Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Mit dem Titelthema „In den Spuren des Herrn“ möchten wir den Blick auf die tiefsten Wurzeln des priesterlichen Zölibats in der katholischen Kirche lenken. Die Ehelosigkeit der Priester ist nicht etwa eine späte Erfindung der kirchlichen Hierarchie, sondern ging von Anfang an aus dem Bemühen hervor, die Lebensweise Jesu Christi nachzuahmen.

Gleichzeitig ist Jesus für die Priester mehr als nur ein Vorbild. „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ (Joh 20,21). Damit erklärte Jesus am Ostersonntag, warum er gleich zu Beginn seines öffentlichen Wirkens zwölf seiner Jünger in die besondere Nachfolge gerufen und Apostel, d.h. Gesandte, genannt hatte. Der Priester führt die göttliche Sendung des Sohnes Gottes hier auf Erden fort. Er handelt „in persona Christi“, also nicht nur „im Auftrag Christi“, sondern als dessen Stellvertreter, der das gottmenschliche Sein des Erlösers vergegenwärtigt und mit dessen Vollmacht ausgestattet ist. Durch die Weihe wird der Priester in der Tiefe seines Wesens Jesus Christus „angeschlossen“, ihm seinsmäßig gleichgestaltet. Im Priester ist Christus real gegenwärtig. Wenn der Priester segnet, segnet Christus, wenn der Priester die Sakramente spendet, ist es Christus, der den Menschen begegnet, der die Sünden vergibt oder Brot und Wein in seinen Leib und sein Blut verwandelt.

Für die Rettung der Menschheit hat sich Jesus Christus vollkommen hingegeben, bis zum Tod am Kreuz. Diese Hingabe nimmt für die Gläubigen, die auf seine Liebe eingehen, eine bräutliche Gestalt an. Christus selbst nennt sich Bräutigam all derer, die an ihn glauben und durch die Taufe in seinen geheimnisvollen Leib eingegliedert werden. Wie sich der freiwillige Opfertod mit 33 Jahren nicht vorstellen ließe, wäre Jesus Christus verheiratet und für seine eigenen Kinder verantwortlich gewesen, so stünde auch eine menschliche Ehe im Widerspruch zu seiner umfassenden bräutlichen Beziehung zur Kirche.

All diese Überlegungen machen deutlich, dass der priesterliche Zölibat eine innere Logik aufweist. Im Licht des Glaubens erscheint das Charisma der Ehelosigkeit für die priesterliche Berufung geradezu notwendig. Denn mit seinem ganzen Sein muss der Priester Jesus Christus als den Bräutigam der Kirche abbilden. Und umgekehrt kann ein Priester seine Berufung nur leben, wenn er sie aus einer existentiellen Einheit mit Jesus Christus heraus verwirklicht und sich geistlich voll und ganz auf diese Lebensgemeinschaft mit ihm konzentriert.

Für Papst Franziskus steht außer Frage, dass der priesterliche Zölibat ein für alle Zeit gültiges Ideal darstellt, das die innere Struktur der Kirche offenbart und das Wesen des Priestertums bezeugt. Zugleich betont er, dass die apostolische Sendung nur verwirklicht werden kann, wenn sie „um des Himmelreiches willen“ gelebt wird. Eine Lockerung oder gar Aufhebung des priesterlichen Zölibats wäre für ihn nie ein Fortschritt, also auch keine Reform, sondern ein Rückschritt, Ausdruck eines Mangels an Heiligkeit, Zeichen von „Weltlichkeit“, gegen die er so energisch auftritt. Deswegen hat er einer Freistellung des Zölibats, wie sie vom „Synodalen Weg“ als Reformziel angestrebt wird, eine klare Absage erteilt. Aber auch mit einer Notlösung wie der Weihe von verheirateten „viri probati“ in Ausnahmefällen ist er äußerst vorsichtig. Denn er weiß nur allzu gut, dass eine solche Einzelfallentscheidung – beispielsweise für Amazonien – eine Dynamik entwickeln würde, welche zu einer völligen Aushöhlung des priesterlichen Zölibats führen könnte. Das aber will Franziskus nicht.

Liebe Leser, Priester sind ein Geschenk Gottes an die Kirche. Die Heiligkeit der Priester hängt vom Gebet der Gläubigen ab. Auch der Zölibat muss von allen mitgetragen werden. Der Monat Juni lädt uns besonders dazu ein. Für Ihre Spenden sagen wir Ihnen aufrichtig Vergelt’s Gott und wünschen Ihnen auf die Fürsprache Mariens Gottes reichsten Segen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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Es geht um die Frage nach der Gottesbeziehung

Plädoyer für den Zölibat

Dr. Wolfgang Lehner (geb. 1972) wurde 2001 zum Priester geweiht und war danach in der Pfarrseelsorge mit den Schwerpunkten Jugendpastoral und Religionsunterricht tätig. Seit 2013 ist er Regens des Erzbischöflichen Priesterseminars St. Johannes der Täufer in München. Unter dem Titel „Jesus Christus. Ein Zwischenruf für den Zölibat“ verfasste er im Dezember 2019 eine Stellungnahme zu dem Buch „Zölibat. 16 Thesen“ von Hubert Wolf bzw. zu einer Besprechung dieses Buches in der SZ von Rudolf Neumaier. Lehner legt den Schwerpunkt auf das tiefere Verständnis der zölibatären Lebensform im Licht des Beispiels Jesu Christi. Nachfolgend ein Auszug, in dem Lehner die positive Sinngebung des priesterlichen Zölibats aufzeigt.

Von Wolfgang Lehner

In der Diskussion um den priesterlichen Zölibat ist oft nicht einmal im Ansatz der Versuch zu erkennen, sich mit dem Kern des Phänomens Zölibat auseinanderzusetzen. Was den Kritikern vor allem fehlt, ist der Blick in die durch die Bibel grundgelegte Vertikale. Die Heilige Schrift ist eine Sammlung von Erzählungen, wie Menschen ihre Gottesbeziehung gelebt, gestaltet, an ihr gelitten und sie immer wieder verändert haben. Doch wenn die Frage nach der Gottesbeziehung ausgeblendet wird, entleert sich natürlich auch der Kern des Glaubens ins Nichts hinein. Ohne Gott ist Glaube sinnlos; ein nicht existierender oder irrelevanter Gott ist keine lebensverändernde Größe. Es ist in der Folge logisch, die Kirche als innerweltliche Konstruktion zu verstehen, der es im Wesentlichen darum geht, sich selbst zu erhalten. Die völlige Absurdität des Zölibats zu behaupten, versteht sich von selbst.

Soll, so dürfen wir fragen, mit dem lästigen Zölibat auch der Anspruch der Person Jesu Christi entsorgt werden, über diese Welt hinauszuweisen? Das würde zumindest in eine derzeit auffällige theologische Logik passen, in der die Person Jesu Christi immer mehr an den Rand gedrängt wird. Benedikt XVI. hat schon zu Beginn dieses Jahrtausends auf die Folgen hingewiesen: Wenn wir die Person Jesu Christi „wegschieben, wird der christliche Glaube als solcher aufgehoben und in eine andere Religionsform umgeschmolzen“.[1] Tatsächlich: Das Christentum im Sinne eines „Weltethos“ zur Lebenshilfe umzuwandeln, wie es Hans Küng versucht, liegt durchaus im Zug unserer Zeit. Doch Christentum ist nicht nur Horizontale, sondern wesentlich Vertikale. Die Gestalt Jesu Christi, von der sich das Christentum nicht ablösen lässt, ist nur von seiner Beziehung mit dem Vater her verstehbar: Sie „sieht Jesus von seiner Gemeinschaft mit dem Vater her, die die eigentliche Mitte seiner Persönlichkeit ist, ohne die man nichts verstehen kann und von der her er uns auch heute gegenwärtig wird“.[2]

Diese Gemeinschaft Jesu mit dem Vater ist der Ausgangspunkt eines jeden zölibatären Lebens; eine andere Begründung dafür, als in diese Gemeinschaft Jesu mit dem Vater einzutreten, kann es für die ehelose Lebensform nicht geben. Nur sie rechtfertigt den Verzicht auf Partnerschaft und Familie; sie ist die Lebensform Jesu, denn Jesus hat unverheiratet dieses radikale Abenteuer der Gemeinschaft mit Gott gelebt. Sich mit Gott auf kontemplative Weise im Gebet verbinden, so wie Jesus das getan hat, und sich aktiv für das Reich Gottes einsetzen – beides ist in größerer innerer und äußerer Verfügbarkeit möglich, wenn es nicht mit irdischen Bindungen konkurriert. Und welche Bindung könnte größer und dichter sein als die Ehe, welche Verantwortung intensiver als die für eine Familie? Die Frage nach der priesterlichen Ehelosigkeit ist und bleibt eine Grundsatzentscheidung über die Bereitschaft, für Gott radikal frei zu bleiben und sich – daraus folgend – immer wieder senden zu lassen. Die Ortlosigkeit des zölibatären Priesters ist eines der Kennzeichen für dieses Abenteuer mit Gott, das sich ein ganzes Leben lang durchzieht; er muss auch bereit sein, mit 50 oder 60 Jahren noch einmal völlig neu anzufangen. Am treffendsten formuliert der Görlitzer Bischof Wolfgang Ipolt den eigentlichen Kern der priesterlichen Ehelosigkeit: Wer Jesus repräsentiert, soll auch leben wie Jesus.[3] Am Altar „in persona Christi“ zu handeln, ist nicht nur ein liturgisches Schauspiel, sondern eine prophetische Wirklichkeit, die das ganze Leben eines Priesters durchzieht. Die Lebensform des Priesters bekennt, dass die Lebensgemeinschaft mit Gott die tiefste Bestimmung und Erfüllung menschlicher Existenz ist. Nicht, als ob menschliche Beziehungen entbehrlich wären, sondern im Sinn, dass ohne Gott alles zu wenig bleibt, dass „nur Gott genügt“. So lebte Jesus, und so lebt demonstrativ auch der zölibatäre Priester.

Eine Kirche, die diese Lebensform nicht mehr als ganz zentral für ihre Wirklichkeit ansieht, gibt einen Teil ihrer Identität auf: Sie wäre dann nicht mehr Braut Christi, die ihm überall hin folgt, sondern seine Schwiegermutter, die es sich lieber hier auf dieser Welt gemütlich einrichtet. Tendenzen dazu gibt es, gerade im sehr auf die Strukturen fixierten deutschsprachigen Raum; Papst Franziskus äußert deutlich seine Befürchtung, „dass die Lösungen der derzeitigen und zukünftigen Probleme ausschließlich auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen sei, dass diese aber schlussendlich in keiner Weise die vitalen Punkte berühren, die eigentlich der Aufmerksamkeit bedürfen“.[4] Glaubt jemand ernsthaft, dass eine Strukturänderung – die Zölibatsfrage wäre eine solche – dazu führt, die wirklich „vitalen Punkte“ anzugehen? Man muss schon sehr naiv sein, um zu glauben, dass mit dem verheirateten Pfarrer schlagartig lebendiges Gemeindeleben, inspirierende Katechese, tiefe Gebetserfahrungen und eine begeisternde Jugendseelsorge in die Pfarreien einkehren. Und das Argument der gewonnenen Glaubwürdigkeit durch den Wegfall des zölibatären Doppellebens lässt sich genauso gut in ihr Gegenteil verdrehen: Das Doppelleben zölibatärer Männer wird durch das Doppelleben verheirateter Männer ersetzt. Ein Nullsummenspiel also.

Die für mich eigentliche Frage im Zusammenhang mit dem Zölibat ist eine ganz andere: Wie kann priesterliches Leben gelingen, wie kann ein Priester seine Ehelosigkeit positiv leben? Und in diesem Punkt hat die Kirche in Deutschland seit dem Konzil schlichtweg geschlafen. Ehelosigkeit bedeutet nicht Beziehungslosigkeit oder gar Einsamkeit. Die allzu vielen biografischen Tragödien bei Priestern wurzeln in ihren fehlenden oder kränkelnden Beziehungen, zu sich selbst wie zu anderen Menschen. Dies zeigt sich dann in Machtfantasien bis hin zum Missbrauch aller Art oder im Bruch des Zölibatsversprechens in die eine oder andere Richtung. Hier hat die Kirche ihre Hausaufgaben zu machen.

Für die Zeit der Ausbildung im Priesterseminar ergibt sich daher als ganz grundlegende Aufgabe, besonders auf die Beziehungsfähigkeit der Kandidaten zu achten und sie zu fördern. Fundamental dabei ist die Beziehungsfähigkeit zu sich selbst, zur eigenen Biografie, zu eigenen Gefühlen und Wünschen. Nur wer den Zugang zu sich selbst hat, ihn zulässt und aktiv mit ihm arbeitet, kann zu einer authentischen Person werden. Sie wiederum ist Voraussetzung dafür, mit anderen Menschen in eine gelingende Beziehung zu treten. Das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz, Klarheit über die Rolle, in der ich gerade auftrete, die Fähigkeit, mich in die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen hineinzuversetzen und dementsprechend zu handeln, sind nur einige unter den vielen Kompetenzen die ich brauche, um stabile und verlässliche Beziehungen aufzubauen. Dies muss im Wesentlichen während der Seminarausbildung grundgelegt und entfaltet werden, zusammen mit den Verantwortlichen der Ausbildung und den Mitstudenten, zusammen mit Frauen und Männern, zusammen mit einem gesunden Umfeld. Wie immer auch künftige Seminarausbildung aussehen mag, die menschliche Reifung ist grundlegende Voraussetzung für den priesterlichen Dienst und für ein langfristig zufriedenstellendes Leben. Nur so kann die ehelose Lebensform auch auf menschlicher Seite gelingen. Ganz nebenbei: Beziehungsfähigkeit und menschliche Reifung sind auch bei der Eheschließung nicht einfach eine Dreingabe zum Brautsegen.

Richtig schwierig wird es für junge Priester aber erst in den Jahren nach ihrer Weihe, wenn die Begleitung im Seminar wegfällt, wenn sich im Alltag erste Frusterfahrungen einstellen und wenn dann nicht immer gleich jemand als Gesprächspartner zur Hand ist. Bezeichnenderweise geschehen die meisten Missbrauchsfälle rund um das erste Jahrzehnt nach der Priesterweihe. Und hier hat die Kirche noch gewaltigen Nachholbedarf, was die Sozialform des priesterlichen Lebens betrifft. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts herein versammelte sich im Pfarrhaus eine Kommune ganz eigener Art: Pfarrer, Kapläne und Pfarrhausfrau bildeten das Grundgerüst, im ländlichen Bereich kamen oft noch Ökonomen und Wirtschafterin dazu, im städtischen Religionslehrer und Kirchenmusiker. Auch wenn es mit dem Idyll oft nicht weit her war – alleine war niemand, zum Reden fand sich meist irgendjemand, zur „Correctio fraterna“ auch. Josef Bernhart hat in seinem Roman „Der Kaplan“ diese Strukturen mit all ihren Licht- und Schattenseiten meisterhaft beschrieben. Sie sind Vergangenheit. Was geblieben ist, ist der Pfarrer alleine in seinem Pfarrhaus, und wenn es gut geht, eine Haushälterin in Teilzeit. Strukturell geforderte – schließlich möchte jede noch so kleine Gemeinde ihren Pfarrer am liebsten am Ort – und geförderte Einsamkeit ist Nährboden für das Misslingen der Ehelosigkeit. Nur wenn es der Kirche gelingt, an diesem Hebel anzusetzen und neue Ideen für Pfarrhauskommunen zu fördern, sie zu realisieren und im letzten von ihren Priestern einzufordern, entzieht sie den Zölibat dem Verdacht, strukturell in die Katastrophe oder den Missbrauch zu führen. Nebenbei erhöht sie auch die Attraktivität des geistlichen Berufes, denn eine der großen Ängste von Seminaristen ist die, später alleine da zu stehen. Das Vorbild der Evangelien, in denen nie ein Jünger alleine ausgesandt wird, muss Vorbild auch für kirchliche Strukturen werden – vielleicht entwickelt ja der „Synodale Weg“ zu diesem Thema zukunftsweisende Impulse. Es ist keine Angelegenheit eines Fünfjahresplans, aber spätestens binnen einer Generation darf es keine Priester mehr geben, von denen jeder für sich alleine lebt. Das „Abenteuer Jesusnachfolge“ braucht Gemeinschaft, Brüderlichkeit und Austausch, und zwar ein Leben lang.

