritische Anfrage der Wirklichkeit vielleicht selbst eine Weitung, welche zur Öffnung auf die großen Fragen nach Welt und Mensch führen und auch mit der Welt des Glaubens in Dialog treten könnte?

I. Wirklich denken

Diese Fragen führen mich zu dem Leitwort „Wirklich denken“. Damit meine ich nicht, dass da anderen ein aufrichtiges Nachdenken abgesprochen werden soll. Nein, es geht vielmehr um ein Denken entlang der Wirklichkeit, ein wirklichkeitsgemäßes Denken in Abgrenzung zu einem künstlichen Denken, das sich das Verständnis der Welt und des Menschen selbst nach dem Gusto der eigenen Theorie zurechtlegt. Wir müssen uns der Versuchung bewusst sein, in diese Falle zu tappen. Gerade der harte Einbruch der Corona-Wirklichkeit kann uns zu einer kritischen Selbstreflexion zwingen. Selbstkritisch muss die Vernunft anerkennen, dass es eine größere Wirklichkeit gibt als die eigenen Konstrukte, ja dass der kleine Virus die netten Theorien in den Staub geworfen hat und sich herzlich wenig darum kümmert, was wir Menschen uns da zurechtgelegt haben. Nicht wir begreifen und umgreifen die Wirklichkeit mit unseren Begriffen und Theorien, sondern sie umfasst uns und verlangt daher ernstgenommen zu werden. „Die Wirklichkeit ist mehr als die Idee“, so lautet ein zentrales Denkprinzip von Papst Franziskus, das sich auch in der Reflexion der Krise bewahrheitet (vgl. Evangelii gaudium, Nr. 231).

Charles Taylor: „Spirituelle Unabhängigkeitserklärung“

Müssen wir vielleicht eingestehen, dass unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst ziemlich wirklichkeitsblind war und wir deshalb so erschüttert wurden? Deutet die aktuelle Situation vielleicht darauf hin, dass unsere modernen Dogmen von Souveränität und Unabhängigkeit in der gedachten Radikalität nicht glaubwürdig sind, sondern als fragwürdig bezeichnet werden müssen? Offensichtlich trägt die darauf aufbauende „spirituelle Unabhängigkeitserklärung“ (Charles Taylor, kanadischer Sozialphilosoph) nicht mehr und stellt so auch das moderne Lebensgefühl der Selbstbestimmung in Frage. Schonungslos decken das die beiden Psychologen und Couches Anke Houben und Kai Dierke im Podcast „Der achte Tag – Deutschland neu denken“ auf, wenn sie davon sprechen, dass die Krise unsere Ego-Illusionen zerstört. Ausgehend von der Frage, wie die gegenwärtige Krise den Blick auf uns selbst verändert, diagnostizieren sie das Ende eines Zeitalters der Selbsttäuschung und den Verlust von liebgewordenen Selbstgewissheiten wie Fortschritt, Kontrolle, Leistung und Erfolg. Ihre Diagnose ist zutreffend, in der jetzigen Situation eine wirkliche Sehhilfe. Doch der Lösungsvorschlag, den die beiden anbieten, bringt uns nur begrenzt weiter, weil er in der diagnostizierten Problematik selbst hängen bleibt. Den Ego-Illusionen werden zur Überwindung Ego-Taktiken gegenübergestellt, die sicherlich Hilfen zum Wachsen an der Krise geben können, aber doch der Logik des Egos verhaftet bleiben. Das isolierte Ego braucht eine Öffnung, etwas oder jemanden, der es herauslockt und befreit, ihm eine Beziehung anbietet, die das „Ich“ bereichert und transzendiert.

Hartmut Rosa: „Spirituelle Abhängigkeitserklärung“

Im Kontext dieser Problematik erhält der Denkansatz des Soziologen Hartmut Rosa ein besonderes Gewicht und verhilft zu einem neuen Blick. Er plädiert für ein weiteres Welt- und Selbstverhältnis, das er als eine wechselseitige Beziehung denkt: „Eine solche Beziehung fasse ich mit dem Begriff der Resonanz. Sie bedeutet die Fähigkeit und Erfahrung eines ‚Berührtwerdens‘ durch ein Anderes, ohne fremdbestimmt zu werden. Sie bedeutet die Fähigkeit und Erfahrung, dieses Andere selbst zu berühren oder zu erreichen, ohne über es zu verfügen.“ Bereits vor einem halben Jahr schrieb er über die Chance eines solchen Ansatzes, er könnte „als regulative Gemeinwohlidee dienen und auf diese Weise einen Kompass durch die Umbrüche unserer Zeit liefern“ (DIE ZEIT, 25.07.2019). Ein solches Beziehungsdenken könnte die isolierte und daher zunehmend wirklichkeitsblinde Vernunft aus der Enge führen und ihr eine Aufklärung bringen. So plädiert Rosa selbst für eine „spirituelle Abhängigkeitserklärung“ und meint damit die Anerkennung eines selbstwirksamen Bezogenseins, das er in seinem Artikel und auch in dem Buch „Unverfügbarkeit“ weiter ausführt. Ausgangspunkt ist für ihn der Haltungswechsel vom Beherrschen und Nutzen hin zum Hören und Antworten, das in freier und kreativer Weise zu geschehen habe. Dabei stellt sich natürlich eine existenzielle Frage: Sind wir zu einem Haltungswechsel bereit, der auch zu einem anderen Denken unseres Menschseins führt?

Simon Strauß: Sehnsucht nach einem „wilderen Denken“

In diesem Denkansatz sehe ich etwas verwirklicht, was die Hauptperson im Roman „Sieben Nächte“ von Simon Strauß folgendermaßen festhält: „In den staubigen Archiven der Vernunft haben wir zu oft vergeblich nach Antworten gesucht auf Fragen, die nur auf offenem Deck, unter freiem Himmel gelöst werden können. Dass es auch ein Versteck gibt, in dem ein Geheimnis wohnt, über das man staunen kann und sich nicht den Kopf zerbrechen muss, das kann nur bestreiten, wer rein als Logiker denkt.“ Um der Ermüdung der Wahrheit entgegenzuwirken und der Bewunderung zu ihrem Recht zu verhelfen, fragt er kurze Zeit später: „Sehnt ihr euch nicht manchmal auch nach einem wilderen Denken?“  Doch was ist wilderes Denken, was könnten seine Sprengköpfe sein, die ein allzu selbstsicheres und festgefahrenes Theoriedenken zum Einsturz bringen und so ans offene Licht bringen könnten? Es sind Fragen! Ja, Fragen, die gerade durch Krisen neu hervorgerufen werden und einen Weg ins Freie bahnen können.

Rainer Maria Rilke: Die Fragen „leben“

Was uns zur denkerischen Bewältigung der aktuellen Situation auch heute aufgetragen ist, hat Rilke in seinem Brief an Franz Kappus in großartiger Weise auf den Punkt gebracht: „Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die ihnen nicht gegeben werden können, weil sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben sie jetzt die Fragen, vielleicht leben sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“ Und so gibt es Fragen, die es jetzt angesichts der hereingebrochenen Corona-Wirklichkeit zu „leben“ gilt. Was verhilft uns zu einer positiven Ent-täuschung unserer Ego-Illusionen? Aus welcher Kraft heraus kann ich mich selbst der ganzen Wirklichkeit stellen, auch wenn sie mich überfordert? Was hilft mir, zwischen einer illusorischen Selbstbestimmung und einer echten Freiheit, die der Wirklichkeit entspricht und solidarisch ist, zu unterscheiden? Und schließlich: Welche Gemeinschaft hilft mir bei der Beantwortung dieser Fragen und welche dient mir nur zur Flucht, um diesen nackten Fragen der Wirklichkeit nicht ins Auge sehen zu müssen?

Ich denke, es zeichnet bei aller Begrenztheit und Schwäche des Menschen seine Größe aus, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Dabei dürfen im Sinne der „Resonanz“ auch folgende grundsätzliche Fragen nicht ausgeklammert werden: Was kann der Denkhorizont des christlichen Glaubens dazu beitragen? Welche Inspiration bietet die durch Wirren hindurch gewachsene Synthese von Glaube und Vernunft, die für den emeritierten Papst Benedikt XVI. angesichts der gegenwärtig in der westlichen Welt dominierenden Kultur von entscheidender Bedeutung ist?

Ich bin überzeugt: Wo sich Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund diesen und anderen not-wendigen Fragen stellen, da werden auch neue Antworten gefunden. Im besten Fall werden es grund-legende Antworten sein, die ein Fundament für neuen Zusammenhalt und neue Solidarität in einer wankenden Zeit bilden können.

II. Wirklich glauben

Vielleicht macht sich bei dem Wort „Wirklich glauben“ eine unangenehme Vorahnung breit: Auf diese großen Fragen könnte mundgerecht die einfache Lösung serviert werden: „Du musst nur an Gott glauben, dann wird alles gut.“ Doch diese Antwort der scheinbar Frommen ist so fragwürdig wie der italienische Zweckoptimismus, der seinen Ausdruck in den Worten „Tutto andrà bene“ – „Alles wird gut“ findet. Er ist wie das schön aufgesagte Glaubenssprüchlein ohne Fundament. Allzu schnell rutscht man in eine bloß konventionelle und unreflektierte Religiosität hinein, die mit der Weite und Tiefe des christlichen Glaubensverständnisses nichts oder nur wenig zu tun hat. Einen spannenden Zugang zum christlichen Glauben bietet das großartige Buch des italienischen Paters Ermes Ronchi mit dem provozierenden Titel „Die nackten Fragen des Evangeliums“. Er hebt darin hervor, dass es über 220 Fragen aus dem Mund Jesu bei etwas mehr als 30 Gleichnissen gibt. Damit wird deutlich, dass die Verkündigung des Meisters mehr auf provozierenden Fragen, als auf oberflächlichen Antworten in Form von Beruhigungspillen gründet. Jesus verabreichte kein „Opium fürs Volk“! Diesem Marxschen Vorwurf muss sich natürlich eine harmlose und künstliche christliche Religiosität zu jeder Zeit stellen. Doch heute trifft die Kritik vor allem die ganzen pseudoreligiösen und gesellschaftlichen Heilsangebote. Dazu zählt gerade auch Netflix, deren Gründer R. Hastings inmitten der Corona-Krise verlauten ließ: „Die Leute wollen Unterhaltung, sie wollen fliehen können, wenn die Zeiten schwierig sind.“ An dieser Stelle darf man fragen, ob die Bundesregierung auch deshalb einen Bundesligastart ermöglicht hat, um das aufgewühlte Volk in ihren eigenen vier Wänden mit der „Fußball-Pille“ zu beruhigen. Dass diese Beruhigungs-Politik andere in Rage bringt, vor allem in Anbetracht des lange Zeit dürftigen Konzepts zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familien in der Krise, ist verständlich.