Ein Blick in die Vergangenheit und ein Blick in die Gegenwart können diesen Gedanken kurz entfalten. Das 12. Jahrhundert mit seinem Wachstum an Bevölkerung und Ökonomie erforderte auch neue Formen der Seelsorge. Um sie zu ermöglichen, förderte Erzbischof Konrad I. von Salzburg viele kleine Chorherrenstifte als Seelsorgezentren für das Land: Berchtesgaden, Baumburg oder Gars am Inn gehören zu ihnen, die sogenannte Rottenbucher Reform gab der Bewegung ihren Namen. Wesentlich an ihr war, dass eine Gruppe von Klerikern in relativer Eigenständigkeit und Flexibilität die ihr anvertrauten Kirchensprengel seelsorgerlich betreuen konnte. In der Gegenwart wiederum gehen die meisten pastoralen und spirituellen Impulse von geistlichen Gemeinschaften aus. Von Taizé über die Gemeinschaft Emmanuel bis zur Loretto-Gemeinschaft: Für junge Menschen, die sich vom Evangelium berühren lassen, ist nicht das Verwalten bestehender Strukturen attraktiv – und schon gar nicht ihre bald anstehende Entsorgung –, sondern ein geistlicher Neuaufbruch, und sei er auch noch so klein. Nur wenn wir diese Dynamik beachten, können wir auch als Erzdiözese jungen Männern eine Perspektive als Priester bieten, in der sie ihren Glauben teilen und miteinander leben können: Die Frage der „Vita communis“ darf nicht mehr nur ein Orchideenthema für besonders Interessierte sein, sondern muss zum geistlichen Grundprogramm eines jeden Priesters gehören. Dabei sind wir wohl erst am Anfang einer größeren Experimentierphase: Bereits jetzt gibt es das Modell, dass mehrere Priester zusammen mit einer Familie in einem Pfarrhaus wohnen. Andere Formen, gerade auf dem Land, könnten dazukommen: Warum soll nicht im Zuge der Dekanatsreform das ein oder andere geistliche Zentrum rund um eine Gruppe von Priestern, pastoralen Mitarbeitern und ihren Familien errichtet werden? Warum soll nicht das ein oder andere Chorherrenstift seine historische Strahlkraft in einer Region wieder erneuern können und zu einem pastoralen Zentrum ausgebaut werden? Hier könnten Synodale Wege und Reformprozesse einmal ganz andere Gedanken anstoßen, als sich nur an den ewig gleichen Reizthemen abzuarbeiten und die bestehenden Strukturen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Zugleich würde sie gerade Seelsorgern auf dem Land interessantere Perspektiven bieten, als immer nur einfach die Fläche zu vergrößern. Den priesterlichen Dienst würden solche Experimente zusätzlich attraktiver machen; niemand mehr wird als Priester antreten, um Löcher zu stopfen. Gerade die Generation Y und die folgende Generation Z, die die nächsten Priester stellen wird, legt Wert darauf, selbst mitgestalten zu dürfen. Wenn die Kirche Mitarbeiter aus diesen Generationen gewinnen möchte – und es geht hier nicht nur um Priester –, muss sie in ihren pastoralen Strukturen flexibler werden, damit ein jeder und eine jede Mitarbeiterin, die eigenen Gaben einbringen kann.

Alleine diese kurzen Skizzen zeigen, wie wenig isoliert das Thema Zölibat eigentlich ist, und wie verfehlt es ist, in einer bürgerlichen Problemtrance mantraartig darum zu kreisen. Die Frage nach dem Zölibat zeigt ein viel tiefergehendes Problem an, im letzten die Frage nach Gott. Wenn Theologie und Kirche die Gottesfrage nicht wieder in ihre Mitte rücken, werden sie selbst immer weiter an den Rand gedrückt werden. Daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn die Kirche übereifrig alle säkularen Forderungen erfüllen würde, die im medialen Dauerfeuer an sie gerichtet werden. Für Gott begeistern, können wir nur dann, wenn wir selbst von Gott begeistert sind. Die Getauften von Konsumenten zu Mitarbeitern werden zu lassen, gelingt nur dann, wenn sie wissen, warum sie mitarbeiten sollen. Das einzige Argument dafür ist Jesus Christus, eine lebendige Beziehung und eine energievolle Liebe zu ihm.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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[1] Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazaret, Freiburg 2007, I, 14.
[2] Ebd., 12.
[3] Vgl. Bischof Wolfgang Ipolt: Warum der Zölibat auch heute wertvoll ist, 07.08.2019, www.spurensuche.info
[4] Papst Franziskus: An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, 29. Juni 2019.

Eucharistie und Zölibat

Im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Sacramentum caritatis“ („Sakrament der Liebe“) über die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt von Leben und Sendung der Kirche vom 22. Februar 2007 hat Papst Benedikt XVI. den „obligatorischen Charakter“ des priesterlichen Zölibats „für die lateinische Tradition“ bekräftigt und als „sehr großen Segen für die Kirche“ bezeichnet.

Von Papst Benedikt XVI.

Das Amtspriestertum durch die Weihe erfordert eine vollkommene Gleichgestaltung mit Christus. Bei aller Achtung gegenüber der abweichenden ostkirchlichen Praxis und Tradition ist es doch notwendig, den tiefen Sinn des priesterlichen Zölibats zu bekräftigen. Dieser wird zu Recht als ein unschätzbarer Reichtum betrachtet und auch durch die ostkirchliche Praxis bestätigt, gemäß der die Bischöfe nur unter zölibatär lebenden Männern ausgewählt werden und die Entscheidung vieler Priester für den Zölibat in hohen Ehren gehalten wird. In dieser Wahl des Priesters kommen nämlich in ganz eigener Weise seine Hingabe, die ihn Christus gleichgestaltet, und seine Selbstaufopferung ausschließlich für das Reich Gottes zum Ausdruck. Die Tatsache, dass Christus, der ewige Hohepriester, selber seine Sendung bis zum Kreuzesopfer im Stand der Jungfräulichkeit gelebt hat, bietet einen sicheren Anhaltspunkt, um den Sinn der Tradition der lateinischen Kirche in dieser Sache zu erfassen. Deshalb reicht es nicht aus, den priesterlichen Zölibat unter rein funktionalen Gesichtspunkten zu verstehen. In Wirklichkeit stellt er eine besondere Angleichung an den Lebensstil Christi selbst dar. Eine solche Wahl hat vor allem hochzeitlichen Charakter; sie ist ein Sicheinfühlen in das Herz Christi als des Bräutigams, der sein Leben für die Braut hingibt. In Einheit mit der großen kirchlichen Tradition, mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (vgl. PO 16) und meinen Vorgängern im Petrusamt bekräftige ich die Schönheit und die Bedeutung eines im Zölibat gelebten Priesterlebens als ausdrucksvolles Zeichen der völligen und ausschließlichen Hingabe an Christus, an die Kirche und an das Reich Gottes und bestätige folglich seinen obligatorischen Charakter für die lateinische Tradition. Der in Reife, Freude und Hingabe gelebte priesterliche Zölibat ist ein sehr großer Segen für die Kirche und für die Gesellschaft selbst.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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Wie denkt Papst Franziskus über den Zölibat?

Nein zur Aufhebung

Stefan von Kempis (geb. 1970) ist seit 2019 Leiter der deutschsprachigen Abteilung von „Vatican News“ (früher „Radio Vatikan“). Am 17. Januar 2020, also noch vor der Veröffentlichung des mit Spannung erwarteten Dokuments zur Amazonien-Synode, behandelte er in einem Dossier die Haltung des Papstes zum Zölibat und zitierte ihn aus einer Pressekonferenz im Januar 2019: „Meine Entscheidung ist: Kein optionaler Zölibat vor dem Diakonat – nein!“

Von Stefan von Kempis

Wie denkt der erste lateinamerikanische Papst der Geschichte über die priesterliche Ehelosigkeit? Wer eine Antwort auf diese Frage sucht, wird bald fündig. „Ich persönlich meine, dass der Zölibat ein Geschenk für die Kirche ist“, sagte Franziskus zu Journalisten bei einer fliegenden Pressekonferenz vor einem Jahr (auf dem Rückflug von Panama, 27.1.19). Und er fand lobende Worte für den Mut seines Vorgängers Paul VI., der „in einer schwierigeren Zeit als dieser, die Jahre um 1968/70 herum“, am Zölibatsgesetz festgehalten habe.

Mit dem Vorschlag, den Zölibat von einer Verpflichtung zu einer Option zu machen, sei er „nicht einverstanden“, fuhr Franziskus fort. „Nur für die entlegensten Orte bliebe manche Möglichkeit – ich denke an die Pazifikinseln…“ Er finde zwar Vorschläge zu einem optionalen Zölibat, wie sie innerkirchlich immer wieder gemacht würden, „interessant“ („das ist etwas, das unter Theologen diskutiert wird“). Aber für ihn selbst scheint die Sache klar.

„Meine Entscheidung ist: Kein optionaler Zölibat vor dem Diakonat, nein. Das ist meine persönliche Einstellung; ich werde es nicht tun, das bleibt klar. Bin ich hier ein ‚verschlossener‘ Typ? Vielleicht. Aber ich verspüre nicht den Mut, mich mit dieser Entscheidung vor Gott zu stellen.“

Nur seltene Äußerungen

Man wirft diesem Papst immer wieder mal vor, er drücke sich nicht klar aus. Im Fall Zölibat kann man diesen Vorwurf allerdings nicht erheben.

Dabei fällt etwas ganz Anderes auf – nämlich, dass sich Franziskus nur sehr selten zum Thema Zölibat äußert. In einem ausführlichen Brief an Priester vom 4. August 2019 kommt das Wort noch nicht einmal vor – stattdessen aber der Dank, dass „Ihr ohne jedes Aufheben alles verlasst, um Euch im täglichen Leben Eurer Gemeinschaften einzusetzen“. Eine Stichwortsuche auf der Vatikan-Homepage führt bei Franziskus nur zu wenigen und nicht sehr aussagekräftigen Treffern.

Bergoglio glaubte nicht an eine Aufhebung des Zölibats

In seiner Zeit als Kardinal-Erzbischof von Buenos Aires wollte der heutige Papst im Gespräch mit Journalisten keine Vorhersage treffen, ob die Kirche einmal den Pflichtzölibat aufheben würde. „Aber gesetzt den Fall, die Kirche entschließt sich, diese Norm zu revidieren, dann, glaube ich, wird sie es nicht wegen des Priestermangels tun“ (in: Mein Leben, mein Weg, El Jesuita, Freiburg 2013, S. 106). Eigentlich konnte sich Kardinal Bergoglio nur eine regionale Lockerung des Zölibatsgesetzes „wegen eines kulturellen Problems an einem bestimmten Ort“ vorstellen, „aber nicht für alle gültig und nicht als persönliche Option“.

Denn er war damals „persönlich überzeugt davon“, dass der Zölibat „bleiben wird“. Und bezweifelte, dass seine Aufhebung zu einem Mehr an Priesterberufungen führen würde. Mit Pädophilie habe der Zölibat schlechterdings nichts zu tun: „Wenn es einen pädophilen Priester gibt, dann hatte er diese Perversion schon in sich, bevor er zum Priester geweiht wurde“ (ebd., S. 107).

Als erster Papst hat sich Franziskus (privat, aber durchaus öffentlichkeitswirksam) mit Priestern getroffen, die ihr Amt aufgegeben haben, um zu heiraten. „Priester geraten in Situationen, in denen sie sich verlieben, und das ist normal“ (S. 108), sagte er als Kardinal. Wenn das mehr sei als vorübergehende „Begeisterung“ oder sexuelle Attraktion, dann solle der Betreffende „sein Priestertum und sein Leben neu überprüfen“. „Dann geht er zum Bischof und informiert ihn… Und er bittet darum, den priesterlichen Dienst verlassen zu dürfen.“

Er selbst habe als Bischof vielen Priestern, die am Zölibat gescheitert waren, zum Umstieg in ein anderes Leben verholfen, so der heutige Papst. „Wenn er sich seiner Entscheidung sicher ist, dann helfe ich ihm auch, eine Arbeit zu finden“ (S. 109); mit einer Dispens aus dem Vatikan könne der Betreffende dann auch „das Sakrament der Ehe empfangen“. Ein solcher Neuanfang sei allemal besser als ein „Doppelleben“.

Treffen sich zwei Priester…

Typisch Franziskus, dass er in Sachen Zölibat auch noch einen Witz auf Lager hat. Treffen sich zwei Priester, und einer fragt den anderen: „Wird ein neues Konzil den Pflichtzölibat aufheben?“ Antwort des Gefragten: „Ich meine ja.“ Kommentar des Fragenden: „In jedem Fall werden das nicht mehr wir erleben, sondern unsere Kinder“ (vgl. ebd., S. 183).

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Für ein radikal evangeliumsgemäßes Priestertum

Leidenschaftliches Zeugnis von Kardinal Sarah 

Schon in seinem Buch „Herr, bleibe bei uns! Denn es will Abend werden“ warb Robert Kardinal Sarah, Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, mit flammenden Worten für den priesterlichen Zölibat. In seiner neuen Publikation „Aus der Tiefe des Herzens. Priestertum, Zölibat und die Krise der katholischen Kirche"[1] verstärkt und vertieft er sein leidenschaftliches Zeugnis für ein „evangeliumsgemäßes Priestertum“. Dass dazu Papst em. Benedikt XVI. eine exegetisch-theologische Abhandlung beigesteuert hat, sorgte zunächst für Wirbel, lenkte aber eine umso größere Aufmerksamkeit auf das Plädoyer des Kurienkardinals. Wichtige Auszüge mit Seitenangaben.

Von Robert Kardinal Sarah

Jesus Christus ist Priester. Sein ganzes Wesen ist priesterlich, er schenkt sich hin und opfert sich. Jesus hat uns offenbart, dass der wahre Priester sich selbst hingibt. Um Priester zu sein, müssen wir seitdem in diese große Hingabe Christi an seinen Vater eintreten. Wir müssen das Opfer des Kreuzes als Form unseres ganzen Lebens annehmen.

Der Zölibat offenbart die Hingabe an die Kirche

Diese Hingabe nimmt die Form des Opfers des Bräutigams für seine Braut an. Christus ist wahrhaftig der Bräutigam der Kirche. Der Priester gibt sich dann auch für die ganze Kirche hin. Der Zölibat offenbart diese Hingabe, er ist das konkrete und vitale Zeichen dafür. Der Zölibat ist das Siegel des Kreuzes auf unserem Priesterleben. Er ist ein Schrei der priesterlichen Seele, die die Liebe zu dem Vater und die Selbsthingabe für die Kirche verkündet. – Der Priester verzichtet durch seinen Zölibat auf die Fähigkeit, leiblicher Bräutigam und Vater zu sein. Er entscheidet sich aus Liebe dafür, sich ihrer zu entäußern, um als ausschließlicher Bräutigam der Kirche zu leben. Der Wille, den Zölibat zu relativieren, bedeutet, diese radikale Hingabe zu verachten, die so viele Priester seit ihrer Weihe gelebt haben.

Der Zölibat ist das Zeichen und das Werkzeug unseres Eintritts in das priesterliche Wesen Jesu. Er besitzt einen Wert, den wir analog als sakramental bezeichnen können. In dieser Hinsicht sehen wir nicht, wie die priesterliche Identität unterstützt und geschützt werden könnte, wenn man in der einen oder der anderen Region die Bedingungen des Zölibats abschaffen würde, so wie Christus sie gewollt und die lateinische Kirche sie sorgfältig gehütet hat.

Das Zweite Vatikanische Konzil erinnert daran, dass der Zölibat der Priester keine einfache Vorschrift des kirchlichen Rechts ist,[2] sondern eine „kostbare Gabe Gottes“.[3] Aus diesem Grund stellt Papst Franziskus mit den nachdrücklichen und mutigen Worten des heiligen Paul VI. fest: „Ich gebe lieber mein Leben, als das Zölibatsgesetz zu ändern. […] Ich persönlich meine, dass der Zölibat ein Geschenk für die Kirche ist, und ich bin auch nicht damit einverstanden, den Zölibat als optional zu verstehen."[4]

Es gibt eine ontologisch-sakramentale Verbindung zwischen Priestertum und Zölibat. Jede Abschwächung dieser Verbindung wäre eine Infragestellung des Lehramtes des Konzils und der Päpste Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. (S. 139ff.).

Was ist eine Ausnahme?

Man könnte mich darauf hinweisen, dass es bereits Ausnahmen gibt und dass verheiratete Männer in der lateinischen Kirche zum Priester geweiht worden sind, während sie weiterhin mit ihren Ehefrauen more uxorio zusammenlebten. Es handelt sich tatsächlich um Ausnahmen, insofern als diese Fälle aus einer besonderen Situation heraus entstanden sind, die nicht wiederholt auftreten wird. So ist es bei der Aufnahme von verheirateten protestantischen Pfarrern, die die Priesterweihe empfangen sollen, in die volle Gemeinschaft der Kirche. Eine Ausnahme ist per se eine Übergangslösung und stellt eine Parenthese innerhalb des normalen und natürlichen Standes der Dinge dar. Diese Definition trifft nicht auf den Fall einer entlegenen Region zu, der es an Priestern mangelt. Der Mangel an Priestern ist kein außerordentlicher Zustand. Diese Situation trifft auf alle Missionsländer zu, sogar auf die verweltlichten westlichen Länder. Eine entstehende Kirche hat per se zu wenig Priester. Die frühe Kirche hat diesen Zustand gekannt. Wir haben gesehen, dass sie dennoch nicht auf das Prinzip der Enthaltsamkeit im Klerus verzichtet hat. Die Weihe von verheirateten Männern, und seien sie davor ständige Diakonen gewesen, ist keine Ausnahme, sondern ein Bruch, eine Verletzung der Kohärenz des Priestertums. Von einer Ausnahme zu reden, wäre hier ein irreführender Begriff oder eine Lüge.

Der Priestermangel kann einen solchen Bruch nicht rechtfertigen, denn, noch einmal, er ist keine außerordentliche Situation. Außerdem würde die Weihe verheirateter Männer in jungen christlichen Gemeinden die Entstehung von Priesterberufungen unter ihren ledigen Männern verhindern. Die Ausnahme würde zu einem dauerhaften Zustand und zu einem Hindernis für das richtige Verständnis des Priestertums werden. Darüber hinaus ist die Behauptung, dass die Weihe verheirateter Männer eine Lösung für das Problem des Priestermangels sei, irreführend. Schon der hl. Paul VI. stellte fest: „Aber wir lassen uns nicht leicht überzeugen, dass mit der Aufhebung des kirchlichen Zölibats von selbst die Zahl der Priesterberufe sogleich sehr wachsen würde. In unserer Zeit scheint die Erfahrung der Kirchen und anderer religiöser Gemeinschaften, die ihren Amtsträgern die Ehe erlauben, für das Gegenteil zu sprechen."[5] Die Anzahl der Priester würde dadurch nicht maßgeblich steigen. Außerdem würde so das adäquate Verständnis für das Priestertum und die Kirche dauerhaft verdunkelt werden.

In der Absicht, verheiratete Männer zu weihen, sind einige Theologen so weit gegangen, dass sie das Priestertum auf die bloße Spendung der Sakramente anpassen und reduzieren wollen. Dieser Vorschlag, der die tria munera (Heiligung, Lehre, Leitung) trennen will, steht im totalen Widerspruch zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, die deren substanzielle Einheit bekräftigt (Presbyterorum Ordinis, 4-6). Dieses aus theologischer Sicht absurde Projekt verrät ein funktionalistisches Verständnis des Priestertums. Benedikt XVI. und ich haben uns oft gefragt, wie man unter dieser Perspektive noch auf Berufungen hoffen darf. Was ist von der Parallelität eines verheiraten und eines ledigen Klerus zu halten? Wir laufen Gefahr, dass sich in der Vorstellung der Gläubigen die Idee eines höheren und eines niedrigeren Klerus einstellt.

Im Jahre 1873 hatte der Bischof von Bergamo, Monsignore Pierluigi Speranza, in den Weilern und kleinen Bergdörfern von einer Pastoral des Besuchs zu einer Pastoral der Anwesenheit übergehen wollen. Er entschied, alle Vororte mit einem Priester zu versehen, der der lokalen Gemeinde entstammte. Innerhalb von ca. fünfzehn Jahren weihte man hundertfünfzig im Leben bewährte Männer, die verwitwet oder ledig waren, nach einer dürftigen Ausbildung in einem spezifischen Seminar. Im Jahre 1888 wurde das Experiment abgebrochen, da das christliche Volk diese Priester, von denen die meisten die Beichte nicht abnahmen, zutiefst verachtete (S. 107-110).

Eucharistischer Zölibat

Das Verlangen nach der Weihe verheirateter Männer zeugt von einer tiefen Unkenntnis der ontologischen Verbindung zwischen Zölibat und Priestertum. Die akademischen Milieus der westlichen Welt verbreiteten manchmal eine rein rechtliche und disziplinarische Auffassung des Zölibats. Man geht so weit, zu behaupten, dass der Zölibat zum Ordensleben gehöre und ihm vorbehalten werden solle. Der hl. Johannes Paul II. hat jedoch betont, wie „wichtig es ist, dass der Priester die theologische Motivation des Zölibatsgesetzes versteht“.[6]

Der priesterliche Zölibat entsteht nämlich aus einer notwendigen eucharistischen, bräutlichen Bindung.[7] Der hl. Paul VI. deutete es im Jahre 1967 so an: „Ergriffen von Christus (Phil 3,12) und zur Ganzhingabe an ihn geführt, wird der Priester Christus auch durch jene Liebe ähnlicher, mit der der Ewige Priester seinen Leib, die Kirche, geliebt und sich ganz für sie hingegeben hat, um sie sich als herrliche, heilige und makellose Braut zu bereiten (Eph 5,23-27). Die gottgeweihte Jungfräulichkeit der Priester macht in der Tat die jungfräuliche Liebe Christi zu seiner Kirche und zugleich die übernatürliche Fruchtbarkeit dieses Ehebundes sichtbar."[8]

Christus hat sich auf dem Altar des Kreuzes hingegeben. Jeden Tag wiederholt der Priester dieses göttliche Opfer, wenn er die Worte „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird“ spricht. Mit diesen Worten tritt er in die jungfräuliche Hingabe Christi ein. Immer dann, wenn ein Priester „Das ist mein Leib“ wiederholt, schenkt er seinen geschlechtlichen Leib in der Fortsetzung des Opfers am Kreuz. … Am Altar steht der Priester neben der Hostie. Jesus schaut ihn an und er schaut Jesus an. Sind wir uns dessen wirklich bewusst, was es bedeutet, den wahrhaftig anwesenden Christus vor Augen zu haben? Bei jeder Messe steht der Priester Christus gegenüber. Dann wird der Priester mit Christus identisch, er wird nach ihm gebildet. Er wird nicht nur zu einem Alter Christus, einem anderen Christus. Er ist wirklich Ipse Christus, er ist Christus selbst. Er wird von der Gestalt Christi selbst bewohnt, durch eine spezifische und sakramentale Identifikation mit dem Hohepriester des Ewigen Bundes gebildet (siehe Ecclesia de Eucharistia, Nr. 26).

In der Eucharistie empfängt der Priester den Zölibat als Geschenk. Man könnte die Verbindung zwischen Eucharistiefeier und Zölibat mit den Worten von Kardinal Ouellet so zusammenfassen: Der Zölibat entspricht „dem eucharistischen Opfer des Herrn, der aus Liebe seinen Leib ein- für alle Mal hingegeben hat, bis zur äußersten Hingabe, und vom Berufenen eine ähnliche Antwort verlangt, nämlich eine absolute, unwiderrufliche und bedingungslose“.[9] Wenn Christus sich selbst als Nahrung hingibt, dann muss der Priester auch zum „gekreuzigten und verspeisten Menschen“ werden, wie es der selige Antoine Chevrier ausdrückte. Der Zölibat ist davon das Zeichen und die konkrete Umsetzung. Ich bin zutiefst überzeugt, dass das christliche Volk seine Priester anhand dieses Zeichens „erkennt“. Mit ihrem Glaubensinstinkt erkennen die Gläubigen aller Kulturen zwangsläufig im ehelosen Priester Christus, der sich allen hingegeben hat.

Der priesterliche Zölibat und die Inkulturation

Ich möchte daher meine tiefe Empörung zum Ausdruck bringen, wenn ich höre, dass die Weihe verheirateter Priester eine Notwendigkeit sei, da die Völker des Amazonasgebiets den Zölibat nicht verstehen oder diese Tatsache ihrer Kultur immer fremd bleiben wird. Ich erkenne in solchen Argumenten eine verachtende, neokolonialistische und infantilisierende Mentalität, die mich schockiert. Alle Völker der Erde sind in der Lage, die eucharistische Logik des priesterlichen Zölibats zu verstehen. Haben diese Völker denn keine Sensibilität für den Glauben? Ist es vernünftig, zu denken, dass die Gnade Gottes für die Amazonasvölker unerreichbar ist und dass Gott ihnen das Geschenk des priesterlichen Zölibats vorenthält, das die Kirche seit Jahrhunderten wie einen kostbaren Schatz hütet? Es gibt keine Kultur, die die Gnade Gottes nicht erreichen und verwandeln kann. Wenn Gott in eine Kultur eindringt, dann lässt er sie nicht unversehrt zurück. Er destabilisiert und bereinigt sie. Er verwandelt und vergöttlicht sie. Warum sollte es in den entlegensten Gebieten des Amazonas mehr Schwierigkeiten geben, den priesterlichen Zölibat zu verstehen? Fürchten wir uns nicht, wenn der Zölibat gegen die lokalen Bräuche verstößt. „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34). Der Kontakt zwischen dem Evangelium und einer Kultur, die ihn nicht kennt, ist immer befremdend. Die Juden und die Griechen der ersten Jahrhunderte waren vom Gedanken des Zölibats für das Himmelreich auch überrascht. Er ist ein Skandal für die Welt und wird es immer bleiben, denn er macht den Skandal des Kreuzes gegenwärtig.

Manche westlichen Missionare verstehen die tiefe Bedeutung des Zölibats nicht mehr und projizieren ihre Zweifel auf die Völker des Amazonas. Ich möchte das erhellende Zeugnis eines bei der Synode anwesenden Missionars und guten Kenners der lokalen Lage wiedergeben. Pater Martin Lasarte leitet die 47 missionarischen Gemeinden der Salesianer in der Region, die 612.000 Christen aus zweiundsechzig verschiedenen Ethnien umfasst: „In Lateinamerika fehlt es nicht an positiven Beispielen, wie bei den Quetchi in Zentral-Guatemala (Verapaz), wo trotz der Abwesenheit von Priestern in manchen Gemeinden Laien-Amtsträger lebendige Gemeinden leiten, die reich an Ämtern, an Liturgie, an Katechese und Mission sind und die sehr wenig von den evangelikalen Gruppen infiltriert wurden. Trotz Priestermangels in allen Gemeinden ist es eine lokale Kirche, die reich an indigenen priesterlichen Berufungen ist und in der man sogar rein indigene weibliche und männliche religiöse Kongregationen gegründet hat.

Ist der Mangel an priesterlichen und religiösen Berufungen im Amazonasgebiet eine pastorale Herausforderung oder liegt er eher an einer theologisch-pastoralen Strategie, die nicht wie erwartet oder nur teilweise gefruchtet hat? Meiner Meinung nach ist der Vorschlag, viri probati als Lösung der Evangelisierung einzuführen, ein illusorischer, fast magischer Vorschlag, der den wahren Kern des Problems nicht berührt.“

Pater Lasarte zitiert auch das Beispiel der etwa fünfhundert Völker und Ethnien, die am Kongo-Fluss leben. Das Christentum wird manchmal als die Religion der kolonialen Mächte gesehen. Dennoch ist das Wachstum der afrikanischen Kirchen vielversprechend. Die priesterlichen Berufungen sind in den letzten zehn Jahren um 32 Prozent gewachsen – Tendenz steigend.

Pater Lasarte fährt fort: „Die Frage, die man sich unweigerlich stellen muss, ist folgende: Wie ist es möglich, dass Völker, die den Amazonasvölkern anthropologisch und kulturell so ähnlich sind, in Bezug auf Riten, Mythen, dem starken Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft, der Verbundenheit mit dem Kosmos, der tiefen religiösen Offenheit, christliche Gemeinden und pries-terliche Berufungen hervorgebracht haben, wogegen wir es in manchen Teilen des Amazonas nach zweihundert oder sogar vierhundert Jahren mit einer Dürre des kirchlichen Lebens und der Berufungen zu tun haben? Es gibt Diözesen und Kongregationen, die seit über einem Jahrhundert dort ansässig sind und keine einzige indigene Berufung verzeichnen."[10]

In allen Regionen der Welt stoßen die christlichen Gemeinden auf Prüfungen und Schwierigkeiten, aber man stellt fest, dass da, wo es eine ernsthafte, authentische und dauerhafte Evangelisierungsbewegung gibt, die priesterlichen Berufungen nicht fehlen. In dieser Linie wagt Papst Franziskus mit Klarsicht und Mut zu behaupten: „Vielerorts mangelt es an Berufungen zum Priestertum und zum geweihten Leben. Das ist häufig auf das Fehlen eines ansteckenden apostolischen Eifers in den Gemeinden zurückzuführen, so dass diese Berufungen nicht begeistern und keine Anziehungskraft ausüben. Wo es Leben, Eifer und den Willen gibt, Christus zu den anderen zu bringen, entstehen echte Berufungen. […] Es ist das geschwisterliche und eifrige Gemeinschaftsleben, das den Wunsch erweckt, sich ganz Gott und der Evangelisierung zu weihen, vor allem, wenn diese lebendige Gemeinde inständig um Berufungen betet und den Mut besitzt, ihren Jugendlichen einen Weg besonderer Weihe vorzuschlagen"[11] (S. 110-120).

Für ein radikal evangeliumsgemäßes Priestertum

Das Priestertum erlebt eine Krise. Abscheuliche Skandale haben sein Gesicht verunstaltet und zahlreiche Priester in der Welt destabilisiert. Innerhalb der Kirche werden Krisen immer mithilfe einer Rückkehr zur Radikalität überwunden und nicht durch die Annahme von weltlichen Kriterien.

Der Zölibat ist ein Skandal für die Welt. Wir stehen in der Versuchung, ihn zu schwächen. Das Gegenteil sollte der Fall sein: Er muss wiederentdeckt werden, und zwar so, wie Johannes Paul II. es beschrieb: „Der Geist, der den Priester weiht und ihn nach dem Bild Jesu Christi, des Hauptes und Hirten, gestaltet, schafft eine Verbindung, die – im Sein des Priesters selbst angelegt – danach verlangt, in persönlicher Weise angeeignet und gelebt zu werden, d.h. bewusst und frei, durch eine immer reichere Lebens- und Liebesgemeinschaft und ein immer intensiveres und radikaleres Teilen der Empfindungen und Haltungen Jesu Christi. In dieser Verbindung zwischen dem Herrn Jesus und dem Priester, einer ontologischen und psychologischen, einer sakramentalen und sittlichen Verbindung, besteht das Fundament und zugleich die Kraft für jenes ,Leben aus dem Geist‘ und jene ,Radikalität des Evangeliums‘, wozu jeder Priester aufgerufen ist."[12]

Die Krise des Priestertums wird man durch die Abschwächung des Zölibats nicht lösen können. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass die Zukunft des Priestertums in der evangelischen Radikalität liegt. Die Priester müssen den Zölibat und eine gewisse Armut vorleben. Dazu sind sie besonders berufen. Wenn der Zölibat, die Armut und die Brüderlichkeit von den Priestern im Gehorsam gelebt werden, sind sie nicht nur Mittel einer persönlichen Heiligung; sie sind dann Zeichen und Werkzeuge eines spezifisch priesterlichen Lebens: „Der Priester ist berufen, sie entsprechend jenen Bedingungen und Zielsetzungen und gemäß jenen ursprünglichen Sinngehalten zu leben, die Quelle und Ausdruck der ihm eigenen Identität sind."[13] Die Logik der Selbstentäußerung, die der Zölibat nach sich zieht, muss bis zum Gehorsam und zum Verzicht in der Armut gehen. Benedikt XVI. sagt es mit Nachdruck: „Ohne den Verzicht auf materielle Güter kann es kein Priestertum geben. Der Ruf, Jesus zu folgen, kann nicht befolgt werden ohne dieses Zeichen der Freiheit und des Verzichts auf jeden Kompromiss."[14]

Die volle Bedeutung des Priestertums umfasst ein Leben nach den Evangelien. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass die Bischöfe konkrete Maßnahmen ergreifen, um ihren Priestern dieses „ganz priesterliche“ Leben vorzuschlagen, das heißt ein gemeinsames Leben in Gebet, Armut, Zölibat und Gehorsam. Umso mehr die Priester die Radikalität nach den evangelischen Räten leben werden, desto kohärenter werden ihre Identität und ihr Leben sein. Es gilt hier, eine Reformarbeit zu leisten, das heißt zu den Wurzeln zurückzukehren. Ich verwechsle nicht das priesterliche Leben mit dem Ordensleben.[15] Ich behaupte freilich, dass das Priestertum ein Lebensstand ist, der ein hingegebenes und wahrhaftig geweihtes Leben nach sich zieht.

Ein weltliches Leben kann in einer Priesterseele nur ein Gefühl der Inkohärenz, der Unvollkommenheit und der Zerrissenheit erzeugen. „Niemand kann zwei Herren dienen“ (Mt 6,24).

Liebe Brüder im Priesteramt, erlaubt mir, Euch direkt anzusprechen. Immer neue sexuelle Skandale werden bekannt. Sie werden von den sozialen Netzwerken sehr verstärkt. Sie erfüllen uns mit Scham, weil sie unser Versprechen des Zölibats in der Nachfolge Christi direkt infrage stellen. Wie soll man ertragen, dass manche unserer Brüder die heilige Unschuld der Kinder profanieren konnten? Wie sollen wir auf eine missionarische Fruchtbarkeit hoffen können, wenn solche Gräueltaten im Verborgenen geschehen? Es steigert unser Leid und unsere Einsamkeit. Manche unter Euch werden von der Arbeit erdrückt. Andere zelebrieren in leeren Kirchen. Alle möchte ich daran erinnern: Die Erfahrung des Kreuzes offenbart die Wahrheit Eures Lebens. Indem Ihr die Wahrheit Gottes verkündet, steigt Ihr ans Kreuz. Ohne Euch wäre die Menschheit nicht so groß und nicht so schön. Ihr seid das Bollwerk der Wahrheit, weil Ihr angenommen habt, Ihn bis zum Kreuz zu lieben. Ihr seid nicht die Verteidiger einer abstrakten Wahrheit oder einer Partei. Ihr habt beschlossen, aus Liebe zu Jesus Christus zu leiden. Ihr alle, versteckte und vergessene Priester, die die Gesellschaft manchmal verachtet, Ihr, die den Versprechen Ihrer Weihe treu seid, Ihr erschüttert die Mächtigen dieser Welt. Ihr erinnert sie daran, dass nichts der Kraft Eurer Selbsthingabe für die Wahrheit widersteht. Eure Anwesenheit ist dem Fürsten der Lüge unerträglich.