 Luigi Giussani: „Stets intensiv das Wirkliche leben“

„Opium für das Volk“, „Brot und Spiele“, doch was meint wirklich glauben? Ein starkes Wort des italienischen Priesters und Pädagogen Don Giussani in seinem Buch „Der religiöse Sinn“ weist in die entscheidende Richtung: „Die einzige Bedingung, um jederzeit wahrhaft religiös zu sein, ist, stets intensiv das Wirkliche zu leben.“ Das Wirkliche zu leben, bedeutet im Augenblick, sich ehrlich den Fragen zu stellen, die die Wirklichkeit dieser Krise aufwirft: Was haben die letzten Monate mit meiner Lebenseinstellung gemacht? Welches Lebensgefühl bestimmt mich? Welche Werte haben sich vielleicht auch als haltlos erwiesen? Haben mich meine persönliche Gottesbeziehung und das Gebet gehalten – auch ohne den vielleicht gewohnten Gottesdienstbesuch? Kann ich mich wie der zweifelnde und glaubende Thomas mit meinem Leben den Wunden des auferstandenen Christus nähern und mich für eine Antwort öffnen? Nähern wir uns den deutlicher zutage tretenden Verwundeten unserer Gesellschaft? Nähern wir uns den Verwundeten – im Rahmen des Möglichen – mit den Kirchengemeinden?  Oder warten wir nur darauf, dass der gewohnte und leider oft leblose kirchliche Betrieb wieder in Gang kommt und alles wieder ganz normal wird?

Die gegenwärtige Krise muss uns zur Grundsatzfrage unseres Glaubens führen. Dazu möchte ich von einer Begebenheit aus einer Gemeinde in unserer Gegend berichten. Es wird bei uns der schöne Brauch gepflegt, die Geschichte des hl. Martin zu spielen und anschließend einen Umzug durchzuführen. Dazu wurde jemand für die Rolle des Bettlers gesucht. Lange erklärte sich niemand dazu bereit. Es war eine intensive Suche nötig, bis sich schließlich doch noch jemand fand. Kurze Zeit darauf erzählte mir der Mesner, dass aus dem Abfalleimer vor der Sakristei eine Frau mittleren Alters regelmäßig Nahrungsmittel herausnimmt, so z.B. eben ein weggeworfenes Sandwich.

Diese beiden Begebenheiten machen mich betroffen, gerade wenn sie zusammen gedacht werden und man sich selbstkritisch fragt: Ist unser erstes Ansinnen die Abdeckung unseres Brauchtums und unserer „Spiele“, ohne dass wir dabei die traurige Wirklichkeit der nach Nähe und Unterstützung suchenden Menschen vor unseren Kirchentüren wahrnehmen? Im übertragenen Sinn können wir weiter fragen: Begnügen wir uns mit der geistlichen Speise unseres Glaubens für uns selber? Finden wir uns damit ab, dass die Suche unserer Mitmenschen nach „Seelenkost“ und innerer Stärkung zunehmend durch irrationale Esoterik und andere vermeintliche Heilsangebote abgespeist wird? Warum können die Suchenden nicht in unseren Gemeinden andocken? Wenn wir zu einem wirklichen Glauben gelangen möchten, müssen wir uns zunächst einige der Fragen Jesu zu Herzen nehmen, jeder ganz persönlich, aber auch die Gemeinden und die Kirche als Ganze: Was sucht ihr? Warum habt ihr solche Angst? Für wen haltet ihr mich? Siehst du diese Frau? Wie viele Brote habt ihr? (vgl. Ermes Ronchi).

„Wirklich glauben“ geht christlich nur in Gemeinschaft. Dazu braucht es zunächst einen synodalen Weg, und zwar ein gemeinsames geistgeführtes Unterwegssein und Suchen nach grundlegenden Antworten auf die Lebensfragen im Geist Jesu. Das muss allen scheinbar notwendigen Strukturfragen vorausgehen. Wir müssen uns zunächst des Grundes vergewissern, den Christus gelegt hat. Ohne diesen Grund kann niemand weiterbauen. Ohne ihn ist jede Reform zum Scheitern verurteilt. „Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus“ (1 Kor 3,11).

Etty Hillesum: „Wirklich denken und glauben wagen“

Auf meinem persönlichen Denk- und Glaubensweg war etwas entscheidend, das ich in meiner Jugendarbeit auch bei vielen jungen Leuten wahrnehme: die Sehnsucht, Menschen zu begegnen, die sich dem wirklichen Leben stellen, die aus einer Tiefe heraus leben und in etwas verwurzelt sind, das man nicht machen muss, sondern das man sich schenken lassen darf. Es geht darum, von einer verlässlichen Gegenwart begleitet zu sein, die die Angst besiegt und zu einem Leben ermutigt, das Freude schenkt, zu einem wirklichen Leben und Glauben mit und für andere inmitten dieser Welt. Ohne solche glaubwürdigen Zeugen im persönlichen Umfeld, in meiner Kirche, in der Gemeinschaft mit anderen Jugendlichen und schließlich auch in der großen Gemeinschaft der Heiligen hätte ich den Weg in das Abenteuer des Glaubens nicht gefunden, der Halt und Inspiration schenkt, immer wieder von entfremdenden Einflüssen befreit und enttäuscht und Mut macht, wirklich zu leben.

Zu Beginn der Corona-Krise wurde mir durch ein Zitat eine weitere Wegbegleiterin geschenkt, der ich bereits vieles zu verdanken habe und die mir inmitten der Krise Mutmacherin geworden ist. Ich spreche von Etty Hillesum (1914-1943), einer jungen Jüdin, die ihren persönlichen Weg in einem berührenden Tagebuch festgehalten hat. Es wurde unter dem Titel „Das denkende Herz“ veröffentlicht. Der Leser wird in die Reifung ihres Denkens und Glaubens in den Jahren vor ihrer Deportation nach Auschwitz hineingenommen. Diese nicht einmal 30-jährige Frau hat inmitten des Grauens etwas gelebt und durchlitten, was bis heute fasziniert und auch motivieren kann: sie hat wahrhaft, wirklich, ganzheitlich gelebt. Vielleicht würde sie uns in der heutigen unsicheren Lage das ans Herz legen, was ihr Lebensgeheimnis war: wirklich denken und glauben wagen. „Lieben und hineinhorchen in sich und andere, und forschen nach den Zusammenhängen in diesem Leben und nach dir. Eigentlich ist mein Leben ein unabhängiges Hineinhorchen in mich, in andere und in Gott.“ Sie war von der Sehnsucht nach dem Ganzen, nach einem Leben als Einheit erfüllt und sieht glasklar die Gefahren einer beschränkten Lebensweise, wenn sie schreibt: „Und sobald man Teile davon ausschließt und ablehnt, sobald man eigenmächtig und willkürlich dies eine vom Leben annimmt, jenes andere aber nicht, dann wird es in der Tat sinnlos, weil es nun kein ganzes mehr ist und alles willkürlich wird“ (S. 128).

Die bereits angesprochenen Ego-Illusionen bringt sie mit anderen Worten auf den Punkt und deutet an, welcher Sprung Befreiung bringen kann: „Die meisten Menschen haben Klischeevorstellungen über das Leben im Kopf, man muss sich innerlich von allen gewohnten Vorstellungen und Parolen befreien, jeden konventionellen Halt loslassen, um den großen Sprung in den Kosmos zu wagen, und dann, erst dann wird das Leben überreich und unerschöpflich, auch mitten im Leid.“ Unbestechlich erkennt sie, wie die Umstände immer wieder andere sein können und doch die entscheidende Frage bleibt: Wie trägt man das Leiden? „Das eine Mal ist es ein Hitler, ein andermal, meinetwegen, ein Iwan der Schreckliche, ein andermal sind es Resignation, Pest, Erdbeben oder Hungersnot. Entscheidend ist letzten Endes, wie man das Leiden, das in diesem Leben eine wesentliche Rolle spielt, trägt und erträgt und innerlich verarbeitet, und dass man einen Teil seiner Seele unverletzt über alles hinwegrettet.“ Angesichts dieser existenziellen Lebensfragen geht sie immer mehr ins Gebet und formuliert in ihrem eindrucksvollen Sonntagmorgen-Gebet, worauf es einzig ankommt: „ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott, und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum letzten verteidigen.“ Diese Klarheit im Glauben und Beten lässt sie auch das Widersprüchliche einer materialistischen Lebensauffassung erkennen: „Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihren Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist.“

Vielleicht wendet jemand ein, dass man so doch wirklich nicht leben könne. Mit dieser Anfrage hat sie sich selbst konfrontiert und schreibt: „Viele Leute würden mich eine wirklichkeitsfremde Närrin schelten, wenn sie wüssten, wie ich fühle und denke. Und doch lebe ich in der ganzen Wirklichkeit, die jeder Tag bringt.“ Schon gegen Ende ihres Lebens schreibt sie im Rückblick auf ihre Zeit im Durchgangslager Westerbork: „Wenn ich doch nur all das mit Worten bewältigen könnte, diese zwei Monate dort hinter Stacheldraht, die zu den intensivsten und reichsten Momenten meines Lebens gehören und die die letzten und höchsten Werte meines Lebens bestätigt haben.“

Die Offenbarung ihres Lebensgeheimnisses kündet sie bei einem Spaziergang ihrem Freund Ru und schreibt dazu in ihrem Tagebuch: „Es sei eine kindliche Eigenschaft, um derentwillen ich das Leben immer wieder schön finde, und die mir vermutlich hilft, alles so gut zu ertragen. Ru sah mich voller Erwartung an, und ich sagte, als sei es die einfachste Sache der Welt – was sie ja eigentlich auch ist: ja, siehst du, ich glaube an Gott.“

Diese junge Jüdin, die sich intensiv auch mit der christlichen Tradition beschäftigt hat, scheint mir eine Prophetin inmitten der Umbrüche unserer Zeit zu sein. Es verbietet sich eine vorschnelle Vereinnahmung für eine bestimmte Glaubensrichtung. Zunächst gilt es, sie auf dem persönlichen Lebens- und Glaubensweg zu hören und sich von ihr infrage stellen zu lassen. Zugleich kann sie einem Mut machen zu einem Leben, das sich in einer verwurzelten Tiefe der ganzen, auch der überfordernden Wirklichkeit stellt.

Für den Christen wird gerade das zu einem existenziellen Glaubensbekenntnis: „Das Ja zu den Umständen wird so zum JA zu dem Geheimnis, das Fleisch geworden ist, zu dem Menschen Jesus Christus, der gestorben und auferstanden ist“ (Julián Carrón). Der menschgewordene Gott will den Menschen aller Zeiten immer wieder ins Freie führen und ermutigt mich persönlich, in seinem Licht und aus seiner Kraft zu leben: In ihm und durch ihn und mit ihm als Christ der immer größeren Wirklichkeit gewachsen zu sein. Das bedeutet nun nicht, alle Antworten zu haben, sondern zunächst in der Gemeinschaft der Kirche einen „Resonanzraum“ zu haben, die Fragen zu durchdenken und Glauben zu entdecken, um so zusammen in tragfähige Antworten hineinzuwachsen. Dass dies gerade in den Umbrüchen der Corona-Krise in persönlichen Kontakten erfahrbar war, stimmt mich zuversichtlich bei allen beschleunigten und beängstigenden kirchlichen Einbrüchen dieser Zeit.