Der Zölibat offenbart die ureigene Essenz des christlichen Priestertums. Darüber als eine zweitrangige Wirklichkeit zu sprechen, verletzt die Priester der ganzen Welt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Relativierung des priesterlichen Zölibats das Priestertum auf eine bloße Funktion reduziert. Das Priestertum ist aber keine Funktion, sondern ein Lebensstand (S. 122-126).

Es ist dringend notwendig, dass alle – Bischöfe, Priester und Laien – wieder einen Blick des Vertrauens auf die Kirche und den ihr Mysterium schützenden priesterlichen Zölibat werfen. Dieser Blick wird auch der beste Schutz gegen den Geist der Spaltung, gegen den politischen Geist, aber auch gegen den Geist der Gleichgültigkeit und des Relativismus sein.

Was tun? Wir müssen an erster Stelle den Ruf Gottes wieder hören: „Ihr sollt heilig sein; denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ (3 Lev 19,2). Die Priesterweihe führt zu der Identifikation mit Christus. Natürlich bleibt die substanzielle Wirksamkeit des Amtes von der Heiligkeit des Amtsträgers unabhängig, dennoch sollte man nicht die außerordentliche Fruchtbarkeit, die aus der Heiligkeit der Priester entsteht, missachten (S. 149f.).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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[1] Robert Kardinal Sarah: Aus der Tiefe des Herzens. Priestertum, Zölibat und die Krise der katholischen Kirche, mit einem Beitrag von Benedikt XVI., 160 S., geb., ISBN 978-3-86357-255-6, Euro 16,80 – Bestell-Tel.: 07563-608998-0, Fax: 07563-608998-9, Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de
[2] Johannes Paul II.: Pastores dabo vobis, Nr. 50.
[3] Zweites Vatikanisches Konzil, Presbyterorum Ordinis, Nr. 16.
[4] Papst Franziskus: Pressekonferenz auf dem Rückflug nach Rom nach dem Weltjugendtag in Panama, 27. Januar 2019.
[5] Paul VI.: Enzyklika Sacerdotalis Caelibatus, 24. Juni 1967, Nr. 49.
[6] Johannes Paul II.: Pastores dabo vobis, Nr. 22.
[7] Siehe L. Touze: „Théologie du célibat sacerdotal“, in: Nova et Vetera, XCIV, 2019/2, 138-141.
[8] Paul VI.: Enzyklika Sacerdotalis Caelibatus, 24. Juni 1967, Nr. 26.
[9] Marc Ouellet: Celibato e legame nuziale di Cristo alla Chiesa, LEV, 2016, 50.
[10] Bericht vom 20. Mai 2019, veröffentlicht auf der offiziellen Seite des PIME, in: Asia News, 10. und 11. Oktober 2019.
[11] Papst Franziskus: Evangelii gaudium, Nr. 107.
[12] Johannes Paul II.: Pastores dabo vobis, Nr. 72.
[13] Ebd., Nr. 27.
[14] Joseph Ratzinger: Der Auferstandene, op. cit., 175.
[15] Der priesterliche Stand verlangt seiner Natur nach nicht die Profess der evangelischen Räte, sondern ein Leben nach den Räten. Den Ordensleuten obliegt es, kraft ihres Standes durch die Ablegung der Gelübde zu prophetischen Zeichen der evangelischen Radikalität in der Kirche zu werden (siehe Lumen gentium, 44; Pius XII., Ansprache Annus Sacer, 8. Dezember 1950).

Zeugnis für die Herrschaft Christi in unserem Leben

Das „Charisma“ des Zölibats

Im März 2020 hielt Erzbischof Dr. Paul Pezzi Fasten-Exerzitien für die Priester seiner Erzdiözese der Mutter Gottes von Moskau. Grundlage seiner Betrachtungen war der Brief des hl. Apostels Paulus an die Kolosser. In einem Vortrag über die Stelle Kol 3,5-15 ging er insbesondere auf den Zölibat ein. Nur die Liebe Christi könne einem Priester die Kraft zur Reinheit und ein erfülltes eheloses Leben geben. In der unvollkommen gelebten Keuschheit der Priester sehe er auch einen Hauptgrund für den Mangel an Berufungen. Der Zölibat sei ein „Charisma“, das wunderbare Früchte hervorbringe, wenn es angenommen und in der Nachfolge Christi verwirklicht werde.

Von Erzbischof Paul Pezzi, Moskau

Angesichts der glorreichen Zukunft, die uns im Himmel erwartet, müssen wir hier auf Erden unsere Leidenschaften bekämpfen. Sie sind so tief mit der menschlichen Person verwachsen, dass sie der hl. Apostel Paulus sogar „irdische Glieder“ nennt: „Darum tötet, was irdisch an euch ist (wörtlich: ‚eure irdischen Glieder‘): Unzucht, Unreinheit, Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht, die Götzendienst ist!“ (Kol 3,5).

Kampf gegen Unzucht und Habsucht

Unter den Leidenschaften hebt Paulus also besonders Unzucht und Habsucht hervor, das heißt Ausschweifung und Gier. Es sind die Leidenschaften, die den gläubigen Menschen am stärksten in Versuchung führen, weil sie das fördern, was den „alten Menschen“ ausmacht, aber sich zeigen, als wären sie für den „neuen Menschen“ gut. Darüber hinaus sind Unzucht und Habsucht zwei Laster, die nicht nur bei Heiden, sondern bei allen Menschen am häufigsten vorkommen: sie waren, wie es ein alter Schriftsteller ausgedrückt hat, die Totengräber für die Antike. Ihr aber, so Paulus, „habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und habt den neuen Menschen angezogen, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen“ (Kol 3,9f.).

Der Apostel nennt die Habgier einen Götzendienst. Denn „diejenigen, die für den Mammon arbeiten, haben den Dienst an Gott verlassen“, so sagt der hl. Johannes Chrysostomus. Wir sehen, wie auch heute Geld und Sexualität, wenn sie im Sinn des „alten Menschen“ gelebt werden, die Person zerstören, Familien zerbrechen lassen und die Berufung auslöschen. Was das Priestertum betrifft, so zerstören sie es langsam, fast unmerklich. Doch für einen Priester, der unter diesen Lastern leidet, ist es schwierig, von ihnen loszukommen. Dazu bedarf es der tiefen Demut, um Hilfe zu bitten.

Der Friede Christi triumphiere in euren Herzen!

„Bekleidet euch also, als Erwählte Gottes, Heilige und Geliebte, mit innigem Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Geduld! … Vor allem bekleidet euch mit der Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist! Und der Friede Christi triumphiere in euren Herzen“ (Kol 3,12.14f.).

Der Friede Christi, von dem Paulus spricht, ist nicht irgendeine Übereinkunft unter Gläubigen, sondern bezieht sich auf den Frieden, von dem der Apostel im Brief an die Korinther sagt: „Im Übrigen, liebe Brüder, freut euch, kehrt zur Ordnung zurück, lasst euch ermahnen, seid eines Sinnes, haltet Frieden! Dann wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein“ (2 Kor 13,11).

Über einen solchen Frieden schreibt der Psalmist: „Frieden in Fülle empfangen, die deine Weisung lieben, für sie gibt es keinen Anstoß zum Straucheln“ (Psalm 119,165). Dieser Friede wird nicht per Dekret oder durch gute Vorsätze erreicht. Er kann nicht einmal durch die engsten freundschaftlichen Bindungen und die tiefste Seelenverwandtschaft erlangt werden, wenn diese nicht mit dem Willen Gottes übereinstimmen. Deshalb sagt Paulus, dass dieser Friede Christus selbst ist. Jenseits dieses Göttlichen Friedens können im Herzen nur „Gemeinsamkeit von Begierden, verbrecherische Bündnisse oder Übereinkünfte im Bösen“ existieren (Papst Leo der Große). Es ist klar, dass für Paulus das Gesetz des Herrn mehr als eine Sammlung von Artikeln und Definitionen ist. Für ihn ist das Gesetz die Nachfolge Christi selbst, die Erinnerung an Christus, welche umso tiefer in das Herz eindringt, als es sich für die Liebe öffnet, welche das „Band der Vollkommenheit“ ist (Kol 3,14). Und das ist die Nachfolge Christi.

Das ist der Grund, warum die Liebe zu unseren eigenen Plänen und Projekten nicht in Einklang gebracht werden kann mit der Liebe zu Gott (vgl. Wort des hl. Papstes Leo des Großen über die Seligpreisungen). Die Liebe Christi, das „Band der Vollkommenheit“, lässt uns keine Ruhe, sie zieht uns ständig aus unseren Plänen heraus und lenkt uns zum Evangelium hin. Das „Band der Vollkommenheit“ spiegelt die Liebe Christi wider und ahmt sie nach. Diese Liebe, insofern es sich bei ihr um das „Band der Vollkommenheit“ handelt, kann man nur beschreiben, nicht jedoch definieren, wie das vieldeutige griechische Verb „synéchein“ (zusammenhalten, zusammenhängen) wunderbar zeigt.

Die Evangelisierung beginnt mit der Liebe Christi zu uns

Im zweiten Brief an die Korinther beschreibt Paulus diese Liebe mit den folgenden Worten: „Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben. Er ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde. Also kennen wir von jetzt an niemanden mehr dem Fleische nach; auch wenn wir früher Christus dem Fleische nach gekannt haben, jetzt kennen wir ihn nicht mehr so. Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat“ (2 Kor 5,14-18).

In diesen Worten ist klar zum Ausdruck gebracht, dass am Anfang der Evangelisierung nicht unsere Liebe zu Christus steht, sondern seine Liebe zu uns. Oft wird die Suche nach dieser Liebe Christi unter dem Druck von Müdigkeit, Zweifeln und Einsamkeit aufgegeben. Um der Herr unseres Lebens zu werden, geht Christus mit seiner Liebe auf uns zu: „Gott hat uns zuvor geliebt“ (vgl. 1 Joh 4,10), sagt Johannes in seinen Briefen. Und diese Liebe erreichte ihren Höhepunkt am Kreuz und in der Auferstehung: Dort liebte Christus die Seinen bis zur Vollendung (vgl. Joh 13,1). Und so können und müssen wir vergeben, weil Christus uns bereits zuvor vergeben hat: „Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“ (Kol 3,13).

Denn: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: Um deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt; wir werden behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat. Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,35-39). Auch hier können wir die Sorge des hl. Paulus um „seine“ Gemeinden“ erkennen, seine Selbsthingabe für sie. Diese Liebe ist es, welche die Gemeinde auferbaut, das Presbyterium, die Einheit der Kirche. Nur die Liebe Christi schafft Gemeinschaft. Die Einheit der kirchlichen Gemeinschaft ist das, was Christus begonnen hat und was er fortsetzt. Er bewirkt es durch Menschen, die er sich erwirbt und die ihn anerkennen.

Freundeskreis: Sind wir um Christi willen zusammen?

Die Frage ist: Sind wir um Christi willen zusammen? Sind wir beieinander, weil wir zu Christus gehen möchten? Fragen wir uns: Ist Christus der Grund, warum wir zusammen sind – zumindest in unseren Absichten? Wer möchte mit uns zusammen sein, nur weil er Hilfe sucht, um sein Schicksal zu bewältigen? Und wer ist es, der einzig und ausschließlich um Christi willen den Weg mitgehen möchte? Wenn wir solche Fragen stellen, werden wir erkennen, wer uns auf unserem Weg wirklich zur Seite steht. Alle anderen Gründe für unser Zusammensein reichen einfach nicht aus.

Und so ist von uns Ehrlichkeit verlangt. Welche Leute begleiten mich auf echte Weise? Es sind nicht alle gleich! Wir sind in der Lage, Ärzte, welche unsere Krankheiten heilen können, von denen zu unterscheiden, die es nicht können. Wie verstehen wir dann nicht, welche Beziehungen uns in unserem priesterlichen Dienst hilfreich sein können? Wie muss der Freundeskreis, die Gemeinschaft, aussehen, die mich auf echte Weise begleiten kann?  Es ist klar, dass diese Fragen für uns Priester besonders wichtig sind.

Der Priestermangel und das „Charisma“ des Zölibats

Der Priester nimmt im Leben der Kirche einen unersetzlichen Platz ein. Ohne ihn gäbe es keine Eucharistie, keine Vergebung der Sünden, das aber ist das Herz des gesamten christlichen Lebens. Außerdem muss der Priester die Gemeinde führen und lehren.

Wir sehen, dass auch in unserer Ortskirche die Anzahl der Priester nicht sehr groß ist. Es gibt auch nicht viele Seminaristen. Man kann natürlich viele Schlussfolgerungen ziehen, warum dies so ist, welche Gründe all das hat: etwa weil wir überhaupt nur wenige sind, weil die Familien nicht traditionell katholisch sind, weil es keine Wurzeln gibt, weil junge Menschen Angst haben, eine Entscheidung „für immer“ zu treffen, weil unter den derzeitigen Bedingungen unser Dienst zu schwierig ist… Ich persönlich denke, dass einer der Gründe – wenn nicht sogar der Hauptgrund – für den Priestermangel die Krise der Keuschheit, des priesterlichen Zölibats ist.

Oft kann man gerade deshalb „traurige“ Priester antreffen: Sie machen den Eindruck, als hätten sie im priesterlichen Dienst etwas verloren. Wie wir alle wissen, hat es die lateinische Kirche bereits vom vierten Jahrhundert an als notwendig und nützlich anerkannt, den priesterlichen Dienst mit dem Zölibat zu verbinden, mit der Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen. Die Gründe dafür sind im Lauf der Jahrhunderte immer deutlicher hervorgetreten, bis zur endgültigen Entscheidung, die Kandidaten für das Priestertum nur unter denen auszuwählen, die für sich auch das „Charisma“ der Keuschheit um des Himmelreiches willen angenommen haben.

Ich spreche speziell von einem „Charisma“, von einer Gabe, weil wir im Zölibat allzu oft nur ein Gesetz, eine Regel, eine Verpflichtung sehen. Stattdessen ist er vor allem ein Geschenk, eine Quelle ständiger Gnade und anderer Gaben! Der überzeugendste und bedeutungsvollste Grund für die Keuschheit um des Himmelreiches willen im priesterlichen Dienst ist für mich die Nachfolge Christi, welche die Lebensweise miteinschließt, welche Jesus von Nazareth für sich selbst vom Vater angenommen hat.

Keuschheit als Weg zur vollkommenen Liebe

Zölibat bedeutet daher auf keinen Fall einen Mangel an Achtung gegenüber der Frau oder eine Herabsetzung der Ehe. Noch weniger bedeutet Keuschheit um des Himmelreiches willen einen Verzicht auf affektive Reife. Keuschheit ist keine Weigerung, seine Gefühle auszudrücken. Keuschheit um des Himmelreiches willen ist vielmehr ein Weg, unsere arme menschliche Natur, die bis zum letzten Tag sündig ist, zu erziehen, damit wir in das Licht einer restlos hingegebenen Existenz eintreten, in der unsere Beziehungen zum Ausdruck reiner, vollkommener und selbstloser Liebe werden, ohne besitzen und beherrschen zu wollen. Ja, natürlich zieht die Keuschheit um des Himmelreiches willen die starke Erotik in Zweifel, die sich inzwischen überall verbreitet hat, ebenso die falschen Vorurteile, wie zum Beispiel die absolut unbegründete Ideologie, als ob Keuschheit der Gesundheit schaden würde und es daher zumindest von Zeit zu Zeit notwendig sei, sich mit Masturbation zu beschäftigen.

Unser Dienst geschieht oft in Einsamkeit, auch wenn wir mit anderen zusammen sind. Daher sagte ich, dass es notwendig sei, diejenigen Beziehungen zu erkennen und anzuerkennen, die wirklich freundschaftlich sind. Es geht um solche Beziehungen, um einen solchen Freundeskreis, der uns begleiten kann, der sich nicht fürchtet, uns in demütiger Weise zu korrigieren, uns über unser Leben die Wahrheit zu sagen.

Ich hoffe, dass nicht nur unter den Priestern, die in unserer Diözese ihren Dienst ausüben, sondern in der ganzen Kirche eine neue Entdeckung des frohmachenden Geschenks der Keuschheit um des Himmelreiches willen gemacht wird. Vergessen wir nicht, dass nach dem Martyrium die Keuschheit die höchste Form ist, um Zeugnis für die Herrschaft Christi in unserem Leben Zeugnis abzulegen. Es ist die Herrschaft der Liebe, die uns umarmt. Und der hl. Paulus ruft uns dazu auf, uns mit ihr zu bekleiden, was im Brief an die Römer in einem einzigen, zweiteiligen Satz ausgedrückt ist: „Vielmehr zieht den Herrn Jesus Christus an und sorgt nicht so für euren Leib, dass die Begierden erwachen“ (Röm 13,14).

Dankbarkeit befähigt uns, immer vorwärts zu gehen

Paulus schließt diesen Teil des Kolosserbriefs mit den Worten ab: „Sei dankbar!“ (Kol 3,15), Er meint damit die Dankbarkeit gegenüber Gott für all seine guten Taten, für die Erlösung, für den Frieden. Gott zu danken, ist unter allen Umständen des Lebens möglich und notwendig. Dankbarkeit ist ein Zeichen dafür, dass wir kein emotionales „Burnout“ haben, auch keine ängstliche Sorge, vielmehr dafür, dass wir uns vorwärtsbewegen und uns nicht in einer Sackgasse befinden. Dankbarkeit sagt, dass wir vorwärtsgehen, sowohl im Sturm als auch am sonnigen Tag, aber immer mit einer gewissen Gelassenheit, in dem Bewusstsein, dass der Herr das Werk vollendet, das er in uns und durch uns begonnen hat. „Dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Seid dankbar!“ (Kol 3,15) Gott danken für sein Geheimnis in uns, Jesus Christus danken für die Mitbrüder im Klerus, die ein – uns sehr nahestehendes – Zeichen Jesu darstellen, Christus dafür danken, dass er uns hilft, unsere Sendung zu verstehen und zu spüren – das ist es, was uns befähigt, vorwärts zu gehen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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Ein nüchterner und undogmatischer Erklärungsversuch

Zölibat im Licht der Jungfräulichkeit Mariens

Eduard Fassel (37 J.) betrachtet eine Gesellschaft ohne innere Kultur mit größter Sorge. Auf der Grundlage einer interreligiösen Zusammenschau versucht er Religion rational und umfassend darzustellen, um sie auch dem westlichen Zeitgeist zugänglich zu machen. Seine Überlegungen zum Zölibat und zur Jungfräulichkeit Mariens bezeichnet er als „einen ganz nüchternen und undogmatischen Erklärungsversuch“.

Von Eduard Fassel

Die immensen Spannungen, die hier im Westen zwischen Tradition und Moderne vorherrschen, kommen wohl nirgends deutlicher zum Ausdruck als im Dogma der Jungfräulichkeit Mariens. Deswegen sollte man es aber nicht als Aberglauben oder Wunder- und Märchengeschichte abtun, wie es viele Zeitgenossen handhaben. Dies halte ich für einen großen Fehler, zumal damit das Ideal der Keuschheit verbunden ist. Warum wird dieses Ideal in allen Religionen hochgehalten? Warum müssen Mönche das Keuschheitsgelübde ablegen, warum das Ringen um den Zölibat auch für Priester in der katholischen Kirche? Warum hat die Tradition immer darauf geachtet, die Begierde in Schach zu halten, warum die Institution der Ehe, „züchtige“ traditionelle Trachten, usw.? Es muss einen praktischen religiösen Grund dafür geben. Der Schlüssel zu dessen tiefergehenden Verständnis kann in der Fähigkeit zur Konzentration gesehen werden.

Zunächst ist zu bedenken, dass alles, was wir erreicht haben, durch Konzentration erreicht wurde. Das gilt für alles Wissen, das wir uns angeeignet haben, und auch für alle Probleme, die wir gelöst haben. Sogar eine Katze fängt eine Maus durch einen langanhaltenden Aufmerksamkeitsstrom. Wie leicht lernt ein Kind in der Schule, das ruhig dasitzen und sich sammeln kann, und was für eine Quälerei ist es für ein unruhiges und zerstreutes Kind. Oder denken wir an ein kniffliges Problem, worüber wir wieder und wieder nachgedacht haben. Plötzlich ist daraus ein Funke entstanden und die Lösung war da. Wenn wir es näher betrachten, werden wir feststellen, wie wichtig die Fähigkeit zur Konzentration für das gute Gelingen unseres Lebens ist.

Das gleiche gilt natürlich für die Ziele der Religion. Praktische Religion ist in der Regel die stete Ausrichtung auf ein spirituelles Ideal, unabhängig davon, auf welcher Stufe man sich befindet und ob man es Gebet, Anbetung oder Kontemplation nennt.

Wenn wir nun unsere Aufmerksamkeit auf einen Punkt richten, werden wir sehr bald feststellen, dass wir dort nicht lange verweilen können. Unser Gemüt wandert. Warum fällt es uns so schwer, die Konzentration für längere Zeit aufrechtzuerhalten? Als Grund dafür wurden die Begierden ausgemacht. Ihrer zentrifugalen Kraft unterliegt unser Gemüt. Es sucht immer nach Vergnügungen und will sich ständig durch irgendetwas kleine Befriedigungen verschaffen. Deswegen wandert es in die Vergangenheit oder in die Zukunft, kommt zu dieser oder jener Vorstellung und will einfach nicht stillhalten. Diese Ruhelosigkeit stellt ein großes Hindernis in unserem religiösen Leben dar. Nur ein ruhiges Denken kann dauerhaft auf etwas ausgerichtet bleiben, nur mit einem stillen Gemüt kann man arbeiten.

Es ist also wichtig, den für unsere Unruhe verantwortlichen Begierden nicht zu viel Raum zu geben. Eine der stärksten Begierden im Menschen ist die Sexualität. Der erste Grund für die Enthaltsamkeit, die im Keuschheitsideal ihren Ausdruck findet, ist demnach innere Stille und die Fähigkeit zu steter Aufmerksamkeit.

Der zweite Grund ist Kraft. Sexualität ist eine Energie, die man verpuffen lassen kann und die sich dann wieder auflädt. Ein Mensch, der auf dem inneren Weg ist, benötigt jedoch diese Energie hinter der Konzentration. Ohne Keuschheit ist das Gebet oder die Ausrichtung auf Gott lau und kraftlos.

Das sind also zwei Gründe, warum sexuelle Enthaltsamkeit und religiöse Praxis untrennbar zusammengehen. Daraus ergibt sich die Frage: Wenn sexuelle Enthaltsamkeit für die religiöse Praxis von solcher Wichtigkeit ist, wie kann sie dann auf gesellschaftlicher Ebene erreicht werden? Darauf scheint es eine interessante Antwort zu geben, nämlich durch das Hochhalten des Mutterideals. „Mutter“ impliziert die Beziehung zu einer Frau, die wir alle kennen, ohne die wir uns gar nicht hätten entwickeln können – und die ihrer Natur nach asexuell ist. Niemand bringt seine Mutter mit Sexualität in Verbindung. Deshalb ist das traditionelle, auch von der Kirche propagierte Mutterideal der gesellschaftliche Garant für die Aufrechterhaltung einer keuschen Lebensweise.

Damit kommen wir bei den beiden herausragenden Attributen an, welche Maria verkörpert, nämlich als Jungfrau und Gottesmutter. Dem geistlichen Leben ist es förderlich, sie als solche zu verehren. Auch psychologisch gesehen sickern die Eigenschaften, welche man innig betrachtet, ins eigene Denken ein und verstärken die Tendenzen der Enthaltsamkeit und inneren Reinheit (vgl. Mt 5,8).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Erinnerung und Mahnung

Weckruf von Wanda Półtawska

Wanda Półtawska wurde am 2. November 1921 geboren. Sie ist also 98 Jahre alt und noch am Leben. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre freundschaftliche Beziehung zu Karol Wojtyła, den sie aus ihrer Jugendzeit kannte. Auch das ganze Pontifikat Johannes Pauls II. hindurch blieb sie mit ihm in Kontakt und setzte sich für die Werte des Lebens, der Ehe und der Familie ein. Auch bei seinem Sterben am 2. April 2005 durfte sie ihn begleiten und bis zuletzt an seinem Bett verweilen. Als Mitglied des polnischen Widerstands wurde sie 1941 verhaftet und später in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Die Erinnerungen an ihre schrecklichen Leiden schrieb sie 1945 nieder und publizierte sie 1961. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Und ich fürchte meine Träume"[1] ist 2019 neu aufgelegt worden. Zur Ausgabe 1993 verfasste sie ein Geleitwort, das wir nachfolgend wiedergeben.

Von Wanda Półtawska

Ich habe mich gefragt, ob eine deutsche Ausgabe meiner Erinnerungen an die Jahre im Konzentrationslager Ravensbrück zur Zeit sinnvoll ist. Man hatte ja den Eindruck, als sei diese Zeit endgültig vorüber und das damalige Gedankengut heute nicht mehr relevant, Aber die gegenwärtigen schicksalhaften Ereignisse in Europa belehren einen eines anderen. Es ist nicht wahr, dass man das, was während des Zweiten Weltkrieges passiert ist, vergessen kann, weil die Folgen noch zu spüren sind und die Menschheit bedrohen.

Es sind ferne, späte Folgen. Denn der moralische Niedergang geht weiter und macht sich heute besonders stark bemerkbar. Damals haben Forschungen über die Möglichkeit der Schaffung „reinrassiger Menschen“ begonnen – und sie haben in der nachfolgenden Generation zu tragischen Manipulationen am Menschen geführt, am geborenen und am ungeborenen Leben! Die Massenvernichtung von Gefangenen in den Gaskammern hat den Wert des Menschen gemindert, der Preis für den Menschen ist gefallen.

Trotz des traditionellen hippokratischen Eides dienen viele Ärzte auch heute verbrecherischen und politischen Zielen. Sie vollstrecken Todesurteile entweder aufgrund eines unmoralischen Rechts oder schlichtweg aus reiner Willkür. Die jüngsten Ereignisse in den Niederlanden, wo das Parlament den Ärzten dasselbe Recht einräumt, das Hitler seinen Ärzten eingeräumt hat, nämlich das Recht auf Tötung alter, kranker, „nutzloser“ Menschen, verleihen meinen Erinnerungen höchste Aktualität.

Jene Ärzte, die damals töteten, erhielten bei den Nürnberger Prozessen die Höchststrafe, nämlich die Todesstrafe. Heute jedoch, fast 50 Jahre danach, hat ein Staat bereits das unmoralische Recht gebilligt und es besteht die Gefahr, dass andere ihm folgen werden. Die Menschheit ist heute nicht so sehr durch Hunger bedroht als vielmehr durch den moralischen Niedergang, durch das Abgleiten unter das Niveau der Menschlichkeit. Zwar lehrt die katholische Kirche die Würde und Unantastbarkeit des Menschen, aber die medizinischen Fortschritte erlauben den Wissenschaftlern, den Menschen wie ein Tier zu behandeln, an dem sie ihre Versuche machen können. Und so wie damals im Lager, als sie mich gegen meinen Willen zu einer Operation gezwungen haben, so könnte ich auch heute mit lauter Stimme rufen: „Wir sind doch keine Kaninchen!“

Viele der damals operierten jungen Mädchen haben später den Arztberuf ergriffen – um gegen jene Degradierung der Berufsethik zu protestieren, die sie selbst im Lager erlebt haben. Wir hatten aber auch eine Vision. Vielleicht hat der Leser dieses Buches nicht genügend auf das geachtet, was mir wichtig erscheint: Es geht um unser Testament. Zwar gibt es dieses Testament nicht auf Papier, aber es lebt in uns. Es wäre schön, wenn sich der deutsche Staat verpflichten würde, auf neutralem Boden, zum Beispiel in der Schweiz, eine internationale Schule zu gründen, wo die Jugend so erzogen werden würde, dass sich die nachfolgenden Generationen nicht mehr gegen die Menschen richten können, dass Friede und Liebe zwischen den Völkern herrscht, dass Ärzte nicht töten, dass Soldaten keine Gewalt gegen Frauen anwenden und dass die Genetiker nicht wagen, am menschlichen Embryo so zu manipulieren, als sei es gewöhnliche Materie.

Meine Erinnerungen sind also so etwas wie eine Mahnung, nicht nur für die Deutschen, sondern für ganz Europa, ja für die Welt. Ich selbst habe mich während der letzten 50 Jahre gerade dieser Aufgabe gewidmet: der Rettung der menschlichen Würde. Und obwohl ich nach wie vor gelegentlich eine „Gänsehaut“ bekomme, wenn ich plötzlich die deutsche Sprache höre (darauf habe ich keinen Einfluss), so fühle ich mich eins mit jenen meiner deutschen Kollegen, die wie ich für den Schutz des Lebens einstehen. Ich habe auch viele Freunde deutscher Nationalität, denn Menschlichkeit steht über Nationalität, und überall gibt es gute und schlechte Menschen, überall tobt der Kampf zwischen Gut und Böse. Ich habe niemals den Glauben daran verloren, dass der Mensch ein göttliches Geschöpf ist, fähig zur heroischen Tat; aber Ravensbrück hat mich auch gelehrt, dass der Mensch nicht automatisch ein Abbild Gottes ist, dass man sich darum bemühen muss – es gibt keine passive Heiligkeit! Der Mensch muss ständig dem Bösen widerstehen, nach innen und nach außen. – Vielleicht hilft also die Veröffentlichung meiner Erinnerungen in deutscher Sprache der deutschen Jugend, sich auf die Seite des Guten zu stellen und die Konflikte zu vermeiden, die meine Generation durchleben musste.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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[1] Wanda Półtawska: Und ich fürchte meine Träume, Fe-Medien, Kisslegg 2020, 200 S., Pb., ISBN 978-3-86357-224-2, Euro (D) 9,95, Best.-Tel.: 07563-608998-0; Fax: 07563-608998-9; E-Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de

Wichtiger Beitrag zur Versöhnung unserer Völker

Erniedrigung und Größe

Der damalige Erzbischof von Köln, Joachim Kardinal Meisner, hat zur Veröffentlichung der Erinnerungen von Wanda Półtawska in deutscher Sprache ein Grußwort verfasst.[1] Datiert ist es bewusst auf den Karfreitag 1993. Meisner ruft dazu auf, die „menschenverachtende Grausamkeit“ der Konzentrationslager, die furchtbaren Leiden, wie sie Półtawska durchgemacht habe, nicht zu verdrängen. Hoffnung, Versöhnung und Heilung gebe es nur, wo Sprachlosigkeit überwunden werde und ein ehrlicher Prozess der Aufarbeitung einen wertebewussten Blick in die Zukunft eröffne. Die dazu notwendige „schöpferische Kraft“ entspringe allein der christlichen Liebe.

Von Joachim Kardinal Meisner

Dieses Buch enthält Erinnerungen – Erinnerungen an ein tief dunkles Kapitel im Leben eines Menschen, eines Volkes, Europas. Erinnerungen, die so viel Schreckliches umschließen, dass es ganz natürlich erscheint, sie zu verdrängen. Die Autorin schildert in beeindruckender Weise, wie sie dies nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager versuchte, wie wenig es ihr gelang, wie die Erinnerungen in immer wirrerer Gestalt sie in ihren Träumen von neuem überfielen und die doch schon überstandenen Leiden ins Endlose verlängern wollten. Erst als sie sich anschickte niederzuschreiben, was ihr und ihren Leidensgefährtinnen widerfahren war, wichen die Träume. Es blieb die Erinnerung, furchtbar und widerspenstig zwar, aber jetzt in eine Gestalt gebracht, so gut wie die Sprache aus dem bisher Unsagbaren zu schaffen vermochte. Die Ausweglosigkeit des Schreckens nimmt ebenso Form an wie die Kraft der Hoffnung, allgegenwärtige Niedrigkeit und Erniedrigung ebenso wie unerwartete Tapferkeit und Größe, das übermächtige System menschenverachtender Grausamkeit ebenso wie das Wunder der Nächstenliebe, das sich auch in der tiefsten Todesnacht ereignen kann.

Diese Erinnerungen wurden durch die Niederschrift und Veröffentlichung auch anderen zugänglich. Sie traten aus der Bindung an ein Einzelschicksal heraus, wurden dem nur individuellen Gedenken und Vergessen entzogen. Sie erscheinen heute als Zeugnis menschlichen Lebens und Leidens in einer Zeit der Unmenschlichkeit und gewinnen so exemplarische Bedeutung für das Schicksal zahlloser anderer Menschen.

Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung. Nur wenn Erinnerungen ausgesprochen werden, wenn sie mitteilbar und austauschbar bleiben, können sie die Voraussetzung bilden für die Versöhnung. Das unausgesprochene Leid verhärtet die menschliche Seele ebenso wie die nicht eingestandene Schuld. Das bloße Vergessenwollen ohne wirkliche gegenseitige Vergebung hält die Alpträume wach, so dass sie jederzeit wieder Gewalt über die Herzen der Menschen gewinnen können. Dies gilt für Einzelne wie für ganze Völker. Die neugewonnene Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschen, die von Gott geschenkte Chance, die Zukunft nach Jahrzehnten der Entfremdung wieder gemeinsam gestalten zu können, bedarf daher immer wieder der vergewissernden gemeinsamen Erinnerung an das Vergangene. Es wäre falsch, sich mit einem oberflächlichen Heilungsprozess der auf beiden Seiten zugefügten tiefen Verwundungen zufriedengeben zu wollen, solange unter der Oberfläche die Verletzung noch fortwährt. Die deutsche Übersetzung der Erinnerungen von Frau Wanda Półtawska leistet einen wichtigen Beitrag, um der in beiden Völkern immer wieder vorhandenen Versuchung der Sprachlosigkeit und der Verdrängung entgegenzuwirken.