Schluss

„Alles beginnt mit der Sehnsucht“, so fängt ein tiefer poetischer Text von Nelly Sachs an, einer anderen großen jüdischen Denkerin und Glaubenden. Ein Neuanfang aus Corona ist in diesem Sinn möglich durch „resonante“ Menschen, die sich von den großen Denkern und Glaubenszeugen der Menschheitsgeschichte anstecken und inspirieren lassen, durch unterschiedliche Menschen mit noch unterschiedlicheren Backgrounds, die in Gemeinschaft wirklich denken und vielleicht auch neu glauben wagen. Jede Krise ruft zu neuer Entscheidung, ein veraltetes „Weiter so“ würde ihr feige aus dem Weg gehen. Ich bin überzeugt: Ein Neuanfang ist möglich aus der Weisheit wirklich gereifter, meist älterer Menschen und aus der Sehnsucht junger Menschen, die sich im Roman „Sieben Nächte“ in den Worten äußert: „Ich will wieder den Wunsch nach Wirklichkeit spüren, nicht nur nach Verwirklichung. Ich will Mut zum Zusammenhang, zur ganzen Erzählung. Die Sprengköpfe der Dekonstruktion haben wir lange genug bewundert, jetzt ist es wieder Zeit für ein paar große Architekten. Für Neubauten ohne Einsturzgefahr.“ Dazu braucht es ein solides Fundament, das meines Erachtens nur in einem neuen Miteinander von Glaube und Vernunft zu finden ist. Als Christ erinnere ich mich an den Abschluss der Bergpredigt, die übrigens auch für Etty Hillesum wegweisend war. Darin schildert Jesus auf dramatische Weise, wie es angesichts der Lebensstürme um den bestellt ist, der sein Lebenshaus auf Sand baut. Seine Jünger damals und heute lädt er deswegen dazu ein, auf Felsen zu bauen, indem sie auf seine Worte hören, sich infrage stellen lassen, aber auch seine Ermutigung aufnehmen und dann entsprechend handeln. „Wirklich denken und glauben wagen“ führt in Jesu Logik so zu einem Handeln, das Bestand und Halt verleiht und die kostbare Verheißung eines tragfähigen Miteinanders unterschiedlicher Menschen in sich birgt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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Die „Raubtier-Ethik“ Nietzsches zerschellt an der Realität

Das Empfinden für das Gute ist unauslöschbar

Pater Engelbert Recktenwald (geb. 1960) ist Mitglied der Priesterbruderschaft St. Petrus und arbeitet als Seelsorger in Hannover. Geprägt hat ihn sein Philosophie-Studium bei Prof. Dr. Robert Spaemann. Aufmerksam verfolgt er die Wertediskussion unserer Tage und vergleicht sie mit dem Ansatz Nietzsches, der die Befreiung des Menschen von jeglicher Moral gefordert hatte. Doch wenn die Unterscheidung zwischen Gut und Böse aufgegeben wird, geht auch das Fundament verloren, auf dem die unantastbare Würde des Menschen ruht. Ist es doch die Moralfähigkeit an sich, welche dem Menschen einen unverhandelbaren Wert verleiht. „Das Tier im Menschen“, in dem Recktenwald dieser Fragestellung nachgeht, bringt Licht in die Orientierungslosigkeit unserer Zeit.

Von Engelbert Recktenwald FSSP

Was unterscheidet den Menschen vom Tier?

Wenn wir nach dem wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier fragen, stoßen wir in der Philosophie auf viele Antwortversuche. Einige verweisen z.B. auf das Sprachvermögen des Menschen, andere auf seine Fähigkeit, logisch und abstrakt zu denken. Am zutreffendsten ist in meinen Augen die Antwort von Immanuel Kant (1724-1804), sie ist aber zugleich auch eine der umstrittensten: Es ist die Moralfähigkeit des Menschen. Der Mensch ist „Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft“ (MS).[1] Dadurch ist er imstande, den höchstmöglichen Wert zu verwirklichen: jenen Wert des schlechthin Guten, der allein dem guten Willen eigen ist. Es ist diese sittliche Güte, wodurch der Wille, wie Kant einmal so schön formulierte, für sich selbst glänzt „wie ein Juwel“ (GMS).[2]

Die Würde der Gotteskindschaft besteht in der Moralfähigkeit

Der Christ ist durch die Offenbarung imstande, diesen Sachverhalt noch tiefer zu erfassen. Diese sittliche Güte ist die Heiligkeit, wodurch der Mensch Anteil gewinnt an der Heiligkeit Gottes. Er wird dadurch der Natur Gottes und des göttlichen Lebens teilhaftig. Er gewinnt die Würde eines Gotteskindes. Seine Würde ist eine Teilhabe an der Würde Gottes. Moralfähigkeit läuft auf Gottesfähigkeit hinaus. Auch Immanuel Kant kennt Würde. Er spricht z.B. von der Würde, die die strengen Gesetze der Pflicht besitzen (GMS). Der Mensch seinerseits besitzt Würde aufgrund seiner Fähigkeit, aus Achtung vor dem Gesetz zu handeln und so Moralität zu verwirklichen. Man kann nun beim Menschen eine zweifache Würde unterscheiden: jene Würde, die der Mensch allein schon aufgrund seiner Moralfähigkeit besitzt, und die Würde aufgrund verwirklichter Moralität. Ich möchte die erste die ontologische, die zweite die sittliche Würde nennen.

Die ontologische Würde des Menschen ist unantastbar

Die ontologische Würde kann der Mensch, solange er lebt, nicht verlieren. Sie ist, wie das deutsche Grundgesetz sagt, unantastbar. Das bedeutet: Sie begründet einen unbedingten normativen Anspruch, der es verbietet, den Menschen jemals bloß als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Die Würde des Menschen ist stets und unter allen Umständen zu achten. Sie ist gleichzeitig der Ermöglichungsgrund der sittlichen Würde ihres Trägers, weil sie auch einen Imperativ an diesen enthält, nämlich seiner Würde entsprechend zu handeln und zu leben. Genau darin besteht Moralität. Diese bin ich sowohl der Würde des Anderen wie auch meiner eigenen Würde schuldig. Sehr schön finden wir dies beim hl. Thomas von Aquin ausgedrückt. Er lehrt, dass der Mensch durch die Sünde von seiner Würde abfällt.[3] Diese Würde gründet in seiner Freiheit und Selbstzwecklichkeit.[4] Die Willensfreiheit gehört zur Würde des Menschen.[5] Der Mensch hat die Herrschaft (dominium) über seine Akte und bewegt sich selbst zum Entschluss und zum Handeln, statt wie das Tier einfach nur von seinen Trieben bewegt und gesteuert zu werden. Der Mensch ist kraft seiner Vernunft (ratio) die Ursache seiner selbst im Urteilen und Handeln.[6] In eben dieser Selbstursächlichkeit besteht seine Freiheit und Verantwortlichkeit.

Die sittliche Würde geht durch die Sünde verloren

Durch den Verlust seiner sittlichen Würde erniedrigt sich der Mensch unter das Niveau des Tieres.[7] Er verleugnet, so darf man das erläutern, seine Vernunftnatur, ohne das Vernunftvermögen selber zu verlieren. Er verliert die sittliche Würde, nicht aber die ontologische, seine Moralität, nicht aber die Moralfähigkeit.

Dass der Mensch trotz seiner Sünde die ontologische Würde behält, finden wir bei Thomas nicht dem Wortlaut nach. Der Gedanke ist aber gegenwärtig, wenn er schreibt, dass auch die Sünder zu lieben seien. Denn diese behalten trotz ihrer Bosheit (malitia) ihre Natur, der gemäß sie nach dem Bild Gottes erschaffen und des göttlichen Lebens fähig sind.[8] In der Bibel findet sich diese Wahrheit von der Würde, deren normativer Anspruch selbst durch die Sünde nicht zerstört wird, in der Erzählung vom Kainsmal, das den wegen Mordes verfluchten Kain vor jeder Lynchjustiz beschützt: „Der Herr machte dem Kain ein Zeichen, dass ihn niemand erschlage, der ihn findet“ (Gen 4, 15).

Durch seine Sünde hört der Mensch nicht auf, Mensch zu sein. Als Mensch behält er seine ontologische Würde. Trotzdem wird er schlechter als ein Tier, wie Thomas sagt. Das Tier ist nicht moralfähig und deshalb unfähig zu Sünde, Schuld und Strafwürdigkeit. Insofern ist es immer „unschuldiger“ als der Mensch, der gesündigt hat. Man könnte auch sagen: Dem Tier ist es nicht auf dieselbe Weise wie dem Menschen möglich, unter sein eigenes Niveau herabzusinken. Der Mensch aber kann seine sittliche Würde verlieren. Die moralische Schändlichkeit des Verbrechers ist das Gegenteil von Heiligkeit. Er hat würdelos gehandelt, seine eigene Würde desavouiert und jede Heiligkeit in sich zerstört.

Die Vernunft ist empfänglich für den Anspruch des Sittengesetzes

Bei Kant finden wir die Unterscheidung zwischen ontologischer und sittlicher Würde nicht ausdrücklich. Wir können sie aber der Sache nach wiederentdecken. Die ontologische Würde finden wir ausgedrückt in der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs, die alle Menschen unabhängig von ihrer Moralität vor einer Missachtung ihrer Selbstzwecklichkeit schützt. In der GMS spricht er von „der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“. Damit meint er das Sittengesetz. Gegeben wird es durch die Vernunft. Der Mensch handelt somit, wenn er moralisch handelt, als Vernunftwesen. Er kann aber auch anders handeln, nämlich aus Trieb und Neigung. Das hat er mit den Tieren gemeinsam. Wie sie gehört er zur Sinnenwelt. Aufgrund seiner Sinnlichkeit ist er ein bedürftiges Wesen. Nach David Hume ist es allein diese Bedürftigkeit, die dem Menschen die Ziele seines Handelns vorgibt. Die Vernunft steht dann nur im Dienst der Verfolgung dieser Ziele. Das aber, sagt Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ in Übereinstimmung mit Thomas, würde den Menschen „im Werte“ nicht „über die bloße Tierheit“ erheben („Denn im Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, dass er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet“). Erst die Empfänglichkeit gegenüber dem Anspruch des Sittengesetzes erhebt ihn über das Tier. „Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein.“ Das, was Vernunft für sich selbst sagt, ist das Sittengesetz. Handelt der Mensch aus Neigung, ist er fremdbestimmt, heteronom. Er unterwirft sich dem Diktat seiner Bedürfnisse, die ihre Erfüllung finden durch Dinge außerhalb seiner. Aus Hunger essen, aus Durst trinken, aus Lust Sex haben: das tut auch das Tier. Handelt der Mensch dagegen aus Pflicht, dann tut er, was allein die Vernunft ihm zu tun befiehlt. Es ist diese praktisch-moralische Vernunft, wodurch der Mensch Person ist und wodurch er sich vom Tier unterscheidet.

Autonomie erwächst aus der bewussten Unterwerfung unter das Sittengesetz

Kant sieht klar: Der Mensch ist Tier und Person zugleich. Die animalische Natur in uns können wir nicht leugnen. Wir sind gezwungen, uns um das Interesse unserer Sinnlichkeit „zu bekümmern“, wie er schreibt (Kritik der praktischen Vernunft, 1788). Und wir tun es mit Hilfe unserer Vernunft. Die Vernunft auf diese Rolle zu beschränken hieße aber, uns selber auf das Wertniveau eines Tieres herabzuzwingen. Das unterscheidend Menschliche, nämlich Würde, kommt uns zu durch die moralische Vernunft. Insofern unsere Vernunft moralisch-praktisch ist, unterwirft sie sich nicht den Gesetzen der Sinnlichkeit, sondern nur ihren eigenen Gesetzen. Die Vernunft ist selber gesetzgeberisch.