Die Erinnerungen an die Haft im Konzentrationslager Ravensbrück sprechen auf jeder Seite von den furchtbaren Verheerungen, die der Hass anzurichten vermag. Doch Hass ist niemals schöpferische Kraft: „Nur die Liebe ist schöpferisch“. Dieser Satz stammt von niemand anderem als dem hl. Maximilian Kolbe. Ihm war es beschieden, die schöpferische Kraft der Liebe durch das Opfer des eigenen Lebens für seinen Mitgefangenen zu bezeugen.

Dass dieses Zeugnis der bedingungslosen Nachfolge Jesu Christi im Grauen des Konzentrationslagers abgelegt werden konnte, bleibt ein Geschenk der Gnade Gottes voller Trost und Hoffnung für alle, die die Folgen des zerstörerischen Hasses zwischen Menschen und Völkern bis heute in ihrem Leben zu tragen haben. Es ist besonders für uns, Polen und Deutsche, Vermächtnis und Auftrag auf dem Weg in die Zukunft.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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[1] Wanda Półtawska: Und ich fürchte meine Träume, Fe-Medien, Kisslegg 2020, 200 S., Pb., ISBN 978-3-86357-224-2, Euro (D) 9,95, Best.-Tel.: 07563-608998-0; Fax: 07563-608998-9; E-Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de

Die „Befreiung“

Was Wanda Półtawska vom 17. Februar 1941, dem Tag ihrer Verhaftung, bis zum 7. Mai 1945, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück, durchgemacht hat, ist unvorstellbar. Dass sie dieses Martyrium überlebt hat, gleicht einem Wunder. Doch, wie sie am 10. Februar 1961 schreibt, war die Heimkehr noch nicht ihre endgültige Befreiung.[1]

Von Wanda Półtawska

Das vorliegende Erinnerungsbuch über das Konzentrationslager schrieb ich im Juni und Juli des Jahres 1945, unmittelbar nach meiner Rückkehr. Bis zum Januar 1961 lag es dann in der Schublade – es war nicht für den Druck bestimmt. Es entstand nämlich aus einem völlig anderen Grund und vielleicht sollte ich dies erläutern, da sich dadurch, wenigstens teilweise, die sehr persönliche Art des Schreibens erklärt.

Ich kehrte am 8. Mai 1945 nach Hause zurück – nach einer Reise, die zwanzig Tage dauerte, und gleich von der ersten Nacht an stellte ich etwas Entsetzliches fest: Tag für Tag oder besser Nacht für Nacht träumte ich von Ravensbrück – wobei die Träume so unfassbar plastisch waren, dass ich nicht unterscheiden konnte, ob dies nun ein Traum oder ich immer noch im Lager war. … Ich träumte immer wieder von den gleichen Ereignissen, immer wieder, ohne Ende, und es war kaum zu fassen, dass man in einer Nacht so viel träumen kann. So zögerte ich das Schlafen so weit wie möglich hinaus. Im Übrigen sprach ich mit niemandem darüber. Schließlich war die Spannung dieser Nächte so angewachsen, dass ich mich einfach gar nicht mehr schlafen legte. Ich konnte die Träume vom Lager nicht ertragen. Das ging einige Tage so. Bis ich so übermüdet war, dass ich mich entschloss, irgendetwas zu unternehmen. …

Am 23. Juni, meinem ersten Namenstag zu Hause, kamen eine Menge Menschen, um mir mit einem Meer von Blumen zu gratulieren. Unter ihnen war eine herbe grauhaarige Dame, meine ehemalige Lehrerin. Zu ihr sagte ich, dass ich es überhaupt nicht verstehen könnte: Das Lager habe ich überlebt und jetzt kann ich die Träume nicht ertragen. Das muss doch abnormal sein. … Sie sagte: „Weißt du, versuche alles niederzuschreiben. Vielleicht hilft das.“ Zuerst wollte ich nicht. Aber als ich mich in der Nacht wieder vor den Träumen fürchtete, schrieb ich. Ich schrieb von da ab immer weiter – aber nur in der Nacht.

An irgendeinem sonnigen Morgen im Juli oder August 1945 beendete ich die Niederschrift. Ich tat alles in eine Schublade und … und wirklich schlief ich das erste Mal seit meiner Rückkehr ohne Träume. …

Zehn Jahre nach der Niederschrift vertraute ich jemandem an, dass ich dieses Erinnerungsbuch geschrieben hätte, und nach fünfzehn Jahren überredete man mich, es zu veröffentlichen. Ich sah das Manuskript durch und es erschien mir zu intim und zu makaber. So strich ich verschiedene Passagen. Die dadurch entstandenen Lücken sprechen für sich! Heute, nach zwanzig Jahren, kann ich die Erlebnisse ruhiger betrachten. In einigen Tagen ist der zwanzigste Jahrestag meiner Verhaftung: der 17. Februar 1941.

Kurze Biografie Wanda Półtawskas

Wanda Półtawska, geboren 1921, wurde 1941 von der Gestapo verhaftet und wegen Unterstützung des polnischen Widerstandes zunächst sechs Monate im Gefängnis in Lublin festgehalten. Dann wurde sie mit einem Transport von Lubliner Frauen polnischer Herkunft in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, wo an ihr und anderen Frauen brutale pseudo-medizinische Experimente durchgeführt wurden. Sie überlebte und konnte erst bei Kriegsende nach Lublin zurückkehren – aber so belastet, dass sie jede Nacht von den schrecklichen Erlebnissen träumte.

Im September 1945 begann sie ihr Medizinstudium an der Jagiellonen Universität in Krakau, wo sie promovierte. Sie arbeitete als Psychiaterin und setzte sich vor allem als Familienberaterin sowie in der Arbeit mit Ehepaaren, Verlobten und Jugendlichen ein. Über dreißig Jahre leitete sie das durch Bischof Karol Wojtyła gegründete „Instytut teologii rodziny“ (Institut für Familientheologie). Als Karol Wojtyła Papst wurde, arbeiteten sie und ihr Mann mit verschiedenen Kongregationen des Vatikans zusammen.

Seit 1947 ist Wanda Półtawska verheiratet und hat vier Töchter. Für ihren öffentlichen Einsatz zum Wohl der Nation erhielt sie 2016 den Orden des Weißen Adlers, die höchste Auszeichnung Polens. Über ihre Erinnerungen und Arbeit hat sie zahlreiche Bücher geschrieben. Sehr bekannt ist ihr erstes, im Juli 1945 verfasstes Buch „Und ich fürchte meine Träume“, in dem sie ihre Erlebnisse aus Ravensbrück schildert.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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[1] Wanda Półtawska: Und ich fürchte meine Träume, Fe-Medien, Kisslegg 2020, 200 S., Pb., ISBN 978-3-86357-224-2, Euro (D) 9,95, Best.-Tel.: 07563-608998-0; Fax: 07563-608998-9; E-Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de

Liturgie der Kirche ist die innere Achse des Programms

„Es gibt immer eine Hoffnung“

Die Corona-Krise hat gezeigt, was für ein Segen Medien wie „Radio Horeb“ bedeuten können. Sicher kann die gemeinsame Eucharistiefeier nicht durch einen „Live-Stream“ ersetzt werden. Wer die Möglichkeit zur Teilnahme an einer hl. Messe hat, kann die Sonntagspflicht nicht im Wohnzimmer erfüllen. Doch immer kann die Übertragung der Liturgie ein Geschenk sein und das geistliche Leben befruchten. Tausende haben Pfr. Dr. Richard Kocher Fotos geschickt, um bei der hl. Messe in Balderschwang anwesend zu sein.

Von Richard Kocher

Durch die Corona-Krise ist eine neue Nachdenklichkeit entstanden. Eine Besinnung auf das Wesentliche ist angesagt. Bei seiner Ansprache auf dem menschenleeren Petersplatz zeigte Papst Franziskus am 27. März 2020, wohin der künftige Kurs gehen soll: „In unserer Welt sind wir mit voller Geschwindigkeit weitergerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen. In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseren schwerkranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden. Jetzt, auf dem stürmischen Meer, bitten wir dich: ‚Wach auf, Herr!‘… Es ist nicht die Zeit deines Urteils, sondern unseres Urteils: die Zeit zu entscheiden, was wirklich zählt und was vergänglich ist, die Zeit, das Notwendige von dem zu unterscheiden, was nicht notwendig ist. Es ist die Zeit, den Kurs des Lebens wieder neu auf dich, Herr, und auf die Mitmenschen auszurichten. … Der Anfang des Glaubens ist das Wissen, dass wir erlösungsbedürftig sind. Wir sind nicht unabhängig, allein gehen wir unter. Wir brauchen den Herrn so wie die alten Seefahrer die Sterne. Laden wir Jesus in die Boote unseres Lebens ein.“

Gott lässt niemand im Stich, der sich vertrauensvoll an ihn wendet. Es gibt immer eine Hoffnung und eine Perspektive, auch in den dunkelsten und schwierigsten Situationen. Viele, oft gegensätzliche Meinungen, auch von ausgewiesenen Experten, stehen im Raum, die im Internet mit ihren Videobotschaften mehrere Millionen Mal angeklickt werden. Manche relativieren die Epidemie, wenn gesagt wird, dass alles eine Hysterie sei und die einschränkenden Maßnahmen nicht gerechtfertigt seien. Jede jährliche Grippewelle würde mehr Tote verursachen. Wieder einmal erwiesen sich unsere internationalen Beziehungen mit der Weltfamilie von Radio Maria als ein großer Segen für Radio Horeb. In der Stadt Erba ist der Sitz von Radio Maria Italien; es liegt im Epizentrum des Ausbruchs. Durch Liveschaltungen wurde klar, dass es sich bei der Corona-Krise nicht um eine herkömmliche Grippewelle handelt, sondern dass diese eine ganz andere Dimension hat. Das Gleiche gilt für Radio Maria Spanien, dessen Zentrale in Madrid ist.

In der Vergangenheit wurde zwar seitens der Verantwortlichen unserer Kirche immer wieder gesagt, wie wichtig soziale Kommunikationsmittel seien, da diese die Foren sind, in denen sich die Menschen aufhalten. Praktische Konsequenzen hat dies aber kaum gehabt. Viele Menschen waren in dieser Zeit auf die Streaming-Gottesdienste angewiesen, um an der Liturgie der Kirche teilzunehmen; dies hat manche Sichtweise verändert. Für uns hat es sich als sehr wertvoll erwiesen, durch Digitalradio in fast ganz Deutschland leicht erreichbar zu sein. Schon vor der Krise hieß es in unseren Broschüren und Ansagen im Radio, dass die Liturgie der Kirche die innere Achse ist, um die herum das Programm aufgebaut ist; genau dies war jetzt gefragt. So konnten wir den Menschen in bester Bild- und Tonqualität das geben, was sie brauchten.

Die Dankbarkeit der Zuhörer und Zuschauer, darunter auch viele neue, war überwältigend. Dazu ein Wort der österreichischen Bischöfe: „Obwohl Liturgie zunächst und von ihrem Wesen her lebendige gottesdienstliche Feier ist und die räumliche Anwesenheit einer konkreten Feiergemeinde erfordert, sind doch Berechtigung und Bedeutung von medial übertragenen Gottesdiensten längst unumstritten. Sie sind ein liturgiepastorales Angebot für Menschen in unterschiedlichen Situationen und können einen wichtigen Dienst der Evangelisierung leisten. So nehmen Gottesdienst-Übertragungen mittlerweile einen festen Platz in Hörfunk- und Fernsehprogrammen ein und erfreuen sich hoher und teils wachsender Akzeptanz.“

Ich danke unserem Team, das sich schnell auf die neue Situation eingestellt und bis zu den Grenzen der Belastbarkeit gearbeitet hat. Die Büros wurden nur einfach besetzt und viele Mitarbeiter ins Homooffice „ausgelagert“, während die Arbeitsfülle erheblich zunahm. Schon vor der Corona-Pandemie planten wir nach dem Vorbild von Radio Maria Italien, am Abend einen zweiten Gottesdienst auszustrahlen, wie wir es derzeit tun. Aufgrund der äußerst positiven Resonanz werden wir dies auch in Zukunft beibehalten. Die Seelsorge-Hotline, bei der zehn Mitbrüder Rat und Trost spenden, hat sich als sehr hilfreich erwiesen. Auch diese wollen wir fortführen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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Vom Hirtenmädchen und dem Künstlermönch (2)

Das Unbefleckte Herz für die Welt

Prof. Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea berichten in einer fünfteiligen Artikelserie über die Entstehungsgeschichte der Statue vom Unbefleckten Herzen Mariens, die seit 1958 den Glockenturm der Rosenkranzbasilika in Fatima schmückt. Die zweite Folge zeigt die Präsenz Fatimas im öffentlichen Leben Lissabons nach dem Zweiten Weltkrieg, als Pater Thomas McGlynn O.P., der die Statue geschaffen hat, dort eintraf. Lúcia selbst hatte ihn ermutigt, die Entstehungsgeschichte niederzuschreiben.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Ein Amerikaner in Lissabon

Die portugiesischen Zollbeamten freuen sich, als sie unvermutet „Nossa Senhora de Fátima“ (Unsere Liebe Frau von Fatima), die sie sogleich erkennen, im Gepäck des amerikanischen Dominikaners entdecken. Ohne weitere Kontrolle lassen sie ihn ins Land. Alles schien perfekt organisiert. Schon am nächsten Tag würde P. Thomas McGlynn O.P. aufgrund von Kardinal Spellmanns Empfehlung vom Patriarchen von Lissabon ein ebensolches Schreiben für den Bischof von Leiria erhalten, das ihm den Weg zu Lúcia öffnen würde. Auf dem Weg zu ihr „a short stop“ (ein kleiner Zwischenstopp) in Fatima. Lúcia würde vielleicht kleinere Änderungen vorschlagen, die er als Zeichnung festhalten oder direkt umsetzen würde.

Zweifel an ihrer Zustimmung kannte er nicht. Der Rückweg über Rom – sicher würde der Heilige Vater das von Lúcia gutgeheißene Modell segnen. Aber der Plan verzögert sich von Anfang an. Kein Hotel in Lissabon! P. McGlynn soll nach Estoril fahren, „wherever that was“ (wo immer das auch war), aber bald schon bezaubern den Amerikaner die alten Straßen dieser über so viele Hügel hingestreckten Stadt mit ihren grandiosen Ausblicken und die Portugiesische Riviera nach Westen hinaus und dazu eine halsbrecherische Autofahrt, die er genießt.

Als er am nächsten Morgen in San Antonio, in der dem hl. Antonius von Padua, dem in Lissabon geborenen Gefährten des hl. Franziskus, geweihten Kirche, am Seitenaltar die Messe liest, fallen ihm Gläubige in großer Zahl auf, die in schwingendem Rhythmus zu so früher Stunde den Rosenkranz beten. Es war der erste Samstag im Februar – Herz-Mariä-Sühnesamstag. Am 13. Juli 1917 hatte Maria angekündigt, sie werde wiederkommen und um die Sühnekommunion an den ersten Samstagen der Monate bitten. Dies geschah am 10. Dezember 1925 bei den „Irmãs Doroteias“ (Dorothea-Schwestern) im spanischen Pontevedra.[1]

Fatima als Tagesthema

Am nächsten Morgen klopft Pater Mc-Glynn an der Pforte des Dominikanerklosters Santo Corpo in Lissabon. Die Mitbrüder wissen nichts von seinem Kommen – das Telegramm muss verloren gegangen sein. Macht nichts – man improvisiert ein wenig und der amerikanische „Father“ kommt im benachbarten Hotel ohne Heizung erst einmal unter. Der Patriarch von Lissabon weile nicht in der Stadt. Unerwartet, aber nicht unwillkommen hat Pater McGlynn Zeit und lernt Lissabon kennen.

Er besucht englischsprachige Familien, zu denen der Dominikanerkonvent Kontakt hält, Augenzeugen des Taubenwunders im Vorjahr, als die Fatima-Statue aus der Cova da Iria in einer „Peregrinatio Mariae“ (Pilgerfahrt mit der Fatima-Madonna) Lissabon besuchte. Abends sitzt P. McGlynn mit einem halben Dutzend irischer Mitbrüder zusammen, die ihn gutmütig wegen seines amerikanischen Akzents aufziehen. „Wer hat denn hier eigentlich einen Akzent?“ kontert Pater McGlynn. Die reine amerikanische Aussprache, frei von jedem regionalen Akzent, sei doch jeder anderen Weise überlegen, die gemeinsame Muttersprache zu sprechen. Die Mitbrüder berichten ihm aber auch von wunderbaren Krankenheilungen in Fatima, bei denen sie selbst Augenzeugen wurden, und den vielen Bekehrungen, die sie als Beichtväter erlebten.

Unerwartete Kontroversen

Für Pater McGlynn überraschend zeichnen sich unter seinen Mitbrüdern Kontroversen um Fatima ab. Natürlich kennen sie keine Zweifel an den Erscheinungen von 1917 und dem Sonnenwunder am 13. Oktober. Aber was hat es mit den Einzelheiten auf sich, die seit 1942 bekannt wurden? „We have Lucy, why do we need the pope?“ („Wir haben doch Lúcia, wozu noch der Papst?“), wirft ironisch ein Pater ein. Fatima dürfe man doch nicht nach unseren Vorlieben beurteilen, korrigiert der amerikanische Dominikaner seinen irischen Mitbruder. Die Frage laute nicht, ob wir die Erinnerungen, die beiden bekannten Teile des „Geheimnisses“ vom 13. Juli 1917, die späteren Erscheinungen von Tui und Pontevedra und die Engelsvisionen von 1916 mögen, sondern ob sie wahr seien.

In den Gesprächen spiegeln sich Thesen des belgischen Jesuiten Édouard Dhanis (1902-1978) wider, der Mitte der 1940er Jahre zwei Komplexe, Fatima I und II, postuliert und einander entgegengestellt hatte. Während der übernatürliche Charakter der Ereignisse von 1917 anzuerkennen sei, hält Dhanis das „Geheimnis“, die Verehrung des Unbefleckten Herzens Mariens, den Wunsch der Weihe Russlands an dieses Herz und die Engelserscheinungen für unzuverlässig. Hätte er recht, wäre Fatima „theologisch entkernt“.[2] Die frommen Dominikaner werden nachdenklich und senden ihren Mitbruder Gerard Gardiner mit Pater McGlynn zu Lúcia, um dem Konvent Klarheit zu verschaffen. Er könne ja auch übersetzen.

Die Audienz beim Patriarchen verzögert sich immer weiter. Ein weißhaariger portugiesischer Monsignore im Bischofspalast verunsichert den selbstbewussten Künstlermönch zum ersten Mal: er sei nicht gerade „overwhelmed“ (überwältigt) gewesen „by the beauty of my little statue“ (von der Schönheit der kleinen Statue).

Audienz beim Patriarchen

Endlich wird Pater McGlynn doch noch von Manuel Gonçalves Kardinal Cerejeira (1888-1977) empfangen, Erzbischof und Patriarch von Lissabon. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil stand er dem traditionstreuen Coetus Internationalis Patrum nahe,[3] dem Spellman und Erzbischof Marcel Lefebvre (1905-1991) angehörten. Der New Yorker Kardinal hatte ihn bereits informiert. Gern war Cerejeira bereit, dem Bischof von Leiria nicht nur den Wunsch McGlynns zu empfehlen, Lúcia um ihre Meinung über sein Modell zu bitten, sondern auch Fragen zu den Erscheinungen zu beantworten. Der Patriarch schilderte, wie tiefgreifend und positiv Fatima die politischen Verhältnisse in Portugal verwandelt hätte und wie segensreich die Weihe des Landes an das Unbefleckte Herz Mariens im Jahr 1931 gewesen sei.

Auch wie es zu den doch recht späten Aufzeichnungen Lúcias gekommen sei, erfuhr der amerikanische Dominikaner. Der entscheidende Impuls sei von der Exhumierung Jacintas im Jahre 1935 ausgegangen. Als man ihren Körper, besonders ihr zartes Gesicht, unverwest auffand, sei eine Fotographie an Lúcia geschickt worden. Lúcias Antwortbrief beschreibt die Tugenden ihrer Freundin und bringt ihre Überzeugung von Jacintas Heiligkeit zum Ausdruck. Dies sensibilisiert den Bischof von Leiria. Möglicherweise sei noch vieles über all die Jahre verborgen geblieben. Im Gehorsam verpflichtet, begann „Irmã Dores“ (die Dorothea-Schwester) ihre „Memorias“ (Erinnerungen) zu verfassen.

Im zweiten Teil des „Geheimnisses von Fatima“ sei eine Vorhersage über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs enthalten, die Lúcia 1917 empfangen, aber erst 1942, also nach Ausbruch des Krieges, bekannt geworden sei. Pater McGlynn spricht ein nicht nur ihn beschäftigendes Problem an: „Ist es zu belegen, dass die Vorhersage tatsächlich bereits 1917 erfolgt sei?“ Anfang Februar des Jahres 1939 habe er selbst die Kopie eines Briefes erhalten, den Lúcia an den Bischof von Leiria geschrieben habe, erfuhr er vom Patriarchen: „Der Krieg steht unmittelbar bevor“, stand darin. „Die Sünden der Menschen werden bald in ihrem eigenen Blut gewaschen. Diejenigen Nationen werden am meisten leiden, die versucht haben, das Königtum Gottes zu zerstören. Portugal wird einige Folgen des Krieges zu tragen haben, aber wegen der Weihe Portugals an des Unbefleckte Herz wird das Land vor den Schrecken des Krieges bewahrt bleiben“.

Weltweihe und Paray-le-Monial

Die berühmte Radioansprache Pius‘ XII. am 31. Oktober 1942 mit der Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens war ein weiteres Thema. Die Weihe sei aufgrund einer Bitte Lúcias an den Papst erfolgt. Dabei habe sie um ausdrückliche Erwähnung Russlands in der Weiheformel gebeten, die bekanntlich nicht erfolgt sei. Eine besondere Gnade, die gerade dadurch gewährt werden würde, sei eine Verkürzung des Krieges, habe Lúcia geschrieben. Wenn der Heilige Vater ein Beispiel für die Wirkung des Segens einer Weihe mit der Erwähnung Russlands sehen wolle, möge er auf Portugal blicken. Von einer bestimmten Form der Weihe Russlands, sie solle von allen Bischöfen der Weltkirche in Vereinigung mit dem Papst an einem bestimmten Tag in einem einzigen Akt vollzogen werden, wusste der Patriarch jedoch nichts.

Zum Abschluss der Audienz verglich der Patriarch die Mission Fatimas mit Paray-le-Monial. An diesem Ort war Jesus der hl. Margareta Maria Alacoque OVM (1647-1690) erschienen und hatte sie ab dem 27. Dezember 1673 gebeten, die Verehrung seines Heiligsten Herzens zu verbreiten. Was Paray für die Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu bedeute, werde Fatima für das Unbefleckte Herz Mariens sein, war Cerejeira überzeugt.

Beim Bischof von Fatima

Dom José Correia da Silva (1872-1957), Bischof von Leiria-Fatima von 1920 bis zu seinem Tod, kann sich nur unter Schmerzen bewegen, als er eintritt, um die Mönche zu begrüßen – Folgen der Folter, die er unter den Freimaurern erleiden musste, die Portugal beherrschten, als Unsere Liebe Frau erschien. Er gewährt den Wunsch, Irmã Dores (die Dorothea-Schwester Lúcia) besuchen zu dürfen, macht aber ein Interview über die Erscheinungen von der Zustimmung der mother provincial (Provinz-Oberin) abhängig. Zum Modell meint er nur, das Gesicht sei zu alt, entschuldigt sich aber sogleich für den spontanen Kommentar.

Er wisse, dass Lúcia die Statue am Erscheinungsort, die so sehr verehrt werde, nicht mochte. Sie war von dem portugiesischen Bildschnitzer José Ferreira Thedim (1892-1971) aus brasilianischem Zedernholz geschaffen worden.[4] Da das Volk sie liebe, könne man sie nicht ersetzen. Auch er liebe diese Statue nicht nur wegen ihres typisch portugiesischen Charakters, sondern weil sie auf das portugiesische Volk einen so tiefen Eindruck machte all die Jahre hindurch, als Lúcia in ihrer Abgeschiedenheit kein Urteil über irgendein Bild Unserer Lieben Frau von Fatima geben konnte. Auch bei den höflichen Seminaristen des Bischofs erntete der Künstlermönch keine Komplimente für sein Modell. Nur einer wagte einen milden Ausdruck der Zustimmung „with the statue’s simplicity“ (mit der Einfachheit der Statue).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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[1] „Bemühe wenigstens du dich, mich zu trösten, und teile mit, dass ich verspreche, all jenen in der Todesstunde mit allen Gnaden, die für das Heil dieser Seelen notwendig sind, beizustehen, die fünf Monate lang jeweils am ersten Samstag beichten, die heilige Kommunion empfangen, einen Rosenkranz beten und mir während 15 Minuten durch Betrachtung der 15 Rosenkranzgeheimnisse Gesellschaft leisten in der Absicht, mir dadurch Sühne zu leisten.“ In: Schwester Lúcia spricht über Fatima, Bd. I. Fátima, 9. Auflage 2007, Anhang I, 206.
[2] Die kritische Gesamtausgabe der Fatima-Dokumente entzieht Dhanis’ Argumenten die Grundlage. Vergl. A. Ziegenaus (2017): Das Problem des Beginns der Herz-Mariä-Verehrung in den Schriften Lucias, In: Fatima – 100 Jahre danach, Regensburg, 79ff.
[3] Personenlexikon zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg i. Br., 2. Aufl. 2013, 118.
[4] Im Auftrag des späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower (1890-1969) schuf Thedim eine Statue des hl. Johannes von Gott (1495-1550) für die kanadische Wallfahrtskirche St. Anne de Beaupré am St.-Lorenz-Strom.

Weltweit stehen Priester und Ordensleute Betroffenen bei

Corona lässt die Kirche nicht verstummen

Die Corona-Krise ist eine weltweite Herausforderung – nicht nur medizinisch, wirtschaftlich und sozial, sondern auch pastoral. Abstandsgebote und strenge Hygiene-Regeln schaffen schmerzliche Distanz; Anlaufstellen brechen weg. Die Kirche findet sich damit nicht ab. Priester, Ordensschwestern und Katecheten entwickeln Ideen, um den Menschen dennoch nahe zu sein.

Von KIRCHE IN NOT

Libanon: Die Ärmsten bleiben versorgt

Die Pandemie trifft den Libanon besonders hart. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Das Land ist bankrott und steckt mitten in einer schweren politischen wie wirtschaftlichen Krise. Schon vor der Pandemie lebte fast die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Umso mehr sind sie angewiesen auf Wohltätigkeitseinrichtungen, die oft von den christlichen Kirchen getragen werden. So auch die Tafel „Johannes der Barmherzige“ in Zahlé nahe der syrischen Grenze. Sie ist eine Initiative der melkitischen griechisch-katholischen Erzdiözese. Die Tafel ist ein wichtiger Treffpunkt für vertriebene Christen aus Syrien. Sie war das erste Hilfsprojekt von „Kirche in Not“, das von den Corona-Folgen betroffen war: Die Hygiene-Maßnahmen zwangen zur Schließung der Essensausgabe. Doch die freiwilligen Mitarbeiter fanden einen Weg, für die notleidenden Menschen dennoch da zu sein: Sie bringen nun das Essen zu 400 besonders hilfsbedürftigen Personen, die ihre Häuser nicht mehr verlassen können.

Syrien: Neun Jahre Krieg – und jetzt auch noch das Virus

„Viele Menschen sagen, dass sie bereits seit Kriegsausbruch leiden und es nicht viel schlimmer werden kann. Andere sind vorsichtiger und besorgen sich Schutzmasken und Desinfektionsmittel“, berichtet der armenisch-katholische Priester Antoine Tahhan aus Aleppo. Außer strikten Ausgangssperren hat das kriegsgebeutelte Land der Corona-Pandemie wenig entgegen zu setzen. Der Krieg hat auch das Gesundheitssystem zerstört. Wir benötigen dringend Schutzmasken und Ausrüstung zum Sterilisieren“, ruft Tahhan auf. Doch die nach wie vor gültigen Sanktionen des Westens verteuern den Import. Auch Lebensmittel und Medikamente sind nahezu unerschwinglich. Die Pandemie lässt die Menschen vor allem die wirtschaftlichen Folgen fürchten.

Ein „Programm gegen die Angst“ setzen Schwester Annie Demerjian von der Kongregation der „Schwestern von Jesus und Maria“ und ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter der Corona-Krise entgegen. „Wir helfen insbesondere den alten Menschen, da viele von ihnen keine andere Unterstützung haben. Wir erledigen die Einkäufe, damit sie nicht aus dem Haus gehen müssen“, sagt die Ordensfrau. Eine wirksame Hilfe sei das von „Kirche in Not“ finanzierte Gutscheinprogramm, das 260 Familien den Einkauf im Supermarkt ermögliche und die Unterstützung bei Mietzahlungen für besonders bedürftige Menschen.

Ukraine: Ordensfrauen an vorderster Front im Kampf gegen Corona

In Osteuropa waren die Reaktionen auf Corona sehr unterschiedlich. Die Ukraine hat relativ früh Schutzmaßnahmen ergriffen, könnte doch eine Ausdehnung der Pandemie schlimme Folgen haben: Eine anhaltende Rentenkrise hat die älteren Menschen schon zuvor dem Risiko von Krankheit und Armut ausgesetzt. Hinzu kommt der Krieg in der Ostukraine, der viele Menschen noch weiter in die Verelendung treibt.

An vorderster Front im Kampf gegen Corona stehen in der Ukraine vielfach Ordensschwester, die Kliniken, Altenheime, Waisenhäuser oder Armenküchen betreiben. Eine von ihnen ist Schwester Daniela Pukhalska von den „Kleinen Schwestern vom Unbefleckten Herzen Mariens“ aus Odessa. Sie arbeitet in der Infektionsabteilung eines Krankenhauses und bekommt das Leid aus erster Hand mit. Oft arbeitet sie bis zur Erschöpfung, bleibt aber dennoch gelassen: „Ich weiß, dass viele Menschen für uns beten, damit die Kraft uns nicht verlässt.“ Sorgenvoll blickt Schwester Justiniana aus Lemberg in die Zukunft. Ihr Orden, die St.-Joseph-Schwestern, betreibt dort ein Altenheim mit 25 bettlägerigen Bewohnern. „Wir befürchten, dass uns die notwendigen Hilfsmittel und Medikamente bald ausgehen, denn es ist schwer, Nachschub zu besorgen“, erzählt sie „Kirche in Not“. Das Hilfswerk unterstützt seit langem zahlreiche Klöster in der Ukraine, damit sie ihren karitativen wie geistlichen Einsatz fortsetzen können.

Venezuela: Den Hunger des Leibes und der Seele stillen

Im südamerikanischen Venezuela, das seit Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt, leiden viele Menschen Hunger: Geschäftsschließungen zur Corona-Bekämpfung haben ihnen ihre Einnahmen genommen. Es gibt in den Geschäften kaum etwas zu kaufen – und auf den Feldern verdorrt die karge Ernte, weil es an Maschinen fehlt, sie schnell einzubringen. „Wenn das Virus uns nicht tötet, werden wir an Hunger sterben“, sagt Ester Chacón, eine Straßenhändlerin.

Die Kirche versucht, den Menschen auch in dieser Situation nahe zu sein. Die Bilder gingen um die Welt, als Bischof Mario Maronta aus San Cristobal die Eucharistie durch die Straßen der nahezu menschenleeren Stadt trug und die Einwohner segnete. Doch der Bischof ergriff auch energisch Partei für die Ärmsten. Die sozialistische Regierung Venezuelas forderte er auf, dem aktuellen Preiswucher entgegen zu treten: „Wir bitten darum, der unmoralischen Praxis einiger Menschen zu begegnen, die unter Ausnutzung des Gesundheitszustands die Preise unvernünftig erhöhen. Diejenigen, die so handeln, haben keine Gottesfurcht.“ „Kirche in Not“ unterstützt das Überleben venezolanischer Priester durch Mess-Stipendien und die Arbeit der Pfarrgemeinden, die häufig Armenspeisungen anbieten.

Indien: „Liebe in Aktion“ während der Pandemie

Es war der größte „Lockdown“ weltweit: Seit Mitte März befanden sich die 1,3 Milliarden Inder in strenger Quarantäne. Für weite Teile der Bevölkerung bedeutet die Ausgangssperre vor allem Elend und Armut. Besonders betroffen sind die hunderttausenden Wanderarbeiter. Von heute auf morgen waren sie ohne Arbeit.

Auch für die religiös ohnehin angespannte Situation in Teilen Indiens wirkt Corona wie ein Brandbeschleuniger: Fanatische Hindus verdächtigen religiöse Minderheiten, für die Verbreitung des Virus verantwortlich zu sein. Christen sind besonders in den nordindischen Bundesstaaten ohnehin steigender Gewalt ausgesetzt. Sie stehen am Ende der sozialen Kette, zumal viele von ihnen auch den niedrigsten Gesellschaftsschichten angehören.

So greifen die Christen auch jetzt zur Selbsthilfe: Pfarrgemeinden, Diözesen und geistliche Gemeinschaften organisieren und verteilen Lebensmittel. „Kirche in Not“ unterstützt unter anderem die sogenannten „Kleinen christlichen Gemeinschaften“, von denen es in Indien etwa 85.000 gibt. Sie finden neue Wege, das geistliche Leben zu pflegen – eine große Rolle spielt dabei das Medienapostolat. Und sie organisieren die Versorgung mit Hilfsgütern, „unabhängig von der Religionszugehörigkeit“, wie die Verantwortlichen betonen.