Der hl. Thomas spricht vom Sittengesetz als vom dictamen rationis, dem Spruch der Vernunft, die er offensichtlich in gewisser Übereinstimmung mit Kant – bei aller tiefgreifenden Differenz – als „gesetzgeberische Anlage des Menschen“ denkt.[9] Wenn der Mensch sich dem Sittengesetz unterwirft, lässt er nicht etwas Fremdes über sich herrschen, sondern seine eigene Vernunft, und insofern wird er autonom. In dieser Autonomie besteht die Würde des Menschen.

Nietzsche leugnet die sittliche Verantwortlichkeit des Menschen

Wird der Unterschied von Gut und Böse geleugnet, wird also Moralität als Wirklichkeit hinwegphilosophiert, dann verschwimmen die Grenzen zwischen Tier und Mensch. Genau das können wir bei Nietzsche beobachten. Seine Philosophie liefert die perfekte Gegenprobe zu unserer These.

Wie Kant sieht Nietzsche das Unterscheidende des Menschen in seiner Moralfähigkeit. Aber das gereicht dem Menschen nicht zur Würde, sondern zum Nachteil. Das Gewissen ist eine Erkrankung, die Moral bewirkt eine Verfälschung und Verunsicherung des menschlichen Wesens. „Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben."[10] Zu diesen Irrtümern gehört für Nietzsche die Annahme, der Mensch sei für sein Handeln verantwortlich. Die Unterscheidung zwischen freiem menschlichem Handeln und tierischem Verhalten ist ein Irrtum.[11] Gerade das, was für Thomas die Würde des Menschen ausmacht, nämlich seine Freiheit in dem Sinne, dass er Herr über seine Akte ist, seine Verantwortlichkeit, wird von Nietzsche geleugnet. Andererseits nennt Nietzsche den Menschen das „noch nicht festgestellte Tier“.[12] Damit spricht er die Tatsache an, dass der Mensch seine Instinktsicherheit verloren hat. Hier kehrt die geleugnete Differenz zwischen menschlicher Handlung und tierischem Verhalten in anderer Gestalt wieder, nicht als Auszeichnung, sondern als Mangel. Die Vernunft kann den Instinkt nur mangelhaft ersetzen. Sie ist für Nietzsche eher ein Unfall der Entwicklungsgeschichte, der hilfsweise das zu übernehmen hat, was bei den Tieren der Instinkt viel besser erledigt: die „Selbstregulierung“.[13]

Gut und Böse seien Erfindungen einer Sklavenmoral

In dieser Optik ist dann Moral nichts anderes als das Verfolgen tierischer Ziele (wozu hauptsächlich das Überleben in feindlicher Umwelt gehört) mit anderen Mitteln, so dass „das ganze moralische Phänomen als thierhaft zu bezeichnen“ ist, selbst der „Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist“.[14] „Mit anderen Mitteln“ heißt hier: mit schlechteren Mitteln. „Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel – er ist das kranke Thier."[15] Seine Gesundung kann nur geschehen durch eine Zurückübersetzung in die Natur: Indem er die Fesseln der Moral abschüttelt und sich von den Kategorien „Gut“ und „Böse“ als Erfindungen einer Sklavenmoral, die das Raubtier in ihm unschädlich machen soll, verabschiedet, wird aus dem Haustier, zu dem die christliche Kultur ihn gemacht hat, wieder ein – in den Worten Nietzsches – frohlockendes Ungeheuer, das „in die Unschuld des Raubtier-Gewissens“ zurückgetreten ist.[16]

Hilfe an Schwachen sei Degenerationserscheinung christlicher Moral

Der höchste Wert ist für Nietzsche nicht das Gute, sondern das Leben, das sich in Machtentfaltung austobt. Der größte Unwert ist für ihn nicht das moralische Übel, etwa Unrecht oder Grausamkeit, sondern Krankheit und Schwäche. „Die Krankhaften sind des Menschen grosse Gefahr: nicht die Bösen, nicht die ,Raubthiere‘. Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochnen – sie sind es, die Schwächsten sind es, welche am Meisten das Leben unter Menschen unterminiren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen."[17] Menschlichkeit, die sich dieser Schwächsten in besonderer Liebe annimmt, ist für Nietzsche eine Degenerationserscheinung christlicher Moral.

Der Mensch soll von der Krankheit des Gewissens genesen, das bedeutet für Nietzsche: Er soll kein schlechtes Gewissen mehr entwickeln, wenn er sich wie ein Raubtier benimmt. Er soll die Hemmungen der Moral überwinden und seine Vernunft dazu benutzen, zum kraftstrotzenden Leben eines Raubthieres zurückzufinden, der blonden Bestie, die ihre Stärke auslebt. Die Moralfähigkeit ist auch für Nietzsche das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Aber sie hält ihn von der Verwirklichung seines Wesens ab und ist deshalb zu überwinden. Der Mensch ist ein durch Vernunft und Gewissen degeneriertes Tier.

Die „Raubtier-Ethik“ Nietzsches atmet einen antichristlichen Geist

Nach Thomas wird der Mensch unter das Tier erniedrigt durch die Sünde, nach Nietzsche durch die Moral. Für Thomas gilt: Durch den moralischen Wert, sprich: die Heiligkeit, wird der Mensch über sich selbst hinausgehoben und vergöttlicht. Für Nietzsche gilt: Durch die Moral wird der Mensch verdorben und unter das Raubtierniveau herabgedrückt. Die Moral verhindert die Entfaltung des höchsten Wertes. Im Vergleich zum moralischen Menschen ist das Raubtier das lebensstrotzendere und somit höherwertige, ihm überlegene Lebewesen.

In den Schriften Nietzsches hört sich das stellenweise sehr pathetisch und verlockend an, zumal er es versteht, diese Raubtier-Ethik mit dem Glanz des Vornehmen zu umgeben. Doch wie sieht solche Ethik in der Praxis aus? Sämtliches Anschauungsmaterial, das uns die Geschichte von ihr liefert, zeigt deren hässliche Fratze. Gegen die Vereinnahmung Nietzsches durch den Nationalsozialismus wehren sich Nietzsche-Anhänger in der Regel heftig. Das tun sie einesteils zurecht, denn für den Rassismus und Antisemitismus der braunen Ideologie ist Nietzsche kein geeigneter Pate. Aber eine Ethik, die Gut und Böse für obsolet erklärt und das Gewissen verächtlich macht, ist von Natur aus jeder totalitären Herrschaftsideologie willkommen. Sie bricht jedem Gewissenswiderstand gegen das Unrecht das Rückgrat.

Diskreditierung der Moralfähigkeit ist jedem Totalitarismus zweckdienlich

Es geht hier nicht um die Frage, welchen Einfluss Nietzsche tatsächlich hatte – das zu untersuchen ist Sache des Historikers –, sondern wie zweckdienlich jedem Totalitarismus seine Philosophie sein muss. Dieser Charakter ist jeder Philosophie eigen, die die Moralfähigkeit des Menschen diskreditiert, wie wir z.B. auch bei Heidegger beobachten können. Außer dem Nationalsozialismus ist auch der Kommunismus ein geeigneter Kandidat, um die Anschlussfähigkeit solcher Philosophie an Unrechtssysteme zu demonstrieren. Davon kann der Autor des „Archipel Gulag“ ein Lied singen. In seinen „Drei Reden an die Amerikaner“ erklärte Alexander Solschenyzin, dass der Kommunismus „alle absoluten Moralbegriffe ablehnt, die Begriffe von ,Gut‘ und ,Böse‘ als Wertkategorien verhöhnt.“ Aber, so fragt er weiter, was bleibt, wenn man uns die Begriffe von ,Gut‘ und ,Böse‘ wegnimmt? Seine Antwort: „Es wird ein Dahinvegetieren sein. Wir werden auf das Niveau von Tieren hinabsinken.“

Hier schließt sich der Kreis. Solche Erfahrungen, wie Solschenyzin sie machte, können uns von der Nietzscheanischen Versuchung befreien, Menschlichkeit für verachtenswert und Raubtierbestialität für wünschenswert zu halten.

Die Wertkategorie des Guten macht das Wesen des Menschen erst begreiflich

Es mag schöne Raubtiere wie Löwen und Tiger geben. Aber es gibt keine schöne Grausamkeit, kein vornehmes Unrecht. Ein reißender Löwe mag ein ästhetisches Erlebnis sein. Die Antilope zahlt den Preis dafür. So ist eben die Natur. Aber ein folternder Mensch oder ein ungerechtes Regime liefern nicht einmal ein ästhetisches Erlebnis. Sie sind Hässlichkeit pur: nicht, weil es bis zur vorgeblichen Schönheit der blonden Bestie noch an irgendwelchen Ingredienzien der Vornehmheit fehlte, sondern weil Machtmissbrauch per se eine hässliche Entwürdigung dessen darstellt, wozu der Mensch berufen ist. Dass wir überhaupt von Machtmissbrauch sprechen können, dass Macht also nicht nur gebraucht, sondern auch missbraucht werden kann, ist ein untrügliches Zeichen für die Wahrheit, dass es die Wertkategorie des Guten tatsächlich gibt, und zwar nicht als Erfindung des Menschen, sondern als eine fundamentale Wirklichkeit, die das Wesen des Menschen erst begreiflich macht. Wahre Größe ist nicht an Macht oder Raubtiergehabe gebunden, sondern an den sittlichen Wert, so wie es Matthias Claudius erkannt hat: „Es ist nichts groß, was nicht gut ist.“ Der Mensch ohne Moral mag an Macht gewinnen, aber er verliert an Würde. Die blenderische Rhetorik Nietzsches zerschellt an der unnachgiebigen Nüchternheit der Realität.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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[1] Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, 1797 (MS), ein spätes Werk Kants zur Rechts- und Tugendlehre.
[2] Ders.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785 (GMS). Es ist die erste grundlegende Schrift Kants zur Ethik.
[3] Thomas von Aquin: S. th. II-II, 64, 2, ad 3: „decidit a dignitate humana.“
[4] Ebd.: „prout scilicet homo est naturaliter liber et propter seipsum existens.“
[5] S. th. I 59, 3, s.c.: „libertas arbitrii ad dignitatem hominis pertinet.“
[6] De ver., 24, 1, c.: „causa sui ipsius in movendo“ und „in iudicando“.
[7] S. th. II-II, 64, 2, ad 3: „peior enim est malus homo bestia.“
[8] 3 Sent, d 28 q. un. a. 4 sol.: „ergo secundum naturam suam sunt ad imaginem Dei, et vitae divinae capaces sunt.“
[9] Vgl. Servais Pinckaers: Eudämonismus und sittliche Verbindlichkeit in der Ethik des heiligen Thomas. Stellungnahme zum Beitrag Hans Reiners, in: Paulus Engelhardt (Hg.): Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, Mainz 1963, 267-305.
[10] Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 1878 (MA I), 40 (zitiert nach Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montanari, 1999).
[11] Vgl. MA I, 102.
[12] Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, 1886 (JGB), 62.
[13] Ders.: Nachgelassene Fragmente aus der Zeit Frühjahr-Herbst 1881.
[14] Ders.: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, 1881 (M), 26.
[15] Ders.: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, 1887 (GM), III, 13.
[16] GM I, 11.
[17] GM III, 14.