Demokratische Republik Kongo: Katholischer Radiosender bringt Hoffnung

Auch in Afrika spielen die Medien eine wichtige Rolle während der Quarantäne. „Radio Ditunga“ in der Demokratischen Republik Kongo überträgt heilige Messen, Gebete und geistliche Vorträge. Es gelte auch, den teilweise skurrilen Heilsversprechungen von Sekten etwas entgegen zu setzen, betonen die Verantwortlichen. Neu während der Corona-Zeit ist Schulunterricht über das Radio. Täglich erklärten Lehrer den Stoff und beantworten Schülerfragen. Christlichen Familien in der Umgebung hat „Radio Ditunga“ sogar einfache Radiogeräte gekauft, damit sie teilnehmen können. „Als Kirche tragen wir in der Corona-Krise eine spirituelle wie menschliche Verantwortung“, erklärt der Radio-Leiter und Priester Apollinaire Cibaka Cikongo. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, unterstützt „Kirche in Not“ die Arbeit vieler engagierter Priester und kirchlicher Mitarbeiter weltweit. Damit auch in der Corona-Zeit die Kirche den Menschen nahe ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Zustimmung zu den Grundanliegen der Gustav-Siewerth-Akademie

Von Papst Benedikt XVI.

Die Gustav-Siewerth-Akademie hat im Kreis der akademischen Einrichtungen in Deutschland keine große Stimme, aber sie hat eine unverkennbar eigene Identität. Die Fragestellung, der sie dient, ist in den letzten Jahrzehnten eher vergessen worden, ist aber für das Verstehen des Menschen und seiner Stellung im Ganzen der Wirklichkeit von hoher Bedeutung und muss daher neu aufgegriffen werden.

Die Akademie widmet sich zwei grundlegenden Forschungsinhalten, nämlich der Frage nach dem Schöpfergott sowie derjenigen nach dem freien Willen des Menschen. Die Frage, ob das Sein der gesamten Wirklichkeit auf einem göttlichen Schöpfungswillen beruht und so als Ganzes einen von Gott herkommenden Sinn in sich trägt oder einfach ohne erkennbaren Grund und so ohne Wegweisung über sich hinaus da ist – diese Frage ist entscheidend für unser Stehen zur Wirklichkeit. Sie ist die Scheidung der zwei möglichen Orientierungen des Menschen und damit die grundlegende Alternative, vor der wir in dieser Geschichtsstunde stehen.

Diese Entscheidungsfrage stellt sich noch einmal bei dem anderen Problem, dem sich die Akademie besonders zu widmen gedenkt: Gibt es den freien Willen des Menschen, oder ist seine Freiheit nur ein Schein? In der Neuzeit hat der Ruf nach der Freiheit immer mehr an Kraft gewonnen. Aber sowohl die Vorstellung von der strengen Determination alles Wirklichen wie die Macht der kollektiven Apparaturen lässt die wirkliche Freiheit jedes einzelnen immer mehr als trügerisch erscheinen. Die Frage nach der Grenze und nach der Möglichkeit wirklicher Freiheit des Menschen stellt sich so immer mehr als ein grundlegendes Problem.

Die Gustav-Siewerth-Akademie will sich den beiden Fragestellungen aus dem großen denkerischen Erbe des christlichen Glaubens und von der Herausforderung der Moderne her mutig und demütig zugleich stellen, und dazu kann man ihr nur von Herzen Erfolg wünschen. Dafür gebe ich ihr gern meinen Segen zu Geleit.

Vatikanstadt, 27.10.2018      

Benedictus XVI

Papa emeritus

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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Verleihung des Gregoriusordens an Alma von Stockhausen 2007

Päpstliche Auszeichnung

Am 15. Mai 2007 hat Erzbischof Robert Zollitsch von Freiburg im Auftrag von Papst Benedikt XVI. der Philosophie-Professorin Dr. Alma von Stockhausen (1927-2020) als päpstliche Auszeichnung den Orden „Dame des Gregoriusordens“ überreicht. Dabei hielt er eine Ansprache, welche die philosophisch-theologischen Verdienste ihrer wissenschaftlichen Arbeit sowie ihren spirituellen Beitrag für das Leben der Kirche treffend zusammenfasst.

Von Erzbischof Robert Zollitsch

Sehr geehrte, liebe Frau Professor von Stockhausen, von Herzen begrüße ich Sie hier im Großen Sitzungssaal unseres Ordinariates. Es ist ein freudiger Anlass, der uns heute zusammenführt. Der Heilige Vater hat meiner Bitte entsprochen und Sie für Ihr lebenslanges Engagement für Kirche und Glauben, für Theologie und Philosophie und damit für ein einzigartig herausragendes Lebenswerk ausgezeichnet.

Sie, verehrte Frau Professor, wurden am 30.09.1927 als ältestes von sechs Kindern in Münster in Westfalen geboren. Sie studierten Philosophie, Theologie und Geschichte in Münster, Göttingen und Freiburg. 1954 wurden Sie mit einer Arbeit zur „Analogia entis bei Thomas von Aquin“ von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität promoviert. Bereits Ihre Schulzeit war bestimmt durch die geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In Ihrem Studium während der Nachkriegszeit waren Ihre wichtigsten Lehrer die Theologen Michael Schmaus und Hermann Volk (der spätere Mainzer Kardinal) sowie die Philosophen Gustav Siewerth, Martin Heidegger, Nicolai Hartmann.

Ihr Leben, werte Frau Professor v. Stockhausen, ist geprägt von der Suche nach der Wahrheit. In diesem Ringen stehen Sie in geistiger Verwandtschaft zu großen Persönlichkeiten unserer Tage, exemplarisch genannt sei Papst Johannes Paul II. (vgl. Enzyklika Fides et ratio). In jahrelanger Auseinandersetzung mit bedeutenden Philosophen wie Kant, Hegel und Heidegger fanden Sie Ihre Antworten auf die Widersprüche in der Denkgeschichte der Neuzeit z.T. in der griechischen Metaphysik und in der Scholastik, vor allem aber in den Lehraussagen der Kirche. In Jesus Christus fanden Sie schließlich vom Inkarnationsgedanken her den Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit, aber auch ganz persönlich „den Weg, die Wahrheit und das Leben“ und übereigneten ihm Ihr Leben im Geiste der evangelischen Räte.

In Ihrer Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg seit 1962 konzentrierten Sie sich, werte Frau v. Stockhausen, auf die Einführung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer in ein klares logisches Denken. Auf solcher Grundlage erarbeiteten Sie mit den Studierenden die christliche Glaubens- und Sittenlehre. Dabei haben Sie sich insbesondere in den Jahren von 1968 bis 1976 der offenen Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus und den modernen Naturwissenschaften gestellt. Dies geschah in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und der Wahrheitsvergessenheit, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind und über einige Jahrzehnte zu dem geführt haben, was Papst Benedikt des Öfteren als „Diktatur des Relativismus“ gekennzeichnet hat.

Um die Suche nach der Wahrheit unabhängig von äußeren Störprozessen vertiefen zu können, gründeten Sie in Weilheim-Bierbronnen bei Waldshut – in unserer Erzdiözese Freiburg – nach z.T. heftigen Auseinandersetzungen an der Pädagogischen Hochschule eine private Akademie. Benannt wurde diese Akademie nach dem hochangesehenen Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Gustav Siewerth. Dabei war der Name gut gewählt, ging es Gustav Siewerth doch – ähnlich wie Max Müller, Johannes Baptist Lotz und Bernhard Welte, wenn auch auf je unterschiedliche Weise – um eine Vermittlung der großen scholastischen Denkansätze einer „philosophia perennis“ in Auseinandersetzung mit dem Denken der Moderne, um damit die ewigen Menschheitsfragen nach Gott, der Wahrheit und dem Sein im Gespräch mit den heutigen wissenschaftlichen Problemlagen fruchtbar zu machen.

Der Name Gustav Siewerth wurde zum Programm der Einrichtung. Stets neu ging es Ihnen um den inneren Einheitspunkt der Vielfalt wissenschaftlicher Forschungen und um die Durchdringung der Ergebnisse der Einzelwissenschaften von einem ganzheitlichen christlichen Gottes-, Welt- und Menschenbild her. Die Gustav-Siewerth-Akademie fand 1988 die staatliche Anerkennung als wissenschaftliche Hochschule mit den Fächern Philosophie, Philosophie der Naturwissenschaften, Soziologie und Journalistik. Gegenwärtig läuft ein kirchliches Verfahren, das Fach Familienwissenschaft mit pädagogischen und theologischen Studienanteilen in der Gustav-Siewerth-Akademie zu etablieren.

Sie, werte Frau von Stockhausen, sind eine Philosophin mit klarem geistigem Profil, verwurzelt in und getragen von einem lebendigen christlichen Glauben. Diesen stets neu inmitten eines weltanschaulichen Pluralismus argumentativ zu entfalten und dabei für die Wahrheit des einmal Erkannten zu streiten, ist Ihr Herzensanliegen. Dafür gebührt Ihnen unser aller Anerkennung und Dank. Ich freue mich, dass ich Ihnen als Zeichen der Anerkennung unserer Kirche, der Sie dienen, im Namen des Heiligen Vaters als päpstliche Auszeichnung den Order „Dame des Gregoriusordens“ überreichen darf. Herzlichen Glückwunsch! Gottes Segen für Ihre weitere Arbeit.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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Zum Tod von Alma von Stockhausen

Einem großen Erbe verpflichtet

Albrecht Graf von Brandenstein-Zeppelin ist Rektor der Gustav-Siewerth-Akademie, die von Prof. Dr. Alma von Stockhausen gegründet und aufgebaut worden ist. Nach ihrem Tod am 4. Mai 2020 trägt er nun die gesamte Verantwortung für die Weiterführung der Hochschule. Er weiß sich einem großen Erbe verpflichtet, das ihm Alma von Stockhausen anvertraut hat.

Von Albrecht Graf von Brandenstein-Zeppelin

Frau Prof. Dr. Alma von Stockhausen wurde am 30. September 1927 in Münster, Westfalen, geboren. Am 4. Mai 2020 ist sie nun in Heroldsbach gestorben. Sie hat 1985 die Gustav-Siewerth-Akademie gegründet, welche sich in einzigartiger Weise der Aufgabe widmet, die Widersprüche zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und katholischer Theologie zu analysieren und zu versöhnen. Der Dogmatiker Prof. Dr. Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., hat zusammen mit dem Neutestamentler Prof. Dr. Heinrich Schlier jahrelang Seminare an der Akademie gehalten und versucht, mit Glauben und Vernunft die Wahrheit zu ergründen.

In Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Verdienste hat Papst Benedikt XVI. Alma von Stockhausen zu ihrem 80. Geburtstag am 30. September 2007 den päpstlichen Gregorius-Orden verliehen.

Seit der Gründung der Akademie hat Alma von Stockhausen mit ihrem Team hochrangiger, ehrenamtlich engagierter Wissenschaftler aus den Disziplinen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften sowie Journalistik ihren Studenten nicht nur Fachkenntnisse, sondern auch einen lebendigen Glauben vermittelt. Viele Studenten haben an der Akademie ihre Priester- und Ordensberufung erkannt. Durch ihre zahlreichen Fernsehbeiträge in K-TV und EWTN hat Alma von Stockhausen den Zuschauern Zweifel genommen und ein tragfähiges Fundament für den Glauben vermittelt.

Die Gustav-Siewerth-Akademie wird der verehrten Verstorbenen ein dankbares und ehrendes Gedächtnis bewahren. Für die Dozenten, Studenten und den Freundeskreis – Albrecht Graf von Brandenstein-Zeppelin, Rektor.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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Meine Erinnerung an Professor Alma von Stockhausen

Die Liebe des unendlichen Gottes

Prälat Dr. Winfried König (geb. 1956) stammt aus dem Erzbistum Köln und ist seit 2008 Leiter der deutschsprachigen Abteilung des Staatssekretariats im Vatikan. Dankbar erinnert er sich an die Impulse, die ihm Prof. Dr. Alma von Stockhausen mit auf den Weg gegeben hat und die ihn bis heute prägen.

Von Winfried König

Zum ersten Mal begegnete ich Frau Professor Alma von Stockhausen im Jahre 1983 bei einer Sommertagung des christlichen Mediziners Arthur Ernest Wilder Smith im schweizerischen Spiez am Thuner See. Ich war damals noch Physikstudent und durch einen freikirchlichen Freund auf diese Veranstaltung mit mehreren christlichen Referenten aufmerksam gemacht worden, deren Vorträge um das Spannungsverhältnis von biblischem und naturwissenschaftlichem Schöpfungsbegriff kreisten. Das Referat von Frau Professor v. Stockhausen stach aus dieser Reihe schon dadurch heraus, dass sie anstatt über Schöpfung über die Inkarnation Christi sprach und ihren Zuhörern mit philosophischer Prägnanz von diesem Faktum der Menschwerdung Gottes her das Verständnis der gesamten Wirklichkeit erschloss.

Dies war der Anfang einer Reihe von prägenden Begegnungen mit Alma v. Stockhausen, die mir auf meinem Weg zum Priestertum eine große geistige Hilfe und Orientierung geworden sind. Es war dieser Blick auf Christus als Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte, der mir zum Kompass wurde in all den vielfältigen und verwirrenden Meinungen, die auch in kirchlichen Kreisen Raum fanden. Christus macht uns deutlich, dass die Grundlage unseres Lebens Geschenk ist. Die ganze Schöpfung ist ein Geschenk, ein Ausdruck der Liebe Gottes.

„Gott schafft mit zwei Prinzipien“, so hat Frau v. Stockhausen immer den hl. Augustinus zitiert, er schafft „mit Geist und Materie“. Und gerade die Materie ist die besondere Liebesäußerung Gottes, in der der Unendliche sich zurücknimmt, „sich einfaltet in winzige Gesten aus Respekt vor der Gegenwart des Anderen“. Bei uns Menschen weckt die Materie hingegen die Sehnsucht nach Besitz. Wir stehen immer in der Spannung zwischen Verschenken und Inbesitznahme. Oft haben wir nicht den Mut, etwas weiter zu schenken, weil wir Angst haben, uns dabei selbst zu verlieren. Alma v. Stockhausen war zeit ihres Lebens ein sehr freigebiger Mensch, der bereit war, alles und sich selbst zu verschenken, in der treuen Nachfolge Christi, „der Liebe, die alles umfängt“. Danken wir Gott für ihr Lebenswerk und bitten wir den Herrn der Ernte, dass der Samen, der in Generationen von Studenten in Freiburg, Bierbronnen und Heroldsbach ausgesät wurde, reiche Frucht bringe!

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Aus dem Brief der deutschen Bischöfe an die Priester vom 25. September 2012

Die Deutsche Bischofskonferenz

Das Amt in der Kirche ist dazu da, „die Heiligen“, das heißt alle Getauften und Gefirmten, „für die Erfüllung ihres Dienstes zu rüsten, für den Aufbau des Leibes Christi“ (Eph 4,12). Eine solche Aufgabe und Stellung des Amtes kann nicht aus der Gemeinde abgeleitet werden. Jesus Christus selbst setzt den Priester ein, um die Gemeinde im Geist des Evangeliums zu leiten und zu ermutigen und sie durch die Sakramente zu begleiten und zu stärken. Durch das Sakrament der Weihe wird der Priester in einer Weise in das Priestertum Jesu hineingenommen, die sich – wie Lumen Gentium (LG 10) sagt – dem Wesen nach von der gemeinsamen Teilhabe aller Gläubigen am Priestertum Jesu unterscheidet. Der geweihte Priester gehört zum Gottesvolk, ist diesem zugleich gegenübergestellt und soll dem Volk Gottes so dienen, dass Jesus Christus als das Haupt der Kirche präsent wird. Der Priester ist da, um den Gläubigen Jesus Christus selbst, die Liebe und das Heil Gottes präsent zu machen; er ist da, um Jesu Lebenshingabe am Kreuz für uns Menschen auch heute gegenwärtig zu setzen. Das geschieht in der Verkündigung des Evangeliums, in der Feier der Sakramente, besonders in der Eucharistie und dem Bußsakrament, in der die Kirche in Christus gesammelt wird, und im Dienst an den Armen.

Für unsere Kirche hat im Blick auf das sakramentale Priestertum die „Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen“ einen hohen Wert. In der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion wird die zölibatäre Lebensform des Priesters fast nur unter ihrem negativen Aspekt, dem Verzicht auf Ehe und Familie, gesehen. Verstehbar und lebbar wird die freiwillig übernommene Ehelosigkeit des Priesters jedoch erst im Zusammenhang mit seiner besonderen Nachfolge Jesu, der selbst ehelos gelebt hat. Letztlich soll der Priester mit seiner ganzen Existenz Jesus Christus und seine Liebe zur Kirche repräsentieren. Die Ehelosigkeit des Priesters ist darum für die ganze Kirche bedeutsam, denn sie macht deutlich, dass die menschliche Sehnsucht nach Heil und Liebe bei Gott wirklich und endgültig Erfüllung finden wird. Es gibt darum eine Verantwortung des ganzen priesterlichen Gottesvolkes, dass in der Kirche ein Klima herrscht, in dem sich auch die spezifischen Aspekte einer priesterlichen Lebenskultur entfalten können. Pflege von Freundschaften und persönliches Gebet, geistliche Begleitung und theologische Weiterbildung, eine regelmäßige Praxis des Bußsakramentes, eine bewusste und würdige Feier der Liturgie, ein bescheidener Lebensstil und ein reflektierter Umgang mit dem Internet sind weitere wichtige Elemente einer priesterlichen Lebenskultur.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2020
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