Carlo Acutis wird am 10. Oktober seliggesprochen

Apostel der Eucharistie

Die Ankündigung der Seligsprechung von Carlo Acutis (1991-2006), dem jugendlichen Computergenie, das die Eucharistie zutiefst liebte, war schon lange erwartet worden. Wegen der Pandemie wurde das Datum auf Oktober verschoben. Die Feier wird in Assisi, dem Ort seiner Beerdigung, am Samstag, dem 10. Oktober, um 16 Uhr in der Päpstlichen Basilika San Francesco stattfinden. In seinen letzten Tagen sagte Carlo, er wolle alle seine Leiden für den Herrn, den Papst und die Kirche aufopfern. Er wolle nicht ins Fegefeuer, sondern direkt in den Himmel kommen. Ein Beitrag von CNA Deutsch.

Von Anian Christoph Wimmer

Die Freude, auf die wir seit langem gewartet haben, hat endlich ein Datum“, so Erzbischof Domenico Sorrentino, der Bischof des Bistums Assisi-Nocera Umbra-Gualdo Tadino. Denn Mitte Juni gab der Vatikan bekannt, dass die Seligsprechung von Carlo Acutis am 10. Oktober 2020 stattfinden wird. Im Februar dieses Jahres wurde ein Wunder auf die Fürsprache von Carlo Acutis anerkannt, das den Weg für die Seligsprechung ebnete.

Carlo Acutis starb mit 15 Jahren an Krebs. Seine Krankheit opferte er für die Kirche auf und nutzte seine Leidenschaft für Informatik, um zu evangelisieren und die Liebe zur Eucharistie zu verbreiten. Er könnte ein „Schutzpatron des Internets“ werden.

Geboren wurde Carlo Acutis am 3. Mai 1991 in London, wo seine Familie aus beruflichen Gründen lebte. Später zog sie nach Mailand. Mit sieben Jahren empfing er die Erstkommunion. Von da an war sein Leben geprägt von einer tiefen Liebe zur Eucharistie, die er seine „Autobahn zum Himmel“ nannte. Er nahm jeden Tag an der Heiligen Messe teil und betete auch den Rosenkranz, angespornt von seiner Liebe zur allerseligs-ten Jungfrau Maria, die er als seine Vertraute betrachtete.

Ebenso erteilte er Katechismusunterricht und half den Bedürftigen. Sein intensives geistliches Leben führte ihn dazu, etwas zu schaffen, das man den „Bausatz zum Heiligwerden“ nennen könnte. Dieser besteht aus der Heiligen Messe, der Kommunion, dem Rosenkranz, der täglichen Bibellesung, der Beichte und dem Dienst an den anderen. Zu diesen seinen Idealen sagte er einmal: „Unser Ziel muss das Unendliche sein, nicht das Endliche. Die Ewigkeit ist unsere Heimat. Seit jeher wartet der Himmel auf uns.“

Acutis entwickelte schon von klein auf sein Talent für die Informatik und wurde von den Erwachsenen, die ihn kannten, als ein Genie auf diesem Gebiet angesehen. So verband er sein Faible für die Informatik mit seinem apostolischen Eifer und erstellte Computerpräsentationen zu Themen des Glaubens. Eine der herausragendsten handelt von eucharistischen Wundern in der ganzen Welt. Er hat sie im Alter von 14 Jahren erstellt.

Als er erfuhr, dass er Leukämie hatte, opferte er seine Leiden für den Papst und die katholische Kirche auf. Er starb mit 15 Jahren, am 12. Oktober 2006, dem Fest Unserer Lieben Frau auf dem Pfeiler (Virgen del Pilar). Noch bevor er wusste, dass er krank war, nahm er ein Video auf, in dem er erklärte, er würde gerne in Assisi begraben werden, wenn er sterbe. Dort ruhen jetzt seine leiblichen Überreste.

Im Jahr 2007 veröffentlichte ein Journalist der vatikanischen Zeitung L'Osservatore Romano, Nicola Gori, ein Buch unter dem Titel „Die Eucharistie. Meine Autobahn in den Himmel: Eine Biographie von Carlo Acutis“ und 2016 präsentierte er eine weitere Schrift: „Ein Informatikgenie im Himmel: Biographie von Carlo Acutis“.

Die Webseite von Carlo Acutis, auf der er die Eucharistischen Wunder vorgestellt hat, gibt es auch auf deutsch: www.miracolieucaristici.org/de/Liste/list.html 

Mehr zu Carlo Acutis auf seiner Webseite: www.carloacutis.com

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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Die Entdeckung der Quelle und der Aufruf zur Buße

Lourdes: Neubeginn in Christus

Die Diplom-Pädagogin Gunda Maria Eggerking beschäftigt sich seit vielen Jahren mit katholisch-theologischen Fragen und den spirituellen Geheimnissen des Christentums. Ende Mai 2020 hat sie im Bernardus-Verlag den ersten Teil einer zweibändigen Abhandlung über die Ereignisse von Lourdes publiziert: „Das Wunder von Lourdes“, Band I: „Eine Reise durch die Zeit“.[1] Im Herbst soll der zweite Band mit dem Untertitel „Bernadette – Marie-Bernard“ erscheinen.[2] Das vorliegende Buch überrascht mit vielen Details, die wenig bekannt sind und die Bedeutung von Lourdes in einem neuen Licht aufscheinen lassen. Der nachfolgende Auszug versteht sich auch als geistlicher Impuls in einer Zeit, die von der Corona-Pandemie geprägt ist.

Von Gunda Maria Eggerking

In Lourdes gibt es zwei bedeutsame Ereignisse, die diesen Wallfahrtsort von anderen Wallfahrtsorten unterscheiden, da sie Himmel und Erde aufs Engste miteinander verbinden. Das eine ist das himmlische Ereignis der Erscheinung der Unbefleckten Empfängnis, das andere das irdische Ereignis der Freilegung einer Quelle nach der Aufforderung der Jungfrau Maria an Bernadette: „Gehe zur Quelle und wasche dich dort“.

Diese Aufforderung hat eine örtliche Bedeutung und betrifft inzwischen alle Menschen, die mit diesem Wasser in Kontakt kamen und kommen.

Dokumentation von Pater André Ravier: „Bußübungen für die Sünder“

Zur Offenlegung der Quelle durch Bernadette schreibt P. André Ravier[3] Folgendes:
„Die ,Entdeckung‘ der Quelle ist schwierig zu datieren. Sicher war es ein Tag zwischen dem 22. und 27. Februar. Aber welcher? Die Historiker weichen voneinander ab. Wir schließen uns der Wahl von Abbé Laurentin an, dem Datum des 25. Februar. ,Die Dame sagte mir, ich solle zur Quelle trinken gehen und mich dort waschen. Da ich keine Quelle sah, ging ich zum Gave, um zu trinken. Die Dame sagte mir, es sei nicht dort. Sie machte mir mit dem Finger ein Zeichen, unter den Fels zu gehen. Nun war ich dort, und ich bemerkte ein bisschen Wasser, das wie Schlamm aussah. Es war so wenig, dass ich kaum ein wenig davon in die hohle Hand nehmen konnte. Ich gehorchte jedoch und fing an zu kratzen, dann konnte ich davon nehmen. Dreimal habe ich es weggeschüttet, so schmutzig war das Wasser. Beim vierten Mal konnte ich davon trinken. Sie veranlasste mich auch, Gras zu essen, das an der gleichen Stelle stand, wo ich getrunken hatte; ein einziges Mal nur – warum weiß ich nicht.‘ Jedem, der ihr später sagen sollte, dass dies eine verrückte Handlung war, würde sie antworten: ,Wir essen ja auch Salat.‘ ,Dann verschwand die Erscheinung, und ich zog mich zurück.‘ Eine Sache erstaunt jeden, der mit den handschriftlichen Berichten über die Erscheinung vertraut ist. Nirgendwo schreibt Bernadette darin das Wort ,Buße‘. Im Gegenteil, es ist immer die Rede vom ,Beten für die Sünder‘. Sollte Aquerò[4] das Wort ,Buße‘ nicht verwendet haben? Doch, die mündlichen Berichte Bernadettes und die Erzählungen der Zeugen bestätigen es ausdrücklich. Auf jeden Fall hatten die Gebärden, die Aquerò Bernadette mehrere Male andeutete, wie: sich an der Quelle zu waschen, auf den Knien auf dem nackten Boden vorwärts zu rutschen, die Erde zu küssen, einen Sinn, der ihr nicht entging. Wer sie fragte, warum die Dame sie angewiesen hatte, ein paar Halme dieses Grases zu essen, das am feuchten Rand der Quelle wuchs, dem antwortete sie einfach: ,Für die Sünder‘. Gebet und Buße gehörten in ihren Augen zusammen, wenn es darum ging, die Sünder zu bekehren.“

Zeugnis von Jean Barbet: „Auch ihr sollt Buße tun!“

Jean Barbet und Jean B. Estrade berichten sogar jeweils von zwei anderen Erscheinungen, die die Buße zum Thema hatten. Jean Barbet war der damalige Lehrer des Ortes, selbst Augenzeuge der Erscheinungen, und hat die wichtigsten Augenzeugen persönlich gekannt und befragt. So schreibt Jean Barbet,[5] der in seinem Buch jedoch nicht alle Erscheinungen wiedergibt, von der sechsten Erscheinung am 21. Februar:

„Auch an diesem Morgen betrachtet Bernadette die Vision in der Unbeweglichkeit ihrer Verzückung. Plötzlich sieht man, wie sich Bernadette vornüberbeugt und die Erde küsst. Dann rutscht sie auf den Knien den steilen Hang hinauf bis zum Fuß des Rosenstrauches. Auf dem Weg dorthin berührt sie den Boden häufig mit ihren Lippen; denn die Erscheinung hatte ihr gesagt: ,Du wirst für die Sünder zu Gott beten. Du wirst zur Bekehrung der Sünder die Erde küssen.‘ Und SIE hatte ihr ein Zeichen gegeben, auf den Knien heranzukommen. So küsste Bernadette die Erde […] Schließlich wendet sich Bernadette an die Versammlung und gibt dieser ein Zeichen: ein zwingendes Zeichen, das der Menge befiehlt, sich zu verneigen. Niemand versteht sie. Da legt Bernadette einen Finger auf ihre Lippen, lässt ihn dort einen Augenblick verweilen und weist dann mit dem Finger steil und befehlend zur Erde hinab. Von dieser Gebärde und dem Blick, der sie begleitet, geht eine solche Autorität aus, das sie befehlen: ,Auch ihr werdet nun die Erde küssen!‘, so dass sich auf der Stelle mehrere Personen auf die Knie niederlassen und mit ihren Lippen den Sand berühren. Die Mehrzahl jedoch versteht nicht und bleibt unbeweglich, während Bernadette diese mit einem Gesicht voller Trauer betrachtet. Immer noch auf den Knien kommt sie schließlich den Hang [vor der Grotte] wieder herunter, wobei sie fortwährend die Erde küsst. Auf ihren Platz zurückgekehrt, gibt sie sich vor der Nische erneut der Betrachtung hin. Von diesem Tage an, solange die Erscheinungen noch andauerten, erhielt sie von der Vision immer den gleichen Befehl, die gleiche Ermahnung. Jeden Tag erklomm Bernadette schweigend auf den Knien den Hügel und kehrte den Weg auf den Knien schweigend zurück. Eines Tages jedoch hörte man sie deutlich die Worte aussprechen: ,Buße! … Buße! … Buße! …‘ An einem bestimmten Tag führte sie sogar mehrere Male diese Aufstiege aus: Ihr Gesicht behielt dabei ständig den Ausdruck freudiger Ergriffenheit, aber ein Schatten sanfter Trauer verschleierte es, ohne jedoch das Lächeln daraus zu verbannen. Von der Nische dort oben aus lächelte ihr die hohe Frau zu, wie um ihrer Bußübung zuzustimmen und sie durch das entzückende Zeugnis IHRER Freude zu belohnen. ,Ich habe einige Male geglaubt‘, schreibt ein Augenzeuge, ,dass unsichtbare Wesen Bernadette dabei unterstützten, dass sie den Hügel so behände erreichen und so hurtig wieder zurückkehren konnte!‘ ,Aber warum bist du auf den Knien gerutscht und hast die Erde geküsst?‘, fragte man sie am ersten Tag. ,Die Erscheinung hat es mir befohlen. Es ist zur Buße für mich und die anderen …‘ ,Warum hast du uns ein Zeichen gegeben, die Erde zu küssen?‘ ,Die Frau wollte sagen, dass auch ihr Buße für die Sünder tun solltet!‘ Es war etwa ein Jahr später, als einige Geistliche Bernadette gegenüber folgende Einwände hatten: ,Es ist aber seltsam, dass die Heilige Jungfrau das alles von dir verlangt hat! Das sind schon merkwürdige Dinge, die gar nicht vernünftig erscheinen!‘ Sie antwortete in einem überzeugten Ton, indem sie die Augen niederschlug: ,Ach, wenn es um die Bekehrung der Sünder geht! …‘“

Bericht von Jean B. Estrade: „Tränen rannen über ihre Wangen“

Der damalige Steuereinnehmer Jean B. Estrade, ein Zeitzeuge,[6] der an diesem Tag selbst nicht an der Grotte sein konnte, gibt vom 24. Februar einen entsprechenden Bericht seiner Schwester wieder:

„Zur gewohnten Zeit erschien Bernadette, und ohne auf die Blicke zu achten, die von allen Seiten auf sie gerichtet waren, ging sie bis zu dem Stein, auf dem sie bereits in den letzten Tagen gekniet hatte. […] Hatten die bisherigen Mitteilungen der Dame an Bernadette einen rein privaten Charakter, so sollte sich das von diesem Tag an ändern. Nicht nur ihrem auserwählten Kind Bernadette wollte sie ihre Huld und Güte erweisen, sondern ihre erbarmungsreichen Schätze auch für die ganze Welt erschließen. Daher hat diese achte Erscheinung der Allerseligsten Jungfrau auch eine ganz besondere Bedeutung. Meine Schwester berichtete mir, wie sich Bernadettes strahlendes Gesicht bei dieser Erscheinung plötzlich veränderte und von einer tiefen Trauer befallen wurde. Die Seherin, so hatte man den Eindruck, bemühte sich, nach der einen Seite des Felsens hin zu lauschen, ließ dann aber ihre Arme sinken wie jemand, der eine Trauernachricht empfängt. Tränen rannen über ihre Wangen. In ganz demütiger Haltung erreichte sie auf den Knien rutschend den Pfad, der an der Nische vorbeiführte, und küsste immer wieder den Boden. Bis zu dem wilden Rosenstrauch wiederholte sich das. Hier erhob sie ihre Augen zu der ovalen Öffnung der Felsennische, als ob sie hier die Worte einer geheimen Botschaft entgegennehmen wollte. Wie später behauptet wur-de, wandte sich Bernadette anschließend zu den Zuschauern und rief weinend und schluchzend aus: ,Buße! Buße! Buße!‘ Meine Schwester war zu weit von der Seherin entfernt und konnte diese Worte nicht verstehen. Auf jeden Fall steht fest, dass die Seherin sie aus dem Munde der Dame vernommen hatte. Wieder in die ursprüngliche Stellung zurückgekehrt, versank Bernadette von neuem in Ekstase.“

Reue, Buße, Umkehr – Neubeginn in Christus

Im Themenheft PURspezial über Lourdes steht in der Auflistung der Erscheinungen ebenfalls am 24. Februar: „Die Botschaft der Dame lautet: ,Buße! Buße! Buße! Bete zu Gott für die Sünder! Küsse die Erde zur Buße für die Sünder!‘“ Und außerdem am Sonntag, dem 28. Februar: „Bernadette betet, küsst den Boden und bewegt sich zum Zeichen der Buße auf ihren Knien vorwärts.“

Die geschilderten Verhaltensweisen Bernadettes sind Ausdruck ihres ganzen Charakters. Doch die dringenden Aufrufe der Jungfrau Maria zur Buße, die Bernadette so oft weitergab und denen sie selbst Folge leistete, sind eine Aufforderung zur Umkehr, zur Besserung, zum Wandel und Neubeginn. Denn die Umkehr steht in einem engen Zusammenhang mit der Buße, die im Deutschen gleichbedeutend ist mit Reue und Sühne. Reue bedeutet den Schmerz über etwas, was man getan, gedacht, gefühlt oder unterlassen hat, und ohne Reue gibt es im Menschen auch kein Bedürfnis nach Buße oder Sühne, kein Bedürfnis, das eigene „Vergehen“ wieder gut zu machen beziehungsweise umzukehren.

Hildegard von Bingen wurde gesagt, dass die Reue die große verwandelnde Kraft in der Welt sei: „Der folgenschweren menschlichen Verhärtung steht mit noch gewaltigeren Folgen die menschliche Reue gegenüber, die nicht nur die Seelen erschüttert, sondern Himmel und Erde und die Welt der Engel in Bewegung zu versetzen vermag.“ Dazu gehört es auch, Mitmenschen sofort um Verzeihung zu bitten, wenn man sie verletzt hat; aber sich auch mit der Bitte um Verzeihung an Gott zu wenden, da man sich gegen Sein Liebesgebot verhalten hat, sei es in Gedanken, Gefühlen, Wort oder Tat. Es geht letztendlich um die Verwandlung der eigenen Seele, zu der zwei Dinge gehören: das Gebet und die eigenen Schritte, die wir Kraft des Geistes Christi in uns gehen können. Das beginnt mit der Gedankenkontrolle, wie es in den folgenden bekannten Sätzen heißt: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden deine Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden deine Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal …“ Der Theologe Urs Keusch setzt den Begriff der Buße mit „sich bessern“ gleich: „Ich darf und ich kann mich bessern. Ich kann getanes Unrecht wiedergutmachen. Ich kann den besseren, den schöneren Menschen, das Kind Gottes in mir herausarbeiten, wie der Bildhauer die Idee in einem Stein. Ich kann heil und heilig werden! Ich kann sogar hemmenden Einfluss nehmen auf den Lauf des Bösen, das von mir ausgegangen ist. Das führt zur inneren Wiedergeburt, zur inneren Auferstehung und zum Fortschritt zum Höheren.“ In diesem Sinne möchte ich auch meine Ausführungen zum Neubeginn in Christus verstanden wissen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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[1] Gunda Maria Eggerking: Das Wunder von Lourdes I: Eine Reise durch die Zeit, Bernardus Verlag 2020, Pb., 202 S., ISBN 978-3-8107-0326-2, Euro 14,80. Bestellung unter Tel. 0241-873434. Webseite: www.bernardus-verlag.de
[2] Gunda Maria Eggerking: Das Wunder von Lourdes II: Bernadette – Marie-Bernard, Bernardus Verlag 2020, Pb., 180 S., ISBN 978-3-8107-0330-9, Euro 14,80. Bestellung Tel. 0241-873434. Webseite: www.bernardus-verlag.de
[3] Bernadette Soubirous – Eine Heilige Frankreichs, Europas und der Welt. Mit einem Essay von André Ravier SJ sowie zahlreichen S/W-Bildern und 16 Farbtafeln von Nils Loose, Herder Verlag 1979. Der Text hat die Imprimatur von Jean Steiff, Bischof von Nevers. Jesuitenpater André Ravier war kein Zeitzeuge, gibt aber den Wortlaut der Aussagen Bernadettes aus den Originaldokumenten wieder.
[4] ,Aquerò‘ = ,cela‘ (das da): So hat Bernadette die Erscheinung bezeichnet, als diese sich noch nicht zu erkennen gab, also bis zum 25. März 1858.
[5] Jean Barbet: Die über alles schöne Frau, Christiana-Verlag Stein am Rhein, 1. Auflage 1992.
[6] Jean B. Estrade: Bernadette, die Begnadete von Lourdes, Johannes-Verlag Leutersdorf am Rhein, 14. Auflage 2000. Jean B. Estrade und seine Schwester, die ihm den Haushalt führte, waren nach seiner Bekehrung sogar mit Bernadette befreundet.

Meditationen über die Herzmitte des christlichen Glaubens

Christ sein ist schön

In einem neuen Buch hat Kurt Kardinal Koch Homilien zusammengestellt, die er seit seiner Bischofsweihe sowohl als Bischof von Basel in den Jahren zwischen 1995 und 2010 als auch in der jetzigen Aufgabe seit 2010 als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen in Rom gehalten hat.[1] Die Meditationen spiegeln den reichen apostolischen Dienst des Kardinals wider und möchten Freude an der Schönheit Gottes und an der Schönheit des christlichen Glaubens wecken. Auszug aus seinem Vorwort.

Von Kurt Kardinal Koch

Das Adjektiv „schön“ wirkt heute auf viele Menschen abgegriffen. Etwas oder Jemanden „schön“ zu nennen, macht den Eindruck einer banalen und langweiligen Aussage. Von daher dürfte es als gewagt erscheinen, auch und sogar das Christ-Sein als „schön“ zu bezeichnen. Eine solche Wahrnehmung des Schönen bringt es freilich an den Tag, wie es um unsere Welt und das menschliche Leben in ihr steht. Denn das Schöne gehört genauso wie das Wahre und Gute zu den Eigenschaften, den so genannten „Transzendentalien“ des Seins überhaupt. Heute aber haben sich viele Menschen und selbst Christen angewöhnt, sich ganz auf das Wahre und Gute zu konzentrieren und das Schöne als etwas Sekundäres und Nebensächliches zu betrachten. Eine solche Einstellung zur Wirklichkeit führt freilich zu einer großen Verarmung. Denn die drei Eigenschaften des Seins gehören so unlösbar zusammen, dass sich das Vernachlässigen des Einen auch auf die Anderen als verheerend auswirken muss. Darauf hat der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar mit Recht aufmerksam gemacht: „In einer Welt, die vielleicht nicht ohne Schönheit wäre, sie aber nicht mehr zu sehen, nicht mehr mit ihr zu rechnen vermag, hat auch das Gute seine Anziehungskraft, die Evidenz seines Getan-Werden-Müssens eingebüßt.“ Und: „In einer Welt, die es sich nicht mehr zutraut, das Schöne zu bejahen, haben die Beweise für die Wahrheit ihre Schlüssigkeit eingebüßt."[2]

Dem bedeutenden Schweizer Theologen, der die ganze Theologie gemäß den drei Transzendentalien rekonstruiert hat,[3] ist es ein elementares Anliegen gewesen, auch die Schönheit Gottes wieder zu entdecken, zumal sie vor allem in der lateinischen Tradition der Christenheit etwas ins Hintertreffen geraten ist. In dieser standen stets mehr die Wahrheit und das Gutsein Gottes im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Man war weithin von der Überzeugung geleitet, dass Gott wahr ist und dass man deshalb seinem Wort trauen darf, und dass Gott gut ist und dass man deshalb seinen Geboten gemäß leben soll. Wahrheit und Gutsein sind gewiss grundlegende Eigenschaften Gottes. In der biblischen Botschaft ist Gott aber nicht nur wahr und gut, sondern auch und vor allem schön. Diese Eigenschaft Gottes wieder in Erinnerung gerufen zu haben, macht das große Verdienst von Balthasars aus: „Gott kommt nicht primär als Lehrer für uns (,wahr‘), als zweckvoller ,Erlöser‘ für uns (,gut‘), sondern um SICH, das Herrliche seiner ewigen dreieinigen Liebe zu zeigen und zu verstrahlen, in jener ,Interesselosigkeit‘, die die wahre Liebe mit wahrer Schönheit gemein hat."[4]

Wenn Gott vor allem schön ist, dann kommt es im Christ-Sein nicht nur darauf an, auf das wahre Wort Gottes zu hören und seinen guten Geboten zu folgen; dann geht es vielmehr auch darum, Gott in seiner wunderbaren Schönheit zu genießen und von der Schönheit Gottes in seiner Schöpfung und in der Geschichte Zeugnis zu geben. Diese Auskunft hört sich vielleicht für Viele noch zu theoretisch an. Von daher ist es angezeigt, noch auf einen weiteren Zeugen der Schönheit zu hören, nämlich auf den russischen Dichter Fjodor M. Dostojewskij, der sogar überzeugt ist, dass die Welt von der Schönheit gerettet werden wird. In seinem Roman „Der Idiot“ lässt der Dichter den Atheisten Ippolit den Fürsten Myschkin fragen: „Ist es wahr, Fürst, dass Sie einmal sagten, die ,Schönheit‘ werde die Welt erlösen?“ Ippolit hingegen behauptet, dass der Fürst „auf so sinnige Gedanken bloß kommt, weil er verliebt ist“.[5]

In den Augen des russischen Dichters hat der Atheist, ohne es zu wollen und sogar ohne sich dessen bewusst zu sein, die einzig richtige Antwort auf die Frage gegeben, welche Schönheit denn die Welt retten wird: Die Schönheit, die die Kraft hat, die Welt zu retten und zu erlösen, ist allein die Liebe, freilich nicht irgendeine Liebe, sondern die Liebe Gottes zu uns Menschen und zu seiner ganzen Schöpfung.[6] Denn das Erlöst-Werden besteht im Geliebt-Werden, und dies ist die Schönheit Gottes.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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[1] Kurt Kardinal Koch: Christ sein ist schön. Meditationen über die Herzmitte des christlichen Glaubens, Be+Be-Verlag, Heiligenkreuz 2020, 440 S., HC, ISBN 978-3-903118-95-9, Euro 24,90 – Bestellung unter E-Mail bestellung@bebeverlag.at oder Tel. +43 (2258) 8703-400. Webseite: www.bebeverlag.at
[2] H. U. von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Band 1: Schau der Gestalt (Einsiedeln 1961), 17.
[3] Der Schönheit Gottes ist die „Theologische Ästhetik“, dem Gutsein Gottes die „Theodramatik“ und der Wahrheit Gottes die „Theologik“ gewidmet.
[4] H. U. von Balthasar: Rechenschaft 1965 (Einsiedeln 1965), 27.
[5] F. M. Dostojewskij: Der Idiot (München 1964), 503.
[6] Vgl. C. M. Martini: Welche Schönheit rettet die Welt? Reflexionen über den dreifaltigen Gott (München 2000).

Vom Hirtenmädchen und dem Künstlermönch (3)

Begegnung mit Lucias Verwandten

In der dritten Folge ihrer Artikelserie über die Entstehungsgeschichte der Statue vom Unbefleckten Herzen Mariens am Glockenturm der Rosenkranzbasilika in Fatima folgen Prof. Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea P. Thomas McGlynn auf seiner Spurensuche am Erscheinungsort. Der amerikanische Dominikanerpater, der die Figur geschaffen hat, traf auf seiner Reise mehrere Verwandte der Seherkinder. In seinem Bericht gibt er deren Zeugnisse wieder und schenkt uns damit eine wertvolle Ergänzung zu den bekannten Dokumenten.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Spurensuche in Fatima

Lúcia lebte 1947 in Vila Nova de Gaia im Norden des Landes. Ein Abstecher nach Fatima in der Serra d’Aire lag nahe. Wie viele Pilger besuchen die beiden Mönche auf ihrem Weg das Dominikanerkloster Unserer Lieben Frau vom Siege in Batalha, einen der bedeutendsten Bauten der hohen Gotik. Seit Jahrhunderten zogen die Dominikaner von dort aus, um den Rosenkranz zu predigen. In der Verfolgung durch die Freimaurer ab 1910 hatte dieses Gebet in den Häusern der Gläubigen des Hügellandes überlebt. Jetzt stand das Kloster, in dem einst über dreihundert Brüder lebten, verlassen. Nur ein Militärposten hielt Wache am Grabmal des „Unbekannten Soldaten“ aus dem Ersten Weltkrieg. Das Ewige Licht in einer Seitenkapelle deutete an, dass die neue Regierung begonnen hatte, die Klosterkirche ihrer rechtmäßigen Bestimmung zurückzugeben. Überall waren Bildhauer am Werk und besserten die Ornamente aus.

Der hohe Turm des noch unfertigen Santuario de Fátima (Heiligtum von Fatima) begrüßt die Patres über den Hügeln weiß und freundlich gegen den dunklen Himmel. Die große, leere Nische im Turm über dem Hauptportal fällt Pater McGlynn auf. Was sie wohl einmal bergen wird? Im Vergleich zu heute muss Fatima im Februar 1947 viel ärmer und strenger gewirkt haben – „this shrine of penance“ (dieses Heiligtum der Buße). Als sie zur Erscheinungskapelle kommen, dem Ziel jeder Pilgerfahrt nach Fatima, beginnen die großen Glocken der Rosenkranzbasilika den Angelus zu läuten.

Später betrachtet P. McGlynn fachmännisch Senhor Thedims Statue aus dem Jahr 1920, die ohne Lúcias Unterstützung entstand, bewundert die vollkommene Ausführung des Schnitzwerks, seine „appealing loveliness“ (reizvolle Lieblichkeit) und das „subtle pathos“ (feine Pathos). Dem Sprengstoffanschlag der Freimaurer auf die Erscheinungskapelle am 6. Mai 1922 war die Statue gegen alle Wahrscheinlichkeit entkommen. Wunder seien nach Akten der Hingabe vor dieser Statue geschehen. Auch das Taubenwunder von 1946 zeichne die Statue aus, die der päpstliche Legat Aloisi Kardinal Masella (1879-1970) am 13. Mai 1946 vor 600.000 Menschen krönt. Aber dennoch dürfe man sie nicht einfach nur kopieren, geht dem Künstlermönch durch den Kopf. Sein Bild Unserer Lieben Frau solle mit Lúcias Wünschen übereinstimmen.

Lúcias Schwester Teresa

Unerwartet ergibt sich eine Begegnung mit Lúcias Schwester Teresa, die auf einem Eselskarren die Straße herunterfährt. Sie besucht die Mönche ganz in Schwarz mit schwerem Schleier in der „Pousada de Nossa Senhora do Rosário da Fátima“ (Gasthof Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz von Fatima). Aufrecht am Tisch sitzend, mit dunklen Augen im tief gebräunten, faltigen, strengen Gesicht, gibt sie ihr Interview, angenehm, aber auch ein wenig „businesslike“ (geschäftsmäßig). Pater McGlynn fragt nach wunderbaren Zeichen während der Erscheinungen. Im Juli habe sie nichts dergleichen wahrgenommen. Aber am 13. August, als die Kinder entführt waren, sah sie Blütenblätter wie Schnee vom Himmel fallen in den Farben des Regenbogens. Sie verschwanden, als die Menschen versuchten, sie zu erhaschen. Im September ereignete sich nichts Außerordentliches. Sie vernahm nur die Stimmen der Kinder.

Natürlich fragt P. McGlynn auch nach dem Sonnenwunder: Den ganzen Morgen über fiel am 13. Oktober Regen. Als er plötzlich aufhörte, klärte sich der Himmel langsam auf und die Sonne zeigte sich, ohne zu blenden. Dann „schneite“ es wieder Blütenblätter. Ein Licht wie in Regenbogenfarben spielte auf dem Boden, und als die Menschen aufblicken, sahen sie, wie die Sonne, in die sie schauen konnten wie in den Vollmond, sich um sich drehte: „it was spinning down“ (sie drehte sich herunter). Sogar nach der letzten Erscheinung habe sie noch Blüten und Lichter gesehen: am 13. November und in den folgenden Monaten. Im November habe sie sogar ganz bewusst den Boden beobachtet, weil sie glaubte, das Licht erzeuge die Illusion von Blüten, aber dennoch sah sie die Blüten fallen.

Was sie gehört habe? Teresa kam auf den August zurück. Gerade als Jacintas und Francescos Vater gesagt hatte, es habe keinen Zweck zu bleiben, hörte sie eine Explosion, „as if a bomb had exploded under our feet“ (als ob eine Bombe unter unseren Füßen explodiert wäre). Die Menschen, die sie auf zwei- oder dreihundert schätze, liefen panisch zur Straße, hielten dann aber an und fragten sich, was wohl geschehen sei, und kehrten um. Dann zeigten sich die Phänomene der Blüten und des Lichtes. Habe sie denn mit Lúcia über die Erscheinungen gesprochen? Die Familie habe nie Fragen gestellt. Warum nicht? „Wir sahen, dass sie es nicht mochte; sie wäre weggelaufen.“

Manchmal hätten sie Lúcia aufgezogen: „Du bist doch das Mädchen, das Unsere Liebe Frau sah, und dann machst du solche Sachen…“, wenn sie etwa sang oder tanzte. Und ihre Antwort? „Da ist doch nichts Schlimmes dabei!“ Die Mutter hatte ihr bis zum 13. Oktober nicht geglaubt. Ob sie ihr von ihrem Erlebnis am 13. August erzählt habe? „Lächerlich!“ war die Antwort der Mutter. „Ihr seid doch alle verrückt!“ Auch am 13. Oktober sei die Mutter nicht deshalb in die Cova gekommen, weil sie erwartete, etwas zu sehen, sondern aus Sorge, ihr Kind würde geraubt und getötet werden. Aber sie sah das Wunder und glaubte. P. McGlynn kam auf das Sonnenwunder zurück: „Die Sonne drehte sich also mehrere Male um sich und fiel dann herab?“ „Nur kurze Zeit, und nur während dieser Zeit schien sie zu fallen. Dann geschah der Blütenregen, vielfarbige Blüten.“ – Eher pflichtbewusst und ohne erkennbare Emotion bittet Teresa die Mönche, Lúcia von ihr zu grüßen.

Im Heimatdorf Ajustrel

In Lúcias bescheidenem Geburtshaus begegnen die Patres ihrer Schwester Maria. Liebenswürdig werden sie empfangen. Stehend an einen Tisch gelehnt beantwortet Maria die Fragen des Amerikaners, die Pater Gardiner übersetzt.

Niemand aus Ajustrel sei zu den Erscheinungen im Juni gekommen, nur einige wenige aus anderen Orten. Soweit sie wisse, sei bis auf das Verhalten der Kinder nichts Außerordentliches beobachtet worden. Die Zahl der Zeugen im Juli schätzte sie auf hundert. Lúcia habe sie sprechend und hörend wahrgenommen, wie jemanden, der ein Gespräch führt. Sie selbst und andere vernahmen zudem einen Ton, als ob eine Biene in einem geschlossenen Gefäß brumme. Sie habe ihre Schwester Teresa darauf angesprochen, die ihn aber nicht hörte. Ob sie gesehen habe, dass sich die Zweige der Steineiche zu irgendeiner Zeit niederbeugten? Nein.

Im August hörte auch sie keine Explosion wie Teresa, lief aber mit den anderen den Hang der Cova hoch, wo heute die Rosenkranzbasilika steht. Einen alten Mann habe sie sprechen hören: „Ihr Kleingläubigen, seht ihr denn nicht, dass es ein Wunder ist?“ Maria habe ebenfalls den Blütenregen und die Phänomene gesehen, die Teresa beschrieb, jedoch auch Wolken um die Sonne, die verschiedene Farben auf die Menschen widerspiegelten. Einige wollten Unsere Liebe Frau in den Wolken gesehen haben, sie aber nicht.

Am 19. August kehrten die Kinder aus dem Gefängnis zurück und führten ihre Schafe zur Weide Valinhos. „Die Mutter war hier, als Jacinta kam und rief: ‚O Tante, Unsere Liebe Frau ist wieder erschienen.‘ Und sie zeigte ihr einen Zweig: ‚Dies ist der Ort, wohin Sie ihre Füße setzte.‘“ Die Mutter habe zu Jacinta gesagt: „Ich dachte, der Administrator hätte mit all dem aufgeräumt, und jetzt kommst du und erzählst Lügen“, und drohte ihr: „Ich weiß, was du brauchst!“ Ob es denn wahr sei, dass die Kinder mit dem Tode bedroht wurden? „Ja“, antwortet Maria schlicht und fügt hinzu, ihre Mutter habe noch zu Jacinta gesagt: „Nun gib mir dieses Ding und geh zurück zu Francesco und Lúcia und sieh nach den Schafen!“

Skepsis und Glaube

Als aber die Mutter den Zweig nahm, habe sie einen feinen Duft bemerkt und zu ihr gesagt: „Ein sehr angenehmer Duft, aber nicht wie von Rosen oder Weihrauch oder Parfum; ich weiß nicht, was es ist.“ Dann habe sie den Zweig auf den Tisch gelegt, als wolle sie später jemanden fragen, ob er denn ebenfalls den Duft wahrnehme, und den Raum verlassen. „Am Abend wollte die Mutter den Zweig anderen zeigen, aber er war nicht mehr da. Niemand hatte ihn gesehen, und sie war doch die ganze Zeit über im Haus.“ Mutters Unglaube habe bis zum Oktober Bestand gehabt, „und zwar bis zu dem Augenblick, als Lúcia sagte: ‚Schließt Eure Regenschirme – hier kommt Unsere Liebe Frau‘, und als Mutter dann genau diesen Duft wahrnahm, solange Lúcia mit Unserer Lieben Frau sprach.“ Sie selbst habe diesen Duft nicht wahrgenommen.

Maria erzählt den Mönchen auch von der Patentante ihrer Schwester Lúcia, die ebenfalls den Erscheinungen skeptisch gegenüberstand und am 19. August auf den Feldern unweit der Weide Valinhos arbeitete. Schon auf dem Nachhauseweg habe sie jemandem erzählt, bei der Weide Valinhos seien heute die gleichen Lichter zu sehen gewesen wie diejenigen, von denen man am 13. erzählte. Zurück in Ajustrel habe ihr dann die Mutter berichtet, wovon Jacinta erzählt hatte. Die zweifelnde Patentante war tief betroffen und schilderte, was sie selbst bei der Weide gesehen hatte.

„Wie war die Praxis des Familienrosenkranzes in ihrem Elternhaus?“ Üblich sei der Rosenkranz im Mai und November gewesen. Als Lúcia davon sprach, Unsere Liebe Frau wünsche, dass täglich der Rosenkranz gebetet werde, habe die Familie im Oktober damit begonnen. „Standen beim Sonnenwunder Wolken oder Dunst vor der Sonne?“ Es seien zwar Wolken um die Sonne gewesen, aber die Sonne war klar. Man habe in sie schauen können, wie auf den Mond. Zum Abschied schenkt Maria dem amerikanischen Dominikaner den Teil eines Zweiges der Azinheira, der Steineiche, auf der Unsere Liebe Frau erschien.

Nach Vila Nova de Gaia

In abenteuerlicher Fahrt bringt ein altertümliches Taxi, das wohl schon Pilger zum Sonnenwunder kutschierte, die Mönche zum abgelegenen Bahnhof. Im Rápido (Schnellzug) geht es durch das „rolling country“ (rollende Land) und über die hohe Stahlbrücke, die den Douro von Klippe zu Klippe überspannt, nach Porto, dessen Häuser vom Fluss die Höhe erklimmen, bis nach Vila Nova de Gaia. Hier verbrachte Lúcia einige Jahre, nachdem sie vor den spanischen Kommunisten fliehen musste.

Endlich am Ziel, überlegt P. McGlynn im Besucherzimmer des Colégio do Coração Sagrado de Jesus do Sardão (Kolleg des Heiligsten Herzens Jesu von Sardão), wie er seine Statue zur Geltung bringt. Kein Platz scheint gut genug. Die „mother provincial“ (Provinz-Oberin) der Dorotheenschwestern tritt ein, die über die Ankunft der beiden Amerikaner informiert war. Pater Gardiner erhebt Einspruch – er sei Ire.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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Maria – unsere Lehrmeisterin im Alltag

„Sie haben keinen Wein mehr“

Die Buchautorin Diplom-Theologin Anna Roth aus Königswinter zeigt am Beispiel der Hochzeit von Kana auf, wie uns das Beispiel Mariens helfen kann, mit unserem täglichen Leben zurechtzukommen. Sie bietet keine theologische Interpretation, sondern geht von den emotionalen Momenten aus, die in dieser biblischen Geschichte aufscheinen.[1]

Von Anna Roth

Die Verwandlung von Wasser in Wein ist das erste Wunder, das Jesus gewirkt hat. Wie wir wissen, ging die Initiative von Maria, der Mutter Jesu, aus. Sie ist es, die bemerkt, dass der Wein ausgeht. Der Apostel Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, schildert ausführlich diese Begebenheit: „Am dritten Tag fand in Kana in Galiläa eine Hochzeit statt, und die Mutter Jesu war dabei. Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit eingeladen. Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,1-4).

Diesen Text schauen wir uns einmal genauer an. Dass Maria zuerst bemerkt, dass der Wein ausgeht, ist typisch Frau. Wie reagiert sie? Sie macht ihren göttlichen Sohn in mütterlicher Sorge ganz vorsichtig darauf aufmerksam, dass nicht mehr genug Wein da ist. Sie ahnt, was passieren wird, wenn auf dieser großen Hochzeit, wo viele Menschen anwesend sind, plötzlich kein Wein mehr zur Verfügung steht.

In einer Novene wird Marias Aktion in etwa so beschrieben: Maria steht ganz unauffällig auf und geht zu ihrem Sohn. Ganz leise und vorsichtig flüstert sie ihm zu: „Sie haben keinen Wein mehr.“ Im Geiste sieht sie schon das Fiasko, das unweigerlich über alle Anwesenden hereinbrechen wird, wenn nicht ganz schnell etwas geschieht. Diese schöne Feier würde jäh enden. Welche Schande für das Brautpaar. Schließlich war eine Hochzeit ein großes Fest, wo neben der Großfamilie auch alle Bewohner aus dem Ort und der näheren Umgebung eingeladen waren.

Maria will die Situation retten. Ihr göttlicher Sohn soll bitte jetzt sein erstes Wunder wirken. Nicht im Tempel – nicht in der Synagoge – nein sofort, hier an Ort und Stelle. Noch ist Zeit. Noch feiern sie fröhlich und unbekümmert. Nur Jesus kann die Situation retten.

Und was geschieht? Wir wissen es. Jesus geht nicht gerade freundlich mit seiner Mutter um, als sie ihm ganz vorsichtig erklärt, dass der Wein ausgeht. Wir kennen seine Antwort: „Was willst du von mir, Frau, meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Er redet Klartext. Maria bekommt eine niederschmetternde Absage. Hat sie sich zu weit vorgewagt? Warum reagiert Jesus so? Was könnte er gedacht haben? Vielleicht – warum mischt sie sich ein? Sie müsste doch wissen, dass ich nur tun kann, was ich den Vater tun sehe, oder? (Vgl. Joh 5,19).

Wie reagiert Maria? Zieht sie sich gekränkt zurück, so wie wir es vielleicht getan hätten? Nein, genau das macht sie nicht. Gerade jetzt zeigt Maria ihre Stärke. Sie setzt sich nicht beleidigt auf ihren Platz, sondern sie geht zu den Dienern und gibt Anweisungen: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5).

Sicherlich wird Maria über die Zurückweisung ihres Sohnes nicht gerade erfreut gewesen sein. Aber das ist in diesem Augenblick unwichtig. Jetzt muss gehandelt werden. Und so geht sie hin und erteilt den Dienern einen Auftrag, obwohl sie von Jesus gerade eine Absage bekommen hat.

Das ist stark. Das ist ein Lernstück für uns. Maria setzt die Absage ins Positive um, indem sie diese zur Zusage umdeutet und entsprechend handelt. Das Weinwunder gibt ihr recht.

Und wir? Welchen Stellenwert geben wir Absagen? Resignieren wir sofort? Ziehen wir uns zurück? Fehlt uns das Selbstbewusstsein?

Maria lehrt es uns. Absagen können uns zum mutigen Handeln herausfordern. Sie eröffnen neue Chancen. Sie wollen gestaltet werden. Wir entscheiden, ob wir an Absagen wachsen, sie positiv umformen oder nicht. Nehmen wir uns Maria als Vorbild. Sie zeigt uns den Weg. An ihrer Hand schreiten wir nicht nur entschlossen voran, sondern schaffen es sogar, unsere selbst gepflegten und gesetzten Grenzen aufzubrechen und über uns hinauszuwachsen. Schauen wir doch einfach auf Maria, dann wird unser Leben gelingen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2020
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[1] Anna Roth: Maria & Fatima im Licht der Barmherzigkeit Gottes, Webseite: anna-roth.com

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